Die Anasazi-Akten - Regina E.G. Schymiczek - E-Book

Die Anasazi-Akten E-Book

Regina E.G. Schymiczek

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Beschreibung

Philipp Norton, ein ehrgeiziger FBI-Agent mit ausgezeichnetem Abschluss, ist nicht begeistert, dass sein erster Einsatzort nach der Ausbildung ausgerechnet die Kleinstadt Cruces Negros in Arizona ist. Direkt am Tag seiner Ankunft sieht er sich nicht nur mit der Existenz eines Vortexes konfrontiert, sondern auch mit einem Mordfall. Am Tatort lernt er Dr. Lisa Blackpony kenne - Ärztin, Rechtsmedizinerin und Tochter des undurchsichtigen Häuptlings des im Reservat lebenden Stammes - und wird unfreiwillig Mittelpunkt eines indianischen Totem-Rituals. Sein Auftrag lautet, die Anasazi-Akten zu finden. Was er weiß, ist einzig die historisch belegte Tatsache, dass das indianische Urvolk der Anasazi im 13. Jahrhundert plötzlich und spurlos von der Erdoberfläche verschwunden ist. Bürgermeister Brad Thadwick weiht Phil in seinen Plan ein, vor Ort ein Luxus-Resort zu eröffnen und bittet ihn um seine Unterstützung. Tatsächlich verbirgt Thadwick, dass es sich hierbei um ein sogenanntes Dark Resort für super reiche Gäste handelt, in dem Dinge jenseits der Legalität angeboten werden sollen, die im direkten Zusammenhang mit den Vortexen stehen. Währenddessen setzen neue Mordfälle Phil unter Druck. Wie hängen die Morde und die Vorgänge in den Vortexen mit dem plötzlichen Verschwinden des indianischen Anasazi-Volkes zusammen? Und welche Rolle spielt die schöne Lisa, zu der Phil sich immer stärker hingezogen fühlt?

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[...] Ein Ereignis katastrophalen Ausmaßes zwang die Anasazi ihre Felsenwohnungen und ihre Heimat fluchtartig zu verlassen [...]. Der Auslöser dieser Flucht ist eines der größten Rätsel für Archäologen, die sich mit dieser alten Kultur beschäftigten. Die heutigen Pueblo Indianer verfügen über mündlich überlieferte Erzählungen über die Wanderung ihrer Völker, aber die Details dieser Geschichten werden streng geheim gehalten. Innerhalb der letzten zehn Jahre konnten Archäologen jedoch neue Erkenntnisse aus den ursprünglichen Ruinen gewinnen, und das Bild, das sich daraus ergibt, ist sehr mysteriös. [...] „Ungefähr um 1200 n.Chr. ist etwas Unheimliches passiert“, sagt Stephen Lekson, Archäologe an der University of Colorado.

David Roberts, SMITHSONIAN MAGAZINE, Juli 2013

Übersetzung aus dem Englischen

Hommage an die natürlichen und übernatürlichen Wunder des großartigen amerikanischen Südwestens

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Vortex

Das Totem

Der Anschlag

Überraschende Enthüllungen

Neue Begegnungen

Ein ehrgeiziges Projekt

Ein weiterer Mord

Frühstück bei einer alten Dame

Toms Geheimnis

Tylers Geheimnis

Schon wieder ein Mord

Besuch kündigt sich an

Tyler in Schwierigkeiten

Exkursion mit der Häuptlingstochter

Brads Plan

Besuch aus New York

Wo ist Phil?

Das geheimnisvolle Dorf

Lisas Entdeckung

Das Geheimnis des Dark Resorts

Cora Greys Geschichte

Gefangen in der Vergangenheit

Ein Geschäft geht schief

Im Zeitstrudel

Zurück in der Gegenwart

Geständnisse

Das Schicksal der Vortexe

Ende und Neuanfang

Epilog

Prolog

1200 n. Chr., im Südwesten der heutigen USA

Steinsammler setzte sich neben den alten Mann auf den Felsen. Der Tafelberg, auf dem sie sich befanden, lag oberhalb der kleinen Siedlung. Von hier aus konnte man die weite Ebene überblicken, in der vier gigantische Felsnadeln aus erodiertem, rostrotem Gestein ein fast ebenmäßiges Quadrat begrenzten. Wolken waren aufgezogen und verdunkelten den Himmel. Bald würde es ein kräftiges Unwetter geben.

