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Zum Weinen schön: Familien-Drama, Liebes-Geschichte und eine Hymne an die Mutter-Liebe von der britischen Bestseller-Autorin Dani Atkins. Stell dir vor, an deiner Seite steht der Mann, den du liebst. Du spürst seine Hand in deiner, und sie passt perfekt in deine. Es ist sein Lächeln, das dich morgens weckt. Die Zukunft gehört euch beiden, ihr werdet heiraten. Und in deinem Bauch wächst euer Kind heran. Allein der Gedanke daran lässt dein Herz überlaufen vor Glück. Doch dann: Ein unachtsamer Schritt. Ein abgelenkter Autofahrer. Ein schrecklicher Unfall. Du fällst in einen tiefen Schlaf. Und während du schläfst, geht das Leben einfach weiter. Wenn du erwachst, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Denn dein Happy End gehört nun einer anderen … Mit »Sag ihr, ich war bei den Sternen« hat Dani Atkins – Bestseller-Autorin von »Die Achse meiner Welt« – wieder einen Roman geschrieben, der uns mit seinen Figuren verzaubert, mit ihrem Schicksal zu Tränen rührt und uns bei mehr als einer unerwarteten Wendung den Atem anhalten lässt. Ein Roman, in dem man versinkt und den man noch lange nach dem Lesen im Herzen tragen wird. Internationale Pressestimmen: "Dani Atkins ist zweifellos die Königin der ganz großen, emotionalen Romane." Heat "Taschentücher bereitlegen!" Closer "Herzzerreißende Überraschungen inbegriffen!" Woman & Home "Ich liebe diesen herzzerreißenden, brillanten Roman!" Sun
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Seitenzahl: 571
Dani Atkins
Roman
Aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger
Knaur eBooks
Stell dir vor, an deiner Seite steht der Mann, den du liebst. Du spürst seine Hand in deiner, und sie passt perfekt in deine. Es ist sein Lächeln, das dich morgens weckt. Die Zukunft gehört euch beiden, ihr werdet heiraten. Und in deinem Bauch wächst euer Kind heran. Allein der Gedanke daran lässt dein Herz überlaufen vor Glück.
Doch dann: Ein unachtsamer Schritt. Ein abgelenkter Autofahrer. Ein schrecklicher Unfall.
Du fällst in einen tiefen Schlaf. Und während du schläfst, geht das Leben einfach weiter. Wenn du erwachst, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Denn dein Happy End gehört nun einer anderen …
Widmung
Teil eins
Kapitel 1
Maddie
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil zwei
Kapitel 7
Chloe
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil drei
Kapitel 12
Maddie
Chloe
Maddie
Kapitel 13
Chloe
Maddie
Kapitel 14
Chloe
Maddie
Kapitel 15
Chloe
Maddie
Chloe
Kapitel 16
Chloe
Maddie
Chloe
Maddie
Kapitel 17
Chloe
Maddie
Chloe
Maddie
Kapitel 18
Chloe
Maddie
Chloe
Kapitel 19
Maddie
Chloe
Maddie
Chloe
Maddie
Kapitel 20
Chloe
Maddie
Chloe
Maddie
Kapitel 21
Maddie
Chloe
Maddie
Chloe
Kapitel 22
Chloe
Epilog
Hope
Danksagung
Leseprobe »Was die Sterne dir schenken«
Für Bev,deren Geschichte mich zu diesem Buch inspirierte.Und deren Mut jeden inspiriert, der sie kennenlernt
Achtunddreißig Likes. Nicht schlecht, schließlich war es mitten am Tag, und die meisten Menschen sollten im Büro und nicht auf Facebook sein. Ich lehnte mich zurück und nahm einen Schluck von meiner Buttertoffee-Latte. Die zusätzlichen Kalorien waren mir mittlerweile egal – was für eine Braut vier Tage vor der Hochzeit vermutlich eher ungewöhnlich war.
Ich scrollte zu dem Bild zurück, das ich vorhin gepostet hatte, und grinste. Ich saß darauf beim Friseur, um meine Hochzeitsfrisur zur Probe stecken zu lassen. Die Stylistin hatte die Hälfte meiner Haare nach hinten gekämmt, als sie einen dringenden Anruf erhielt und mich auf meinem Stuhl neben dem Fenster allein zurückließ. Ich sah aus wie Wurzel, die Vogelscheuche, an einem Bad Hair Day. Ich konnte nicht widerstehen, machte ein Spiegel-Selfie und postete es.
Auf der Suche nach dem perfekten Hochzeits-Look. Was meint ihr dazu?
Ich wischte über das Display, um das Bild zu vergrößern, und runzelte die Stirn. Ich hätte die Praktikantin ausschneiden sollen, die gerade mit einer Tasse Kaffee auf mich zukam, und auch den stämmigen Glatzkopf mit der schwarzen Lederjacke, der durch das Fenster zu mir hereinstarrte. Aber egal. Das Foto war witzig.
»Dir ist schon klar, dass du besessen bist, oder?«, hatte mich Ryan einige Monate nach unserem ersten Date gefragt.
»Von dir?«, fragte ich und klimperte mit meinen langen schwarzen Wimpern.
»Ja, das hoffe ich doch«, antwortete er liebevoll und verschränkte seine Finger mit meinen. »Aber eigentlich meinte ich das Posten von jedem einzelnen Moment deines Lebens.«
Ich betrachtete ihn eingehend, denn ich war mir nicht sicher, ob er in Wahrheit verärgert war. Doch er sah mich mit diesem sanften, zärtlichen Blick an, den er nur für mich reserviert hatte.
»Ich poste doch nicht alles«, erwiderte ich vielsagend, und Ryans Augen blitzten spitzbübisch auf. »Aber ich arbeite immerhin in einem Medienunternehmen«, fuhr ich fort. »Und da kann es an beruflichen Selbstmord grenzen, wenn man sich nicht auf den sozialen Netzwerken einbringt.«
Er hatte gelacht und mir das Telefon aus der Hand genommen. »Aber es gibt Dinge, die bleiben besser privat«, hatte er geflüstert und mich an sich gezogen.
Ich lächelte in mich hinein, als ich jetzt daran zurückdachte. Die Junisonne fiel durch das Fenster ins Café, und langsam wurde es unangenehm warm. Ich bereute, dass ich mich für einen Fensterplatz entschieden hatte. Aber mittlerweile waren alle Tische besetzt, und die Schlange, die auf ihr Take-away-Mittagessen wartete, wurde immer länger.
Ich schluckte den letzten Bissen meines Panino hinunter, und plötzlich stieg Übelkeit in mir hoch. Nein! Ich würde nicht zulassen, dass sie mir den Tag versaute! Es gab eine lange To-do-Liste, die ich abarbeiten wollte, und obwohl mir mein Verlobter Hilfe angeboten hatte, musste ich mich um den Großteil selbst kümmern.
»Es ist süß, dass du mich unterstützen willst, aber ich werde sicher nicht zulassen, dass du mich vor Samstag in meinem Hochzeitskleid zu Gesicht bekommst. Immer vorausgesetzt, dass sie die Nähte noch auslassen konnten«, hatte ich gesagt und kaum merklich die Stirn gerunzelt. »Sonst muss ich in Jeans und T-Shirt heiraten.«
»Und du wärst trotzdem die bezauberndste Braut aller Zeiten«, hatte Ryan erwidert und seine Hand zu meinem kleinen, aber sichtbar gewölbten Bauch gleiten lassen. Als ich mein Hochzeitskleid in Auftrag gegeben hatte, war er noch flach gewesen, und ich hoffte, dass die Schneiderinnen im Brautmodengeschäft meines Vertrauens Zauberkräfte besaßen und mir für Samstag ein paar zusätzliche Zentimeter schenken würden. Meine Familie wusste noch nichts von den Neuigkeiten, wir wollten es ihnen erst nach der Hochzeit sagen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Das Brautmodengeschäft befand sich am anderen Ende der Stadt, und die U-Bahn-Station war ganz in der Nähe. Es gab also keinen Grund, mir ein Taxi zu rufen, obwohl ich es Ryan heute Morgen versprochen hatte. Er hatte leicht besorgt gewirkt, als er sich mit einem Kuss von mir verabschiedete. Er hatte eine dringende Besprechung im Büro, die er nicht schwänzen konnte, sonst hätte er mich vermutlich nicht allein gehen lassen. Ich bin von Natur aus blass, doch an diesem Tag war meine Haut weiß wie Alabaster. Entgegen der allgemeinen Behauptung brachte mich die Schwangerschaft nicht zum Strahlen. In den letzten vierzehn Wochen erinnerte ich eher an eine Statistin in einem Vampirfilm.
»Vielleicht solltest du es heute lieber langsam angehen lassen und dich noch mal hinlegen?«, hatte Ryan sanft vorgeschlagen.
Das war der Moment – der einzige Moment –, an dem ich das Schicksal vielleicht noch hätte abwenden können. Aber da war nichts. Keine böse Vorahnung, kein Gefühl der drohenden Gefahr. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Leben schon in ein paar Stunden vollkommen unkontrollierbar werden und aus der Bahn geraten würde.
