Die Ameise als Tramp - Bernhard Kegel - E-Book

Die Ameise als Tramp E-Book

Bernhard Kegel

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Beschreibung

Kaninchenplage in Australien, Ameisen in Großcomputern und Krankenhäusern, Piranhas in französischen Flüssen – mit solchen Ereignissen beschäftigt sich die Invasionsbiologie. Seit jeher ist die Besiedlung neuer Lebensräume für Tiere und Pflanzen eine Überlebensfrage. Früher gab es Hindernisse, die sich der Reiselust widersetzten. Gebirge, Ozeane, Kontinente, Wüsten bildeten unüberwindbare Barrieren. Mit dem Erscheinen des modernen Menschen hat sich die Situation verändert. Ein Netz von Verkehrswegen verbindet, was über Jahrmillionen getrennt war. Bei Warentransporten von einem Kontinent zum anderen reist die Natur mit. Bernhard Kegels faszinierendes Buch erzählt, welche erstaunlichen Folgen das für uns und unsere Umwelt hat.

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Tierischen Migranten auf der Spur: Kaninchenplage in Australien, Ameisen in Großcomputern und Krankenhäusern, Piranhas in französischen Flüssen – mit solchen Ereignissen beschäftigt sich die Invasionsbiologie.

Seit jeher ist die Besiedlung neuer Lebensräume für Tiere und Pflanzen eine Überlebensfrage. Früher gab es Hindernisse, die sich der Reiselust widersetzten. Gebirge, Ozeane, Kontinente, Wüsten bildeten unüberwindbare Barrieren. Mit dem Erscheinen des modernen Menschen hat sich die Situation verändert. Ein Netz von Verkehrswegen verbindet, was über Jahrmillionen getrennt war. Bei Warentransporten von einem Kontinent zum anderen reist die Natur mit. Bernhard Kegels faszinierendes Buch erzählt, welche erstaunlichen Folgen das für uns und unsere Umwelt hat.

Bernhard Kegel, geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Er ist Gitarrist in diversen Berliner Jazzbands. Seit 1993 veröffentlichte Bernhard Kegel mehrere Romane und Sachbücher, zuletzt erschienen bei DuMont die Sachbücher ›Epigenetik‹ (2009) und ›Tiere in der Stadt‹ (2013). Bernhard Kegel lebt als freier Autor und Wissenschaftspublizist in Berlin.

Bernhard Kegel

DIE AMEISE ALS TRAMP

Von biologischen Invasionen

eBook 2013

© DuMont Buchverlag, Köln

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe

Erstmals erschienen 1999 im Ammann Verlag & Co., Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Zero, München

Umschlagabbildung: © Richard Wahlstrom/Getty Images

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN eBook: 978-3-8321-8721-7

www.dumont-buchverlag.de

Zur Terminologie: Wenn im Folgenden von Ökologie die Rede ist, sind weder Atom- oder sonstige Kraftwerke noch Acryllacke, Kaseinwandfarben, chemiefreie Unterhosen, phosphatfreie Waschmittel, unlackierte Bleistifte oder die wünschenswerte Benutzung eines Fahrrades gemeint. Ökologie war und ist eine Teildisziplin der Biologie, die sich mit der Wechselwirkung der Lebewesen untereinander und mit ihrer Umwelt beschäftigt, und genau so wird der Begriff in diesem Buch auch verwendet.

LOB DER SCHLECHTEN SELBSTEINSCHÄTZUNG

Der Mäusefalke findet sich wohlgeraten.

Den schwarzen Panther lassen Skrupel kalt.

Piranhas zweifeln nicht am Sinn ihrer Taten.

Die Klapperschlange akzeptiert sich ohne Vorbehalt.

Einen selbstkritischen Schakal gibt es nicht.

Heuschrecke, Alligator, Trichine, alles, was fleucht und schleicht,

lebt, wie es lebt, und ist zufrieden.

Hundert Kilo wiegt das Herz des Wals,

in anderer Hinsicht aber ist es leicht.

Es gibt hinieden

auf dem dritten Sonnenplaneten

nichts was tierischer wäre als das reine Gewissen.

Vorwort zur Neuausgabe

Es ist für mich eine große Freude, dass Die Ameise als Tramp nun endlich in einer aktualisierten Fassung vorliegt. Mein kürzlich erschienenes Buch Tiere in der Stadt – Eine Naturgeschichte erfährt mit dieser Neuausgabe eine willkommene Ergänzung, denn die beiden Themen haben viel miteinander zu tun. Die neuen Tier- und Pflanzenarten spielen besonders in urbanen Lebensräumen eine wichtige Rolle (ohne dort besonders unangenehm aufzufallen), und Städte sind umgekehrt von entscheidender Bedeutung für deren Verbreitung.

Fast 15Jahre sind seit Erscheinen der Erstausgabe vergangen und die Vorzeichen haben sich verändert. Damals wurden Begriffe wie »invasiv«, »biologische Invasion« oder »Invasionsbiologie« in deutschen Fachkreisen regelrecht vermieden, heute sind sie national und international allgemein gebräuchlich und das Thema ist zu einem der wichtigsten der modernen Ökologie geworden. Keine große ökologische Tagung kommt ohne einen entsprechenden Schwerpunkt aus. Gerade hat die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen eine umfangr Studie über biologische Invasionen veröffentlicht und vor den Folgen der weltweiten Verschleppung von Pflanzen- und Tierarten gewarnt. Das Thema ist aktueller denn je, und es gehörte vor 15Jahren, als ich dieses Buch schrieb, nicht allzu viel Mut und Fantasie dazu, genau das vorherzusagen.

Seitdem sind Tausende von Veröffentlichungen zu invasiven Organismen erschienen. Das Detailwissen ist explodiert, weil überall auf der Welt erkannt wurde, welches Schadenspotenzial sich hier im seltenen Worst Case entfalten kann. Das Problem wird ernst genommen und erhält endlich die Aufmerksamkeit, die es verdient. Kaum ein Land kommt noch ohne detaillierte Fallstudien und Managementpläne aus. Internationale Arbeitskreise und Datenbanken wie das europäische DAISIE-Projekt (Delivering Alien Invasive Species Inventories for Europe) sorgen für eine optimale Vernetzung der Forscher. Auch in der lange von größeren Katastrophen verschonten Alten Welt sind pflanzliche und tierische Invasoren aufgetaucht, die unübersehbare Spuren hinterlassen und Wirkung entfalten: eine Miniermotte, die weiß blühenden Rosskastanien schon im Sommer einen traurigen Herbst-Look verpasst, die Beifuß-Ambrosie mit ihrer gefährlichen allergenen Wirkung, asiatische Marienkäfer, die ihre einheimischen Verwandten zu verdrängen drohen, Bockkäfer gleichen Ursprungs, die unsere Laubbäume anknabbern, und andere mehr.

Umso wichtiger erscheint es daher, allgemein verständlich zu erklären und anhand von Beispielen aus der ganzen Welt zu erzählen, wie es zu dieser Situation kommen konnte, welche Rolle jeder Einzelne von uns dabei spielt und welche Mechanismen, neben unserer eigenen Unbelehrbarkeit, hier über Jahrhunderte am Werk waren und sind. In der vorliegenden Neuausgabe wurden die wichtigsten Zahlen und Fallbeispiele auf den aktuellen Stand gebracht. Wie sieht es heute in Guam aus? Was ist aus dem Viktoriasee geworden? Und wie geht es den letzten Takahes und Kakapos Neuseelands? Dies sind nur einige Invasionsstorys, nach denen ich oft gefragt wurde und deren Fäden ich versucht habe, dort wieder aufzunehmen, wo sie vor 15Jahren liegen blieben.

Einleitung

»Damit uns kein Fehler unterläuft:

Wir erleben eine der großen historischen Umwälzungen

von Fauna und Flora dieser Welt.«

Charles Elton1

Frankreich, August 1993

Der Angler im südfranzösischen Département Lot-et-Garonne staunte nicht schlecht. Im Laufe der Zeit hatte er, abgesehen von ein paar Winzlingen, so ziemlich jede hier vorkommende Fischart zu Gesicht bekommen, aber was jetzt an seinem Haken zappelte, hatte er noch nie zuvor gesehen: 30Zentimeter lang, ein flacher, scheibenförmiger Körper, silber-metallisch glänzend, an Bauch und Kiemen blutrot. Am auffälligsten waren die Zähne, unglaubliche Zähne, Zähne, die dem erfahrenen Angler sofort signalisierten, dass ein solches Tier normalerweise nicht hier lebte und hoffentlich auch nie hier leben würde. Als der zuständige Fischwart von dem Fang hörte, glaubte er zunächst an einen Scherz. Einige Tage später wurde ein zweites Tier gefangen. Es gab tatsächlich Piranhas in der Garonne! Die Behörden vermuten, dass sich ein Aquariumbesitzer im Fluss seiner heiklen Zöglinge entledigte.

Expansion ist ein Merkmal des Lebens. Überall und zu jeder Zeit versuchen sich Pflanzen und Tiere in neuen Lebensumständen. Sie tasten sich über die Grenzen ihrer bisherigen Existenz hinaus, scheitern und beginnen wieder von Neuem. Die Vielfalt der Anpassungen, die sich die Lebewesen zu diesem Zweck haben einfallen lassen, ist unüberschaubar. Sie laufen, schwimmen, fliegen, segeln, lassen sich treiben oder nutzen die Körper anderer Lebewesen als Taxiservice. Viele haben in ihrem Lebenszyklus spezielle Verbreitungsmechanismen entwickelt, Samen mit Fallschirmen oder Hafteinrichtungen, federleichte Sporen, mobile Larven. Sie gewährleisten, dass die zahlreichen Nachkommen über ein möglichst großes Gebiet verteilt werden. Verluste sind einkalkuliert. Die Entdeckung und Besiedlung neuer Lebensräume war und ist für Tiere und Pflanzen eine Überlebensfrage. Stillstand kann den Tod bedeuten. Tümpel trocknen aus, Seen verlanden, Wälder brennen ab, ganze Kontinente vereisen.

Lange Zeit gab es Hindernisse, die sich auch der ausgeprägtesten Reiselust widersetzten. Für einen Planktonkrebs der Karibik war es unmöglich, aus eigener Kraft in den tropischen Pazifik zu gelangen, genau so aussichtslos war der Versuch einer europäischen Maus, sich ins entlegene Tasmanien abzusetzen. Gebirge, Ozeane, Kontinente, Wüsten bildeten ein unüberwindbares Bis-hierher-und-nicht-weiter. Hätte es diese natürlichen Barrieren nicht gegeben, eine Fauna wie die Madagaskars, Australiens, Neuseelands, Hawaiis oder der Galapagos-Inseln mit ihren vielen Absonderlichkeiten hätte sich niemals entwickeln und erhalten können. Gerade ozeanische Inseln, von vielen Tausend Kilometern Wasser abgeschirmt, waren der ideale Nährboden für spektakuläre biologische Sonderwege, seien es die Beuteltiere in Australien oder die Riesenschildkröten auf Galapagos.