Nachdem er eine Weile schweigend gewartet hatte, wagte der Junge es, als Erster zu sprechen.

„Weiser Vater“, begann er, „es sind schon alle um das Feuer versammelt. Sie haben mich geschickt, damit ich dich hole.“

Der Alte zeigte keine Regung. Er sah weiterhin zu den vier Felsnadeln hinüber.

Steinsammler schaute ihn forschend von der Seite her an. Hatte der alte Mann ihn überhaupt verstanden? Es geschah immer häufiger, dass Weiser Vater sich in seine eigene Welt zurückzog, zu der niemand sonst Zutritt hatte. Was sollte er tun? Es war unhöflich, einen geachteten Greis zu stören, wenn er Kontakt mit den Geistern der Ahnen hatte. Andererseits hatte er einen klaren Auftrag – er sollte Weisen Vater zurück zur Siedlung bringen, bevor das Unwetter losbrach. Nur mit seiner Hilfe konnte die Stammesversammlung die zornigen Geister davon abhalten, zu viel Schaden anzurichten. Die Dürre dauerte schon viel zu lang – das Unwetter könnte jetzt noch den Rest der mageren Ernte vernichten. Weiser Vater kannte die alten Beschwörungsformeln.

„Weiser Vater“, fing er wieder an.

„Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört“, entgegnete der Alte ruhig und streckte den Arm aus. Sein Zeigefinger deutete zu den Felsnadeln.

Steinsammler folgte seinem Finger mit den Augen.

„Was siehst du da, Weiser Vater?“

„Die wichtigere Frage lautet, was siehst du dort, mein Sohn?“

Steinsammler strengte sich an, um etwas zu erkennen. Das Gebiet um die roten Felsnadeln war heiliger Boden, der jetzt bei dem aufziehenden Gewitter dramatisch ausgeleuchtet war. Doch das war nicht ungewöhnlich, das hatte er schon öfter gesehen. Dann bemerkte er ein seltsames bläuliches Licht, genau im Zentrum der Felsformationen.

„Ein Licht, ich sehe ein Licht! Aber nicht wie von einem Feuer – es sieht ganz anders aus! Was ist das?“

Der Alte nickte.

„Fremde Zeiten kreuzen unseren Weg. Wir müssen uns vorbereiten.“

Weiser Vater ließ sich von dem Jungen beim Aufstehen helfen. Er lächelte und strich Steinsammler über den Kopf.

„Ich war besorgt. Doch die Ahnen haben rechtzeitig jemanden geschickt, der auch die Gabe hat, zu sehen. Jemanden, an den ich mein Wissen weitergeben kann. Nun lass uns zurück zur Siedlung gehen, damit der Stamm nicht länger in Sorge ist.“

1. Der Vortex

Heute, Arizona/USA

„Sehr geehrte Fluggäste, wir haben soeben mit dem Landeanflug auf Phoenix, Arizona, begonnen. Der Himmel ist wolkenlos, die Temperatur vor Ort beträgt 39,5 Grad Celsius. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt oder eine gute und sichere Weiterreise. Danke, dass Sie mit Southern Wings geflogen sind.“

Die Chefstewardess schaltete das Mikrofon aus. Einige Passagiere begannen, ihre Sachen einzusammeln. Andere zogen ihre Sicherheitsgurte noch einmal nach.

Phil seufzte, allerdings nur innerlich. Den coolen, abgeklärten Look, an dem er seit seinem letzten Jahr an der FBI-Akademie in Quantico gearbeitet hatte, wollte er unbedingt beibehalten. Er war 1,95 Meter groß und sah nach Meinung der meisten seiner Mitmenschen blendend aus. Dafür konnte er nichts, das hatten ihm seine Erbanlagen beschert. Alles andere hatte er sich erarbeitet. Seine dunklen Haare waren kurzgeschnitten, und seine blauen Augen wurden von einer teuren, verspiegelten Sonnenbrille verdeckt. Er trug einen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelgraue Krawatte mit kleinen, hellgrauen kubischen Elementen.