»Nein, ich habe viel zu viel zu tun«, erwiderte ich und schlang meine Arme um ihn. »Schlafen kann ich auch, wenn ich tot bin.«
Genau das habe ich gesagt.
Obwohl ich meine Wohnung noch nicht aufgegeben hatte, verbrachte ich mehr oder weniger jede Nacht bei Ryan, und nach den Flitterwochen wollten wir uns nach etwas Neuem umsehen und zusammenziehen. Ich träumte von einem Haus mit Garten, wo wir auf dem Rasen saßen, während eine Miniaturausgabe von uns beiden vor uns auf einer karierten Decke lag und mit den pummeligen Beinchen strampelte. Dieser Moment gehörte dann auf alle Fälle auf Facebook.
Der Tag hatte im Grunde begonnen wie jeder andere auch. Ich war in Ryans Bett aufgewacht, seine Arme fest um mich geschlungen, als hätte er Angst, dass ich in der Nacht verloren gehen könnte. Ich öffnete die Augen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer, und Staubkörnchen tanzten im Licht, doch ich konnte die Wärme nicht genießen. Ich sprintete bereits ins Bad und stoppte in Gedanken die Zeit. Das hatte ich mir vor einiger Zeit angewöhnt, und heute legte ich mit beeindruckenden acht Sekunden eine neue persönliche Bestzeit hin. Ich hätte mir ja selbst gratuliert, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich zu übergeben.
Sekunden später spürte ich Ryans kühle Hand auf meinem Nacken, während er mir die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht hielt. In der anderen Hand hatte er ein Glas eiskaltes Wasser, das ich dankbar nahm, als ich endlich fertig war. Spülen, spucken, schlucken – das war mein neues Morgenmantra. Ich sah von unten zu ihm hoch, und seine blauen Augen musterten mich besorgt.
»Es tut mir so leid, Maddie.«
Er streckte mir die Hand entgegen und zog mich hoch. Es ging mir bereits besser.
»Warum? Es ist doch nicht deine Schuld, dass ich mich übergeben muss.«
»Nein, aber es ist meine Schuld, dass du schwanger bist.«
Ich rückte ein Stück näher an ihn heran und warf ihm einen zärtlichen Blick zu. »Ich denke, es gehören zwei dazu.«
Ryans Lächeln war wie ein Leuchtfeuer, das mir den Weg wies – es war auch das Erste, das mir an ihm aufgefallen war, als ich ihn bei einem langweiligen Firmenevent auf der anderen Seite des Saales stehen sah. Unsere Blicke trafen sich, und er kam mir unerklärlicherweise so bekannt vor, dass ich ihm beinahe zugewinkt hätte. Doch stattdessen warf ich verlegen einen Blick über die Schulter, denn ich war mir sicher, dass er jemanden anlächelte, der direkt hinter mir stand. Als ich niemanden entdecken konnte, lächelte ich zurück.
Das war mittlerweile achtzehn Monate her, und seitdem hatte ich nicht mehr aufgehört zu lächeln.
Kurz darauf trat Ryan zu mir unter die Dusche. Ich hatte die Augen geschlossen und ließ mir das Wasser auf den Kopf prasseln, doch ich spürte einen kühlen Luftzug, als er die Duschtür öffnete und wieder schloss. Ich öffnete blinzelnd die Augen, und alles, was ich sah, war er: groß, breitschultrig und immer noch leicht gebräunt von unserem Urlaub in Spanien, von dem wir ein unerwartetes Souvenir mit nach Hause gebracht hatten. Meine Hände wanderten unbewusst zu der kleinen Wölbung, die ich nicht länger verstecken konnte. Ryan verschränkte seine Finger mit meinen und ließ seine Hand über meinen seifigen Bauch gleiten.
»Hast du vielleicht Zeit, noch einen weiteren wichtigen Punkt auf deine Liste zu setzen?«, fragte er und zog mich sanft an sich.
Man erinnert sich ein Leben lang an das erste Mal mit der Person, mit der man den Rest seines Lebens verbringen will. Aber das letzte Mal passiert einfach so und zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern, bis es schließlich den Abfluss hinuntergespült wird.
Auf dem Weg zum Brautladen. Hoffentlich passt das Kleid!, twitterte ich eilig, während ich aufstand und meine Strickjacke und die Einkaufstaschen zusammenraffte, die sich bereits angesammelt hatten. Vermutlich war das der Grund, weshalb ich meine Handtasche vergaß, die an der Stuhllehne baumelte. Ich war erst etwa hundert Meter weit gekommen, als ich es bemerkte, und mir wurde beinahe so übel wie am Morgen nach dem Aufwachen.
In der Tasche befand sich ein Umschlag mit so viel Bargeld, wie ich es in meinem ganzen Leben noch nie in der Hand gehalten hatte. Noch bevor der Bankangestellte seine Bedenken äußerte, hatte mich bei dem Gedanken, mit einer solchen Summe herumzulaufen, ein mulmiges Gefühl beschlichen. Diese Aufgabe hätte ich wirklich Ryan überlassen sollen. Man sollte keiner Frau, die ganz offensichtlich unter Schwangerschaftsdemenz litt, so viel Geld anvertrauen.
Ich machte also kehrt und rannte zurück, wobei ich mir bereits das Worst-Case-Szenario ausmalte. Wie sollten wir den Caterer, den Saal und den Restbetrag für mein Kleid bezahlen, wenn das Geld gestohlen worden war? Der Bürgersteig, der mir noch vor einer Minute leer erschienen war, war plötzlich voller Mütter mit Kinderwagen, dahinschlendernder Touristen, die eifrig Fotos machten, und Passanten beim Schaufensterbummel. Ich senkte den Kopf und stürmte wie ein Footballspieler beim Angriff durch sie hindurch, und in meiner Panik stieß ich mit einem Mann zusammen, der gerade aus einem Hauseingang trat. Ich geriet ins Straucheln, und plötzlich waren meine Gedanken an die Tausende Pfund, die an einer Stuhllehne baumelten, wie weggeblasen, und ich konnte nur noch an mein Baby denken. Was, wenn ich jetzt hinfiel? Glücklicherweise fand ich gleich darauf das Gleichgewicht wieder. Ich warf einen schnellen Blick auf den Mann, der in mich hineingelaufen war – oder ich in ihn? Egal. Er hatte es jedenfalls nicht für notwendig gehalten, stehen zu bleiben, um sich zu entschuldigen oder zu prüfen, ob mit mir alles in Ordnung war. Ich sah nur noch die breiten Schultern in der schwarzen Lederjacke, die in einer Nebenstraße verschwanden.
Die Tasche hing noch genau dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Und auch wenn das junge Paar, das sich gerade an den Tisch setzen wollte, ein wenig überrascht aussah, als ich mit rotem Kopf und außer Atem auf sie zustürzte, lächelten beide freundlich und reichten mir meine Handtasche.
Auf dem Weg zur U-Bahnstation kribbelten meine Beine immer noch von dem unerwarteten Sprint, und auf der Rolltreppe drückte ich die Handtasche fest an mich.
Es waren nur acht Stationen, und es war eine der angenehmsten Tageszeiten, um im Sommer mit der U-Bahn zu fahren. Denn die Züge waren halb leer, und es bestand die Chance, dass man nicht unter der Achsel eines anderen Passagiers klebte, der am Morgen sein Deo vergessen hatte.
Wäre mehr los gewesen, hätte ich ihn sicher nicht gesehen. Hätte ich ein Buch – oder meinen Kindle – dabeigehabt, hätte ich mich sicher nicht gelangweilt umgesehen. Er saß auf dem letzten Platz neben der Tür und so weit entfernt von mir, wie es in dem engen U-Bahn-Waggon überhaupt möglich war. Beim ersten Mal glitt mein Blick über ihn hinweg, doch plötzlich wurde in meinem Gehirn ein Schalter umgelegt, und ein Lämpchen begann zu blinken. Diesen Mann kenne ich doch, oder?
Er war in den Vierzigern, breit und stämmig, aber es war schwer zu sagen, ob er zu viele Stunden im Fitnesscenter oder doch im Pub verbracht hatte. Er trug schwere Doc Martens, die makellos sauber waren. Genau wie seine Jeans und das weiße T-Shirt. Beide Unterarme waren tätowiert, aber ich saß zu weit entfernt, um ein Motiv auszumachen. Woher kannte ich diesen Mann bloß?
