Die Affäre Calas - Voltaire - E-Book

Die Affäre Calas E-Book

Voltaire

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Beschreibung

Als Voltaire 1778 starb, verweigerte man ihm ein Grab in seiner Geburtsstadt Paris: Er hatte in seinen literarischen und philosophischen Schriften den Kampf gegen die Doppelmacht von Monarchie und (katholischer) Kirche mit radikalster Konsequenz geführt. Während der Französischen Revolution, im Juli 1791, wurde sein Sarkophag dann im Triumphzug ins Panthéon gebracht. Zu den »Unsterblichen« erklärt wurde dadurch der Streiter für Recht und Gerechtigkeit – und als erstes unter seinen Verdiensten rangierte sein Eintreten für Jean Calas. Dieser hugenottische Kaufmann aus Toulouse wurde 1761 zum Tode verurteilt, weil man ihn fälschlicherweise des Mordes an seinem Sohn bezichtigt hatte: Das Motiv dafür war angeblich dessen beabsichtigter Übertritt zur katholischen Kirche.
Durch seine Flugschriften, Pamphlete und Denkschriften, Briefe an Minister und Richter gelingt es Voltaire, die Rehabilitierung von Jean Calas zu erreichen. In Deutschland ist diese Leistung Voltaires bisher kaum gewürdigt worden.
Durch die vorliegende Zusammenstellung der wichtigsten Stellungnahmen Voltaires (neben der Abhandlung über die Toleranz die zahlreichen Pamphlete und Briefe des Autors) zur Aufklärung eines Justizskandals wird zum ersten Mal der Intellektuelle Voltaire im deutschen Sprachraum prototypisch und detailliert vorgestellt – und damit der erste europäische Intellektuelle überhaupt, der deren späteren Interventionensmuster vorzeichnet.

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VOLTAIRE

DIE AFFÄRE CALAS

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ingrid Gilcher-Holtey

INSEL VERLAG

INHALT

I. Briefe

II. Authentische Nachrichten, betreffend den Tod des Herren Calas und das in Toulouse gesprochene Urteil

III. Die Geschichte von Elisabeth Canning und der Familie Calas

IV. Philosophisches Wörterbuch

Fanatismus

Toleranz

V. Über die Toleranz; veranlaßt durch die Hinrichtung des Johann Calas im Jahre 1762

Ingrid Gilcher-Holtey

Nachwort

Quellenverzeichnis

I. BRIEFE

AN KARDINAL FRANÇOIS-JOACHIM DE PIERRE DE BERNIS

Ferney, 25. März 1762

Gestatten Sie, Monseigneur, daß dieser alte Tintenkleckser Ihnen sehr aufrichtig für das Vergnügen dankt, das er gehabt hat. Ohne Eure Hilfe, ohne Eure Ratschläge, wäre mein sechstägiges Werk immer noch im Durcheinander. Gestatten Sie, daß ich Ihrer Eminenz die kleine historische Erzählung zur Lektüre unterbreite, die ich dem Grafen von Villars gesandt habe. Wenn Sie sie gelesen haben werden, falls Sie denn solches Zeug zu lesen geneigt sind, wird ein wenig Wachs unter dem Siegel eines Ihrer Sekretäre das Paket der Post würdig machen. So sind die seltsamen Unterhandlungen, die ich Ihnen anvertraue.

Alle Ihre Ratschläge sind mir von Nutzen, ich lasse es mir gutgehen, vielleicht ein wenig zu gut, denn es paßt nicht zu mir, für zweihundert Personen ein Souper zu veranstalten. Ich besaß diese Frechheit. Nota bene, hatten wir zwei schöne vergitterte Logen. In Arques haben wir gekämpft, wo war der tapfere Crillon? Warum war er in Montélimar?

Wünschen Sie, falls Sie sich zu amüsieren gedenken, daß ich Ihnen Le Droit du Seigneur zusende?1 Es ist heiter und von lauterer Gesinnung; man kann diese Kleinigkeit einem Kardinal zusenden. Ich sage nicht, allen Kardinälen, Gott behüte: Pauci quos aequus amavit Jupiter.

Ich habe noch hinzuzufügen, daß ich mir sehr den Hinweis, den Sie mir geben, zu eigen gemacht habe, überhaupt nicht oder nur selten jene Bücher zu lesen, in denen Grafen und Bourgeois den Staat regieren. Kennen Sie, Monseigneur, die dänische Komödie Der politische Kannengießer?2 Es handelt von einem Zinkgießer, der seine Drehbank aufgibt, um das Glücksrad zu drehen und Europa in Ordnung zu bringen. Man stiehlt ihm sein Geld, seine Frau, seine Tochter, und er kehrt wieder zu seinen Zinkgefäßen zurück.

Darf ich es, ohne meine Zinkgefäße zu verlassen, wagen, Eure Eminenz darum zu bitten, mir mitteilen zu wollen, was ich zu halten habe von der scheußlichen Geschichte jenes Calas, den man in Toulouse gerädert hat, weil er seinen Sohn erhängt hat? Hier behauptet man, daß er völlig unschuldig ist und daß er beim Sterben Gott als seinen Zeugen angefleht hat. Man behauptet, daß drei Richter sich gegen das Urteil ausgesprochen haben: Dieses Schicksal geht mir zu Herzen; es stimmt mich traurig bei meinen Vergnügungen; es verdirbt sie. Man muß entweder das Parlament von Toulouse3 oder die Protestanten voller Abscheu betrachten. Ich würde dennoch lieber wieder gerne Cassandre spielen und meine Felder bestellen.

Oh! Welch gute Entscheidung habe ich getroffen!

Die Maus, die sich in den Gruyère-Käse zurückgezogen hat, wünscht Eurer liebenswerten Eminenz alle Freuden aller Arten, die Euch gefallen; er ist von der aufrichtigsten und tiefsten Hochachtung für Euch durchdrungen.

AN CHARLES-AUGUSTIN FERRIOL, GRAF VON ARGENTAL, UND AN JEANNE-GRACE BOSC DU BOUCHET, GRÄFIN VON ARGENTAL

Ferney, 27. März 1762

Sie werden mich, meine göttlichen Engel, fragen, warum ich mich so sehr bemühe um jenen Calas, den man gerädert hat. Weil ich ein Mensch bin, weil ich feststelle, wie aufgebracht die Fremden sind, weil alle Eure protestantischen Schweizer Offiziere erklären, sie würden nicht entschlossenen Herzens für eine Nation kämpfen, die einen ihrer Brüder ohne irgendeinen Beweis rädern läßt.

Ich habe mich in meinem Brief an Monsieur de La Marche über die Zahl der Richter getäuscht. Es waren dreizehn, fünf haben beständig Calas für unschuldig erklärt. Hätte es eine Stimme mehr zu seinen Gunsten gegeben, wäre er freigesprochen worden. Wovon hängt also das Leben der Menschen ab? Wovon hängen die fürchterlichsten Strafen ab?