Seine äußere Erscheinung war perfekt durchgestylt. Wenn er das mit seinem Job nur auch so gut hinbekommen hätte! Dabei hatte er sich nichts vorzuwerfen. Er hatte hart gearbeitet und einen der besten Abschlüsse seines Jahrgangs hingelegt. Warum hatten sie ihn dann trotzdem ausgerechnet in die letzte Ecke des Südwestens geschickt? Unseren Besten bieten wir auch etwas Besonderes. Das hatte Direktor Montgommery in seiner Abschlussrede an der Akademie gesagt. Phil war sich ganz sicher, dass er ihn dabei angesehen hatte. Er hatte mit New York oder Washington als erstem Einsatzort gerechnet. Ganz besonders mit New York. Da kannte er sich aus, schließlich war er da aufgewachsen. Das wäre logisch gewesen.

Hier wohnte auch seine Freundin Belinda. Sie sah nicht nur sehr gut aus, sie stammte auch aus dem New Yorker Geldadel und hatte die besten Beziehungen in die höheren Kreise – etwas, das seiner weiteren Karriere bestimmt förderlich war. Da er über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügte, war Phil zwar davon überzeugt, dass sein Weg in die oberen Etagen des FBI vorgezeichnet war, er überließ aber ungern etwas dem Zufall.

Die Entscheidung hatte ihn somit hart getroffen – die Steinwüste von Arizona! Hitze und Dreck! Und dann dieses Kaff: Cruces Negros. Mitten im Nichts. Das kannte ja kein Mensch! Er konnte sich noch gut an das Grinsen seiner Kommilitonen erinnern, als die ersten Einsatzorte bekanntgegeben wurden. Niemand hatte jemals davon gehört, dass eine große Karriere beim FBI irgendwo im Südwesten begonnen hätte. Und der nächste Sushi-Laden war wahrscheinlich 1.000 Meilen in jede Richtung entfernt.

*

In der Ankunftshalle des Flughafens sah er sich suchend um. Man hatte ihm gesagt, dass er abgeholt werden würde. Nachdem er fast neun Stunden im Flugzeug verbracht hatte, um von New York nach Phoenix zu kommen, wartete nun noch eine fast zweieinhalbstündige Autofahrt auf ihn.

Eine dunkelhäutige Frau, die ihre lackschwarzen Haare in eine Art Cleopatra-Frisur gezwungen hatte, blickte in seine Richtung und ruderte wild mit den Armen. Phil zögerte. Doch als die Frau nickte und ihn mit einem strahlenden Lächeln heranwinkte, ging er auf sie zu.

Sie war Ende Fünfzig, fast so groß wie er, aber doppelt so breit. Ihre üppigen Formen steckten in einer ausgeblichenen Jeans und einer bunt bedruckten Bluse. Phil ließ seinen Blick kritisch an ihr entlang gleiten. In der zivilisierten Welt würde keine Mitarbeiterin des FBI so herumlaufen, da war er sicher.

„Guten Tag. Ich bin Special Agent Philipp Norton. Sind Sie...“

„Herzlich willkommen! Mein Name ist Bernhardina O’Mally, aber sagen Sie ruhig Bernie zu mir, das tun alle. Ich bin die Administrative Leiterin des Büros, das heißt, ich sorge dafür, dass alles läuft. Mein Kaffee kann Wunder bewirken, dass sagen alle. Sie wundern sich sicher über meinen Namen – sehen Sie, mein Vater ist Ire, das sieht man mir nicht an, nicht wahr, haha – meine Mutter ist Kreolin und mein Großvater mütterlicherseits...“

„Sehr interessant, Bernie. Wo steht Ihr Wagen?“

„Aber natürlich! Wo hab ich nur meine Gedanken? Sie müssen ja erschöpft sein von dem langen Flug, Phil. Wir sind hier nicht so förmlich – ich kann Sie doch Phil nennen, nicht wahr?“

„Sie können mich Agent Norton nennen. Und ich bin nicht erschöpft. Ich habe nur keine Lust, noch länger an diesem Flughafen herumzustehen.“ Du lieber Himmel! Er würde sich doch nicht mit diesem Landei verbrüdern! Und ihre Familiengeschichte interessierte ihn nun wirklich nicht.

Bernie warf ihm einen langen, gekränkten Blick zu und kniff die Lippen zusammen.

„Wie Sie wünschen, Agent Norton. Hier geht’s lang.“

Im Parkhaus blieb sie vor einem staubbedeckten Jeep mit heruntergekurbelten Fenstern stehen. Phil nahm die Sonnenbrille ab und starrte den Wagen ungläubig an.