Mit dem Erscheinen des modernen Menschen hat sich die Situation grundlegend verändert. Vor dem Hintergrund einer Tier- und Pflanzenwelt, die darauf programmiert ist, sich zu vermehren und nach neuen Chancen und Lebensräumen zu suchen, beginnen wir die bestehenden Barrieren abzubauen, Kontinente zu durchstoßen und Ozeane zu verbinden. Ein immer dichter werdendes Netz von Verkehrswegen, von Kanälen, Straßen und Brücken, verknüpft, was über Jahrtausende und Jahrmillionen getrennt war. Schiffe und Flugzeuge transportieren unermessliche Warenmengen von einem Kontinent zum anderen.

Und die Natur reist mit, in Säcken, Ritzen und Kisten, verborgen im tonnenschweren Ballast aus Steinen, Erde und Wasser, versteckt hinter Rohren, Verkleidungen und Verstrebungen. Eine ganze Armada von Organismen lässt sich als blinde Passagiere mit verschiffen und landet so irgendwann an neuen Ufern. Andere reisen ganz offiziell, in Aktenkoffern, Spezialbehältern und Sammlungen, in Käfigen und schwimmenden Stallungen, sind Teil des explodierenden globalen Warenverkehrs. Manche werden in fernen Parks und Gärten gepflegt, brechen dann aus in die Freiheit, entkommen aus Umzäunungen, Gehegen und Zuchtfarmen oder werden ganz einfach in die Landschaft gekippt. Im Schlepptau der Menschen ergießt sich eine Welle von ökologischen Siegertypen selbst über die abgelegensten Gegenden der Erde. Eine Welt der unterscheidbaren Floren und Faunen wird so über kurz oder lang zum großen ›Durcheinander‹.

Die Biogeografie, die sich mit der Verbreitung von Tier- und Pflanzenarten beschäftigt, droht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr geht es wie einem Kommissar, der am Tatort eines Verbrechens entscheidende Beweismittel verschoben, vertauscht und verändert vorfindet und daraus noch den Hergang der Tat rekonstruieren soll. In einem Fachbuch beklagte jüngst ein Tiergeograf, »dass es unmöglich geworden ist, sich einen befriedigenden Überblick über Ablauf und Ergebnis der durch Einschleppung oder absichtliche Einbürgerung bewirkten Faunenveränderungen zu verschaffen«. Überall auf der Erde werden der tiergeografischen Forschung und verwandten Disziplinen »Grundlagen entzogen und Quellen verschüttet«.2 Eine neue Wissenschaft erhält Aufwind, die Invasionsbiologie.

Da die Welt immer enger zusammenrückt und die viel gerühmte menschliche Lernfähigkeit in diesem Fall offenbar blockiert ist, wächst sich die organismische Reisefreudigkeit – ob als blinder Passagier oder als gehätschelter Pflegling – zu einem riesengroßen Problem aus. Prominente Wissenschaftler halten es neben der immer weiter fortschreitenden Biotopzerstörung für die größte Gefahr, die den verbliebenen Naturräumen dieser Erde heute droht. Für einige ist es schlicht das Umweltproblem der zweiten Hälfte dieses Jahrtausends.3 Die öffentliche Aufmerksamkeit ist gering, zumindest bei uns in Europa. Die globalen wirtschaftlichen und ökologischen Schäden sind dafür umso größer.

Eine vom amerikanischen Kongress in Auftrag gegebene Studie4 (des Office of Technology Assessment) kalkulierte den bis 1991 in den USA durch nicht-einheimische Arten verursachten volkswirtschaftlichen Schaden auf fast 100Milliarden Dollar. Aus Mangel an Informationen wurde dabei nur ein Bruchteil der etwa 30.000 eingeschleppten Tier- und Pflanzenarten berücksichtigt. Auch die durch fremde Unkrautarten in der Landwirtschaft verursachten Verluste sowie Umweltschäden, etwa der Verlust einheimischer Pflanzen- und Tierarten, sind in dieser Summe nicht enthalten.

Neuere Untersuchungen gehen von weit höheren Zahlen aus. In den sechs Ländern USA, Großbritannien, Südafrika, Australien, Indien und Brasilien sollen über 120.000 eingeschleppte Pflanzen-, Tier- und Mikrobenarten für Schäden von mindestens 314Milliarden Dollar verantwortlich sein – pro Jahr.5 David Pimentel von der Cornell University schätzt die jährlich allein in den USA entstehenden Schäden auf 120Milliarden Dollar. In Deutschland summieren sich die von nur 20 ausgewählten fremden Pflanzen- und Tierarten verursachten Kosten laut Bundesumweltamt Jahr für Jahr auf maximal 263Millionen Euro.6 Da die Zahl in der Natur etablierter Eindringlinge überall auf der Welt wächst und sie nur in Ausnahmefällen wieder zu beseitigen sind, werden die von ihnen verursachten Schäden weiter zunehmen.

Der Historiker Edward Tenner sieht darin einen typischen Racheeffekt, die offenbar unvermeidliche Konsequenz technologischer Innovation und allzu optimistischen Fortschrittsglaubens.7 Immer wieder und trotz aller einschlägigen Erfahrungen setzen die Menschen fatale Ereignisketten in Gang, die unumkehrbar sind. Oft sind handfeste ökonomische Interessen im Spiel, vielfach nur Ignoranz, Nostalgie oder romantisches Fernweh.

Freisetzungen fremder Pflanzen- und Tierarten geschahen in bester Absicht. Als Jagdwild, Pelzlieferanten, Schädlingsvertilger oder Erosionsschutz wurden sie geholt, als Waldzerstörer, Killer oder Verdränger einheimischen Lebens blieben sie. Die Namen, die man ihnen in ihren neuen Heimatländern gegeben hat, lassen erahnen, dass sie den Gastgebern nicht nur Freude bereiten: Von grünem Krebs ist die Rede, von Monstern, Killeralgen, apokalyptischen Pflanzen und ökologischen Bomben, vom Alptraum, geboren im Wasser, von Killerbienen, Mörder- und Unkrautbäumen, von schöner oder blühender Pest, von grüner Hölle und roter Flut … oder einfach von Mistzeug.

Die Wellen schlagen hoch. Die einen sprechen von ökologischer Minderwertigkeit, Überfremdung, Unterwanderung und Verfälschung, die anderen warnen vor »Gehölzrassismus« und einer »Hexenjagd auf Neophyten«.

Ausgerüstet mit Fallen, Gewehren und Giften, mit Spaten, Bulldozern und Kettensägen rücken überall in der Welt Arbeitskommandos aus, um unerwünschte Eindringlinge mit Stumpf und Stiel auszurotten. Ein meist vergebliches Unterfangen. Ob Wasserhyazinthen in Florida oder im Viktoriasee, Staudenknöterich und Spätblühende Traubenkirsche in Europa, Ginster in Kalifornien oder Kaninchen in Australien und Neuseeland, eine Rückkehr zum Status ante ist ausgeschlossen.

Nur wenige der Eindringlinge können sich in ihrer neuen Heimat auf Dauer halten. Andere überleben nur deshalb, weil die Menschen sie hegen und pflegen und immer wieder für Nachschub sorgen. Manche Invasoren überrollen das neue Territorium mit explosionsartiger Vermehrung und versinken anschließend in der Bedeutungslosigkeit. Andere führen über Jahrzehnte ein kümmerliches Schattendasein und setzen dann plötzlich zum unaufhaltsamen Siegeszug an. Das Ganze mutet an wie ein weltumspannendes populationsdynamisches Experiment und wird von manchem Forscher auch so wahrgenommen.

Die Invasionsbiologie hat viele seltsame, lehrreiche und spannende Geschichten zu bieten. Einige sollen hier erzählt werden, aus der Sicht eines Biologen, nicht der eines Historikers.8 Eine vollständige Darstellung verbietet sich von selbst. Die Verschleppung von Fauna und Flora hat vollkommen unüberschaubare Ausmaße angenommen. Trotzdem möchte ich in Zeiten der Globalisierung den Versuch wagen, das Problem der biologischen Invasionen als globales Phänomen darzustellen. Nur so kann man ihm gerecht werden.

Für mich als in Mitteleuropa lebenden Biologen ist es selbstverständlich, dass die Situation im Zentrum der Alten Welt einen Schwerpunkt dieses Buches bilden muss, zumal bislang keine allgemein verständliche Darstellung des Themas existiert. Die Lage in Europa ist vergleichsweise undramatisch, aber auch wir sind in dieses weltweite organismische Tohuwabohu verwickelt, obwohl kaum jemand davon Notiz nimmt. Die, die es tun, neigen oft zu heftigen Reaktionen. Ein Blick in andere Regionen der Welt hilft, die Relationen zurechtzurücken.

Die Alte Welt war im weltweiten Organismenverkehr eher Spender als Empfänger. Die Liste der in Europa lebenden exotischen Tier- und Pflanzenarten ist lang, sogar viel länger, als die meisten Menschen hierzulande ahnen, aber von katastrophalen Auswüchsen sind wir weitgehend verschont geblieben.

Andere Gegenden der Erde hatten weit mehr zu leiden, und dies nicht zuletzt als Folge europäischer Organismenexporte. Der Imperialismus der Europäer hatte eine oft übersehene ökologische Komponente, ohne die sein nachhaltiger Erfolg vor allem in den gemäßigten Klimazonen der Erde kaum möglich gewesen wäre.9

Zum Beispiel Neuseeland. Die Inselrepublik im fernen Südpazifik soll als Gegenstück zur Situation in Deutschland und Mitteleuropa dienen. Beide Länder liegen in ähnlichen Breitengraden – wir leben etwas polnäher als die Menschen down under –, beide Staaten sind etwa gleich groß. Aber die Unterschiede fallen eher ins Auge. Deutschland ist Teil des riesigen Eurasiens, Neuseeland hingegen eine der isoliertesten Landmassen der Erde. Erst in fast 2000Kilometern Entfernung stoßen Neuseeländer auf ihren nächsten größeren Nachbarn. Die ursprüngliche Tier- und Pflanzenwelt beider Länder könnte unterschiedlicher nicht sein. Der Mensch spielt in Europa seit Jahrtausenden eine entscheidende Rolle, in Neuseeland erst seit wenigen Hundert Jahren. Wie werden zwei so verschiedene Ökologien mit dem Problem eingeschleppter Arten fertig?