Also, da sich kein sechster verständiger Richter gefunden hat, hat man einen Familienvater zum Rad verurteilt? Hat man ihn angeklagt, den eigenen Sohn erhängt zu haben, während seine vier anderen Kinder erklären, er sei der beste aller Väter? Wiegt der Augenzeugenbericht dieses Unglücklichen nicht schwerer als das Trugbild von acht Richtern, welche die Bruderschaft der weißen Büßermönche angestachelt haben und die die Toulouser Geister gegen einen Calvinisten aufgebracht hat? Dieser arme Mann erklärte auf dem Rad, daß er unschuldig ist, er vergab seinen Richtern, er beweinte seinen Sohn, den er angeblich zu Tode gebracht hat. Ein Dominikaner, der zu seiner Hilfe bestallt war, sagte, daß er eines genauso gottseligen Todes sterben möchte, wie er gestorben ist. Es steht mir nicht zu, das Parlament von Toulouse zu verurteilen, doch es bleibt, daß es keinen Zeugen durch Augenschein gibt. Der Fanatismus des Pöbels konnte bis zu den voreingenommenen Richtern vordringen. Mehrere von ihnen waren weiße Büßermönche. Sie können sich getäuscht haben. Gehört es nicht zur Justiz des Königs und seiner Umsicht, sich zumindest die Gründe für das Urteil vortragen zu lassen? Allein dieses Vorgehen tröstete die Protestanten in Europa und besänftigte ihre Entrüstung. Wollen wir uns wirklich verhaßt machen? Können Sie nicht den Graf de Choiseul dazu bewegen, sich über dieses schreckliche Schicksal zu unterrichten, das die menschliche Natur entehrt, entweder weil Calas schuldig ist oder weil er unschuldig ist? Fürchterlichen Fanatismus gibt es sicher auf der einen Seite wie auf der anderen, und es ist nützlich, zur Wahrheit vorzudringen.

Tausendfach meine liebevolle Hochachtung.

V.

AN ÉTIENNE-NOËL DAMILVILLE

4. April 1762

Meine lieben Brüder, es hat sich als wahr erwiesen, daß die Toulouser Richter den Unschuldigsten der Menschen gerädert haben. Fast das gesamte Languedoc klagt darüber. Die fremden Nationen, die uns hassen und die uns bekämpfen, empören sich. Seit der Bartholomäusnacht hat nichts die menschliche Natur derart entehrt. Rufen Sie, und man rufe. Hier ein kleines Werk, an dem ich nur dadurch beteiligt, als ich eine Seite mit unverdientem Lob, das man mir dort gab, weggelassen habe. Ich wäre sehr wütend, wenn man glaubte, ich hätte davon auch nur die geringste Kenntnis besessen; aber es würde mich freuen, wenn es erschiene, weil es von Anfang bis Ende die genaueste Wahrheit enthält und weil ich die Wahrheit liebe. Man muß sie bis in die kleinsten Dinge kennen. Man braucht es nur Granger oder Duchesne zum Druck zu geben. Ich werde Ihnen heute nichts über dieses in sechs Tagen fertiggestellte Werk heidnischer Frömmigkeit berichten. Es gibt über Cassandre so viele Dinge zu sagen, daß ich nur eins sage. Man schafft in sechs Tagen das Durcheinander, und anschließend bearbeitet man seine Schöpfung. Man muß sein geringes Talent bis zur letzten Stunde pflegen.

Ich bin besorgt wegen Martinique und meinen Ausschweifungen. Wir sind höchst töricht und höchst fanatisch, aber die komische Oper macht alles wieder gut. Ich danke Gott, mir einen Bruder wie Sie gegeben zu haben.

AN EINE UNBEKANNTE EMPFÄNGERIN

Les Délices, 15. April 1762

Es ist wahr, Mademoiselle, daß ich in einem Antwortschreiben an Monsieur de Chazel diesen um Aufklärungen gebeten habe über das schreckliche Schicksal von Calas, dessen Sohn meine Schmerzen in gleicher Weise wie meine Neugier angestachelt hat. Ich habe Monsieur de Chazel von den Gefühlen und Gerüchten sämtlicher Ausländer, die in meiner Umgebung leben, berichtet. Aber ich kann ihm nicht meine Ansicht von dieser grausamen Angelegenheit dargelegt haben, denn ich habe keine darüber. Ich kenne nur die Streitschriften zu seinen Gunsten, und das reicht nicht aus, um es zu wagen, Partei zu ergreifen.

Ich wollte mich in der Eigenschaft eines Historikers kundig machen. Ein dermaßen entsetzliches Ereignis wie das einer ganzen Familie, die eines Sohnesmordes aus religiösem Eifer beschuldigt wird; ein Vater, der sein Leben auf dem Rad aushaucht, weil er seinen eigenen Sohn mit den Händen erwürgt hat wegen des bloßen Verdachts, daß dieser Sohn die Meinungen des Johannes Calvin aufzugeben gedachte; ein Bruder, auf das schwerste beschuldigt, dabei geholfen zu haben, seinen Bruder zu erwürgen; die Mutter angeklagt; ein junger Anwalt verdächtig, als Henker mitgewirkt zu haben an dieser Hinrichtung sondergleichen: dieses Ereignis, sage ich, bildet einen wesentlichen Bestandteil der Geschichte des menschlichen Geistes und zur umgreifenden Darstellung unserer Leidenschaften und unserer Schwächen, von denen ich bereits einen Umriß gegeben habe.

Ich bat also Monsieur de Chazel um Unterrichtungen, aber ich erwartete nicht, daß er meinen Brief zeigen sollte. Wie dem auch sei, ich wünsche weiterhin mit Nachdruck, daß das Parlament von Toulouse geruhen möge, den Prozeß von Calas öffentlich zu machen, in der gleichen Weise, wie man denjenigen von Damiens veröffentlicht hat. Man stellt sich über die üblichen Verfahren in solch außergewöhnlichen Fällen. Diese beiden Prozesse sind für die menschliche Gattung von Interesse; und wenn irgend etwas unter den Menschen das Wüten des Fanatismus aufhalten kann, dann sind es das Veröffentlichen und der Beweis des Sohnesmordes der Eltern und der Gotteslästerung, die Calas auf das Rad geführt und die die gesamte Familie zum Opfer der schwerwiegendsten Verdächtigungen macht. Dies ist meine Meinung.

Ich habe die Ehre etc.

AN KARDINAL FRANCOIS-JOACHIM DE PIERRE DE BERNIS

Les Délices, 15. Mai 1762

Ich war, Monseigneur, kurz davor, zu sterben, als Ihre Eminenz so gütig waren, mir den grausamen Verlust mitzuteilen, der Ihnen widerfahren ist. Mein ganzes ein wenig zum Leben zurückgekehrtes Empfinden ist mit Ihnen und mit allem, was Sie berührt. Ich erkenne, welches Ihre Trauer gewesen sein muß; ich teile sie; ich wünschte, die Kraft zu besitzen, mich an Ihre Seite zu versetzen, um Sie zu trösten zu versuchen.

Tronchin und die Natur haben mich von einer Entzündung der Brust und einem anhaltenden Fieber geheilt; aber ich bin noch immer von der allergrößten Schwäche.

Es ist mein Anliegen, Sie vor meinem Tod zu sehen; ist das notwendigerweise ein unglückliches Anliegen?

Ich hatte Sie flehentlich gebeten, sich über die schrecklichen Begebnisse der Familie Calas zu unterrichten. Maréchal de Richelieu kann über diese Angelegenheit keine zufriedenstellenden Unterrichtungen erhalten haben. Es ist sehr befremdlich, daß man sich bemüht, eine Sache zu verbergen, bei der man sich bemühen sollte, sie öffentlich zu machen. Ich nehme Anteil an dieser Katastrophe, weil ich häufig die Söhne dieses unglücklichen Calas sehe, den man auf dem Rade zu Tode gebracht hat. Wenn Sie sich, ohne sich zu kompromittieren, über die Wahrheit in Kenntnis setzen könnten, wären meine Neugierde und meine Menschlichkeit, Ihnen gegenüber in einer großen Verpflichtung. Ihre Eminenz könnten mir den Bericht zukommen lassen, den man Ihnen von Toulouse geschickt hat, und selbstverständlich würde ich nicht sagen, daß er von Ihnen gekommen ist. Die ganzen Briefe, die ich aus dem Languedoc über diese Angelegenheit erhalten habe, widersprechen sich; es ist ein Durcheinander, das ich nicht in eine Ordnung bringen kann. Aber vielleicht ist Ihre Eminenz schon nicht mehr in Montélimar, vielleicht sind Sie in Vic-sur-Aisne, wo Sie sich Ihres Ruhestandes erfreuen und wo Sie das öffentliche und private Unglück vergessen.