„Ist das Ihr Privatwagen?“

„Nein, das ist unser Dienstwagen.“

Phil schüttelte den Kopf. Also, hier musste sich aber eine Menge ändern! Mit spitzen Fingern öffnete er den Kofferraum und stellte sein Gepäck hinein, nachdem er ein Halfter und einen Strick zur Seite geräumt hatte. Das war völlig inakzeptabel, dass sie ihre privaten Reitutensilien in dem Wagen transportierte. Wobei er sich Bernie auf einem Pferd überhaupt nicht vorstellen konnte. Den Gedanken an ein möglicherweise vorhandenes Dienstpferd schob er schnell zur Seite. Nun, all diese Dinge würde er morgen bei der ersten Dienstbesprechung klären.

Dann zog er das Jackett aus, legte es nach einem skeptischen Blick auf die Rückbank und setzte sich auf den Beifahrersitz. Der ganze Wagen roch nach Stall. Hoffentlich bin ich nachher nicht voller Pferdehaare, dachte er. Er spürte, wie Rinnsale von Schweißtropfen seine Schläfen hinunterrannen. Auf dem Armaturenbrett glitzerte ein dünner, rötlicher Staubfilm. Auch das altmodische Funkgerät, das dort hing, war staubbedeckt.

„Können Sie bitte die Fenster schließen und die Klimaanlage anstellen?“, fragte er gereizt. Unglaublich, dass er auch noch darum bitten musste!

„Ist kaputt“, gab Bernie einsilbig zur Antwort, startete den Motor und gab Gas. Sie war immer noch beleidigt. Mit quietschenden Reifen brauste sie durch das Parkhaus, hielt ruckartig an der Sperre und schoss dann auf die Straße, wo sie sich in den Verkehr einfädelte.

Phil wurde dabei abwechselnd nach vorn in den Sicherheitsgurt geworfen, dann wieder nach hinten gegen die Rücklehne gepresst. Er biss die Zähne zusammen und sagte nichts. Morgen, im Büro, würde er diese Dinge mit dem Dienststellenleiter besprechen. Sollte Bernie heute ruhig noch einmal Dampf ablassen, morgen würde er ihre kleine, bequeme Welt ordentlich durchschütteln!

*

Nachdem sie die Stadt in nordöstlicher Richtung verlassen hatten, schwenkte Bernie auf einen einsamen Highway ein. In dem erdfarbenen Staub standen auf beiden Seiten der Straße riesige Kandelaber-Kakteen, die die kleinen Hügel wie ein Wald bedeckten. Die vorbeisausende Landschaft wirkte auf Phil einfach nur öde und langweilig. Der heiße Fahrtwind blies ihm ins Gesicht, und er spürte, wie der Staub dort kleben blieb. Bernie sah einige Male zu ihm hinüber, sagte aber nichts.

Es kann nicht mehr lang dauern, dachte Phil, bevor sie wieder anfängt zu reden. Sie gehörte eindeutig zu den Menschen, die Stille nicht lange ertragen können. Um sie noch eine Weile im Schweige-Modus zu halten, holte er sein Handy heraus. Er konnte die Zeit nutzen und schnell eine Nachricht an Belinda schreiben. Doch als das Display aufleuchtete, sah er, dass die Balken, die die Empfangsqualität anzeigen sollten, nicht einmal ansatzweise zu sehen waren.

„Auf der Strecke hier ist kein Empfang“, sagte Bernie und lächelte ihn an. Sie schien tatsächlich froh zu sein, dass sie eine Gelegenheit gefunden hatte, wieder ein Gespräch zu beginnen.

„Möchten Sie etwas trinken? Ich habe Wasser dabei.“

„Hmm“, machte Phil, steckte das Handy weg und griff nach einer der kleinen Wasserflaschen, die in der Mittelkonsole steckten. Sie war noch kühl und das Schwitzwasser tropfte herunter. Er öffnete die Flasche und nahm einen langen Schluck. Dann lehnte er den Kopf an und sah aus dem Fenster. Seine Strategie hatte Erfolg. Bernie kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe, traute sich aber nicht, weiterzureden.

Inzwischen hatte sich die Landschaft verändert. Die großen Kakteen waren weniger geworden und schließlich ganz verschwunden. Stattdessen waren Felsen aufgetaucht, die in den verschiedensten Rottönen schimmerten. Hin und wieder bog eine Schotterstraße vom Highway ab und führte zu einem privaten Grundstück. Die dazugehörenden Gebäude waren aber so weit von der Straße entfernt, dass sie nicht zu sehen waren. Hier ist wirklich nichts, dachte Phil. Für die raue Schönheit dieser außergewöhnlichen Landschaft hatte er keinen Sinn.

Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs und hatten sich kaum merklich auf eine Hochebene heraufgearbeitet. Es würde noch dauern, bis sie endlich ans Ziel kamen. Vielleicht sollte ich einfach ein bisschen schlafen, dachte Phil. Er wollte gerade die Augen zumachen, als er etwas Seltsames sah. Unwillkürlich setzte er sich auf.

Schräg vor ihnen, zwischen ein paar größeren Felsen auf der rechten Seite, befand sich ein transparentes Gebilde, das wie eine gigantische Seifenblase aussah. Genau wie solch ein zartes Gebilde aus Wasser und Seife schillerte es auch in allen Farben des Regenbogens. Es blieb konstant über einer Stelle stehen und hatte eine Höhe von mindestens fünf Metern. Phil runzelte die Stirn. Erst jetzt merkte er, dass Bernie die Geschwindigkeit gedrosselt hatte und ihn aufmerksam ansah.

„Was ist das, da vorn?“ Phil deutete auf die merkwürdige Erscheinung.

„Was meinen Sie?“

„Sehen Sie das nicht? Da, zwischen den Felsen!“

Sie hatten inzwischen die Felsen erreicht. Bernie lenkte den Wagen auf den Seitenstreifen und hielt an.

„Ich sehe nichts Ungewöhnliches.“

„Sind Sie blind?! Wir stehen doch direkt daneben!“

Bernie sah ihn mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und Respekt an.

„Agent Norton, ich glaube, Sie sehen gerade einen Vortex – genau hier soll es nämlich einen geben!“

„Einen Vortex?!“

„Ein Vortex ist eine Art Kraftfeld, ein Energiezentrum, das mit dem Erdinneren verbunden ist. Den Indianern ist ein solcher Ort heilig und...“

„Ich weiß, was der Begriff bedeutet!“, unterbrach Phil sie ungeduldig, „Und ich weiß auch, dass die Existenz dieser Kraftfelder sehr umstritten ist. Aber was heißt, Sie glauben, dass ich etwas sehe – sehen Sie denn wirklich nichts?“

Bernie schüttelte den Kopf.

„Absolut nichts. Einfach nur Felsen. Wie sieht es denn aus?“

Phil starrte sie an. Nahm sie ihn jetzt auf den Arm? Wenn das ein Witz war, dann sollte sie ihn kennenlernen! Aber Bernie wirkte ernsthaft interessiert. Er sah wieder zu dem schillernden Gebilde hinüber. Für ihn war es klar und deutlich zu erkennen.

„Na ja... wie eine riesige Seifenblase – transparent, bunt, und es ist instabil, es wabert hin und her.“

Er öffnete den Sicherheitsgurt und stieg aus.

„Halt! Gehen Sie nicht näher ran! Das ist gefährlich!“, rief Bernie ihm hinterher, als er zielstrebig auf die Formation zuging. Hastig griff sie zum Verschluss ihres Gurtes, der sich aber nicht so schnell öffnen ließ, wie sie wollte.

Fasziniert betrachtete Phil das Gebilde. Dann streckte er eine Hand aus und berührte die schillernden Farbstreifen.

*

Als Phil wieder zu sich kam, sah er in Bernies dunkles Gesicht. Sie hatte sich über ihn gebeugt – und schüttete ihm gerade den Inhalt einer kleinen Wasserflasche ins Gesicht.

Prustend fuhr er hoch und wehrte ihren Arm ab.

„Was soll denn das?! Hören Sie sofort auf damit!“

„Aber ich wollte Ihnen doch nur helfen!“

„Sie haben meine Krawatte ruiniert! Wissen Sie, wieviel ich dafür bezahlt habe?!“

„Ich hatte schon Angst, Sie wären tot! Es gab einen Knall und Sie fielen einfach um! Soll ich Sie beim nächsten Mal erst ausziehen, bevor ich mich damit abmühe, Ihnen das Leben zu retten?!“

Phil wischte sich über sein feuchtes Gesicht, stand auf und versuchte dann vergeblich, sich den roten Staub von der Hose zu klopfen. Hartnäckig hatte sich dieser in den Stoff hineingearbeitet. Seine Sonnenbrille lag auf dem Boden. Ein Glas hatte einen Sprung, wahrscheinlich war sie auf einen Stein gefallen. Die war also auch hin – das fing ja wirklich gut an! Mit einem Seufzer steckte er sie ein und fasste sich an die Stirn.