Ich überlegte. Von der Arbeit? Ich lernte viele verschiedene Menschen kennen und besuchte viele Events, aber irgendwie passte er nicht in diese Kategorie. Er wirkte »roher« als die Männer, mit denen ich beruflich in Kontakt kam. Oder vielleicht aus dem Fernsehen? Er hatte zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit Grant Mitchell aus EastEnders. Plötzlich richtete er sich auf und hob den Blick, als habe er gespürt, dass ich ihn anstarrte. Er sah an den Passagieren, die zwischen uns saßen, vorbei und fixierte mich. Ich lächelte unsicher. Falls ich ihn wirklich kannte und vergessen hatte, woher, wäre es ziemlich peinlich, wenn er mich jetzt wiedererkannte. Aber er sagte nichts, nickte mir nicht zu und hob auch nicht die Hand zum Gruß. Seine Augen waren dunkel und ausdruckslos, aber daran war vermutlich nur die seltsame Beleuchtung im Waggon schuld. Er musterte mich auf eine unangenehme Art, dann wandte er sich ab. Offensichtlich war er nicht an mir interessiert. Er nahm eine liegen gebliebene Zeitung vom Platz neben ihm und schlug sie auf.
Ich zwang mich, nicht mehr in seine Richtung zu sehen, denn ich wollte auf keinen Fall, dass sich unsere Blicke erneut trafen. Das erste Mal war schon unangenehm genug gewesen. Stattdessen verbannte ich ihn aus meinen Gedanken.
Ich sah ihn erst wieder, als ich mit der Rolltreppe nach oben fuhr. Er stand einige Meter vor mir. Es war eine gut besuchte U-Bahnstation, also war es nichts Ungewöhnliches, dass wir beide hier ausgestiegen waren. Doch in diesem Moment warf er seine schwarze Lederjacke über die Schulter, und da wurde mir plötzlich klar: Er war der Mann, den ich vorhin beim Friseur unabsichtlich fotografiert und dessen Bild ich anschließend auf Facebook gepostet hatte. Ich klopfte mir in Gedanken lobend auf die Schulter, weil ich ihn endlich zuordnen konnte. Von wegen Schwangerschaftsdemenz! Mein Gehirn arbeitete immer noch auf Hochtouren. Zumindest beinahe.
Ich war bereits auf halbem Weg über die Straße und sah das Brautmodengeschäft schon vor mir, als mir der Gedanke kam, dass es in einer Großstadt wie London ziemlich seltsam war, einem Fremden an einem Tag gleich zwei Mal über den Weg zu laufen.
Dreißig angsterfüllte Minuten später, in denen ich so gut wie eben möglich den Bauch eingezogen und die Luft angehalten hatte, ohne ohnmächtig zu werden, ging der Reißverschluss meines Hochzeitskleides endlich zu.
Kurz darauf verließ ich beschwingt das Brautmodengeschäft, obwohl ich einen ziemlich großen Batzen meines Geldes dort gelassen hatte. Der Asphalt unter meinen Sandalen war mittlerweile brennend heiß und die Sonnenbrille eine Notwendigkeit und kein modisches Statement. Ich hatte es nicht sehr eilig, deshalb beschloss ich, nicht gleich mit der U-Bahn weiterzufahren, sondern ein Stück zu Fuß zu gehen und anschließend den Bus zu nehmen.
Ich hätte mir die Portion Eis mit den knusprigen Schokoflakes sicher besser verkneifen sollen, aber ich kaufte sie mir trotzdem.
Mit der tropfenden Waffel setzte ich mich auf eine freie Bank abseits der Straße, holte mein Handy heraus und sah mir das letzte Foto aus dem Ankleidezimmer des Brautmodengeschäftes noch einmal an. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Das Kleid sah sogar noch traumhafter aus, als ich es in Erinnerung hatte, und die champagnerfarbene Seide passte sehr viel besser zu meiner blassen Haut und den schwarzen Haaren als reines Weiß. Ich vergrößerte das Bild und riss erstaunt die Augen auf. Die Schwangerschaft tat mir anscheinend doch gut – mein Dekolleté war so üppig wie nie. Ich warf einen Blick auf den Ausschnitt meines T-Shirts und lächelte. »Ihr beide dürft gern länger bleiben«, sagte ich und lachte, als mir ein Passant einen verwunderten Blick zuwarf. Natürlich ist es ein bisschen verrückt, auf einer Parkbank sitzend mit seinen Möpsen zu reden, aber egal. Endlich war alles so, wie es sein sollte. Es war einer dieser seltenen vollkommen ungetrübten Glücksmomente.
Mehrere japanische Touristen schlenderten vorbei und bewunderten lautstark eine Besonderheit, die meinen Augen verborgen blieb, und ich lächelte ihnen zu. Mein Lächeln gefror jedoch, als mein Blick auf einen Kopf auf der anderen Seite der Reisegruppe fiel. Die dazugehörende Person wurde beinahe vollständig von den Touristen verdeckt, ich sah nur eine glänzende Glatze. Es gab also keinen Grund anzunehmen, dass es sich um denselben Kerl handelte, der mir an diesem Tag bereits zwei Mal über den Weg gelaufen war. Um Himmels willen, es gab sicher Tausende Glatzköpfe in dieser Stadt! Trotzdem war meine gute Laune mit einem Mal dahin. Die Eiscreme war plötzlich zu süß und klebrig, und die geschmolzenen Schokoflakes sahen unappetitlich aus. Ich warf die Waffel in den Abfalleimer. Mir war der Appetit vergangen.
Das Telefon in meiner Hand begann so unerwartet zu läuten, dass ich es beinahe fallen ließ. Ich warf einen Blick auf die Nummer und zwang mich, wieder zu lächeln. Er würde selbst die kleinste Unsicherheit in meiner Stimme sofort hören.
»Hi, Dad. Alles klar?«
»Ja, mir geht es gut, Liebling. Ich wollte dich nur schnell mal anrufen. Deine Mum macht gerade ein Nickerchen.«
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Mum ständig im Auge zu behalten und gleichzeitig so zu tun, als würde er es nicht tun, nahm seine ganze Zeit und Energie in Anspruch. Er tat praktisch nichts anderes. Die Tatsache, dass er dieses Telefonat nur führte, weil sie schlief und er sich ein wenig entspannen konnte, war bereits die Antwort auf meine nächste Frage, aber ich stellte sie trotzdem.
»Wie geht es ihr?«
»Um einiges besser, glaube ich.«
Ich biss mir auf die Lippe und beobachtete eine blaugraue Taube, die vor meinen Füßen hin und her lief und nach Sandwichkrümeln Ausschau hielt. Es war offensichtlich ziemlich anstrengend, und sie würde ewig brauchen, um satt zu werden, aber sie machte einfach weiter – genau wie mein Vater. Er schluckte auch immer nur kleine Bröckchen, denn der volle Umfang der Katastrophe wäre zu viel für ihn gewesen.
»Das neue Medikament wird ihr sicher helfen. Das spüre ich«, erklärte er überzeugt.
»Ich hoffe es, Dad«, erwiderte ich leise. Immerhin machten die Forscher tatsächlich laufend Fortschritte bei der Behandlung von Alzheimer im Frühstadium.
»Wie geht es voran mit den Hochzeitsvorbereitungen? Hast du schon alles erledigt?«
»Ja, fast«, erwiderte ich mit bewusst fröhlicher Stimme und dachte an die letzten Punkte auf meiner Liste, die ich nun wirklich langsam in Angriff nehmen sollte, anstatt auf einer Parkbank in der Sonne zu sitzen und Eis zu essen.
»Wenn Mum und ich dir etwas abnehmen können, dann sag Bescheid, okay, Maddie?«
Ich nickte und räusperte mich. In meinen Augen standen Tränen. Mum und ich hatten uns früher sämtliche Reality-Hochzeitsshows angesehen und uns darüber ausgelassen. Wir konnten stundenlang über die zur Auswahl stehenden Brautkleider und die unvorteilhafte Aufmachung der Brautjungfern diskutieren und auch darüber, wie viele Stockwerke eine Hochzeitstorte haben durfte, ohne kitschig auszusehen. Wir waren uns einig, dass wir bei meiner Hochzeit sämtliche Missgeschicke und Fehler vermeiden würden. Wir waren richtiggehende Expertinnen – doch als es schließlich Zeit wurde, meinen großen Tag zu planen, war Mum nicht mehr dazu in der Lage.
In der ersten Zeit war sie nur ein wenig vergesslich, und wir hatten darüber gelacht, doch irgendwann war es nicht mehr lustig gewesen. Vor allem nicht, nachdem der Arzt der Krankheit einen Namen gegeben hatte.
»Ihr beide checkt im Hotel ein und entspannt euch. Und an meinem großen Tag darf Mum dasitzen und ein paar Tränen vergießen, während du deine Tochter mit zitternden Knien zum Altar führst.«
»Deine Knie zittern bestimmt nicht«, sagte er überzeugt. »Ich habe noch nie erlebt, dass du dir einer Sache so sicher warst wie bei deiner Hochzeit mit Ryan.«
Ich dachte lächelnd an die bissigen Kommentare zurück, mit denen er meine Exfreunde im Laufe der Jahre bedacht hatte. Ich hatte zahlreiche Frösche geküsst, bevor mir mein Prinz begegnet war. Meine Eltern liebten Ryan beinahe so sehr wie ich, und das war wie der Zuckerguss auf meiner Hochzeitstorte – die im Übrigen drei Stockwerke hatte. Mit dieser Zahl war auch meine Mutter einverstanden. Oder besser gesagt: Sie wäre einverstanden gewesen.