Ihnen, Monseigneur, muß ich mit meiner schwachen Hand unbedingt mitteilen, wie sehr mein Herz mit Ihnen ist. Könnte ich Ihnen nur zuhören, eine Stunde oder zwei! Es scheint mir, Sie würden mir mittels Ihrer Umsicht deutlich werden lassen, mit welchem Schmerz man den gegenwärtigen Zustand Frankreichs betrachten muß. Sie sind gewiß glücklich, nicht mehr in einer Position zu sein, in der man das Unglück nicht verhindern kann und in der man auf die unvermeidlichen Mißgeschicke in der Öffentlichkeit antworten muß. Genießen Sie Ihre Ruhe, Ihre Vernunft, Ihre höheren Einsichten, alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und vor allem für die Gegenwart.

Ihre Haltung wird Ihnen den Trost über den Schmerz des Verlustes Ihrer Nichte vermitteln.

Empfangen Sie mein Mitgefühl und meine herzliche Hochachtung.

V.

AN CHARLES-AUGUSTIN FERRIOL, GRAF VON ARGENTAL, UND AN JEANNE-GRÂCE BOSC DU BOUCHET, GRÄFIN VON ARGENTAL

11. Juni 1762

Meine göttlichen Engel, ich werfe mich wirklich Euch zu Füßen wie auch Graf von Choiseul. Die Witwe Calas ist in Paris mit dem Vorsatz, Gerechtigkeit zu fordern. Wagte sie es, wenn ihr Mann schuldig gewesen wäre? Sie gehört durch ihre Mutter zum alten Geschlecht Montesquieu (diese Montesquieu sind aus dem Languedoc). Ihre Haltung ist ihrer Herkunft würdig und über ihr schreckliches Unglück erhaben. Sie hat erlebt, wie ihr Sohn das Leben aufgegeben hat und sich vor Hoffnungslosigkeit erhängt hat; wie ihr Gatte, beschuldigt, seinen Sohn erwürgt zu haben, und zum Rade verurteilt, als er sein Leben aushauchte, vor Gott seine Unschuld bezeugte; wie ein zweiter Sohn, angeklagt, an dem Mord mitgewirkt zu haben, verbannt und vor ein Stadttor geführt wurde, durch ein anderes zurückkehrte in ein Kloster, wie ihre beiden Töchter entführt wurden, sie selbst schließlich peinlich verhört wurde und beschuldigt, ihren Sohn getötet zu haben, freigelassen, für unschuldig und dennoch ihres Heiratsgutes verlustig erklärt. Die am genauesten unterrichteten Personen schwören mir gegenüber, daß die Familie im gleichen Maße unschuldig wie unglücklich ist. Wenn deshalb diese Frau trotz aller Beweise, die ich habe, trotz aller Schwüre, die man vor mir abgelegt hat, sich etwas vorzuwerfen hat, verbrenne man sie. Aber wenn es sich, wie ich glaube, um die tugendhafteste und unglücklichste Frau auf der Welt handelt, dann beschützen Sie sie im Namen des menschlichen Geschlechts. Möge der Graf von Choiseul sie anhören. Ich werde ihr ein kleines Papier zukommen lassen, das ihr Nachweis sein wird, um bei Ihnen vorgelassen zu werden. Dieses Papier enthält diese Worte: die betreffende Person wird bei Monsieur d'Argenlal vorsprechen, Berater des Parlaments ehrenhalber, Abgesandter von Parma, rue de la Sourdière.

V.

Meine Engel, dieses gute Werk ist Eures Herzens würdig.

V.

AN CHARLES-AUGUSTIN FERRIOL, GRAF VON ARGENTAL, UND AN JEANNE-GRÂCE BOSC DU BOUCHET, GRÄFIN VON ARGENTAL

Les Délices, 5. Juli 1762

Meine göttlichen Engel, diese unglückliche Witwe hat also den Trost erfahren, Ihnen zu begegnen, und Sie haben sie Ihres Schutzes versichert. Sie haben ohne Zweifel die Schriftstücke gelesen, die ich Ihnen durch Monsieur de Courteilles zugeschickt habe. Wie kann man standhalten gegen die erwiesenen Tatsachen, die diese Schriftstücke enthalten? Und was verlangen wir? Nichts anderes nämlich, als daß die Justiz nicht in dem Maße stumm ist, wie sie blind ist, daß sie spricht, daß sie sagt, warum sie Calas verurteilt hat. Welch schlimmerer Schrecken als ein geheimes Urteil, eine Verurteilung ohne Beweise! Gibt es eine abscheulichere Tyrannei als jene, nach Gutdünken Blut zu vergießen, ohne dafür nur den geringsten Grund anzugeben? Das sei nicht üblich, sagen die Richter; ihr Ungeheuer, das muß üblich werden! Ihr müßt vor den Menschen das menschliche Blut rechtfertigen. Ist der Kanzler stark genug, um das Vorgehen zu verhindern?

Ich meinerseits will immer noch nichts anderes als die öffentliche Darstellung dieses Vorgehens. Man ist nun darauf verfallen, daß diese arme Frau zuerst Schriftstücke aus Toulouse herkommen lasse: wo sollte sie sie finden? wer wird ihr die Höhlen der Kanzleistuben öffnen? wohin verweist man sie, wenn sie allein das ausrichten soll, was einzig der Kanzler oder Berater veranlassen kann? Ich begreife nicht, was diejenigen denken, die der armen Unglücklichen solche Ratschläge erteilen. Im übrigen ist es nicht allein sie, um die es mir geht, es ist die Öffentlichkeit, es ist die Menschheit. Es ist für jedermann wichtig, daß man derartige Urteilssprüche begründet. Das Parlament von Toulouse muß verstehen, daß man es so lange für schuldig hält, bis es bereit ist, zu belegen, daß die Calas es sind. Es kann sicher sein, daß es das Grauen eines großen Teils von Europa sein wird.

Diese Tragödie hat mich alle anderen vergessen lassen, selbst meine. Möge jene, die man in Deutschland aufführt, bald zu Ende gehen!

Ich möchte, daß die arme Calas Kenntnis von dem Brief besitzt, den ihr Sohn ihr geschrieben hat, ich möchte, daß man ihn in Paris drucken läßt und daß der Buchhändler dieser Unglücklichen einige Louis gibt.

Meine allerliebsten Engel, ich danke Euch noch einmal für Eure schöne Seele bei dieser schönen Handlung.

V.

AN DOMINIQUE AUDIBERT

Les Délices, 9. Juli 1762

Sie konnten, Monsieur, die Briefe von Madame Calas und von ihrem Sohn lesen. Ich habe diese Angelegenheit drei Monate lang geprüft. Ich kann mich täuschen, aber es erscheint mir sonnenklar, daß der Parteieneifer und die Einzigartigkeit des Schicksals zusammen dazu beigetragen haben, auf juristischem Weg mittels des Rades den unschuldigsten und unglücklichsten der Menschen umzubringen, seine Familie zu zerstreuen und sie zur Bettelei zu verdammen. Ich bin in großer Sorge, daß man sich in Paris nur wenig um diese schreckliche Angelegenheit kümmert. Selbst wenn man hundert Unschuldige zum Tod auf dem Rad verurteilte, würde man sich in Paris nur über ein neues Theaterstück unterhalten und an ein gutes Souper denken. Dennoch, gezwungen, die Stimme zu heben, hat man die verschlossensten Ohren erreicht, und zuweilen drangen die Rufe der Unglücklichsten bis zum Hofe vor. Die Witwe Calas ist in Paris bei MM. Dufour und Mallet, rue Montmartre. Der junge Lavaysse ist ebenfalls dort; ich glaube, daß er den Namen gewechselt hat, aber die arme Witwe wird Euch darüber berichten können. Ich erbitte es als eine Gnade, die Neugier zu besitzen, beide vorsprechen zu lassen. Es ist eine Tragödie, deren Ausgang schrecklich und widersinnig ist, deren Knoten jedoch noch nicht vollständig entwirrt ist.