„Ja, schon gut. Danke. Da war wohl eine elektrische Ladung, die ich abbekommen habe. Mein Kopf dröhnt immer noch.“

Als er sich umsah, konnte er von der Seifenblasen-Formation nichts mehr entdecken.

„Sobald wir im Büro angekommen sind, machen wir eine Meldung darüber. Hier muss dringend eine Warnung aufgestellt werden!“, meinte er und rieb sich wieder die Stirn.

Bernie sah ihn besorgt an.

„Sie müssen aus der Sonne raus! Kommen Sie mit zurück zum Auto. Da habe ich noch mehr Wasser.“

Sie grinste, als sie seinen Gesichtsausdruck sah und fügte schnell hinzu: „Zum Trinken!“

Phil ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, zog die fleckige Krawatte ab, warf sie auf die Rückbank und krempelte die Ärmel hoch. Zum Teufel mit den Konventionen! Dankbar nahm er dann die Wasserflasche entgegen, die Bernie ihm hinhielt und trank einen großen Schluck daraus. Abermals fasste er sich an die Stirn. Sein Kopf brummte immer noch. Diese Erscheinung hatte ihm einen ganz schönen Schlag versetzt.

„Bernie, haben Sie eine Kamera dabei? Dann mache ich ein Foto von der Stelle für unseren Bericht.“

„Also, ehrlich gesagt, das mit dem Bericht... ich würde es lassen. Hier kommt bestimmt keiner her, der einen Schlag abbekommen könnte. Und in der Zentrale glaubt das sowieso niemand.“

„Das braucht mir auch niemand zu glauben! Die elektrische Ladung wird ja wohl messbar sein, egal ob man etwas sieht oder nicht! Haben Sie nun eine Kamera, ja oder nein? Sonst mache ich das Foto mit meinem Handy!“

„Jaja – hier ist die Kamera“, brummte Bernie, beugte sich zur Beifahrerseite hinüber und öffnete das Handschuhfach. Neben einem großkalibrigen Revolver lag dort auch ein Fotoapparat.

Phil nahm die Kamera und ging wieder zu den Felsen. Er näherte sich vorsichtig, um nicht noch einen Schlag abzubekommen, und machte einige Aufnahmen. Es war jedoch weder etwas zu sehen noch zu spüren.

Er kam zurück und sie setzten ihre Fahrt fort. Während der ganzen Zeit war nicht ein einziger Wagen an ihnen vorbeigekommen.

Nach ein paar Minuten fing das Funkgerät an zu knarzen.

„Bernie, mein Schatz, hier ist Big Bill. Bist du schon auf dem Rückweg?“

„Big Bill – schön, deine Stimme zu hören! Ja, wir müssten in circa einer Stunde im Büro sein. Was gibt’s?“

„Hast du die Fracht an Bord?“

Bernie warf einen entschuldigenden Blick zu Phil hinüber.

„Ja, Agent Norton ist pünktlich gelandet.“

„Gut, gut. Wir brauchen hier nämlich Unterstützung, und das Büro ist nicht besetzt.“

Phil lehnte sich zum Funkgerät.

„Hier ist Special Agent Philipp Norton. Mit wem spreche ich?“

„Ähm, guten Tag, Agent Norton. Ich bin der Sheriff von Cruces Negros, mein Name ist Bill Thadwick – die Leute nennen mich hier einfach Big Bill.“

„Wobei brauchen Sie Unterstützung, Sheriff?“

„Wir haben hier eine ziemlich hässliche Sache – Minky hat einen Toten gefunden.“

„Wer ist Minky, wer ist der Tote und wo wurde er gefunden?“

„Minky ist die Katze von Mrs O’Gehry, der Tote ist ein Indianer und gefunden hat sie ihn im Navajo-Reservat.“

Phil rieb sich wieder die Stirn. Die Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Und diese Schilderung regte ihn zusätzlich auf. Natürlich wäre die Lösung eines Mordfalls als Einstieg ein wunderbares Karrieresprungbrett, aber die gesetzlichen Regelungen waren eindeutig. Kannten diese Hinterwäldler nicht mal die in so einem Fall gültigen Vorschriften?