Dads Anruf hatte mich in eine nachdenkliche Stimmung versetzt, und ich beschloss, noch ein Stück zu Fuß zu gehen, um sie zu vertreiben. Ich wollte nicht über die Dinge in meinem Leben nachdenken, die ich gern geändert hätte. Ich wollte das Leben feiern, das ich bald führen würde – als Mrs Ryan Turner. Obwohl es nur noch vier Tage dauerte, erschien mir selbst diese Zeit furchtbar lang. Ich war mehr als bereit für mein zukünftiges Leben, und es konnte gar nicht schnell genug beginnen.
Plötzlich hörte ich in einiger Entfernung ein vertrautes Rumpeln, und die Leute an der Bushaltestelle begannen, in ihren Taschen nach den Fahrscheinen zu kramen, und traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ich sprintete die letzten paar Meter zur Haltestelle, und gerade als ich ankam, hielt der Bus mit zischenden Bremsen neben mir. Ich ließ mich auf einen freien Platz am Fenster sinken und war in Gedanken schon bei der Druckerei, wo ich die Tischkärtchen abholen wollte.
Der Bus reihte sich in den Verkehr ein, allerdings ging es nur schleppend voran. Ich fragte mich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, mich für den Bus zu entscheiden, und zuckte zusammen, als ein Radfahrer sich vor ein Taxi drängte, dessen Bremsen lautstark quietschten. Der Taxifahrer streckte wütend die Faust aus dem Fenster, während der Radfahrer bloß den Mittelfinger zeigte und weiterfuhr.
Im nächsten Moment fiel mir auf, dass wir uns gerade in Sichtweite der U-Bahnstation befanden, an der ich zuvor ausgestiegen war. Ich sah den jungen Mann mit den feuerroten Haaren neben dem Zeitungsstand, der den Pendlern eine Gratiszeitung in die Hand drückte, und den kleinen Kiosk mit den überteuerten Äpfeln auf einem Bett aus grünem Kunstgras. Daneben stand jemand im Schatten. Der Mann achtete sorgsam darauf, den Eingang nicht zu blockieren, und über seinem tätowierten Unterarm hing eine schwarze Lederjacke.
Ich bekam kaum noch Luft. Er wartet auf dich! Der Gedanke hatte kaum Gestalt angenommen, als ich ihn schon wieder verwarf. Natürlich wartete der Mann nicht auf mich. Ich kannte ihn doch gar nicht, und er kannte mich nicht. Es war bloß einer dieser seltsamen, unheimlichen Zufälle, die immer wieder mal vorkamen. Die Vernunft riet mir, Ruhe zu bewahren, obwohl ich kurz davorstand, in Panik zu geraten. Hunderte, vielleicht sogar Tausende Menschen stiegen pro Tag an dieser Station aus, und es war durchaus logisch, dass der Mann mittlerweile ebenfalls alles erledigt hatte und zurückgekommen war, um nach Hause zu fahren.
Der Verkehr bewegte sich immer noch quälend langsam voran, und bevor ich mich vom Fenster abwenden oder mir einen neuen Sitzplatz suchen konnte, kam der Bus genau gegenüber der U-Bahnstation zum Stehen. Der Mann hatte den Blick auf sein Telefon gerichtet, doch als er das Zischen der Bremsen hörte, sah er auf. Es war, als hätte er genau gewusst, hinter welchem Fenster er mich finden würde, denn eine Sekunde später sah er mir direkt in die Augen. Dieses Mal kam es mir vor, als würde er mich ebenfalls wiedererkennen. Er setzte sich in Bewegung, und ich riss entsetzt die Augen auf, als hätte er eine Waffe gezogen. Ich warf einen hektischen Blick auf die Autos vor uns, während der Mann in Richtung der nächsten Bushaltestelle eilte, die sich mehrere Hundert Meter die Straße hinunter befand. Noch war die Haltestelle verwaist, und der Bus würde nur stehen bleiben, wenn ein Fahrgast den Halteknopf drückte. Wenn keiner der anderen Passagiere aussteigen wollte, würden wir weiterfahren und den unheimlichen Mann mit der Lederjacke hinter uns lassen. Aber wenn er die Bushaltestelle vor uns erreichte und seinen Arm ausstreckte, würde der Bus genau vor ihm anhalten.
Ich saß angespannt auf meinem Platz, und eine irrationale Panik ergriff von mir Besitz. Fahr weiter! Fahr weiter!, flehte ich stumm. Doch dann stand eine Frau mit einem Kinderwagen auf und machte sich schwankend auf den Weg zur Tür. Der Fahrer hob den Blick und entdeckte sie im Rückspiegel. Die Frau wirkte unsicher. Sie wandte sich an einen älteren Mann und fragte ihn etwas, doch er zuckte bloß mit den Schultern. Danach versuchte sie es bei einem Teenager mit weißen Kopfhörern, der sie entweder nicht hörte oder ihr schlichtweg nicht antworten wollte.
Der Fahrer sah erneut in den Rückspiegel und setzte den Blinker. Ich warf einen Blick über die Schulter. Mehrere Gäste waren gerade aus einem Pub herausgetreten und blockierten die Sicht auf die anderen Fußgänger. War der Mann mit der Lederjacke in der Nähe?
»Ist Haltestelle von Krankenhaus?«, fragte die junge Frau mit starkem Akzent, während der Bus immer langsamer wurde. Bald würde der Fahrer anhalten und die Türen öffnen – und der Mann würde in den Bus steigen.
»St. Margaret’s?«, wollte der Fahrer wissen.
Die junge Frau nickte.
»Nein. Das ist erst die nächste Haltestelle. Setzen Sie sich ruhig wieder hin, ich sage Ihnen dann, wenn es so weit ist.«
Wir reihten uns wieder in den Verkehr ein, der sich auf zauberhafte Weise gelichtet hatte, und fuhren direkt an der Bushaltestelle vorbei.
Erst jetzt hatte ich den Mut, einen weiteren Blick über die Schulter zu werfen. Der Glatzkopf hetzte dem Bus hinterher, aber es war zu spät. Sein Gesicht war wutverzerrt, als er erkannte, dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. Er hatte den Bus verpasst. Und mich auch.
Ich überlegte hin und her, ob ich die Nachricht wirklich abschicken sollte. Sie klang so albern, dass ich sie im letzten Moment doch noch löschte, bloß um kurz darauf mein Handy erneut hervorzuholen und etwas Unverfänglicheres zu tippen.
Bist du noch in dem Meeting?
Ich wusste, dass Ryan das Telefon lautlos gestellt hatte und es eine Weile dauern würde, bis er die Zeit fand, einen diskreten Blick darauf zu werfen. Dennoch verging kaum eine Minute, bevor das Handy in meiner schweißnassen Hand vibrierte.
Ja leider. Es ist verdammt langweilig. Wie läuft’s bei dir? Sollen wir durchbrennen?
Ich lächelte, als ich den letzten Satz las, und bewunderte ihn für seine Fähigkeit, mich zu beruhigen, auch wenn er kilometerweit entfernt war und gar nichts von meinem Stress wusste. Wahrscheinlich waren ohnehin nur die Schwangerschaftshormone an meinem Zustand schuld. Es musste einfach so sein. Normalerweise war ich nicht so überspannt, und außerdem kannte ich London. Ich lebte seit Jahren hier und war auch oft allein in der Nacht unterwegs, ohne mir Gedanken zu machen. Deshalb war diese Reaktion wohl auf eine Kombination aus Schwangerschaftshormonen und der Nervosität vor der Hochzeit zurückzuführen – eine gefährliche Mischung, die selbst eine normale und vernünftige Achtundzwanzigjährige in eine Verrückte verwandelte.
Mir war durchaus klar, dass diese Verrückte immer noch am Ruder saß, als meine Finger über das Telefon flogen und ich Ryan die Nachricht schickte, die mein vernünftiges Ich vorhin gerade erst gelöscht hatte.
Jemand folgt mir.
Quälende zwei Minuten und neunundvierzig Sekunden später kam die Antwort.
Ich weiß. Beim letzten Mal hattest du 1775 Follower.
Ich vertippte mich ständig, bis die Antwort fertig war.
Nicht auf Twitter! In echt. Ich werde von einem fremden Mann verfolgt.
Es folgte eine weitere, schrecklich lange Pause. Glaubte er, dass ich Witze machte? Hatte meine Nachricht auch nur im Entferntesten witzig geklungen? Ich wurde schon wütend, als mein Telefon plötzlich klingelte.
»Wer verfolgt dich?« Ryan hielt sich gar nicht erst mit einer Begrüßung auf. Es war ihm deutlich anzuhören, dass er meine Nachricht ernst nahm. Seltsamerweise linderte seine Sorge um mich meine Angst ein wenig.
»Sprichst du in dem Raum, wo ihr das Meeting habt?« Ich stellte mir vor, wie etliche Menschen – von denen nicht wenige am Samstag zu unserer Hochzeit kommen würden – mitbekamen, wie Ryans Verlobte langsam, aber sicher den Verstand verlor.