Ich erbitte es als Gnade, diese beiden handelnden Personen

zu Wort kommen zu lassen, daraus die möglichen Aufschlüsse zu ziehen und mir über die hauptsächlichen Eigentümlichkeiten Aufschluß zu geben, die Sie in Erfahrung gebracht haben.

Ich beschwöre Sie, Monsieur, mir gleichfalls zu berichten, wenn Madame Calas Not leidet; in diesem Fall werden MM. Tourton und Baur sich an Sie wenden, um ihr beizustehen. Ich habe mich verpflichtet, die Kosten des Prozesses zu bezahlen, den sie beim Staatsrat anstrengen muß. Ich habe sie an M. Mariette, Advocat am Staatsrat, verwiesen, der um einen Auszug aus den Verfahrensunterlagen bittet, um tätig werden zu können. Das Parlament, das sich seines Urteils zu schämen scheint, hat es verboten, daß man Akten, selbst das Urteil, in die Öffentlichkeit trägt. Nur eine besondere Obhut beim König ist fähig, dieses Parlament zu zwingen, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Wir versuchen das Unmögliche, um diese Obhut zu erhalten, und wir glauben, daß Aussagen in der Öffentlichkeit das beste Mittel sind, um dies zu erreichen.

Es erscheint mir im Interesse aller Menschen zu sein, diese Angelegenheit gründlich zu betrachten, die von der einen Seite wie von der anderen das Höchstmaß des schrecklichsten Fanatismus darstellt. Es heißt, der Menschheit abzuschwören, wenn eine solche Begebenheit mit Gleichmut behandelt wird. Ich bin mir Eures Bestrebens gewiß, welches dasjenige der anderen anfachen wird, ohne Euch zu kompromittieren.

Ich umarme Euch herzlich, meine teuren Freunde, und bin mit allen Gedanken, die Sie verdienen, mit Euch,

Euer aufrichtiger und folgsamer Diener

V.

AN CHARLES-AUGUSTIN FERRIOL, GRAF VON ARGENTAL, UND AN JEANNE-GRÂCE BOSC DU BOUCHET, GRÄFIN VON ARGENTAL

7. August 1762

Meine göttlichen Engel, ich bin sehr betrübt. Das Mitleid des Bailli Froulai hat mich niedergeschmettert, und ich liebe hundertmal mehr das Mitleid des Bailli in Droit du seigneur. Ist es möglich, daß er sich gegen die Schauspieler und jenen herzensguten Pfarrer von Saint-Jean-de-Latran ausgesprochen hat? Seit den Zeiten von Mademoiselle Lecouvreur und des Chevalier d’Aydie gab es keine ähnliche Niederträchtigkeit.

Meine zweite Angst ist die Ungewißheit über die Zarin Katherina; ich fürchte sehr, daß dieser alte Held, der Graf von München, Partei ergriffen hat für den Trunkenbold Karl Peter Ulrich. Er ist Generalissimus. Er mag keine der Zarinnen, seit ihn eine von ihnen nach Sibirien geschickt hat. Er ist eher preußisch, was mir alles Sorge bereitet.

Mein dritter Schmerz ist die Angelegenheit Calas; ich befürchte stets, daß der Kanzler einen Formfehler zum Vorwand nimmt, um nicht gegen das Parlament von Toulouse vorzugehen. Ich wünschte, eine gute Seele würde dem König sagen »Sire, schauen Sie genau, bis zu welchem Punkt man dieses Parlament mögen muß, das als erstes Gott für die Ermordung von Heinrich III. dankte und eine jährliche Prozession zur Feier des Gedenkens an den heiligen Jacques Clément anordnete und die Bestimmung hinzusetzte, man würde jeden, ohne Prozeß, hängen, der sich jemals für die Anerkennung Ihres Großvaters Heinrich IV. zum König ausspräche.

Heinrich IV. gewann seinen Prozeß, doch ich weiß nicht, ob die Familie Calas ebenso glücklich sein wird; Hoffnung setze ich nur in meine teuren Engel und in die öffentlichen Äußerungen: Ich halte es für notwendig, daß MM. Beaumont und Mallart den gesamten Advokatenstand zu lautem Aufschrei zu unseren Gunsten veranlassen und es, von Mund zu Mund, in den Ohren des Kanzlers klingeln läßt, daß man ihm weder Rast noch Ruhe läßt, daß man ununterbrochen Calas! ruft.

Meine vierte Unruhe stammt von der Familie Alexander. Ich habe es dem Kurfürsten der Pfalz zugesandt und ihm gesagt, er möge das keineswegs aufführen, und auf der Stelle hat er die Rollen besetzt. Ich werde ihm schreiben, um ihn zu bitten, es keinesfalls zu drucken, und er wird es drukken.4 Ich glaube, ich bin verpflichtet, um mich darüber zu trösten, das auch zu tun. Ich bin mit Cassandre fast ebenso zufrieden wie der Kurfürst; doch es könnte sich ergeben, daß meine Frömmigkeit in diesem Werk, meine Beichte, meine Kommunion, meine den plötzlichen Tod sterbende Statira, mein Scheiterhaufen meinen guten Freunden Fréron und Konsorten eine Angriffsfläche bieten. Ich habe beim Stück mein Bestes gegeben, doch glaube ich, man muß das Publikum an all diese theatralischen Besonderheiten über den Weg des Drucks gewöhnen; das ist meiner Meinung nach die richtige Entscheidung, zumal auch im Sinne der Kommentare, von denen ich einen über dieses Stück gemacht habe, der außerordentlich tiefgründig und wunderbar ist; Maître Joly de Fleury könnte dadurch verblüfft werden.

Ich werde Ihnen Heriodes und Marianne unverzüglich zusenden. Sie werden dort das Exemplar eines Jansenisten, Essener, bemerken, durch den ich Varus ersetzt habe, wie ich glaube, Ihnen bereits gesagt zu haben.5 Dieser Varus erschien mir eindeutig langweilig. Ich küsse immer aus tiefstem Herzen die Enden Eurer Flügel und bezeuge meine Hochachtung und meinen Dank an Madame d’Argental.

V.

AN KARDINAL FRANÇOIS-JOACHIM DE PIERRE DE BERNIS

Ferney, 7. Oktober 1762

Sie waren vielleicht, Monseigneur, nicht erfreut über die letzten Denkschriften, die ich Ihrer Eminenz über den Fall Calas zugesandt habe. Sie konnten glauben, daß all diese kleinen Schriften nutzlose Neuigkeiten sind. Dennoch habe ich so viel getan, daß die Angelegenheit dem Staatsrat vorliegt. Das ist ein großer Vorteil zugunsten des Anliegens. Die unparteiische Stimme der fünf Advokaten muß diejenige der Richter lenken.

Ich habe Ihnen überhaupt noch nicht Olympie zugesandt, weil ich es habe spielen lassen, und nachdem ich es gesehen habe, war ich überhaupt nicht zufrieden. Meiner Meinung nach verschwindet Statira schlecht in dieser Situation, und meiner Überzeugung nach ist die Liebe von Olympie nicht hinreichend entfaltet und müssen die Leidenschaften ein klein wenig mehr ausgesprochen werden, um das Herz zu berühren. Ich schreibe also die drei letzten Akte um; denn ich will Ihren Beifall verdienen, und ich glaube nach wie vor, daß man sich verbessern muß, bis der Tod es verhindert, es besser zu tun.