Wem es nur darauf ankommt, dass alles schön grün ist, dem dürfte die hier beschriebene Entwicklung egal sein. Wem die Lebensvielfalt dieser Erde etwas bedeutet, ob aus ökonomischen, ökologischen oder ethischen Überlegungen, den kann das Phänomen nicht gleichgültig lassen.

Eine intensive Beschäftigung mit dem Problem der biologischen Invasionen erscheint dringend geboten, denn wir stehen an der Schwelle des biotechnischen Zeitalters10, und auf die Ökosysteme dieser Welt rollt eine neue Invasorenwelle zu. Der Zeitpunkt ist absehbar, in dem weltweit in großem industriellen Maßstab transgene, also vom Menschen genetisch veränderte Nutzpflanzen angebaut werden. In den Ställen werden transgene Nutztiere stehen und in den Fermentern der pharmazeutischen Fabriken transgene Mikroorganismen schwimmen. Es erscheint dringend erforderlich, sich darüber Gedanken zu machen, was passiert, wenn einige dieser Pflanzen und Tiere das tun, was schon Tausende und Abertausende vor ihnen taten: Sie werden ihre Felder und Umzäunungen verlassen, werden selbst auswildern oder ihre Gene in Wildpopulationen einkreuzen und in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt treten.

1. Großstadtdschungel

Kaum einem europäischen Großstädter ist bewusst, dass das, was er in der Stadt als Natur erlebt, eher dem Sortiment eines Kolonialwarenladens entspricht als einer natürlich gewachsenen Lebensgemeinschaft. Was in Parks, Gärten, auf Friedhöfen und Brachflächen wächst, ähnelt der Sammlung eines eigenwilligen Kunstliebhabers mit nur einem Auswahlkriterium: Grün muss das Bild sein, egal aus welcher Epoche oder Weltkultur. Sie glauben, ich übertreibe?

Machen wir einen kurzen Spaziergang durch Ihre Wohnung: Kakteen, Yucca- und andere Palmen, rotblühender Hibiskus auf der Kommode, ein ausladender Philodendron neben dem Fernseher. Haben Sie einen Balkon? Dann sind Sie vielleicht stolz auf Ihre prachtvollen Geranien, Fuchsien und Studentenblumen. Die Kastanien draußen in der Straße blühen leider nicht mehr, dafür platzen in den Vorgärten die dicken Knospen der Rhododendronbüsche. Thuja- und Ligusterhecken leuchten in dunklem Grün. Auf der anderen Straßenseite fährt der Wind in die Krone eines Götterbaums, daneben eine stolze Omorika-Fichte und blütenbehangener Goldregen, Hortensien, Sommerflieder, Schneebeere und Gemeiner Bocksdorn. Grüne Großstadtidylle, wie man sie sich nur wünschen kann, aber nichts davon ist ursprünglich in Europa heimisch, und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Halt! Zwischen den Pflastersteinen zwängen sich einige Hälmchen ans Licht. Etwas Einheimisches! Vogelmiere, ein kümmerlicher Löwenzahn, verblühte Gänseblümchen und Achillea millefolium, die Tausendblättrige Schafgarbe.

Sie schütteln den Kopf, sind immer noch nicht überzeugt, wenden ein, Gärten seien vom Menschen gepflanzte Kunstgebilde, dazu da, mit ihrer Pracht die Sinne zu erfreuen, und im Stadtpark und erst recht im Wald sehe die Situation sicher anders aus?

Na gut. Ich erspare Ihnen den Park, denn die Liste würde genau so umfangreich ausfallen wie bei den Vorgärten. Gehen wir in den Wald!

Wir atmen kurz durch, genießen die gute Luft.

Welchen Wald meinen Sie? Die dichte Douglasien-Schonung? Herkunftsland: Nordamerika. Das Robinien-Wäldchen? Ebenfalls Nordamerika. Was ist dieser Unterwuchs, der im Herbst so schöne Beeren trägt? Späte Traubenkirsche, Herkunft? Na, Sie wissen schon. Und von dort kommt auch die Rot-Eiche, der Eschenahorn, die Kanadische Pappel. Amerika prägt nicht nur unseren Kinoprogrammen seinen Stempel auf.

Berlin, Mai 1997

Ein Leserbrief brachte es ans Licht. Die ZEIT-Autorin Godela Unseld machte für die Anwesenheit des mediterranen Zymbelkrauts (Lincria cymbalaria) in Mitteleuropa noch ein Wunder verantwortlich, ein aufmerksamer Leser wusste es besser. Er erinnerte an den 1906 verstorbenen Berliner Dichter Heinrich Seidel, der in einem seiner Werke ein umfassendes Geständnis abgelegt hat. Überall auf seinen Berliner Spaziergängen habe er die Samen des Zymbelkrauts ausgesät, schrieb Seidel, damit »noch ein kleines zierliches Pflänzchen, das aus dünnen Mauerritzen lieblich hervorgrünt, lebendige Kunde davon geben wird, dass der Verfasser […] einst über diese Erde gegangen ist«.1

Der Botaniker Jörgen Ringenberg hat 1994 eine detaillierte Untersuchung der Gehölzpflanzen der Hamburger Wohnbebauung veröffentlicht.2 Fast fünf Millionen Bäume begrünen Hamburgs Vorgärten, Hinterhöfe und Grünanlagen. Ihre überraschend große Zahl und Vielfalt übertrifft die der Straßenbäume (ca. 200.000) um ein Vielfaches. Ringenberg fand 489 verschiedene Holzgewächse, mehr als doppelt so viele wie alle in Deutschland heimischen Gehölzarten zusammen. 86Prozent dieser im Hamburger Häuserdschungel gedeihenden Bäume, Sträucher und Lianen sind exotische Arten, nur der kärgliche Rest ursprünglich in Mitteleuropa heimisch. 24Prozent stammen aus Zentral- und Ostasien, 16Prozent aus Westasien und anderen Gebieten Europas, 12Prozent aus Nordamerika, gut 1Prozent aus Südamerika und Ozeanien. Afrika ist floristisch nicht vertreten. Auch hinter der mit 33Prozent größten Gruppe, den Gehölzpflanzen, die vom Menschen in Kultur gezüchtet und verändert wurden, etwa dem Apfelbaum oder zahllosen Ziersträuchern, verbergen sich nahezu ausschließlich gebietsfremde Arten.

Ringenberg fand heraus, dass die Artenzusammensetzung willkürlich und ausgeprägten Moden und Trends unterworfen ist. Gepflanzt wird, was beim Nachbarn gefällt und was Baumschulen und Gartencenter günstig anbieten. Vorkriegs- und Nachkriegsbebauung unterscheiden sich nicht nur in ihrer Architektur. Auch das schmückende Grün reflektiert den sich verändernden Zeitgeschmack. Wo früher Pyramidenpappel, Blutbuche, Trauerweide und Magnolie gepflanzt wurden, sind es heute Silberahorn, Götterbaum und Cotoneaster. Einige Arten wurden erst in den letzten Jahren verfügbar und fehlen in den älteren Gärten. Unter den zehn am häufigsten gepflanzten Bäumen befinden sich mit Feldahorn, Hainbuche und Hängebirke nur drei einheimische. Sechs dieser zehn Baumarten sind Nadelbäume. Großstädter bedürfen eben auch und gerade im trüben Winter unserer Breiten der besänftigenden Wirkung grüner Pflanzen.

Hamburg, 1994

Der in der Wohnbebauung von Hamburg am häufigsten gepflanzte Baum ist die Serbische oder Omorika-Fichte (Picea omorika). In großem Abstand folgen Eibe, Feldahorn sowie Scheinzypresse und Lebensbaum, beide aus Nordamerika.3 Die Omorika-Fichte wurde 1875 in Südwestserbien entdeckt. Ihr natürliches Verbreitungsgebiet ist erstaunlich klein. Sie kommt nur in schattigen Gebirgsschluchten des Balkangebietes vor. Wegen des schnellen und geraden Wuchses und ihrer geringen Empfindlichkeit gegenüber Luftschadstoffen wird der bis zu 40Meter hohe Baum in verschiedenen Ländern auf seine Eignung als Forstbaum getestet.

Die Bilder gleichen sich: in Hamburg, Berlin, Freiburg, Bremen, Leipzig oder München. In einigen Berliner Parks stammen neun von zehn Baum- und Straucharten aus fremden Ländern.4 Untersuchungen in London, Auckland, New York oder Tokio kommen zu einem ähnlichen Ergebnis.

Städte sind die Knotenpunkte des internationalen organismischen Austauschs. Hier liegen seit jeher die liebevoll gepflegten Grünanlagen, Parks und Botanischen Gärten, hier enden Eisenbahnlinien, Straßen und Kanäle, landen Flugzeuge, befinden sich Häfen, Containerumschlagplätze und Lagerhallen. Hier begann die Erfolgsstory vieler »grüner Immigranten«.5 Städte bieten zudem ein großes Angebot an künstlichen, vom Menschen geschaffenen Existenznischen. Hier gibt es Müllkippen, Straßenränder, Trümmergrundstücke, Brachflächen, Böschungen und stillgelegte Bahngleise. Auf solchen Standorten machen überall in der Welt konkurrenzstarke Eindringlinge das Rennen.