»Nein, ich bin kurz raus. Wo bist du denn?«
»Linie 73. Wir sind gerade in die Lincoln Street eingebogen.«
»Sitzt der Mann bei dir im Bus? Hat er dich angequatscht? Was hat er denn getan?«
Ja, was hat er eigentlich getan?, fragte ich mich, und die Verrückte in mir versank vor Scham im Erdboden. Ich hatte den Feueralarm ausgelöst und zu spät bemerkt, dass es gar nicht brannte.
»Er war einfach da«, erwiderte ich und hörte selbst, wie lahm das klang. Ich konnte eigentlich gut mit Worten umgehen, aber jemandem ein vages, irrationales Gefühl zu erklären war sehr viel schwieriger, als konkrete Fakten zu vermitteln.
Und was hatte der Mann mir getan? Er hatte sich auf mein Selfie beim Friseur geschummelt, hatte in derselben U-Bahn wie ich gesessen, war an derselben Station ausgestiegen, hatte einige Zeit später vor dem Eingang der Station auf jemanden (aber nicht zwangsläufig auf mich) gewartet und war dann meinem Bus hinterhergelaufen. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob er auch der Mann gewesen war, in den ich vorhin auf dem Weg zurück ins Café hineingelaufen war. Und ebenfalls nicht, ob er sich hinter den japanischen Touristen versteckt hatte. In meinem Kopf hatte sich die Bedrohung sehr real angefühlt, doch jetzt, wo ich meinen Verdacht laut aussprechen sollte, kam mir alles albern vor.
»Nein, er hat gar nichts getan«, wiederholte ich. »Es tut mir leid, Schatz. Ich bin offenbar ein bisschen durchgedreht. Ignorier meine Nachricht und geh wieder in dein Meeting«, sagte ich, und es war mir durchaus klar, dass mehrere Fahrgäste unser Gespräch belauschten.
»Wohin bist du denn gerade unterwegs?«
»Zur Druckerei, aber …«
»Okay, wir treffen uns dort.«
»Nein, Ryan! Ist schon okay. Es war dumm von mir. Du musst dein Meeting nicht sausen lassen. Du hast doch gesagt, dass es wichtig ist.«
»Du bist mir wichtig«, korrigierte er mich, und es war ihm anzuhören, dass ich ihn nicht mehr von seinem Entschluss abbringen konnte. In diesem Moment verliebte ich mich noch einmal in ihn.
»Fahr zur Druckerei und warte dort auf mich«, drängte er und legte auf, bevor ich mich bei ihm bedanken oder – noch wichtiger – ihm sagen konnte, dass ich ihn liebte. Aber wahrscheinlich war ihm das ohnehin klar.
Obwohl ich wusste, dass Ryan bereits unterwegs war, rutschte ich unruhig auf meinem Sitz hin und her, während sich der Bus durch den Verkehr quälte. Ich drehte mich immer wieder um und versuchte, einen Blick auf die Straße hinter uns zu erhaschen, doch wir wurden von einem anderen Bus verfolgt, der so nahe an uns dran war, dass sich die Stoßstangen beinahe berührten. Er fuhr anscheinend dieselbe Route.
Ich sah, dass es ebenfalls ein Bus der Linie 73 war, und verfiel erneut in Panik. Wenn mich der Mann immer noch verfolgte, war er vermutlich nur wenige Meter hinter uns. Ich wandte mich wieder nach vorn. Für mich bestand inzwischen kein Zweifel mehr, dass er im zweiten Bus saß, und wenn ich in etwa zehn Minuten aus dem Bus stieg, würde er dasselbe tun. Ich wusste es einfach.
Ich stand auf und ging zur Tür, lange bevor der Bus überhaupt langsamer wurde. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, wie weit die Druckerei von der Bushaltestelle entfernt lag, denn ich war erst einmal dort gewesen. Aber wenn ich mich beeilte, konnte ich vielleicht einen kleinen Vorsprung herausholen, bevor der zweite Bus anhielt.
Ich sprang auf den Bürgersteig und schlängelte mich durch die Passanten. Ich stieß dauernd mit jemandem zusammen und wagte es nur ein einziges Mal, mich umzudrehen. Der zweite Bus hatte gerade angehalten, und die Passagiere strömten auf den Bürgersteig. Mein Herz klopfte, und ich legte an Tempo zu. Kurz darauf stand ich erleichtert vor der Glastür der Druckerei.
Leider sah ich den Zettel, der von innen auf dem Glas klebte, nicht gleich und verschwendete mehrere wertvolle Sekunden damit, an der versperrten Tür zu rütteln. Dann sah ich die handgeschriebene Nachricht. Komme gleich wieder.
Ich wandte den Kopf ab – und sah, wie sich der Mann, der mich schon den ganzen Tag verfolgte, durch die Menschenmenge in meine Richtung schob. Ich legte eine Hand auf meinen Hals. Mein Puls machte mir langsam Sorgen. Ich drängte mich näher an die Glastür. Links und rechts neben dem Eingang standen in großen Terrakottatöpfen zwei Zwergkoniferen, und es bestand die winzig kleine Möglichkeit, dass mich der Mann noch nicht gesehen hatte. War es besser, hierzubleiben und darauf zu hoffen, dass er vorbeiging, oder sollte ich lieber weitergehen?
Mein Entschluss – der sich im Nachhinein als der größte Fehler meines Lebens erwies – war unüberlegt und übereilt, was irgendwie seltsam ist, weil ich alles in Zeitlupe sehe, wenn ich daran zurückdenke. Ich beschloss weiterzugehen. Ein Stück weiter auf der anderen Straßenseite befand sich ein Restaurant mit großen Schaufenstern, wo ich auf Ryan warten konnte.
Erst als ich wieder auf den Bürgersteig trat, wurde mir klar, wie sehr ich die Geschwindigkeit meines Verfolgers unterschätzt hatte, denn zwischen uns lagen plötzlich nur noch ungefähr fünf Meter. Ich schnappte nach Luft und erkannte zu spät, dass ich einen Fehler gemacht hatte.
»Hey, Sie!«, rief er, und es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Sie war überraschend wohlklingend und tief. »Warten Sie!«
Ja klar!, dachte ich, machte auf dem Absatz kehrt und begann zu laufen.
»Hey!«, rief er erneut, aber ich drehte mich nicht mehr um. Ich glaubte, schwere Schritte auf dem Bürgersteig hinter mir zu hören, aber vermutlich war das bloß Einbildung.
Ich warf einen Blick auf das Restaurant auf der anderen Seite der vierspurigen Straße und blinzelte, als hätte ich eine Fata Morgana gesehen. Ein schwarzes Taxi hatte am Randstein gehalten, und daneben stand Ryan. Er bezahlte gerade und hatte mich noch nicht entdeckt. Es herrschte starker Verkehr, und ich bezweifelte, dass er mich hören konnte, aber ich rief trotzdem nach ihm.
Ein Windstoß wehte Ryan einen Geldschein aus der Hand, und er flatterte in den Rinnstein. Er bückte sich, um ihn aufzuheben, und weitere wertvolle Sekunden verstrichen. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Gestalt, die immer näher kam. Gleich würde der Mann auf offener Straße und direkt vor den Augen meines Verlobten über mich herfallen, und Ryan konnte absolut nichts tun, um es zu verhindern.
»Hey!«, rief der Mann ein weiteres Mal und klang mittlerweile richtig wütend. Trotzdem wollte ich nicht stehen bleiben, um ihm die Sache einfacher zu machen. Ich entdeckte eine kleine Lücke zwischen zwei Autos, zögerte kurz und sprang dann auf die Straße. Der Fahrer des einen Wagens starrte mich überrascht und wutentbrannt an, ehe er mit voller Wucht auf die Bremse trat. Auf der Nebenspur erklang wütendes Hupen, und ich machte einen Satz zur Seite. Das Auto war mir so nahe gekommen, dass ich die Wärme der Motorhaube spüren konnte. Der Glatzkopf stand am Bürgersteig und brüllte mir etwas Unverständliches zu. Ich hörte auch Ryan, der auf der anderen Straßenseite stand und meinen Namen rief.
»Maddie!« Ich lief auf ihn zu. Er war mein sicherer Hafen.
»Maddie!« Dieses Mal klang seine Stimme irgendwie anders. Panischer. Er hatte den Mund weit aufgerissen und brüllte, und seltsamerweise machte der glatzköpfige Mann hinter mir genau dasselbe. Und da er sehr viel näher war als Ryan, verstand ich ihn besser.
»Passen Sie auf, um Himmels willen! Passen Sie auf!«
Ich wandte mich zu ihm um. Ich erinnere mich, dass ich überlegte, was er da in der Hand hielt. Es sah aus wie meine Strickjacke, dabei war mir gar nicht aufgefallen, dass ich sie verloren hatte.