Wir haben in meinem kleinen Ort ein halbes Dutzend teils englischer, teils französischer Pairs gehabt. Für einen Kardinal ist das nichts Ungewöhnliches, aber ich tröste mich überhaupt nicht, daß Sie nicht irgendeine schöne Krankheit hatten en ique, die Sie dazu gebracht hätte, Tronchin zu konsultieren. Eure gute Gesundheit ist für mich ein Unglück, aber ich verzeihe Ihrer Eminenz.

Gestatten Sie, daß ich ein kleines Paket für unseren ständigen Sekretär in diesen Umschlag stecke?6 Denn ich hege den Verdacht, daß er, nachdem er bei Ihnen gewesen ist, es noch immer ist. Gewiß werde ich ihn hiermit ausnutzen. Empfangen Sie wie stets die sanfte Hochachtung des Greises der Alpen, der nicht derselbe ist wie der Alte vom Gebirge.7

V.

AN PIERRE MARIETTE

Ferney, 7. Oktober 1762

Man kann nicht froher sein, als ich es bin, Monsieur, über die Denkschrift, die Sie so freundlich waren zugunsten dieser unglücklichen Familie Calas zu erstellen. Aufgrund dieser Denkschrift wird das Urteil gesprochen. Es ist durch und durch wahr, alles ist dort für jedermann erkennbar dargelegt. Alle Mittel der Revision sind juristisch. Ihnen, Monsieur, werden die Familie Calas und das Publikum die Aufhebung des schändlichsten Urteils verdanken, das man jemals erlassen hat.

Ich glaube nicht, daß die anderen für diese unschuldige Familie erstellten oder in Arbeit befindlichen Denkschriften die Ihre auch nur im geringsten mindern und Ihnen nicht die geringste Sorge bereiten. Man hat mir anempfohlen, eine Konsultation mehrerer Advokaten sei eine notwendige Voraussetzung und die Zeichnung durch vierzehn Rechtsgelehrte sei eine Art in aller Form Rechtens gemachten Urteils, das dem des Staatsrats zuvorkomme und das in bestimmter Weise die Richter zwinge, sich auf diese Entscheidung zu verständigen.

Im Hinblick auf die Streitschrift von Monsieur Lorsel habe ich noch nichts vernommen. Alles, was ich weiß, ist, daß die Familie Calas in der größten Verpflichtung Ihnen gegenüber steht und daß ich sie teile.

Ich habe die Ehre, Ihnen mit allen Gefühlen verbunden zu sein, die ich Ihnen schulde,

Monsieur,

Ihr sehr ergebener und sehr gehorsamer Diener

Voltaire

AN LOUIS THIROUX DE CROSNE

Ferney, 30. Januar 1763

Monsieur,

ich glaube mich beauftragt, mir die Freiheit zu nehmen, Ihnen zu schreiben: die Liebe zur Wahrheit befiehlt es mir.

Pierre Calas, der des Brudermords Beschuldigte und der dessen unzweifelhaft schuldig wäre, wenn sein Vater es gewesen wäre, bleibt in der Nähe meiner Güter. Ich habe ihn oft gesehen. Ich war zuerst mißtrauisch. Ich habe vier Monate lang sein Verhalten und seine Worte ausspähen lassen; sie sind von reinster Unschuld und aufrichtigstem Schmerz. Er ist bereit, sich nach Paris zu begeben, ebenso wie seine Mutter, der das Verbrechen, vorausgesetzt, daß er es begangen hat, nicht verborgen bleiben konnte und die in diesem Fall sein Helfershelfer wäre und deren Reinheit und Tugend Sie kennen.

Ich muß, Monsieur, die Ehre besitzen, Ihnen von einer Tatsache zu berichten, die den Advokaten überhaupt nicht zur Kenntnis gebracht wurde. Sie werden deren Wichtigkeit beurteilen.

Die katholische Dienerin, die alle Kinder der Familie Calas großgezogen hat, ist noch im Languedoc; jede Woche geht sie zur Beichte und empfängt die Kommunion: sie ist Zeugin gewesen, daß Vater, Mutter, Kinder und Lavaysse die ganze Zeit, in der sie den Verwandtenmord begangen haben sollen, zusammengeblieben sind. Wenn sie im Verfahren einen falschen Eid geschworen hat, um ihre Herren zu retten, hätte sie sich dessen in der Beichte bezichtigt: man hätte ihr die Absolution verweigert, sie ginge nicht länger zur Kommunion. Hier handelt es sich um keinen juristischen Beweis, aber er kann dazu dienen, sämtliche anderen zu verstärken; und ich glaubte, es sei meine Pflicht, Ihnen dies zu berichten.

Die Angelegenheit beginnt ganz Europa zu interessieren. Entweder hat der Fanatismus eine ganze Familie dahin gebracht, sich eines Verwandtenmords schuldig zu machen, oder er hat den Blick der Richter derart verhext, daß sie einen unschuldigen Familienvater rädern ließen: entweder – oder. Jedermann beruft sich auf Ihre Aufgeschlossenheit und auf Ihr billiges Ermessen.

Ich habe die Ehre, mit Hochachtung zu verbleiben etc.

AN JEAN-BAPTISTE-FRANCOIS DE LA MICHODIÈRE

Ferney, 13. Februar 1763

Wenn ich eine gute Handschrift hätte, Monsieur, besäße ich die Ehre, Ihnen von Hand für den Brief zu danken, mit dem Sie mich geehrt haben. Ich entbiete Ihnen und Monsieur Thiroux de Crosne meine tiefsten Glückwünsche zur Verheiratung Ihrer Tochter. Diejenige von Mademoiselle Corneille ist nicht so glänzend; ich habe sie einem jungen Herren namens Dupuits gegeben, dessen Besitztümer den meinen benachbart sind. Er hat es erst zum Fahnenträger bei der Kavallerie gebracht, aber er hat einen Vorteil mit Monsieur de Crosne gemein, jenen, über den Besitz seiner Frau glücklich zu sein.

Die Angelegenheit, die Monsieur de Crosne vorträgt, ist ein wenig abseits der Annehmlichkeiten, die er genießt; sie ist sehr traurig, und ich kenne kaum eine den menschlichen Geist mehr beschämende. Ich habe mir die Freiheit genommen, Monsieur de Crosne in dieser Angelegenheit zu schreiben. In gewisser Weise muß ich mich für einen Zeugen halten; seit mehreren Monaten ist Pierre Calas, der angeklagt ist, seinem Vater und seiner Mutter bei einem Familienmord geholfen zu haben, zusammen mit einem weiteren seiner Brüder in meiner Umgebung. Lange Zeit war ich unentschieden über die Unschuld dieser Familie; ich konnte nicht glauben, daß Richter durch eine schauerliche Strafe einen unschuldigen Familienvater zu Tode bringen. Es gibt nichts, was ich nicht unternommen habe, um mir Aufklärung über die Wahrheit zu verschaffen; ich habe mehrere Personen in der Nähe der Familie Calas damit beschäftigt, mich über deren Sitten und Verhalten zu unterrichten; ich habe sie selbst sehr oft befragt. Ich wage es, mir der Unschuld dieser Familie genau so sicher zu sein wie meiner eigenen Existenz: deshalb hoffe ich, daß M. de Crosne den Brief, den ich die Ehre hatte, ihm zu senden, mit Güte aufgenommen hat. Es handelt sich keinesfalls um ein Gesuch, das ich zu unterbreiten behaupte, es handelt sich nur um eine Ehrung, die ich der Wahrheit entgegenbringen zu müssen glaubte. Mir scheint es, daß Gesuche in keinem Prozeß statthaft sind, noch weniger in einer Angelegenheit, die für die menschliche Gattung von Belang ist; aus diesem Grund, Monsieur, wage ich es nicht, Sie zu bitten, mir einen Dienst zu erweisen; man darf nur das billige Ermessen und die Vorurteilslosigkeit von Monsieur de Crosne erflehen. Sie haben die Niederschriften gelesen, und ich betrachte die Angelegenheit als bereits entschieden in Ihrem Herzen und in dem Ihres Schwiegersohns.