Das Bild ändert sich nicht, wenn wir größere Einheiten betrachten, ganze Landstriche, Regionen oder Staaten. Schon 1916 hat der Berliner Botaniker Goeze eine Liste nach Mitteleuropa eingeführter exotischer Gehölze zusammengestellt.6 Er zählte 2645 verschiedene Pflanzenarten auf, von denen jeweils etwa ein Drittel aus Nordamerika und Ostasien stammt. Ihre Zahl hat seitdem noch deutlich zugenommen. Anfang der Achtzigerjahre wurden allein in Deutschland 3312 Baum- und Straucharten kultiviert. Zieht man die nur etwa 160 einheimischen ab, ergibt sich eine Gesamtzahl von nicht weniger als 3150 gebietsfremden Arten, das Zwanzigfache des heimischen Angebots.7

Nevada, USA, 1890

F. H. Hillman, Mitarbeiter einer landwirtschaftlichen Forschungsstation in Nevada, begnügte sich nicht damit, Broschüren mit Abbildungen gefährlicher eingeschleppter Unkräuter zu verschicken. »Zur Sicherheit« klebte er getrocknete Exemplare und Samen auf die Seiten seiner Informationsblätter, damit die Farmer die ihnen unbekannten Problempflanzen vor Ort durch direkten Vergleich leichter identifizieren konnten. Was aus den verschickten Samen wurde, kann man sich leicht ausmalen. »Unter den unzähligen Wegen, auf denen fremde Arten sich ausgebreitet haben könnten«, meint der Washingtoner Botaniker Richard N. Mack, »ist dies der einzige mir bekannte Fall, wo genau das Medium, das die Öffentlichkeit vor einer aufziehenden Gefahr warnen sollte, zu dem Mittel wurde, das aus der Gefahr Realität werden ließ.«8

Die bisher besprochenen Bäume und Sträucher sind fast immer bewusst eingeführt worden, historisch meist gut dokumentiert. Ungleich spärlicher sind die Informationen hinsichtlich der krautigen Pflanzen, all dessen, was Jahr für Jahr aus dem Boden sprießt, kein Holz bildet und im Winter in sich zusammenfällt. Sie wurden zum großen Teil passiv verschleppt, reisten als Verunreinigungen von Saatgut, als Vogelfutter, sogenannte Grassamenankömmlinge oder als Nutznießer der explodierenden menschlichen Transporte.9

Die Ausbreitungswege sind so vielfältig wie die Pflanzenwelt selbst. In einem einzigen Jahr (1912) holte sich Großbritannien mit Klee- und Grassamenimporten schätzungsweise zwei bis sechs Milliarden Unkrautsamen ins Land. Die an fremden Arten reichste Flora des Hamburger Hafens findet sich in der Umgebung der Getreidespeicher, wo Jahr für Jahr Millionen Tonnen Getreide, Soja, Raps, Futtermittel und Vogelfutter gelöscht werden, mitsamt ihren grünen Begleitern.10

Die neuen Pflanzen kamen ins Land und schlugen Wurzeln. Ausgehend von den Ballungszentren breiteten sich einige als sogenannte Eisenbahnpflanzen entlang den Bahntrassen ins umgebende Land aus. Beziehen wir diese Pflanzen mit ein, erreichen die Zahlen leicht schwindelerregende Höhen. Nicht weniger als 12.000 verschiedene Pflanzenarten sollen so im Laufe der Jahrhunderte aus aller Welt nach Mitteleuropa gelangt sein.11

2. Von alten und neuen Pflanzen

Die Wissenschaften, zumal die biologischen, sind für ihre Klassifizierungswut bekannt und berüchtigt. Vor dem Phänomen der pflanzlichen und tierischen Fremdlinge hat diese Leidenschaft der Forscher nicht haltgemacht, sondern wahre Wortungetüme in die Welt gesetzt. Versuchen Sie sich doch mal an: Ergasiophygophyten (Kulturflüchtlinge).

Ich möchte Ihnen Derartiges weitgehend ersparen, aber auf ein grundlegendes Begriffstrio können wir hier nicht verzichten. Nach dem Zeitpunkt ihres ersten Auftretens in unseren Breiten unterscheiden die Botaniker zwischen indigenen oder einheimischen Pflanzen sowie Archäophyten und Neophyten.

Auch die Zoologen haben sich auf eine entsprechende Terminologie geeinigt. Ob bei Tieren oder Pflanzen, Unterscheidungskriterium ist der Zeitpunkt ihrer Einführung durch den Menschen. Im Falle der Neophyten begann sie erst nach 1500n.Chr., Archäophyten gelangten schon davor nach Mitteleuropa. Die Unterscheidung in Archäophyten und Neophyten orientiert sich an Kolumbus’ Entdeckung Amerikas, einer Art Zeitenwende in der Invasionsbiologie. Qualitative Unterschiede zwischen beiden Pflanzengruppen gibt es nicht.

Einige der bisher pauschal als Fremdlinge oder Exoten bezeichneten Gewächse gibt es also schon seit vielen Hundert Jahren bei uns, den Pflaumenbaum seit mehr als zwei Jahrtausenden. Das ändert nichts daran, dass diese Pflanzen ursprünglich nicht in Mitteleuropa heimisch waren und ohne Mitwirkung des Menschen vermutlich nie hierhergelangt wären.

Die Einführung fremdländischer Gewächse nach Mitteleuropa erfolgte in mehreren Wellen. Die erste liegt schon einige Tausend Jahre zurück. Vor 5000Jahren holten sich die Menschen der Frühsteinzeit nicht nur die bekannten Kulturpflanzen ins Land, vom Getreide bis zu den Obstbäumen, sondern auch eine große Zahl an Unkräutern. Bereichert durch spätere Nachzügler ›erfreut‹ diese sogenannte Segetalflora seitdem jedes Bauernherz. Ackerwildkräuter wie Kornblume (Centaurea cyanus), Klatschmohn (Papaver rhoeas) und Echte Kamille (Matricaria chamomilla) sind durch ihr Verschwinden zu Symbolpflanzen für die umweltzerstörenden Einflüsse einer auf Maximalertrag getrimmten Landwirtschaft geworden. Keines der drei Kräuter ist bei uns heimisch.

Brandenburg, 1646

Der Große Kurfürst beschloss, sich wieder um den Ende des 16.Jahrhunderts hinter dem Schloss angelegten Lustgarten zu kümmern. »Hinter dem Schloß ist auch ein feiner fürstlicher Lustgarten mit mancherley schönen Obstbaumen, frembden Früchten und wohlriechenden Kräutern nach herrlicher Art gepflanzet und erbauet«, schwärmte ein Reisender im Jahre 1591. Während des Dreißigjährigen Krieges war der Garten arg vernachlässigt worden. Kriegsgeschäfte gehen eben vor. Nun erging eine kurfürstliche Order an die Gärtner, den Lustgarten »nach der heutigen art […], so wol mit einheimischen als ausländischen Gewächsen reichlich zu bepflantzen«. Der Große Kurfürst ließ sich »aus Italien, Frankreich, England und Holland alle zu seiner Zeit bekannten Saamen, Gewächse, und Baumarten bringen. Seine auswärtig residirende Minister und Residenten konnten sich nicht beliebter machen, als durch Uebersendung von vorbesagten Gewächsen.«1

Im Mittelalter war die Zahl der in Zentraleuropa angepflanzten fremdländischen Bäume und Sträucher relativ klein. Die damals kultivierten etwa 30Archäophyten, unter ihnen Apfel- und Birnbaum, Liguster und Esskastanie, waren schon seit der Antike bekannt und über die Jahrhunderte in Villen- und Klostergärten gepflegt worden. Sie stammten fast alle aus dem mediterranen Raum und den angrenzenden Gebieten Westasiens.

Das Jahr 1492 markierte einen Wendepunkt. Die infolge von Kolumbus’ Entdeckung einsetzende Kolonialisierung Amerikas führte mit einiger Verzögerung zum Import zahlreicher nordamerikanischer Arten (und umgekehrt). Die ersten Neophyten kamen nach Europa. Besonders in England herrschte reges Interesse an exotischen Gewächsen. Kew Gardens, der botanische Garten von London, entwickelte sich mit der Zeit zur Drehscheibe eines rasant ansteigenden und spätestens seit dem 19.Jahrhundert boomenden Handels mit exotischen Pflanzen aus aller Welt. Bald wurden kommerzielle Baumschulen und Gärtnereien gegründet, um die wachsende Nachfrage zu befriedigen.

In Preußen regte Peter Joseph Lenné, der berühmte Gartenbaumeister, die Gründung einer Landesbaumschule Potsdam an. »Sie wird die Zucht und Pflege nicht bloß auf die hier schon kultivierten Waldbäume und Gesträuche richten, sondern auch auf diejenigen fremder Himmelsstriche, deren Gedeihen hier zu hoffen steht, ausdehnen, umso das Nutzbarste aus allen Weltgegenden dem Vaterlande anzueignen.«2 1830 lag die Zahl der von der Landesbaumschule Potsdam verkauften Gehölze bei mehr als 60.000.

Neben den im 18. und im 19.Jahrhundert beliebten Landschaftsgärten nach englischem Vorbild, in denen exotische Pflanzengestalten besonders vorteilhaft zur Geltung kamen, entwickelte sich bald auch die Forstwirtschaft zu einem bedeutenden Abnehmer exotischer Gehölze. In Versuchspflanzungen wurde die Eignung neuentdeckter Bäume für waldbauliche Zwecke geprüft. Ein 1806 erschienenes Forsthandbuch gibt bereits detaillierte Anweisungen, welche der eingeführten Baumarten für welche Standorte geeignet sind.3 Es fällt nicht schwer, sich die damalige Begeisterung vorzustellen. Die schier unerschöpfliche Natur schien für jeden etwas Passendes bereitzuhalten. Mit den exotischen Gewächsen war ein hohes Prestige verbunden, und ein Würdenträger versuchte den anderen zu übertrumpfen. Wurde in Berlin eine prächtige Allee mit südeuropäischen Kastanien gepflanzt, wollte man sich andernorts nicht lumpen lassen.

Aber es gab erste Zweifler. Adelbert von Chamisso war Anfang des 19.Jahrhunderts nicht nur ein berühmter Schriftsteller, sondern auch Naturforscher und Kustos am Berliner Botanischen Garten. Als solcher konnte ihm nicht entgehen, dass eine wachsende Zahl seiner Schützlinge den Sprung über die Gartenmauern in die Freiheit schaffte. Der florierende weltweite Handel und Austausch von Pflanzen blieb nicht ohne ökologische Folgen. »Wo der gesittete Mensch einwandert«, schrieb Chamisso, »verändert sich vor ihm die Ansicht der Natur. Ihm folgen seine Haustiere und nutzbaren Gewächse; die Wälder lichten sich; das verscheuchte Wild entweicht; seine Pflanzungen und Saaten breiten sich um seine Wohnung aus; Ratten, Mäuse, Insekten verschiedener Art siedeln sich mit ihm unter seinem Dache an; und wo er endlich den ganzen Flächenraum nicht eingenommen, entfremden sich seine Hörigen von ihm, und selbst die Wildnis, die sein Fuß noch nicht betreten hat, verändert die Gestalt.«4

Charles Darwin äußerte sich ebenfalls zum Problem der biologischen Invasionen. »Es gibt Fälle«, schrieb Darwin in seinem berühmten Werk Über die Entstehung der Arten, »in denen eingeführte Pflanzen sich in kaum zehn Jahren über ganze Inseln verbreitet haben. Manche Pflanzen, z.B. die Artischocke und eine hohe Distel, die über die weiten Ebenen von La Plata verbreitet sind und auf Flächen von vielen Quadratmeilen fast jede andere Pflanze ausschließen, sind von Europa eingeführt worden. Ferner gibt es in Indien Pflanzen, deren Verbreitungsgebiet […] vom Kap Comorin bis zum Himalaya reicht, die aber erst seit der Entdeckung Amerikas von dorther eingeführt wurden.«5

Für Darwin war der Siegeszug fremder Pflanzenarten ein hochinteressantes Experiment. Es diente ihm als Beweis, zu welch ungeheurer Vermehrung Organismen fähig sind, wenn günstige äußere Umstände, etwa das Fehlen natürlicher Feinde, einem Großteil ihrer Nachkommenschaft das Überleben sichern.