In diesen letzten Sekunden starrte ich direkt in die ausdruckslosen schwarzen Augen des Glatzkopfes, und wenn ich nur eine einzige Sekunde an diesem ganzen Tag hätte ändern können, hätte ich mich zu Ryan umgedreht. Es wäre um einiges leichter zu ertragen gewesen, wenn ich ihm in die Augen gesehen hätte.
Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Eben noch stand ich mitten auf der Straße, und im nächsten Moment wurde ich durch die Luft geschleudert. Ich sah den Himmel, die Fahrbahn und dann seltsamerweise wieder den Himmel. Ich sah eine riesige weiße Wand – die Motorhaube des Vans, der mich umgefahren hatte. Ich spürte keinerlei Schmerzen, als ich wie ein nasser Sack auf dem Autoblech landete. Ich merkte nicht, wie ich gegen die Windschutzscheibe geschleudert wurde, hörte nicht, wie das Sicherheitsglas brach. Ich hatte Brüche an Armen und Beinen erlitten, und ich schlitterte zurück auf die Straße, ohne irgendwo Halt zu finden. Ich sah erneut in den Himmel, und einen Augenblick später tauchten mehrere Gesichter über mir auf, doch ich konnte niemanden erkennen, denn sie waren voller Blut. So viel Blut. Jemand brüllte meinen Namen, aber es klang, als würde er hinter einer Wand aus Watte stehen. Die Welt wurde immer kleiner und die Gesichter immer undeutlicher. Ich blinzelte, als noch mehr Blut in meine Augen rann, und dann wurde alles ruhig und sehr, sehr dunkel.
Ich befand mich in einem langen, dunklen Tunnel. Eigentlich war es ein ganzes Netzwerk aus Tunneln, die sich ständig kreuzten, wie bei einem Labyrinth. Manchmal glaubte ich, ein Licht zu sehen, doch meistens war alles um mich herum schwarz. Manche Geräusche schafften es, die Stille zu durchbrechen: Einmal waren es Stimmen, dann wieder lautes Geklapper, das ich nicht zuordnen konnte. Am häufigsten hörte ich meinen Namen. Ab und zu war es nur ein Flüstern, ein anderes Mal klang es wie ein Schluchzen und dann wieder wie ein wütendes Brüllen. Aber das alles spielte keine Rolle, denn ich konnte ohnehin nicht antworten.
Seltsamerweise war die Stimme meiner Mutter die klarste und deutlichste von allen. Sie sagte mir, dass ich durchhalten solle. Dass ich nicht allein sei. Dass sie bei mir bleiben würde. Sie drängte mich, weiter durch die Dunkelheit zu laufen, bis ich den Weg zurückfand.
Aber wo war ich eigentlich?
Hände berührten mich. Manchmal waren die Berührungen roh, manchmal zärtlich. Ryan. Ich hätte das Gefühl seiner Haut auf meiner überall erkannt.
Die anderen Gefühle waren sehr viel unangenehmer, denn da war vor allem Schmerz. Sehr großer Schmerz. Manchmal hatte ich Angst, darin unterzugehen, und ich versuchte verzweifelt, zurück an die Oberfläche zu gelangen, die jedoch kein einziges Mal in greifbare Nähe rückte. Es fühlte sich an, als hätte mich ein wütender Riese mit einem Putzlappen verwechselt, den er nun langsam und sorgfältig auswrang. Die Schmerzen waren zu grausam und die Dunkelheit zu verlockend, und so floh ich immer tiefer in das Labyrinth hinein und kam lange Zeit nicht mehr heraus.
Ich schwamm unter einer Eisschicht, doch das Wasser war nicht kalt, sondern warm, und ich fühlte mich so geborgen wie in einem Kokon. Wie ein Baby im Mutterleib, dachte ich – und etwas an dieser Vorstellung beunruhigte mich. Ich versuchte, den Gedanken festzuhalten, aber er entglitt mir immer wieder. Ich schwebte im Nichts und blickte in einen schwarzen Himmel, der unerklärlicherweise immer grauer und nur nach oben hin heller wurde. Die Schmerzen, die meinen Körper lange Zeit verschont hatten, waren plötzlich wieder da, und die Warnung meines Gehirns war unmissverständlich: Weg hier!
Doch dann hörte ich die drängende Stimme meiner Mutter: »Geh weiter, Maddie!«
Ich entdeckte einen langen Riss in dem Eis über mir. Ich streckte die Hand danach aus und berührte ihn mit den Fingerspitzen. Die Kanten waren messerscharf. Um mich herum war es vollkommen still, doch von weit her erklang ein leises Rumpeln, als würde eine Lawine auf mich zudonnern. Ein Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit, und ich schwamm, so schnell ich konnte, darauf zu, weil ich Angst hatte, er könnte jeden Moment wieder verschwinden.
Es wäre viel einfacher gewesen, in der Dunkelheit zu bleiben. Ich konnte mich zurück auf den Grund sinken lassen – oder die Hände gegen den Spalt pressen. Und dann würde er aufbrechen. Das wusste ich mit Sicherheit. Pressen! Pressen! Es war wie eine lange vergessene Erinnerung. Ich legte meine Hände auf das Eis, drückte den Rücken durch und durchbrach die Oberfläche.
»Mum!«
Jemand kreischte, aber ich war es nicht. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Die hatte ich gebraucht, um das Eis zu durchstoßen.
Etwas fiel zu Boden, und Glas oder Porzellan zerbrach.
»O mein Gott, sie ist wach! Sie ist wach!«, rief eine unbekannte Stimme.
»Mum?«, fragte ich zögernd. Doch meine Mutter war in die schwarze Leere zurückgekehrt. Wer auch immer die Frau war, die nun die Hände auf mein Gesicht legte – meine Mutter war es nicht.
Ich versuchte mit unmenschlichem Kraftaufwand, meine Augen zu öffnen. Zuerst sah ich gar nichts, doch dann gewöhnte sich meine Netzhaut wieder ans Licht. Die Schatten teilten sich, und mein Gehirn erinnerte sich daran, wie es die Bilder verarbeiten musste, die ihm meine Augen schickten. Eine Gestalt beugte sich über mich, doch ich vermochte sie nicht zu erkennen und auch nicht zu verstehen. Ich konnte zwar einzelne Worte unterscheiden, doch sie klangen fremd und unglaublich aufgeregt. Langsam wurde mir klar, dass die Frau weinte.
Die Hand, die eben noch mein Gesicht berührt hatte, legte sich auf meine, die auf etwas Kratzigem lag. Eine Decke vielleicht? Lag ich etwa im Bett? Aber wenn es so war, dann war es sicher nicht mein eigenes. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, und plötzlich bekam ich furchtbare Angst. Die Frau merkte es vermutlich, denn im nächsten Moment drückte sie meine Hand so fest, dass es beinahe wehtat.
»O nein, Maddie! Das lassen Sie schön bleiben. Sie bleiben hier!« Sie hielt meine Hand immer noch fest umklammert, während sie mit der anderen einen Knopf an der Wand drückte. Meine Augenlider flatterten und schlossen sich langsam wieder. Gleichzeitig hörte ich die Frau rufen: »Sie ist wach! Sie ist wach! Madeline Chambers ist wach!«
Es dauerte einige Zeit, bis ich erneut die Augen öffnete. Ich befand mich in einem dunklen Raum, in dem nur eine einzelne, schwache Lampe brannte. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft, und es dauerte ein wenig, bis ich ihn richtig einordnen konnte. Desinfektionsmittel. Ich lag also im Krankenhaus. Aber warum?
Leise Schritte auf dem Linoleumboden sagten mir, dass ich nicht allein war, und im nächsten Moment trat eine Krankenschwester an mein Bett. Mein Blick war immer noch getrübt und ließ sich nicht scharf stellen, und als sie sich über mich beugte, war ihr Gesicht von einem Strahlenkranz umgeben. Sie sah aus wie ein Engel.
»Was ist passiert?«, fragte ich. Meine Stimme klang heiser und kratzig, als sei meine Kehle eingerostet.
Bildete ich es mir nur ein, oder zögerte sie, bevor sie antwortete? »Sie hatten einen Unfall, Madeline. Sie sind im St.-Margaret’s-Krankenhaus.«
St. Margaret’s? Hatte sich nicht vorhin erst jemand danach erkundigt? Meine Erinnerungen waren verschwommen und entglitten mir jedes Mal, wenn ich meine Gedanken darauf fokussieren wollte. Also konzentrierte ich mich stattdessen auf die Antwort der Krankenschwester. Das konnte doch nicht sein, oder? Ich erinnerte mich an nichts.
»Einen Unfall? Nein, das … das ist unmöglich«, erwiderte ich zögerlich. Plötzlich sah ich eine schwarze Lederjacke vor mir – und ich hatte keine Ahnung, warum.
Eine andere Erinnerung kam zwar langsam wieder, blieb jedoch gerade außer Reichweite, sodass ich sie auch dieses Mal nicht zu fassen bekam. Doch dann schaffte ich es endlich.