Ich habe die Ehre der großen Wertschätzung etc.

AN ÉTIENNE-NOËL DAMILAVILLE

11. März 1763

Es war nun am vergangenen Montag, am siebten dieses Monats, daß der vollzählig versammelte Staatsrat Monsieur de Crosne angehört hat. Ich weiß noch nicht, wie die Entscheidung ausfallen wird, aber ich habe noch immer eine so gute Meinung von den Menschen, um zu glauben, daß die ersten Köpfe des Staates nicht mit dem Urteil der acht Toulouser Richter übereinstimmen werden. Diese acht unwürdigen Richter haben der Philosophie mehr geholfen, als sie glauben. Gott und die Philosophen verstehen es, aus den größten Übeln das Beste hervorzubringen.

Was sagen Sie zur Geschichte unseres neuen Corneille? Das ist ein wahrer Paukenschlag? Was sagt unser apathischer Freund Thieriot dazu? Sie genießen es, wenn ich Stücke gegen Pompignan verschicke? In Versailles lacht man sehr über die Unterhaltung des Königs mit dem Marquis Simon Lefranc. Man hätte auch unter Ludwig XI. gelacht, und wieso wollen Sie also, daß ich mich nicht auf die Seite von Ludwig XV. stelle, des nachsichtigsten und liebenswürdigsten Herrschers?

Erlauben Sie mir, diesen Brief für Monsieur d’Alembert beizulegen; es ist gut, daß Pindare-Le Brun über die Angelegenheit Bescheid weiß.

Ich umarme meinen Bruder und meine Brüder.

Zermalmt die Infame.

P. S.: Ich habe Eurem Brief entnommen, daß dem Essai sur les moeurs noch einige Seiten anzufügen sind; nichts ist so schwierig, als den Menschen die Wahrheit zu sagen.

AN JEAN RIBOTE-CHARRON

Les Délices, 12. März 1763

Am Dienstag, den 1. März, beurteilte das Kassationsbureau das Gesuch der Familie Calas für zulässig.

Am Montag, den 7. März, versammelten sich die beiden Semester des Staatsrats, der Kanzler saß ihm vor, alle Staatsminister waren zugegen und ordneten völlig einstimmig an, was der König billigte, daß das Parlament von Toulouse die gesamten Prozeßunterlagen dem Rat zusende, und, zusätzlich, wurde es verpflichtet, die Begründung seines Urteils zu senden.

Diesem Zusammentreten des Staatsrats des Königs in Versailles kommt mehr Gewicht zu als der Basoche von Toulouse.

AN CHARLES-AUGUSTIN FERRIOL, GRAF VON ARGENTAL, UND AN JEANNE-GRÂCE BOSC DU BOUCHET, GRÄFIN VON ARGENTAL

11. Juni 1764 in Les Délices

ich hege die Hoffnung, daß meine Engel gerne dem Gedächtnis des Grafen Algarotti die beiliegende Anerkennung zollen.

Trifft es zu, daß man Cromwell aufführen will und daß es sich um den Cromwell von Crébillon handelt, den ein gewisser Clairon fertiggestellt hat? Wenn man diesen Verkünder des Fanatismus so reden ließe, wie er redete, das ergäbe ein richtiggehendes Gefasel, aber mit diesem Gefasel gelang es ihm, England zu regieren, und auf diese Weise das Volk unterwürfig zu machen.

Nun ist also das Urteil der Toulouser Richter aufgehoben, aber die Knochen des armen Calas werden dadurch nicht wieder lebendig. Was erreicht man, wenn man diesen Prozeß weiterverfolgt? Werden die Toulouser Richter dazu verurteilt, die Kosten ihrer Ungerechtigkeit zu bezahlen? Ich küsse demütig die Spitzen der Flügel meiner Engel.

AN ANNE-ROSE CALAS

Sie werden, Madame, überhäuft werden mit Briefen und mit Besuchen. Genf ist wie Paris, es klatscht Euren Richtern Beifall. Europa ist gerührt und segnet das Recht, das man Euch erwiesen hat. Ich habe Donat Calas umarmt und Freudentränen vergossen. Sie haben alles Übel von Monsieur Debrus wie die meinen beseitigt. Wir haben nur Ihr Glück innerhalb unserer Schmerzen empfunden. Ich umarme Pierre ganz herzlich. Ertragen Sie es, wenn ich es Ihnen ebenfalls sage, sowie ihren Mesdemoiselles Töchtern. Vergessen Sie meine Wünsche nicht bei Monsieur de Lavaysse, und bemerken Sie innerhalb der öffentlichen Glückwünsche die Gefühle Ihres treuen und gehorsamen Dieners

Voltaire.

17. März 1765 in Ferney.

AN ÉTIENNE-NOËL DAMILAVILLE

17. März 1765

Teurer Bruder, Sie werden die Konsultation durch Tronchin erhalten haben; doch ich zittere, daß Sie, trotz der Konsultation, nicht krank sind. Ich habe an das Wesen aller Wesen Wünsche für Ihre Gesundheit gesandt. Beglückwünschen wir beide zu der der Familie Calas widerfahrenen Gerechtigkeit und des Sieges der Vernunft über den Fanatismus. Ich muß 100 Briefe beantworten. Hier nun einer für Monsieur de Beaumont und einer für Madame Calas; und einen, den Sie bitte mit der Stadtpost an Monsieur de Chimène senden.

Man ist berauscht in Genf wie in Paris vom Gewinn unseres Prozesses. Das ist ein schöner Moment in den Jahrbüchern der Vernunft, die nicht zu den dicksten Büchern zählen, die wir haben. Meine Gesundheit wird sehr viel schlechter, aber meine aufrichtige Anhänglichkeit für Sie wird jeden Tag stärker. Mein Brief ist sehr knapp bemessen, meine Gefühle sind es nicht. Zermalmt die Infame, teurer Bruder, zermalmt die Infame und sagt Bruder Protagoras, zermalmt die Infame am Morgen, zermalmt die Infame am Abend.

II. AUTHENTISCHE NACHRICHTEN, BETREFFEND DEN TOD DES HERREN CALAS UND DAS IN TOULOUSE GESPROCHENE URTEIL

AUSZUG EINES BRIEFES DER VERWITWETEN FRAU CALAS

Am 15. Juni 1762.

Nein, Monsieur, es gibt nichts, was ich nicht unternehme, um unsere Unschuld zu beweisen, lieber will ich gerechtfertigt sterben als leben und schuldig geglaubt zu werden. Man fährt fort, die Schuldlosigkeit zu unterdrücken und gegen uns und unsere beklagenswerte Familie eine grausame Verfolgung auszuüben. Man hat mir jetzt auch noch, wie Sie wissen, meine geliebten Töchter entführen lassen, den einzigen mir verbliebenen Trost, um sie in zwei verschiedene Klöster von Toulouse zu geleiten: man führt sie an einen Ort, der als Schauplatz für all unser abscheuliches Unglück gedient hat; man hat sie sogar getrennt. Doch wenn der König zu befehlen geruht, daß man sich ihrer annehme, so habe ich ihm nur dankbar zu sein. Hier ganz genau die Umstände unserer unglücklichen Angelegenheit, genau so, wie sie sich in Wahrheit ereignet hat.