Ingo Kowarik, Hochschullehrer für Botanik an der Universität Hannover und Experte für fremde Pflanzenarten, hat aufgrund der alten Daten von Goeze eine Chronologie der Einführung neophytischer Gehölze nach Mitteleuropa konstruiert.6 Seine Auswertung ergibt eine Folge von Einführungswellen, die mehr oder weniger streng nach geografischen Herkunftsgebieten geordnet ist. Es begann mit Arten aus den benachbarten Gebieten Europas, vor allem des Mittelmeerraumes. Ihre Zahl stieg ab dem 16.Jahrhundert kontinuierlich an, erreichte aber Mitte des 19.Jahrhunderts eine Sättigung. Die Zeit der Exoten war gekommen.

Herkunftsgebiete: (von oben nach unten)Ostasien, Nordamerika, Zentralasien, Mittelmeergebiet

Ein neues Reservoir faszinierender Pflanzengestalten wurde verfügbar und gierig angezapft. Der im 18.Jahrhundert sprunghaft ansteigenden Zahl nordamerikanischer Bäume und Sträucher folgten im Abstand von etwa 100Jahren die Arten Zentral- und Ostasiens. Letztere haben sich, obwohl erst ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in nennenswerter Zahl importiert, zu Rennern entwickelt, die innerhalb von nur 80Jahren den europäischen Markt mit etwa 900 verschiedenen Bäumen und Sträuchern überschwemmten.

Der enorme Zustrom fremder Pflanzen in den letzten 200Jahren bedeutete eine völlige Umgestaltung des grünen Lebensumfeldes von Menschen und Tieren. Ein Großteil der heute in unseren Parks und Gärten blühenden Gewächse, aber auch viele wild wachsende Pflanzen waren vor 100 oder 200Jahren hierzulande noch unbekannt. Da in der Abbildung die Arten Westasiens und anderer Gebiete Europas gar nicht dargestellt sind und die Entwicklung mit dem Jahr 1920 keineswegs abgeschlossen war, ist die heutige Situation aus Sicht der einheimischen Gehölze noch wesentlich ungünstiger.

Portugal, August 1993

Tausende von portugiesischen Bergbauern protestieren gegen die sich immer weiter ausbreitenden Eukalyptus-Plantagen. Mittlerweile ist jeder sechste Baum in Portugal ein Australischer Eukalyptus. Weltweit hat sich die von Eukalyptuspflanzungen bedeckte Fläche innerhalb von 40Jahren verzehnfacht. Sie liegt heute bei sieben Millionen Hektar und verteilt sich auf 100Länder der Erde. Die schnell wachsenden Bäume, die mit ihren tief reichenden Wurzeln den Grundwasserspiegel absenken können und deren Blätter kaum einem der Tiere ihrer neuen Umgebung schmecken wollen, sind nachwachsender Rohstoff für die Papierindustrie, für arme Länder ein wichtiger Devisenbringer. »Der Eukalyptus ist unser grünes Erdöl«, meint der portugiesische Industrieminister Amaral. Insbesondere in Brasilien und Thailand wurden riesige Regenwaldgebiete abgeholzt und in Eukalyptusplantagen umgewandelt.7

Wenn Sie mit einem engagierten Naturschützer durch den Wald schlendern, kann es passieren, dass Ihr Begleiter mitten im Satz nach einem üppig belaubten Ast greift und diesen mit deutlichen Anzeichen von Abneigung herunterreißt. Fragen Sie erstaunt nach, weil ein solches Verhalten nicht in Ihr Bild eines Naturschützers passt, murmelt Ihr Gegenüber vielleicht etwas von »Neophytengestrüpp«.

Viele Neophyten sind nicht wohlgelitten in ihrer neuen Heimat, ob bei uns, in Amerika oder im fernen Neuseeland. Wie schwer sich selbst Botaniker und andere Sachkundige mit der gewollten und ungewollten Bereicherung der heimischen Pflanzenwelt tun, zeigt die Tatsache, dass die Neophyten in der Liste der Farn- und Blütenpflanzen Deutschlands lange überhaupt nicht vorkamen.8 Erst die 1996 erschienene Neufassung hat dem abgeholfen.9 Neophyten galten als unerwünschte Eindringlinge, deren störende Anwesenheit nicht mit einem Eintrag in die offizielle Liste aller wild vorkommenden Pflanzen gleichsam legalisiert werden durfte. Ihr Rückgang sollte mit Befriedigung zur Kenntnis genommen und eine mögliche Seltenheit nicht mit einer Gefährdungskategorie wie »vom Aussterben bedroht« geadelt werden. Mit der jahrhundertelangen Anwesenheit der Archäophyten haben sich Wissenschaft und Naturschutz abgefunden. Sie gelten als eingebürgert, sind längst Teil unserer Ökosysteme geworden und stehen friedlich vereint mit den einheimischen Pflanzen auf jeder Florenliste. Wie man aber mit den Neophyten umgehen soll, ist Gegenstand hitziger Debatten.

Welche Arten sollte eine solche Liste der Farn- und Blütenpflanzen überhaupt umfassen? Stellen Sie sich vor, ein reisefreudiger Mensch stößt auf seiner Tour durch, sagen wir, Südpatagonien auf eine reizende Pflanze, die ihn so fasziniert, dass er sie gerne im häuslichen Garten hätte. Er gräbt sie vorsichtig aus oder sammelt einige Samen und schafft es tatsächlich, sie heil um die halbe Welt zu transportieren. Zu Hause eingetroffen bekommt der Neuling, bevor er noch schlappmacht, sofort einen Ehrenplatz in heimischer Erde. Wer sollte unseren Reisenden daran hindern? Und siehe da, im nächsten Jahr belohnt ihn der jüngste Spross in seinem Garten mit einer entzückenden kleinen, violetten Blüte.

Sollte eine solche Pflanze in ein Verzeichnis aller Pflanzen Deutschlands aufgenommen werden, und wäre gar ihre extreme Seltenheit – es gibt sie bei uns nur dieses eine Mal – Grund genug, sie als stark gefährdet einzustufen? Sicher nicht. Dasselbe gilt auch für gelegentlich bei uns auftretende junge Feigenbäume und die kleine Dattelpalme, die jüngst in Kreuzberg entdeckt wurde. Ingo Kowarik schreibt, sie seien das Ergebnis einer »Verfrachtung der als Obst gehandelten Diasporen«.10 Zu deutsch: Sie sind die überaus ungewöhnlichen Resultate ausgespuckter Obstkerne.

Wenn Feigenbäume und Dattelpalmen in unserer Liste (vorerst) nicht zu finden sind, wer dann? Mittlerweile sind viele Neophyten derart weit verbreitet, dass sie zu den charakteristischsten Arten ganzer Pflanzengesellschaften geworden sind. Ist es sinnvoll, die Kanadische Goldrute, Solidago canadensis, nur deshalb nicht in eine offizielle Florenliste aufzunehmen, weil sie neophytisch ist, obwohl dieses Staudengewächs in zunehmendem Maße Brachländer aller Art besiedelt und mit ihren auffälligen gelben Blüten auch optisch unangefochten dominiert? Wie hin- und hergerissen selbst prominenteste Wissenschaftler sind, beweist folgender Satz des kürzlich verstorbenen Heinz Ellenberg, einem der bekanntesten Vegetationskundler Europas: »Die Kanadische Goldrute ist auf dem besten Wege, ein allgemeines Unkraut der Sozialbrachen (oder deren Schmuck?) zu werden.«11

Was also ist das ausschlaggebende Kriterium? Entscheidend ist nicht, ob eine Pflanze in irgendeinem Garten wächst oder wie häufig oder selten sie ist, sondern einzig und allein, ob sie sich, wie die Kanadische Goldrute, ohne Schutz und Betreuung durch den Menschen hier halten kann. Das gelingt ihr nur, wenn sie sich spontan vermehrt. Nur wenn die Neuankömmlinge Blüte und Samenreife erreichen, wenn ihre ausgestreuten, von Vögeln oder Wind verteilten Samen keimen und neue junge Pflanzen entstehen, wenn wirklich der gesamte Lebenszyklus durchlaufen wird, kann eine Pflanze als eingebürgert gelten. Die Botaniker sind wesentlich strenger. Für sie sind Pflanzenarten etabliert, wenn sie bei uns nachweislich mindestens zwei beziehungsweise drei spontane Generationen über einen Zeitraum von mindestens 25Jahren durchlaufen haben. Nur solche Pflanzen können auch zur Gefahr werden.12

Kompliziert wird die Angelegenheit, weil manche Arten in der Lage sind, sich ungeschlechtlich, also vegetativ, zu vermehren. Sie bilden unterirdische Ausläufer und breiten sich aus, ohne dass es je zu geschlechtlicher Fortpflanzung und damit zur Produktion von Samen gekommen wäre. Diese Fälle gilt es zu berücksichtigen.

Legt man die strengen Kriterien der Botaniker zugrunde, dann reduziert sich die Zahl der bei uns wachsenden fremden Pflanzen erheblich, da alle sporadisch oder nur bei intensiver menschlicher Pflege gedeihenden Arten herausfallen. In Deutschland wurden etwa 600 dauerhaft eingebürgerte, also etablierte fremde Gewächse gezählt, vom Gras bis zum Baumriesen. Das entspricht etwa 18Prozent aller bei uns wachsenden Arten.13 Auf dem kontinentalen Festland schwankt der Anteil etablierter fremder Farn- und Blütenpflanzen weltweit zwischen 5 und 30Prozent.14 Auf Inseln kann er mehr als 50

3. Tabula rasa – Mitteleuropa nach der Eiszeit

Die von den Menschen ins Land geholten Archäophyten und Neophyten trafen bei uns auf die einheimische mitteleuropäische Flora, jene Pflanzen also, von denen der Laie glaubt, sie seien hier entstanden und prägten seitdem unangefochten und dauerhaft das Landschaftsbild. Die Wirklichkeit ist sehr viel komplizierter. Denn genau genommen sind fast alle bei uns vorkommenden Organismen ehemalige Fremdlinge oder zumindest zurückgekehrte Klimaflüchtlinge. Ohne massive natürliche Einwanderung von Pflanzen und Tieren wäre Mitteleuropa heute eine deprimierende Wüstenei.