„Sheriff, wenn ich das richtig sehe, ist ein toter Indianer im Reservat zunächst einmal ein Fall für die Reservatspolizei. Ein Reservat ist souveränes Gebiet – das heißt, Sie selbst oder das FBI dürfen nur nach ausdrücklicher Einladung durch die Reservats-Administration tätig werden. Informieren Sie also die Kollegen, nehmen Sie die Katze in Gewahrsam und schreiben Sie einen Bericht. Das werden Sie doch allein schaffen, oder?“

„Ja, aber, Sir, es ist nicht so ein Indianer! Lisa sagt das auch!“

Phil verlor die Geduld.

„Jetzt reden Sie doch nicht in Rätseln! Was heißt, nicht so ein Indianer?! Und wer ist jetzt wieder Lisa?!“

„Also, das kann ich nicht alles erzählen – am besten, Sie kommen hierher und sehen sich die Sache selbst an! Außerdem ist der Häuptling einverstanden, er hat mich ja selbst gerufen. Der Tatort ist am Kopf des toten Mannes.“

Zähneknirschend stimmte Phil schließlich zu. Er wollte nicht schon an seinem ersten Tag eine Kooperation mit den örtlichen Gesetzeshütern boykottieren. Er wandte sich an Bernie.

„Kennen Sie diesen Ort? Den Kopf des toten Mannes?“

„Ja, ich weiß, wo das ist. Das ist ein ziemlich markanter Felsen, der von weitem wie ein Kopf aussieht. Er liegt südlich von Cruces Negros – wir müssen keinen großen Umweg fahren. Und Lisa, das ist...“

„Das interessiert mich im Moment nicht! Die Einwohner von Cruces Negros werde ich noch früh genug kennenlernen!“

Phil schloss die Augen und massierte seine Schläfen. So hatte er sich die Ankunft an seinem ersten Einsatzort wirklich nicht vorgestellt!

2. Das Totem

Sonntagnachmittag

Tatsächlich sah der Felsen aus der Entfernung aus wie der Kopf eines auf dem Rücken liegenden Mannes. Der Tatort war ebenfalls unübersehbar: Ein Polizeiwagen mit blinkenden Lichtern, eine Gruppe von Neugierigen, die sich vor einer provisorischen Absperrung drängelten, ein Sheriff mit beträchtlichem Leibesumfang und sein langer, dünner Deputy, der eine Siamkatze auf dem Arm hatte, markierten die Stelle mehr als deutlich.

Phil ging mit langen Schritten auf die Absperrung zu und tauchte darunter weg. Bernie bemühte sich vergeblich, mit ihm Schritt zu halten.

Sheriff Thadwick kam ihnen schon entgegen, wobei er sich mit seinem Taschentuch den Schweiß abwischte.

„Agent Norton?“, fragte er etwas atemlos.

Phil hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase.

„Richtig. Guten Tag, Sheriff. Was ist denn mit der Reservatspolizei?“

„Buffalo Kid hat am anderen Ende des Reservats zu tun. Er wird erst heute Abend hier eintreffen, darum wollte der Häuptling des Stammes, dass wir uns um die Sache kümmern.“

„Wer ist Buffalo Kid?“

„Officer Joe Buffalo Kid ist die Vertretung des Gesetzes in diesem Reservat.“

„Aha. Und wo ist die Leiche?“

„Dort drüben, Sir, gleich dort drüben!“

Er deutete zu einigen kleineren Felsen hinüber. Phil blinzelte. Zu blöd, dass seine Sonnenbrille kaputt war, das grelle Licht fachte seine Kopfschmerzen weiter an. Zudem entfaltete die trockene Hitze des amerikanischen Südwestens ihre ganze frühsommerliche Kraft: Phil hatte das Gefühl, in einem Backofen zu stehen.

Dann sah er den Toten und eine junge Frau, die daneben kniete. Sie trug eine blaue Jeans, Cowboystiefel und eine rotkarierte Bluse. Ihre schwarzen, schulterlangen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der unter einem hellen Cowboyhut hervorlugte.

Verärgert wandte sich Phil an Big Bill: „Sheriff, so geht das nicht! Sie müssen schon dafür sorgen, dass keine Zivilpersonen den Tatort verunreinigen!“

Die junge Frau drehte den Kopf und sah ihn neugierig an. Dann lächelte sie und stand auf. Sie hatte eine hell-bronzene Haut, fast schwarze Augen und hohe Wangenknochen. Es war unverkennbar, dass sie ein indianisches Erbe in sich trug.