Am 13. Oktober 1761, dem für uns unseligen Tag, traf Monsieur Gobert Lavaisse aus Bordeaux (wo er sich eine Zeitlang aufgehalten hatte) ein, um seine Eltern aufzusuchen, die in diesem Fall auf ihrem Landgut waren, und bemühte sich um ein Leihpferd, um zu ihnen zu gelangen, und kam zwischen 4 und 5 Uhr am Abend in unser Haus; und mein Mann fragte ihn, ob er, da er nicht wegfahre, ob er mit uns zu Abendessen wolle, es würde uns Vergnügen bereiten; dem stimmte der junge Herr zu, und er ging, um mich zu sehen, hinauf in mein Zimmer, das ich, entgegen meiner Gewohnheit, nicht verlassen hatte. Als erste Höflichkeit sagt er zu mir: »Ich esse mit Ihnen zu Abend, Ihr Mann hat mich darum gebeten.« Ich bezeugte ihm meine Genugtuung darüber und verließ ihn nach kurzer Zeit, um meiner Dienerin Anweisungen zu geben. Im Zusammenhang damit begab ich mich auch zu meinem ältesten Sohn Marc-Antoine, den ich allein im Geschäftsraum sitzend antraf, tief in Gedanken versunken, um ihn zu bitten, Roquefort-Käse kaufen zu gehen. Er war gewöhnlich für die Besorgung davon zuständig, weil er sich dabei besser auskannte als die anderen; ich sagte also zu ihm: »Hier, geh Roquefort-Käse kaufen, da ist das Geld dafür, und du gibst den Rest deinem Vater«; und ich gehe wieder in mein Zimmer zu dem jungen Lavaisse, den ich dort zurückgelassen hatte. Aber wenige Augenblicke später verließ er mich und sagte, er wolle noch einmal zu den Pferdeverleihern, um nachzusehen, ob nicht irgendein Pferd eingetroffen sei, da er sich morgen unter allen Umständen zum Landgut seines Vaters aufmachen wolle; und er verließ das Haus.

Nachdem mein ältester Sohn den Käse eingekauft hatte, kam bald die Zeit des Abendessens,8 jeder fand sich ein, um sich zu Tisch zu setzen, und wir nahmen Platz. Während des Abendessens, das nicht sehr lange dauerte, unterhielt man sich über nebensächliche Dinge, unter anderem über die antike Kunst im Hotel de Ville; mein Jüngster, Pierre, wollte einiges davon loben, und sein Bruder tadelte ihn, da er von ihnen weder gut noch angemessen redete.

Als wir beim Nachtisch waren, erhob sich dieses unglückliche Kind, ich meine damit meinen ältesten Sohn Marc-Antoine, vom Tisch, wie es seine Gewohnheit war, und ging durch die Küche weg.9 Die Dienerin sagte ihm: »Ist es Ihnen kalt, Herr Calas? Wärmen Sie sich.« Er antwortete ihr: »Ganz im Gegenteil, ich brenne«; danach ging er weg. Wir verblieben noch einige Zeit am Tisch; danach gingen wir in das Zimmer, das Sie kennen und in dem Sie geschlafen haben, Monsieur Lavaisse, mein Ehemann, mein Sohn und ich; die beiden ersten setzten sich auf das Sofa, mein Jüngster auf einen Lehnsessel und ich auf einen Stuhl, und wir unterhielten uns miteinander. Mein jüngster Sohn schlief ein; und ungefähr um ein Viertel vor 10 Uhr verabschiedete sich Monsieur Lavaisse von uns, und wir weckten meinen Jüngsten, damit er besagten Lavaisse begleite, und gaben ihm die Fackel in die Hand, um ihm den Weg zu weisen; dann stiegen sie zusammen die Treppe hinunter.

Aber kaum waren sie einen Augenblick unten angekommen, hörten wir mächtige Bestürzungsschreie, ohne unterscheiden zu können, was man sagte, mein Ehemann lief hinzu, und ich, ich blieb zitternd auf der Galerie, wagte nicht, hinunterzugehen, und wußte nicht, was sein konnte.

Dennoch, da ich niemanden kommen sah, entschloß ich mich, hinunterzugehen: was ich tat; aber ich fand unten an der Treppe Monsieur Lavaisse, den ich überstürzt fragte, was es gäbe. Er antwortete mir, daß er mich bitte, wieder nach oben zu gehen, daß ich es erfahren würde; und er drängte mich so sehr, daß ich mit ihm wieder in mein Zimmer ging. Ohne Zweifel war dies, um mir den Schmerz zu ersparen, meinen Sohn in diesem Zustand zu sehen, und er ging wieder nach unten; aber die Ungewißheit, in der ich war, war ein zu ungestümer Zustand, um länger in ihm verharren zu können; ich rief folglich meine Dienerin und sagte ihr: »Jeanette, schauen Sie nach, was es da unten gibt; ich weiß nicht, was es ist, ich zittere vor Schrecken«; und ich gab ihr die Kerze in die Hand, und sie stieg hinunter; aber da ich sie nicht zurückkommen sah, um mir zu berichten, ging ich selbst nach unten. Großer Gott! Welcher Schmerz, welche Trauer kam über mich, als ich diesen lieben Sohn ausgestreckt auf der Erde liegen sah! Dennoch glaubte ich nicht, daß er tot sei, und ich lief weg, um Ungarisches Wasser zu suchen, da ich glaubte, es sei ihm schlecht geworden; und da die Hoffnung das ist, was uns am letzten verläßt, gab ich ihm alle Hilfe, die mir möglich war, um ihn wieder zum Leben zu erwecken, da ich mich nicht dazu überreden konnte, daß er tot sei. Wir alle bildeten uns dies ein, da man den Wundarzt hatte kommen lassen und er neben mir stand, ohne daß ich ihn gehört oder wahrgenommen hätte, bis er mir sagte, es sei unnütz, ihm noch Weiteres zu tun, da er tot sei. Ich behauptete daraufhin, daß das nicht sein könne, und ich bat ihn, seine Bemühungen zu verdoppeln und ihn aufs genaueste zu untersuchen, was er überflüssigerweise tat. Denn es war nur allzu wahr: und während dieser ganzen Zeit war mein Mann, der sich auf einen Ladentisch stützte, vollster Verzweiflung; derart, daß mein Herz zerrissen war zwischen dem bedauernswerten Anblick meines Sohnes und der Furcht, diesen lieben Ehemann zu verlieren, dem Schmerz, dem er sich ganz auslieferte, ohne auf irgendeine Tröstung zu hören; und es waren diese Umstände, unter denen die Gerichtsbedienten uns antrafen, uns in unser Zimmer einsperrten, in das man uns zurückgehen geheißen hatte.

So hat sich die Angelegenheit abgespielt, genau so; und ich flehe Gott an, der meine Unschuld kennt, mich auf ewig zu verdammen, wenn ich ein Jota hinzugefügt oder verkleinert habe, wenn ich nicht die reine Wahrheit bei allen Umständen gesagt habe. Ich bin bereit, diese Wahrheit durch mein Blut zu besiegeln.

BRIEF VON DONAT CALAS, DEM SOHN, AN DIE VERWITWETE MADAME CALAS, SEINE MUTTER

Châtelaine, 22. Juni 1762.

Meine liebe, unglückliche, verehrte Mutter, ich habe Euren Brief vom 15. Juni in den Händen eines Freundes gesehen, der weinte, als er ihn las; auch ich benetzte ihn mit Tränen. Ich bin auf die Knie gefallen; ich habe Gott gebeten, er möge mich auslöschen, wenn irgend jemand aus meiner Familie für den scheußlichen Mord schuldig sei, dessen man meinen Vater und meinen Bruder bezichtigt und an dem Sie selbst, die beste und tugendhafteste aller Mütter, mitbeteiligt sein sollen.