Schuld daran ist das Pleistozän, dieses dem feuchtwarmen Tertiär folgende Wechselbad von Kalt- und Warmzeiten, das Mitteleuropa zuletzt vor nicht einmal 20000Jahren in eine karge Kältesteppe verwandelte (Würm- oder Weichsel-Eiszeit). Mehrmals schoben sich dicke Gletscherfronten weit nach Süden, und jeder Vorstoß ließ die Zahl der überlebenden wärme- und feuchtigkeitsverwöhnten tertiären Organismen Mitteleuropas weiter zusammenschrumpfen. Als sich die Eismassen endlich wieder zurückzogen, hinterließen sie eine großflächig verwüstete und blankgehobelte Landschaft mit spärlichem Pflanzenwuchs.

Anders als in Nordamerika, wo sich große Gebirgszüge wie die Rocky Mountains und die Appalachen von Norden nach Süden erstrecken, verlaufen die zentraleuropäischen Gebirge in Ost-West-Richtung. Sie bilden eine natürliche, für die meisten Lebewesen unüberwindliche Barriere. Während Pflanzen- und Tierwelt in Amerika vor den vorrückenden Gletschermassen und dem sich abkühlenden Klima nach Süden auswichen und von dort das verwaiste Land nach Abklingen der Eiszeit wieder besiedeln konnten, war dies in Mitteleuropa kaum möglich. Die Pyrenäen, das Französische Zentralmassiv und die Alpen standen einer Rückkehr trotzig im Wege. Nur wenige der Pflanzen, die die Kaltzeiten am Nordsaum des Mittelmeers und in der Gegend um das Schwarze Meer überlebt hatten, schafften es, entlang von Rhone und Donau wieder zurückzukehren.

Das Resultat ist eine stark verarmte Flora. Nirgendwo sonst auf der Welt weist ein Gebiet gemäßigten Klimas eine so artenarme natürliche Vegetation auf, obwohl doch die geologischen Gegebenheiten in Mitteleuropa günstigste Voraussetzungen für eine hohe Vielfalt bieten.1 Europäische Wissenschaftler gehen deshalb relativ gelassen mit den von Menschen eingeführten fremden Lebewesen um. Für manche sind sie sogar eine willkommene Bereicherung, die vor langer Zeit entstandene Lücken wieder auffüllt.

Deutschland, 1993

In einer forstwissenschaftlichen Versuchsanstalt bei Göttingen beschäftigt man sich mit der Wiederansiedlung der in Europa ausgestorbenen Mammutbäume. Bis zur letzten Eiszeit gab es bei uns wie in Nordamerika 100Meter hohe und mehr als 1000Jahre alte Baumriesen. »Mehr Vielfalt, mehr Stabilität und neue ökologische Nischen für viele Arten« verspricht sich Jochen Kleinschmit von den amerikanischen Sequoien. Der Leiter der Versuchsanstalt rechnet nicht mit unerwünschten ökologischen Folgen, etwa durch die Auswilderung der Pflanzen. Mammutbaumsamen benötigen Waldbrände, um keimen zu können. »Es wächst nur, was gepflanzt wird«, sagt Jochen Kleinschmit.2

Durch Pollenanalysen sind wir über das, was sich in Europa nach dem Ende der Eiszeit abspielte, recht gut informiert. Vor etwa 18.000Jahren war der Wendepunkt erreicht. In einem 8000Jahre dauernden, von häufigen Rückschlägen geprägten Prozess glich sich das mitteleuropäische Klima langsam den heutigen Verhältnissen an. Birken und Kiefern kämpften sich als Pioniere voran und verwandelten den Landschaftscharakter. Aus arktischer Tundra wurde Wald.

Der Münchener Vegetationskundler Hansjörg Küster beschreibt, mit welchen Schwierigkeiten die einwandernden Baumarten zu kämpfen hatten: »Die Früchte und Samen mussten von den Winden, im Fell von Säugetieren oder im Magen der Vögel zuerst einmal ins Gebiet nördlich der Alpen gelangen. Und dort mussten sich die keimenden Pflanzen gegen die vorherrschende Vegetation durchsetzen […]. Die vielen Gräser und Kräuter bildeten einen dichten Wurzelfilz, der schwer zu durchdringen war.«3 Hatten die Keimlinge endlich Wurzeln geschlagen, kamen die Mäuler der großen Pflanzenfresser. Rentiere, Wildrinder und andere machten mit dem emporstrebenden Jungwuchs kurzen Prozess. Einige müssen es dann doch geschafft haben.

Zu dieser Zeit, vor etwa 9000Jahren, hätte man noch nach England laufen können. Als dann das Meer auch diese letzte Landverbindung überflutete und der Golfstrom seine warmen Wassermassen direkt vor die mitteleuropäischen Küsten transportierte, erhielt das hiesige Klima seinen vorläufig letzten entscheidenden Kick: Die Extreme wurden weiter entschärft, die Winter milder, die Sommer kühler, und Kiefer und Birke bekamen Gesellschaft. Binnen weniger Jahrhunderte entstand ein Mosaik verschiedener Waldtypen, ein riesiger, nahezu geschlossener Urwald. So imposant dieser Wald gewesen sein mag, den Artenreichtum seiner vom Eis zerstörten Vorläufer hat er nie wieder erreicht.

Ein für unsere Breiten sehr charakteristischer Baum, die Buche (Fagus sylvatica), fand erst relativ spät nach Mitteleuropa. Die Menschen, die hier vor etwa 5000Jahren mit Ackerbau und Viehzucht begannen, werden kaum je eine Buche zu Gesicht bekommen haben. Verglichen mit ihrem heutigen Areal führte sie damals eine kümmerliche Randexistenz im südlichen Deutschland. Erst seit 3000 bis 4000Jahren ist sie zur beherrschenden Baumart Mitteleuropas geworden, noch nicht länger als 30 bis 60Baumgenerationen.4 Bis die Buche nach Norddeutschland vordrang, dauerte es noch länger.

Möglicherweise war der jungsteinzeitliche Mensch am späten Siegeszug der Buche nicht ganz unbeteiligt. Nicht aktiv, als Gärtner oder Förster, nicht durch unabsichtliche Verbreitung der Samen, sondern indirekt, indem er der Buche im bewaldeten Mitteleuropa durch seine nomadisierende Wirtschaftsweise ungewollt den Boden bereitete.

Denn seltsamerweise hielten es die gerade erst zur Sesshaftigkeit übergegangenen Menschen der Jungsteinzeit nie lange aus in ihren Dörfern. Trieb sie ihr altes Nomadenerbe zum Aufbruch? War die geringe Zahl an Kulturpflanzen schuld, ihre Anfälligkeit gegenüber Schädlingen? Obwohl die von ihnen bevorzugten Lössböden noch lange ertragreich geblieben wären, zogen die Menschen nach ein paar Jahrzehnten weiter, ließen ihre Häuser und Felder zurück und rodeten ein neues Stück Wald. 2000 bis 3000Jahre dieser Wirtschaftsweise ließen kaum ein geeignetes Stück Land unangetastet. In die vom Menschen zurückgelassenen Siedlungsflächen und Felder kehrte der Wald zurück, und an vorderster Front die unaufhaltsam vorrückende Buche.5

Ihr Erfolg war durchschlagend. Bis auf einige Extremstandorte wäre ganz Mitteleuropa heute ein einziger unüberschaubarer Buchenwald in lokal unterschiedlicher Ausprägung. Aber der Mensch, der ihren Siegeszug mit Äxten und Pflügen erst ermöglichte, drängte die Buche ein paar Jahrtausende später mit denselben Mitteln wieder zurück. Die Botaniker sprechen deshalb von »PNV«, potenzieller natürlicher Vegetation. Buchenwälder sind heute vielfach nur noch das, was wachsen würde, gäbe es keine Äcker, Wiesen und forstlichen Monokulturen.

Das Wort »einheimisch« verliert nach dieser Parforcetour durch die nacheiszeitliche Vegetationsgeschichte Mitteleuropas an Kontur. Auf Mitteleuropa bezogen heißt einheimisch offenbar nicht: hier entstanden und schon immer hier gewesen, sondern nur: ohne Zutun des Menschen nacheiszeitlich eingewandert oder zurückgekehrt, also maximal einige Tausend Jahre früher als die ersten Archäophyten, vielleicht sogar gleichzeitig. Denn zu einer Zeit, da frühsteinzeitliche Menschen in Mitteleuropa mit dem Ackerbau begannen und zusammen mit den Getreidesorten die ersten Archäophyten ins Land kamen, war die natürliche nacheiszeitliche Wiederbesiedlung durch Pflanzen und Tiere keineswegs abgeschlossen.

Und was heißt natürliche Wiederbesiedlung ohne Zutun des Menschen? Die frühen Europäer hatten nicht nur bei der raschen Ausbreitung der Buche die Finger im Spiel. Manche Wissenschaftler glauben, dass sie auch das wesentlich frühere Vordringen der Haselsträucher beeinflusst haben.6 Waren diese Prozesse also natürlich? Bei der Neugestaltung der Tier- und Pflanzenwelt Mitteleuropas nach den Verwüstungen der Eiszeit haben die Menschen kräftig mitgemischt. Die Umformung der wilden europäischen Natur in eine Kulturlandschaft begann spätestens mit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht vor etwa 5000Jahren. Genug Zeit für alle Beteiligten, sich aneinander zu gewöhnen.

4.Pests!

Es ist Hochsommer. Eine Hummel turnt auf einer schwankenden Kleeblüte herum. Ganz in der Nähe stochern Stare zwischen Graspflanzen, Löwenzahn und Schafgarbe nach etwas Essbarem. Eine Taube stolziert quer über den von Kastanien gesäumten Weg. Spatzen streiten sich lautstark unter einer Platane. Aus einer großen freistehenden Ulme ist unverkennbar der Warnruf einer Amsel zu hören. Ein Hund erledigt dort gerade sein Geschäft. Er hat ein paar Stockenten aufgescheucht, die in der Nähe auf der Wiese ihr Gefieder säuberten.

Ein kräftiger Wind fährt in die Baumwipfel. Dahinter ragen die Glas- und Natursteinfassaden moderner Hochhäuser auf. Ich versuche, den rauschenden Verkehrslärm auszublenden und mich auf das Getschilpe der Spatzen zu konzentrieren. Der kleine Park ist ein willkommener Ruhepunkt nach dem anstrengenden Einkauf. Die prall gefüllten Plastiktüten liegen links und rechts neben mir auf dem Rasen.