»Ryan?«, keuchte ich panisch. »Wo ist Ryan?« Ich drehte meinen Kopf von einer Seite zur anderen und konnte nicht glauben, dass er nicht bei mir war. Doch nur ich und die Krankenschwester befanden sich in dem Zimmer, und der Besucherstuhl war leer. »Mein Verlobter … Ist er hier?«
Das Gesicht der Krankenschwester glich einer ausdruckslosen Maske. Sie räusperte sich, bevor sie antwortete, und ich glaube, ich werde dieses Räuspern nie vergessen. »Er war hier, aber er musste gehen.«
»Warum? Wo ist er denn hin?« Ryan hätte mich niemals in diesem Zustand allein zurückgelassen, es sei denn, er war in denselben Unfall verwickelt gewesen wie ich. Es war offensichtlich, dass die Krankenschwester mir etwas verschwieg. Ihr Gesicht war voller Mitgefühl, doch es lag noch etwas in ihren Augen, das mir Angst machte. Warum konnte ich mich an nichts erinnern? »Ist er … Wurde er auch verletzt?«
Die Krankenschwester antwortete nicht, sondern trat auf die Tür zu. »Ich hole den diensthabenden Arzt«, erklärte sie und konnte es anscheinend kaum erwarten, von mir fortzukommen.
Doch bevor sie in den Flur hinausschlüpfte, warf sie noch einen Blick zurück. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe. »Ihr Verlobter war nicht in den Unfall verwickelt. Es geht ihm gut. Aber er ist vor einiger Zeit nach Hause gegangen. Man hat ihn inzwischen angerufen und ihm gesagt, dass Sie wach sind. Ich bin mir sicher, dass er bald hier ist.«
Ich ließ mich beruhigt ins Kissen zurücksinken. Ryan würde herkommen – und dann war alles wieder gut.
Ich lag in dem abgedunkelten Zimmer, wartete darauf, dass jemand meine Welt wieder in Ordnung brachte, und versuchte, den wenigen Informationen, die ich bis jetzt erhalten hatte, einen Sinn zu entnehmen. Die Krankenschwester hatte gesagt, dass ich einen Unfall gehabt hatte, und das stimmte wohl, denn warum war ich sonst im Krankenhaus? War ich schwer verletzt? Ich hob vorsichtig einen Arm. Er war steif und hatte das Gewicht von Blei. Aber abgesehen davon schien alles in Ordnung zu sein. Ich ging Arme und Beine der Reihe nach durch. Sie schmerzten, und selbst die kleinste Bewegung war furchtbar anstrengend, aber ich trug weder einen Verband noch einen Gips. Was wohl bedeutete, dass ich mir nichts gebrochen hatte. Ich berührte mein Gesicht und den Kopf. Jemand hatte meine Haare zu einem Zopf geflochten, was mir seltsam vorkam, aber abgesehen davon schien alles wie immer.
In meinem Zimmer war es so ruhig, dass ich irgendwann einschlief, und mit dem Schlaf kamen auch die Träume. Es waren seltsame Träume, die ebenfalls keinen Sinn ergaben. Ich war in einem Laden und wollte etwas sehr Wichtiges kaufen. Ich glaube, es war eine Strickjacke. Und ich machte mir Sorgen, weil niemand meine Handtasche fand, denn wie sollte ich für alles bezahlen, wenn ich kein Geld hatte? Im nächsten Augenblick saß ich beim Friseur, doch als mich die Friseurin bat, in den Spiegel zu sehen, blickte mir ein Albtraumgesicht entgegen. Mein Kopf war vollkommen kahl.
Ich schnappte panisch nach Luft und war plötzlich wieder wach. Meine Hand wanderte instinktiv zu meinem Zopf, obwohl ich ihn deutlich unter dem Nacken spüren konnte. Ich sah aus dem Fenster, wo langsam die Morgendämmerung hereinbrach. Ich hatte wohl mehrere Stunden geschlafen, und falls Ärzte im Zimmer gewesen waren, hatten sie vermutlich beschlossen, mich nicht zu wecken.
Draußen auf dem Flur erklangen Schritte, die immer langsamer wurden und schließlich vor meiner Tür innehielten. Ich hörte zwei leise Stimmen. Die eine klang tief und schroff und kam mir nicht bekannt vor, doch die andere war die eine Stimme, die mir auf dieser Welt am meisten bedeutete.
Ich hatte den Kopf zur Tür gedreht, bevor sie geöffnet wurde, und mein Herz sehnte sich so sehr nach ihm, dass es beinahe körperlich wehtat. Ryan betrat das Zimmer hinter dem diensthabenden Arzt, doch dann erstarrte er.
Mein Lächeln gefror. Er sah schrecklich aus. Selbst in dem düsteren Licht war es offensichtlich, wie sehr ihn mein Unfall mitgenommen hatte. Seine Haare waren zerzaust, als sei er Tausende Male mit den Händen hindurchgefahren, und seine Augen wirkten gequält. Und plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. Ich sah die Straße, ich sah den Glatzkopf mit meiner Strickjacke, und als es bereits viel zu spät war, um etwas zu ändern, sah ich auch den Van, der auf mich zuraste.
Ich stöhnte auf und streckte die Hand nach Ryan aus, doch er zögerte noch immer. Es lagen so viel Kummer und Schmerz in seinem Blick – und im nächsten Augenblick wusste ich auch, weshalb. Meine Hand glitt zu meinem Bauch und wanderte von einem hervorstehenden Hüftknochen zum anderen und wieder zurück. Mein Bauch war flach. Die Wölbung war verschwunden. Als Ryan endlich an mein Bett trat, weinte ich. Und ich stellte ihm die Frage, auf die ich im Grunde keine Antwort mehr benötigte: »Das Baby … Ryan, wo ist das Baby? Habe ich unser Baby verloren?«
Er nahm mich in die Arme und drückte mich an sich, und ich spürte die vertraute Wärme, roch den vertrauten Geruch. Er hielt mich so fest, dass die Knöpfe seines Hemdes bestimmt Abdrücke auf meiner Wange hinterließen.
Wir weinten beide, und ich bekam nur am Rande mit, dass der Arzt eine leise Entschuldigung murmelte und sich zurückzog. Ich war froh, dass er ging.
Ryan ließ mich sanft auf das Kissen sinken und nahm auf dem Besucherstuhl Platz.
»Wie fühlst du dich, Maddie?«, fragte er, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Als hätte mich ein Lastwagen überfahren«, erwiderte ich. Ich wollte eigentlich nicht witzig sein, denn die Situation war es keinesfalls. Das Kind, das wir nicht geplant, aber auf das wir uns trotzdem wahnsinnig gefreut hatten, war nicht mehr da. Die Schuld lastete schwer auf mir. Ich war achtlos gewesen. Man hatte mir etwas Wertvolles, Unersetzbares anvertraut, aber ich hatte nicht gut genug darauf aufgepasst. Ich. Ich war schuld daran.
Doch meine Antwort auf Ryans Frage war auch aus einem zweiten Grund unpassend, denn ich fühlte mich nicht, als hätte ich einen Unfall gehabt.
Ich war nicht eingegipst, ich war nicht blutverschmiert, und ich hatte keine Prellungen – obwohl ich es verdient hätte, denn ich allein hatte mir und dem Baby das alles in einem unbedachten Moment angetan. Kein Wunder, dass Ryan es kaum ertrug, mich in den Armen zu halten.
»Wie ist es möglich, dass ich keine Verletzungen habe? Ich erinnere mich, wie mich der Van angefahren hat. Ich flog durch die Luft …«
Ryan stöhnte, und Tränen liefen über seine Wangen. Er griff nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. Die Geste war so vertraut, dass ich das Gefühl hatte, endlich wieder zu Hause zu sein.
»Es war der schlimmste Augenblick meines Lebens. Ich werde nie vergessen, wie du geschrien hast und wie der Van plötzlich in dich hineinraste … Als ich endlich bei dir war, dachte ich, du wärst tot. Und ich wäre dir am liebsten sofort gefolgt. Die Vorstellung, auch nur eine Minute ohne dich zu sein, war unerträglich.«
Ich hörte erneut die Panik in seiner Stimme, als er vom anderen Straßenrand nach mir rief, und mein Herz zersprang in tausend Stücke.
»Es war ein Wunder, dass du noch lebtest. Das sagten die Sanitäter, die Ärzte und alle, die sich um dich kümmerten. Und ich glaubte ihnen. Und als sie mich jetzt mitten in der Nacht anriefen und sagten, dass du aufgewacht bist, war dies das nächste Wunder.«
Ich ließ meinen Daumen über seine Hand gleiten. Seine Haut fühlte sich seltsam an. So heiß und trocken, als hätte er Fieber.
Etwas an dem, was er gerade gesagt hatte, beunruhigte mich. Mein Kopf begann zu schmerzen, aber ich bohrte tiefer und tiefer und versuchte herauszufinden, was es war.
Auf dem Flur hörte man das Klappern des Frühstückswagens, und die Schwestern, Ärzte und Besucher wünschten einander einen guten Morgen und lachten. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster. Ein weiterer wunderschöner Junitag begann. Oder etwa nicht?