Da ich genötigt war, vor einigen Monaten in die Schweiz zu reisen wegen meines Handelsgeschäfts, habe ich dort vom unvorstellbaren Unheil meiner Familie erfahren. Ich wußte sofort, daß Sie, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder Pierre Calas, Monsieur Lavaisse, ein für seine Redlichkeit und Sanftmütigkeit bekannter junger Mann, in Toulouse in Ketten gefangen ward; daß mein älterer Bruder Marc-Antoine eines scheußlichen Todes gestorben ist und daß der Haß, der so häufig aus der Verschiedenheit der Religionen erwächst, Euch alle dieses Mordes beschuldigte. Die Stärke meiner Trauer machte mich krank, und ich hätte sterben wollen.

Man berichtete mir bald, daß ein Teil des Pöbels von Toulouse beim Anblick meines toten Bruders vor unserer Tür geschrien hat: »Es ist sein Vater, es ist seine protestantische Familie, die ihn ermordet hat; er wollte katholisch werden,10 er sollte am kommenden Tag abschwören; sein Vater hat ihn mit seinen Händen erwürgt, da er glaubte, ein gottgefälliges Werk zu tun; er ist bei diesem Opfer unterstützt worden durch seinen Sohn Pierre, durch seine Frau, durch den jungen Lavaisse.«

Man fügte an, daß der aus Bordeaux angekommene Lavaisse, 20 Jahre alt, am selben Tag von einer Versammlung der Protestanten zum Henker der Sekte ausgesucht wurde, um jeden zu erwürgen, der die Religion wechseln möchte. Man schrie in Toulouse, so sei das Recht der Protestanten.

Die sinnlose Narretei dieser Verleumdungen beruhigte mich; um so größer der zutage tretende Unsinn war, um so größer die Hoffnung auf die Weisheit ihrer Richter.

Wirklich, ich zitterte, als alle Neuigkeiten mich unterrichteten, daß man begonnen hatte, meinen Bruder Marc-Antoine, wegen der ausgedachten Unterstellung, er wolle die Religion wechseln, in einer katholischen Kirche zu begraben. Man teilte uns mit, daß die Bruderschaft der Büßermönche für ihn wie für einen Märtyrer eine feierliche Messe abgehalten hat, daß man ihm ein Grabmal errichtet hat und daß man auf diesem Mausoleum seine Gestalt plaziert hat, die einen Palmzweig in den Händen hält.

Ich erahnte nur allzu stark die Auswirkungen dieser Übereilung und dieses unausweichlichen Eiferns. Ich wußte, daß man, da man meinen Bruder Marc-Antoine als einen Märtyrer betrachte, in meinem Vater, in Ihnen, in meinem Bruder Pierre, im jungen Lavaisse nur die Henker sah. Ich verharrte einen ganzen Monat in dumpfem Schrecken. Ich sagte mir vergebens: Ich kenne meinen unglücklichen Bruder, ich weiß, daß er überhaupt nicht die Absicht hatte, abzuschwören; ich weiß, daß mein Vater und meine Mutter niemals sein Gewissen gezwungen hätten, wenn er die Religion hätte wechseln wollen; sie haben es für gut gehalten, daß mein anderer Bruder Louis Katholik geworden ist; sie haben ihm eine Pension ausgesetzt; nichts ist üblicher in den Familien dieser Gegenden als Brüder mit verschiedenen Religionen; die brüderliche Liebe ist keinesfalls erkaltet; die glückliche Toleranz, diese heilige und göttliche Lehre, zu der wir uns bekennen, gestattet uns nicht, irgendeine Person zu verdammen; wir erlauben uns nicht, den Ratschlüssen Gottes vorzugreifen; wir folgen den Antrieben unseres Gewissens, ohne das der anderen in Unruhe zu versetzen.

Es ist unbegreiflich, sagte ich, daß mein Vater und meine Mutter, die kein einziges ihrer Kinder jemals schlecht behandelt haben, bei denen ich niemals Zorn oder Trübsinn bemerkt habe, die niemals in ihrem Leben die geringste Gewalt ausgeübt haben, auf einmal aus ihrer dreißig Jahre lang geübten Milde in die unerhörte Raserei verfallen sind, mit den eigenen Händen ihren ältesten Sohn zu erwürgen wegen der eingebildeten Furcht, er verlasse die Religion, die er überhaupt nicht verlassen wollte.

Dies, meine Mutter, waren die Gedanken, die mich beruhigten; aber mit jeder Post war neuer Schrecken. Ich wollte zu Euch kommen, mich zu Euren Füßen werfen und Eure Ketten küssen. Eure Freunde, meine Beschützer, hielten mich durch Erwägungen davon ab, die ebenso stark waren wie mein Schmerz.

Nachdem ich fast zwei Monate in dieser schrecklichen Ungewißheit verbracht habe, ohne von Euch Briefe erhalten zu können noch Euch meine zukommen zu lassen, sah ich endlich die Memoranden zur Begründung der Unschuld. Ich sah in zwei dieser Schriften genau dieselbe Sache, wie Ihr sie mir in Eurem Brief vom 15. Juni gesagt habt, daß mein unglücklicher Bruder Marc-Antoine vor seinem Tod mit Euch zu Abend gegessen hat und daß keiner von denen, die an dieser letzten Mahlzeit meines Bruders teilgenommen haben, von der Gesellschaft vor dem unseligen Moment wegging, als man sein tragisches Ende bemerkte.11

Verzeihen Sie mir, wenn ich diese schreckenerregenden Bilder wieder in Ihr Gedächtnis rufe; es ist notwendig. Unser neues Unglück erinnert uns ununterbrochen an das alte, und Ihr würdet mir nicht verzeihen, wenn ich Eure Wunden überhaupt nicht wieder öffnete. Ihr könnt nicht glauben, meine Mutter, welch vorteilhafte Auswirkung auf jedermann dieser Beweis hatte, daß mein Vater und Sie und mein Bruder Pierre und Monsieur Lavaisse, daß Ihr Euch nicht einen Augenblick voneinander entfernt habt in der Zeit zwischen dem traurigen Abendessen und Eurer Gefangennahme.

Man hat sich in allen Gegenden Europas, denen unser Unheil zu Ohren gekommen ist, dies gedacht; ich bin darüber in genauer Kenntnis, und Sie müssen es wissen. Man sagte: Wenn Marc-Antoine Calas von jemandem aus seiner Familie erwürgt worden wäre, dann sicherlich durch die gesamte Familie: denn es ist erwiesen, daß diese Familie und Lavaisse und die Dienerin12 immer zusammen waren; die Richter stimmen darin überein; nichts ist zutreffender. Entweder sind alle Gefangenen schuldig oder keiner von ihnen; einen Mittelweg gibt es nicht. Nun liegt es nicht in der Natur einer bis dahin unbescholtenen Familie, eines milden Vaters, der besten der Mütter, eines Bruders, der seinen Bruder liebte, eines Freundes, der in der Stadt ankam und aus Zufall mit ihnen zu Abend aß, daß sie alle gemeinsam in einem Augenblick, ohne irgendeinen Grund, ohne den geringsten Anlaß den unerhörten Entschluß gefaßt haben, einen solchen Mord zu begehen. Eine solche Verschwörung ist unter derartigen Umständen unmöglich;13 die Ausführung ist noch weniger möglich. Es ist daher äußerst wahrscheinlich, daß die Richter die Kränkung der Unschuld wieder rückgängig machen werden.

Diese Überlegungen stützten mich ein wenig in meiner Niedergedrücktheit.

Aber alle diese tröstenden Gedanken wurden hinfällig. Im März traf die Nachricht über die Marter meines Vaters ein. Ein Brief, den man vor mir verstecken wollte und den ich herauszog, lehrte mich, was auszudrücken ich nicht die Kraft habe und was Sie schon so oft haben hören müssen.