Plötzlich bleibt mein Blick an etwas hängen: ein Baumfarn, gute fünf Meter hoch. In einem Vorgarten. Ganz selbstverständlich beschattet er den Treppenaufgang. Das Haus dahinter ist rosa. Ich habe noch nie einen Baumfarn …

Aber natürlich!

Aotearoa ist das Land der Farne. Es gibt viele Arten, vom Winzling bis zum Baumriesen. Nur nicht hier, in einem Park mitten im Zentrum einer Millionenstadt. Hier gibt es nur diesen einen. Dafür ist er ein Prachtexemplar, ein riesiger fiederblättriger Sonnenschirm. Er erinnert daran, wie weit dieser Ort von zu Hause entfernt ist, 20000Kilometer Luftlinie. Verglichen damit ist der Weg von hier in die Antarktis ein Katzensprung. Ich bin in Neuseeland.

Mit einem Mal mutiert das vertraute Vogelgezwitscher zum Störgeräusch, Löwenzahn und Schafgarbe, die Kastanien, Ulmen, Platanen, Hummeln, Stare und Spatzen werden zu lebendigen Fremdkörpern.

Ich greife nach meinen Plastiktüten und mache mich auf den Weg ins Hotel. Ausgerechnet der Baumfarn hat mir die Stimmung verdorben.

»Zeit zum Abendessen«, sagt Kerewin und biegt mit dem Wagen von der Hauptstraße ab. »Verdammte Kiefern«, knurrt sie vor sich hin […] »Sieh dir das an.«

Abgeholzter Busch fliegt verschwommen vorüber. Wo es nicht Kahlschlag ist, sind es Kiefern. Sie beginnen in Reihen am Straßenrand und marschieren weiter und weiter in einer düsteren Parade.

»Hier standen einmal die schönsten Kahikatea im ganzen Land.«

»Und sie haben sie gefällt, um für die da Platz zu machen?«

»Richtig«, sagt sie bitter. »Kiefern wachsen schneller. Wenn sie wachsen. Die arme alte Kahikatea braucht zwei- oder dreihundert Jahre, um ihre volle Größe zu erreichen, und das ist nicht schnell genug für Leute, die nur das Geld im Kopf haben.«

Sie bremst scharf. »Ich hasse Kiefern«, sagt sie unnötigerweise.

Joe grinst. »Das habe ich bemerkt. Sie sind doch aber ganz brauchbar.«

»Ach, es gibt Platz genug für sie im ganzen Land, aber warum müssen sie guten Busch abholzen, nur um ekelhaften Pinus zu pflanzen? Sieh dir die da an, sie tropfen vor Nadelfäule, verdammt noch mal […] dieses Land taugt nicht für Einwanderer aus Monterey oder der Teufel weiß, woher.«

Keri Hulme, Unter dem Tagmond1

Die Tiere und Pflanzen von Aotearoa tragen sehr fremd und aufregend klingende Namen. Kahikatea, Pohutukawa und Putaputaweta haben die Leute hier ihre Bäume genannt. Das klingt fantasievoll, aber für den botanisch interessierten Besucher ist es eine Zumutung.

Die Tiernamen sind nicht ganz so zungenbrecherisch, aber auch sie klingen sehr exotisch. Die Polynesier, von denen alle diese Namen stammen, haben eine für unsere Ohren seltsame, mitunter grotesk anmutende Vorliebe für Verdopplungen: Huhu heißt der größte dort lebende Käfer, ein Todessymbol, Pupu ist eine essbare grüne Schneckenart, Pipi ist nicht das, was wir darunter verstehen (das Wort dafür heißt Mimi), sondern eine Muschel.

Kaka und Kakapo sind Papageienarten, wobei, um Missverständnissen vorzubeugen, die Vokale lang zu sprechen sind und die Betonung auf der vorletzten Silbe liegt. Im Gegensatz zu ihren Namen ist ihre Lage leider alles andere als komisch: Sie sind vom Aussterben bedroht. Insbesondere der Kakapo, der schwerste auf Erden lebende Papagei, ein flugunfähiger Tolpatsch, dessen tiefer nächtlicher Paarungsruf noch vor 100Jahren überall in den Bergen der Südinsel zu hören war, steht mit einem Bein im Grab. Seine Gesamtpopulation besteht aus genau 126Tieren, und in den letzten Jahren verhallten die Rufe der Männchen nahezu ungehört.

Schuld am Niedergang des Kakapo und vieler anderer Bewohner Aotearoas sind Tiere wie die Pouhawaiki, die Kioreti, das Kuhukuhu und die Poti. Hinter diesen wohlklingenden Namen verbirgt sich nichts Exotisches. Es sind die polynesischen Namen für Wanderratte, Hausmaus und die verwilderten Abkömmlinge von Hausschwein und Hauskatze, vier von 54Säugetierarten, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, absichtlich ins Land geholt wurden. Von der 55. der gebietsfremden Säugerarten, dem Homo sapiens sapiens.

Aotearoa, das Land der weißen Wolke, ist einer der globalen Brennpunkte, wenn es um Probleme mit biologischen Invasionen geht. Auseinandersetzungen zwischen einheimischen Floren und Faunen und eindringenden Pflanzen und Tieren finden überall in der Welt statt, aber Neuseeland hat für alle Zeiten einen Spitzenplatz sicher.

Hier wurde die Natur zu großen Teilen umgestaltet und mit Akteuren aus aller Welt in ein ökologisches Kunstgebilde verwandelt. In nur 200Jahren wurde das nachvollzogen, was in Europa Jahrtausende dauerte: die Umwandlung einer Natur- in eine Kulturlandschaft. Wertet man das Ganze als einen Versuch des Menschen, sich seine eigene Umwelt zu entwerfen, dann ist das Ergebnis niederschmetternd. Ihre chronischen und konstruktionsbedingten Krankheiten verschlingen Jahr für Jahr viele Millionen Dollar. Eine deprimierende Anzahl unersetzlicher Pflanzen- und Tierarten wurde an den Rand des Aussterbens und darüber hinaus getrieben. Herausgekommen ist eine Natur mit dem Rücken zur Wand und eine professionell gemanagte Kulturlandschaft mit Problemen: Erosion, Schädlinge, Unkräuter, pests, wie die Neuseeländer sagen. Es klingt wie ein Fluch: Pests!

Das Wort hat in Kiwi-Land eine viel weiterreichende Bedeutung, als wir Mitteleuropäer es uns vorstellen können. Pests sind nicht nur die Unkräuter und Schadinsekten, die den Farmern hier wie überall das Leben schwermachen und gegen die sie schwere Geschütze auffahren. Pests sind vor allem viele der eingeschleppten Tiere und Pflanzen. Pests sind Distel, giftiges Greiskraut und aus Gärten entkommene Clematis-Lianen. Eine Pest sind unzählige europäische Rothirsche, die den Unterwuchs der Wälder abfressen und seit Jahren professionelle Helikopterjäger beschäftigen. Eine Pest sind die aus Australien eingeführten Fuchskusus (brushtailed possums), flauschige, knopfäugige Kuscheltiere, die den Ratten als meistgehasste Tiere Neuseelands den Rang abgelaufen haben. Spezielle Fallen brechen ihnen das Genick. Sie werden vergiftet, erschlagen und erschossen und führen mit weitem Abstand die Liste der Tierleichen auf Neuseelands Straßen an, aber es werden immer mehr.

Findige Science-Fiction-Autoren haben sich das Terraforming ausgedacht: Eine das All erobernde Menschheit entwickelt Methoden, um ungastliche Planeten mit technischen und biologischen Mitteln bewohnbarer, sprich: erdähnlicher zu machen. Was in Neuseeland geschehen ist, kann man in Analogie als Euroforming bezeichnen – und das hat nichts Utopisches. Neuseeland wurde zu einem Neoeuropa, wie es der amerikanische Historiker Alfred W. Crosby genannt hat. Die Umgestaltung der Inselrepublik ist relativ jungen Datums und verlief besonders rasant. Neuseeland steht mit seinem Schicksal nicht alleine da. Mehrere zehn Millionen europäischer Auswanderer schufen überall dort neoeuropäische Kolonien, wo ein gemäßigtes Klima und die einheimische Bevölkerung dies zuließen: in Neuseeland, Australien, Nordamerika und in den gemäßigten Zonen Südamerikas.

Die europäischen Siedler kamen nicht allein. Sie hatten einen prall gefüllten »biologischen Musterkoffer«2 mit ihren wichtigsten Verbündeten im Gepäck: die Nutzpflanzen und Haustiere der Heimat, ohne die die Emigranten kaum überlebt hätten, geschweige denn zu Wohlstand gekommen wären, und die Krankheitserreger der Alten Welt, die die immunologisch wehrlosen Ureinwohner mit Tod und Siechtum überschwemmten. Dieses sich gegenseitig zuarbeitende Quartett aus Menschen, Pflanzen, Tieren und Mikroben erreichte, was jedem Einzelnen von ihnen verwehrt geblieben wäre: die Eroberung und Umgestaltung weit entfernter, völlig fremdartiger Lebensräume. Heute sind daraus die wichtigsten Exporteure von Lebensmitteln europäischer Provenienz geworden.

Die Siedler haben der neuseeländischen Natur nicht nur eine fremde Säugetierfauna hinzugefügt. In den Städten und der von endlosen Weiden geprägten Kulturlandschaft, die 53Prozent der Landesfläche ausmacht, ist kaum ein einheimischer Vogel zu finden – und das in einem Land, das wegen seiner eigentümlichen Vogelwelt gerühmt wird. Stattdessen jubiliert eine bunte Gesellschaft europäischer Singvögel, von der Feldlerche bis zum Haussperling. In den Seen und Flüssen leben Forellen und Lachse, in den Wäldern und Wiesen summen eingeschleppte Wespen und als Bestäuber und Honigproduzenten eingeführte Hummeln und Bienen. Gebietsfremde Pflanzen- und Tierarten sind hier nicht nur als Farbtupfer unter die ursprüngliche Natur gemischt, sondern dominieren ganze Landschaften. Breite Flussläufe sind von europäischen Weiden und Pappeln gesäumt, und auf den schon vor Jahrzehnten gerodeten Bergkuppen ringsum wachsen unübersehbare Monokulturen einer amerikanischen Kiefernart (Pinus radiata). Die Zahl der ins Land gelangten Pflanzenexoten wird auf 20.000 geschätzt, mehr als das Achtfache der einheimischen Arten, die zu 80Prozent endemisch, also nur in Neuseeland zu finden sind.3 Die fremden Pflanzen, die sich durchsetzen konnten, stellen heute die Hälfte der neuseeländischen Flora.4

In den Bergen und Wäldern des Landes kommt es zu merkwürdigen Begegnungen, die nur hier möglich sind. In den Hochlagen der Südalpen treffen europäische Gemsen auf Tahre, eine Bergziegenart aus dem Himalaya. Beide konkurrieren um denselben Lebensraum. Rotwild trifft auf seine amerikanische Unterart, den Wapiti, und beide bastardisieren. Wer die Blumen der Weg- und Straßenränder bestimmen will, sollte es mit einem ganzen Stapel von Nachschlagewerken versuchen. Ohne Literatur aus Südafrika, Australien und Deutschland, um nur einige der Herkunftsländer zu nennen, steht man auf verlorenem Posten.