»Wir müssen die Hochzeit absagen. Wir können nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen. Das wäre nicht richtig. Wir müssen sie verschieben und uns Zeit geben, um unser Baby zu trauern«, sagte ich mit zitternder Stimme.
Ich hatte schon viele Augenblicke mit Ryan geteilt: Glück, Freude, Leidenschaft und auch ein paar heftige Streitigkeiten, deren einziger Sinn die spektakulären Versöhnungen waren. Aber das Mitleid, das nun aus seinen Augen sprach, war neu für mich.
Er sah mich so eindringlich an, als wollte er mich dazu bringen, die Wahrheit selbst zu erkennen. Es war offensichtlich, dass er die Worte nicht über die Lippen brachte.
»Wir müssen die Hochzeit gar nicht mehr absagen, oder?«
Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Weil … weil du es bereits getan hast?«
Er gab einen erstickten Laut von sich, den ich als Ja deutete.
Mittlerweile schien die Sonne ins Zimmer. Es würde wohl ein sehr heißer Tag werden. Heißer, als man es im Juni normalerweise erwartete.
»Welcher Tag ist heute?«
Ryan schüttelte den Kopf. Er sagte nichts, obwohl seine Körpersprache mir unmissverständlich klarmachte, dass ich diese Frage lieber nicht hätte stellen sollen.
»Ryan. Sieh mich an! Welcher Tag ist heute?«
Er sah mir nicht in die Augen, als er schließlich antwortete. Wahrscheinlich ertrug er es nicht. »Heute ist der zehnte August«, erwiderte er stockend.
Sieben Wochen – oder genauer gesagt: siebeneinhalb Wochen. Wie war das möglich? Wie konnte ich einfach so zweiundfünfzig Tage meines Lebens verlieren? Inzwischen vermochte ich mich genau an den Tag des Unfalles zu erinnern, und alle Einzelheiten waren wieder da. Doch die Wochen, die ich im Krankenhaus verbracht hatte, waren für immer verschwunden. Sie waren genauso unwiederbringlich fort wie das Kind, das ich verloren hatte.
Wenigstens erklärte es, warum weder Ryan noch meine Eltern bei mir gewesen waren, als ich aufwachte. Natürlich hatte meine Familie nach dem Unfall an meinem Bett gewacht, doch das war inzwischen mehrere Wochen her.
»Wie geht es meinen Eltern? Wissen sie schon, dass ich wach bin?«
Ryan nickte, doch der traurige Ausdruck in seinen Augen verschwand nicht. »Man hat sie noch vor mir verständigt. Ich habe mit deinem Dad gesprochen, bevor ich los bin. Er kommt so schnell wie möglich.«
»Er kommt allein?«
Ryan wählte seine Worte mit Bedacht. »Der Zustand deiner Mum hat sich nach dem Unfall … verschlechtert«, erklärte er schließlich und drückte meine Hand. Er wusste genau, dass ich mir die Schuld daran geben würde. Ich war schwach und müde, aber mir war trotzdem klar, dass er die Sache beschönigte.
»Warum? Was ist passiert?«
»Das soll dir lieber dein Dad erzählen«, erwiderte Ryan und warf einen sehnsüchtigen Blick zur Tür, als wünschte er sich, dass endlich jemand kam. Für einen Mann, der den Rest seines Lebens mit mir verbringen wollte, schien es ihm ziemlich unangenehm, mit mir allein zu sein.
»Ryan, was verschweigst du mir? Hat es vielleicht etwas mit meinen Verletzungen zu tun?«
Er schüttelte den Kopf, doch er war schon immer ein schlechter Lügner gewesen.
»Nein, es ist nichts«, erklärte er und presste die Lippen zusammen. »Vielleicht solltest du dich jetzt lieber ein wenig ausruhen. Sie haben gesagt, dass ich nicht lange bleiben darf. Sie müssen einige Tests machen, nachdem du jetzt wieder … da bist.«
Es klang, als hätte ich eine lange Reise unternommen. Vielleicht fühlte sich meine siebenwöchige Abwesenheit für ihn tatsächlich so an, doch für mich war es, als sei bloß ein Tag vergangen.
»Kannst du nicht noch hierbleiben?«, fragte ich und klang wie ein verängstigtes Kind am ersten Schultag.
Ich bemerkte erschrocken, dass er zögerte. Ich kannte sein Gesicht beinahe so gut wie mein eigenes, und ich hatte immer schon genau gewusst, was er dachte. Ich hatte sogar gewusst, dass er mir einen Heiratsantrag machen würde – und zwar mindestens eine halbe Stunde bevor er die Worte endlich über die Lippen brachte. Ich musste ihn also nicht fragen, wie die letzten sieben Wochen für ihn gewesen waren. Ich sah es in seinem Gesicht und in den zarten Fältchen um seine Augen, die vorher noch nicht da gewesen waren und die ihn älter aussehen ließen.
»Ja, ein Weilchen sicher noch«, sagte er, hob meine Hand und küsste sanft meine Fingerknöchel. In diesem Moment wurde mir klar, dass er mich noch kein einziges Mal richtig geküsst hatte, seit er ins Zimmer gekommen war.
Nachdem ich Wochen in vollkommener Dunkelheit verbracht hatte, war die Sonne, die durchs Fenster fiel, unerträglich hell. Ryan trat vors Fenster und versuchte, die Schnüre der Jalousien zu entwirren. Es dauerte seltsam lange. Als er sich schließlich umdrehte, war er erneut den Tränen nahe.
»Ich habe dich so vermisst, Maddie.«
Es versetzte mir einen Stich, als ich an den Schmerz dachte, den er wegen mir erlitten hatte. »Das tut mir so furchtbar leid! Aber jetzt bin ich ja wieder da.«
Er nickte schweigend, und ich hatte das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. Etwas Wichtiges. Er ließ die Schnüre los, und die Jalousie ratterte hinunter und warf einen Schatten über uns. Ryan kam zurück ans Bett, doch dieses Mal setzte er sich nicht auf den Besucherstuhl, sondern auf die Bettkante.
Er griff nach einer Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte, und wickelte sie sich um den Finger. Er liebte meine langen Haare und zog mich immer damit auf, dass ich aussah wie Dornröschen, wenn sie sich im Schlaf wie ein Kranz um meinen Kopf ausbreiteten.
Schon seltsam, wie ironisch das im Nachhinein klingt.
Er betrachtete die Strähne, die er wie einen Ring um seinen Finger gewickelt hatte. »Das habe ich auch vermisst.«
Ich begann ebenfalls zu weinen. Vielleicht ahnte ich bereits, dass er etwas sagen würde, was ich gar nicht hören wollte.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mir gewünscht habe, der Van hätte mich erfasst und nicht dich, denn wenn ich es gewesen wäre, hätte ich nie …«
»Madeline.« Eine Krankenschwester steckte den Kopf zur Tür herein. »Wir müssen hinauf in die Neurologie.«
Ich warf Ryan einen verzweifelten Blick zu, damit er weitersprach, doch sein Gesicht wirkte jetzt verschlossen. Er stand auf und trat zur Seite, während die Schwester und ein Krankenpfleger mein Bett in die richtige Position brachten, um es aus dem Zimmer zu schieben.
»Kann mein Verlobter mitkommen?«, fragte ich. Ryan stand hinter dem Bett, sodass ich ihn nicht sehen konnte, aber ich beobachtete, wie die Krankenschwester ihm einen schnellen Blick zuwarf. Niemand sagte etwas, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, als würde zwischen den beiden ein Gespräch stattfinden, an dem ich nicht teilnehmen durfte.
»Es tut mir leid, aber das ist nicht erlaubt. Sie sehen ihn ja später, wenn wir Sie wieder zurückgebracht haben.«
Ryan beugte sich über mich und hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel.
»Du bleibst doch hier, oder?«, fragte ich ängstlich und griff nach seiner Hand. Er drückte sie, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ich nicht beruhigt.
»Ich gehe noch nicht, versprochen.«
Als ich den grünen Flur entlang zu den Aufzügen geschoben wurde, dachte ich, wie viel glücklicher mich der Satz ohne das Wörtchen »noch« gemacht hätte.
Tests. Dutzende Tests und Untersuchungen. An einigen musste ich mich aktiv beteiligen, bei anderen reichte es, wenn ich regungslos dalag, was mir natürlich leichter fiel – immerhin hatte ich wochenlange Übung darin. Es machte mich wütend, dass das Krankenhauspersonal sich nicht äußerte und ich folglich keine Ahnung hatte, ob die Ergebnisse gut oder schlecht waren.
Am schlimmsten war jedoch, als die Krankenschwester die Decke zurückschlug und mich in einen Rollstuhl setzte. Ich sah entsetzt auf meine dürren Beine hinunter, die unter dem Krankenhauskittel hervorragten und aussahen, als gehörten sie nicht zu mir. Man sah jeden einzelnen Knochen und keinen einzigen Muskel. Ich legte behutsam eine Hand auf den Oberschenkel, zog sie jedoch rasch wieder zurück, als ich den Knochen unter der Haut spürte.