Das ganze Ausmaß der Umgestaltung lässt sich für einen Europäer am ehesten nachvollziehen, wenn man den Spieß einfach umdreht. Hätte Vergleichbares in Mitteleuropa stattgefunden, wäre ein Großteil unserer einheimischen Tier- und Pflanzenwelt heute ausgestorben oder auf wenige, streng geschützte Restbestände reduziert, die man auf Rügen oder Fehmarn bewundern könnte. Statt von Rehen, Wildschweinen, Füchsen und Wieseln, deren Skelette wir in Museen bestaunen würden, wären unsere Wälder von bis zu drei Meter hohen flugunfähigen Riesenvögeln bewohnt, den Moas, und ihren kleineren Verwandten, den nachtaktiven Kiwis. Den ökologischen Platz der Nagetiere würden handtellergroße Heuschrecken einnehmen, Wetas genannt, und statt Birken, Eichen, Buchen, Kiefern und Tannen wüchsen in unserer Kulturlandschaft riesige Nadelbäume, die Podocarpen, kleinblättrige Südbuchen, Farne und andere exotisch anmutende Gewächse. Aus ihrem Geäst käme nicht der Gesang der Nachtigall, sondern das Geschrei des Kakas und der Ruf des Glockenvogels. Die letzten alten Eichen wären ein Nationalheiligtum, eine Touristenattraktion ersten Ranges. Ein Reisender, der nach langer Abwesenheit in ein solches Europa zurückkäme, dächte vermutlich, er hätte sich im Kontinent geirrt.

Das Bild einer durch Eroberer von der Südhalbkugel überrannten europäischen Natur ist allerdings in einer bemerkenswerten Weise schief. Die Fauna Neuseelands wäre zu einem solchen aggressiven Eroberungszug nie in der Lage gewesen, denn sie war von einer erstaunlichen Friedfertigkeit. Es gab keine bodenlebenden Räuber, weder Säugetiere noch Schlangen, nur einige Greifvögel, die an der Spitze der Nahrungspyramide standen.

Kiwis sind selten geworden in Neuseeland, eine Art ist auf den Hauptinseln ausgestorben. In anderer Form sind die komischen Vögel allgegenwärtig. Es gibt Kiwi-Reiseagenturen, Kiwi-Autovermietungen, Kiwi-Souvenierläden, Kiwi-Cafés, Kiwi-Getränkegroßhandel und Kiwi-Elektronikshops. Man stelle sich das in Deutschland vor: Amsel-Autos, Drossel-Elektronik, Spatz-Reisen …

»Der Kiwi ist etwas ganz Besonderes«, sagt Doug Mende vom National Wildlife Centre am Mount Bruce und lacht unter seiner großen dunklen Sonnenbrille. Die Neuseeländer sind stolz auf ihre Inselwelt und ihre einmalige Natur. Das war nicht immer so. Der australische Säugetierkundler Tim Flannery schildert in seinem Buch The Future Eaters, welches Bild Australiens und seiner Bewohner ihm als Schulkind in den Sechzigerjahren vermittelt wurde. Die Tendenz lässt sich ohne Weiteres auf Neuseeland und die anderen Staaten Australasiens (Neukaledonien, Neuguinea) übertragen.

»Mir wurde beigebracht, dass unser Kontinent von unterlegenen Tieren bewohnt wurde. Kängurus, Wombats, Koalas und die anderen Beuteltiere waren putzig, aber – in einer bemerkenswerten Parallele zu unseren Aborigines – unfähig, sich in einer Auseinandersetzung mit Schafen, Rindern und Füchsen zu behaupten. Sie würden im natürlichen Lauf der Dinge verschwinden, um einem neuen, starken und irgendwie passenderen europäischen Australien Platz zu machen. Ich las Bücher, die mir erzählten, […] dass unsere Wildblumen, obgleich seltsam und wunderlich, niemals an die Anmut und Schönheit einer englischen Rose heranreichen würden.«5

Es war ein Konzept der totalen Unterlegenheit, das hier vermittelt wurde, ein Negativbild, das so umfassend war, dass es buchstäblich alles mit einschloss, was die neuen Länder zu bieten hatten, Pflanzen, Tiere, Menschen, selbst Steine. Die neuen Länder waren eben so abgelegen, dass sie nur in jeder Beziehung zurückgeblieben sein konnten.

Schon in der Namensgebung steckt eine unbeabsichtigte Ironie, denn so neu sind Neuseeland (nach der holländischen Provinz Seeland), Neukaledonien (Caledonia ist ein anderer Name für Schottland) und Neuholland (ein alter Name Australiens) eigentlich nicht. In Wahrheit sind es uralte Landmassen mit ebenso alten Ökosystemen, deren Wurzeln bis ins Erdmittelalter zurückreichen. Die Heimatländer ihrer europäischen Entdecker waren dagegen bis vor 10.000Jahren eine von dicken Gletscherschichten bedeckte Eiswüste. In Wirklichkeit ist also »alles, was in Alt-Seeland oder Alt-Kaledonien lebt, neu«, während vieles in Neu-Seeland oder Neu-Kaledonien uralt ist.6

Die Siedler waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus allen Gegenden dieser Welt. Sie brachten ihre eigene Geschichte, Tradition, Sprache und Weltsicht in die neue Heimat. Heute ist ein Viertel aller lebenden Australier in einem anderen Land aufgewachsen. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind »das Produkt anderer Orte, anderer Ökologien und anderer Zeiten«7. Ihr Blick auf die neuen Länder war holländisch, polynesisch, deutsch oder eben britisch, wie im Falle von Tim Flannery, niemals australisch oder neuseeländisch.

Natürlich ist keine einzige der Schulweisheiten, die Tim Flannery lernen musste, wahr, abgesehen davon, dass man sich über die Schönheit von Blüten trefflich streiten kann. Wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahre haben diese Anschauungen als vorurteilsbeladen entlarvt und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.

Es waren Rechtfertigungsideologien der Eroberer, die nicht nur in Australien verbreitet wurden. Auch die oft wiederholte Behauptung, die Beuteltiere seien den plazentalen Säugetieren in jeder Beziehung unterlegen, ist keineswegs bewiesen. Die wirtschaftlichen Schäden, die in Australien von den großen Kängurus verursacht werden, weil sie als Konkurrenten der Schafe auftreten, sind nicht unbedingt ein Zeichen von Unterlegenheit.8

Die neuen Erkenntnisse haben das Selbstbild der Australier und Neuseeländer revolutioniert. Beide »können sich fortan durch Dinge definieren, die in einzigartiger Weise australisch«9 oder neuseeländisch sind. Kiwis zum Beispiel.

Aufgeschreckt von immer neuen Hiobsbotschaften haben die Neuseeländer den fast verlorenen Kampf aufgenommen. Sie kämpfen um die Reste ihrer Pflanzen- und Tierwelt, oft mit einer Radikalität und Entschiedenheit, die viele Europäer erschreckt und den vorangegangenen Zerstörungen in nichts nachsteht. Ein Land mit nur 3,6Millionen Einwohnern (aber 70Millionen Schafen und 8Millionen Rindern) leistet sich den Luxus eines Ministeriums für Naturschutz (Department of Conservation, abgekürzt DoC), dem 2011 ein Etat von rund 203Millionen Euro zur Verfügung stand. Rechnet man diesen Betrag auf die Einwohnerzahl um, dann müsste die reiche Bundesrepublik Deutschland 4,5Milliarden Euro für den Naturschutz ausgeben. Tatsächlich betrug der Etat des Bundesumweltministeriums 2011 nur 1,6Milliarden Euro. Davon wurde fast ein Drittel für die Folgen der Kernkraftnutzung ausgegeben.10

Das DoC verwaltet staatliche Schutzgebiete und Nationalparks und unterhält ein umfangreiches System von Schutzhütten und Wanderwegen, das Touristen aus aller Welt anlockt. In der Hauptstadt Wellington betreibt das Ministerium ein eigenes Wissenschaftszentrum, das die fundierten Grundlagen für unterschiedlichste Aktionspläne und Projekte liefert, die vom DoC finanziert und durchgeführt werden. Mit dem Rücken zur Wand stehend haben sich neuseeländische Wissenschaftler zu weltweit begehrten Experten entwickelt, die ihr Wissen nun an anderen Brennpunkten biologischer Invasionen zur Verfügung stellen: Naturschutz als Higtech-Exportschlager der ungewöhnlichen Art.

»Wir leisten verdammt gute Arbeit«, sagt Doug Mende und strahlt. Er ist optimistisch und voller Tatendrang. Überall im Inselstaat wird mit Hochdruck daran gearbeitet, verlorenes Terrain für die gefährdete Natur zurückzugewinnen. Es gibt Schutz- und Zuchtprogramme für bedrohte Vögel und umfangreiche Projekte zur Bekämpfung der eingeschleppten Nager, Katzen, Schweine, Ziegen und Kusus. Neuseeländische Experten haben es geschafft, ganze Inseln von gefräßigen Ratten und Räubern zu befreien. Sie haben fast ausgestorbene Arten wie den Black Robin, einen winzigen pechschwarzen Vogel, wieder zum Leben erweckt und das ganze Land damit zu Tränen gerührt. Aber die Gefahr ist groß, dass sie einen Kampf führen, der auf lange Sicht nicht zu gewinnen ist.

Wer ursprüngliche neuseeländische Natur erleben will, muss sich heute in die zahlreichen Schutzgebiete und Nationalparks begeben. Dort wird deutlich, was auf zwei Dritteln der Landesfläche verloren gegangen ist: atemberaubende Urwälder im wahrsten Sinne des Wortes, mit Pflanzen und Tieren, wie sie nur in Neuseeland und nirgendwo sonst entstanden und erhalten geblieben sind. Trotz ihrer spektakulären Fremdartigkeit sind sie nur ein Abglanz einstigen Reichtums.