Jetzt sah Phil auch, dass ihre Hände in blauen Einweghandschuhen steckten.

„Dr. Lisa Blackpony – ich bin die Rechtsmedizinerin hier“, stellte sie sich vor.

„Special Agent Philipp Norton.“

„Ja, ich habe schon von Ihnen gehört“, antwortete Lisa und sah Phil von oben bis unten lächelnd an. „Allerdings habe ich Sie mir anders vorgestellt – so schnell hat sich noch niemand von der Ostküste hier angepasst. Sie sollten sich aber unbedingt eine Sonnenbrille zulegen. Ein Hut wäre auch nicht schlecht.“

Phil sah sie erst verständnislos an, dann an sich herunter. Er hatte völlig vergessen, dass seine Begegnung mit dem Vortex seine sorgfältig inszenierte Aufmachung komplett ruiniert hatte. In Verbindung mit Bernies Wasser hatte der rote Staub deutliche Spuren auf seiner Kleidung und in seinem Gesicht hinterlassen. Schlagartig wurde ihm klar, dass er alles andere als präsentabel aussah.

„Ja, also...“, stammelte er. Lisa hatte es geschafft, ihn aus dem Konzept zu bringen.

In diesem Moment erreichte Bernie den Tatort und schaltete sich ein. In einem gewichtigen Tonfall meinte sie: „Lisa, er hat den Vortex neben dem Highway gesehen!“

„Tatsächlich?“ Lisa sah ihn mit wachsendem Interesse an und fragte dann: „Haben Sie auch schon ein Totem?“

Phil spürte, wie sich das Pochen hinter seinen Schläfen in ein Hämmern verwandelte. Du liebe Zeit, was für die Leute hier alles wichtig war! Wahrscheinlich fertigte einer ihrer Onkel oder Cousins die bei Touristen so beliebten Fetisch-Figürchen an, und sie wollte den Verkauf etwas anheizen.

„Nein, zum Souvenir-Shoppen hatte ich noch keine Zeit! Können wir uns jetzt mal um den Fall kümmern? Sheriff Thadwick konnte mir nicht plausibel machen, warum hier eine FBI-Unterstützung erforderlich ist. Ich hätte jetzt gern eine Erklärung.“

Das Lächeln verschwand aus Lisas Gesicht. Sie sagte nur: „Gut. Ich zeige es Ihnen. Und ein Totem ist übrigens kein Souvenir.“

Dann hockte sie sich wieder neben den Kopf des Leichnams. Es handelte sich um einen circa siebzigjährigen Mann, der nur mit einer groben Stoffhose bekleidet war. Seine grauen Haare waren in zwei schulterlangen Zöpfen geflochten. Die Todesursache war leicht zu erkennen: Ein Pfeil mit einem kunstvoll bemalten Schaft hatte die Wirbelsäule von hinten durchtrennt und ragte vorn aus dem Hals heraus.

Unwillkürlich rieb Phil sich den Nacken.

„Also gut. Ich gebe zu, die Tötungsart ist ungewöhnlich. Aber letztendlich befinden wir uns ja in einem Reservat. Ich habe keine Ahnung, wie häufig es vorkommt, dass ein Indianer im Reservat mit Pfeil und Bogen getötet wird. Dazu müsste ich die Statistiken einsehen.“

„Ich habe Sie nicht wegen des Pfeils rufen lassen, Agent Norton. Sehen Sie sich das mal an!“

Mit zwei Fingern öffnete sie den Mund des Toten und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein.

Phil beugte sich hinunter. Das vertrug sein Kopf überhaupt nicht. Die Schmerzen wurden so schlimm, dass er ein Würgen unterdrücken musste. Er atmete flach und biss die Zähne zusammen. Das fehlte noch, dass er wie ein Anfänger auf die Leiche kotzte!

Schließlich hockte er sich neben Lisa. Sie hatte bemerkt, dass er blass geworden war und sah ihn besorgt an. „Alles in Ordnung?“

Lisa lächelte ihn an. Phil fiel auf, dass das ihr Gesicht auf eine ganz besondere Art zum Strahlen brachte. Sie ist überhaupt eine interessante Frau, dachte er. Jemanden wie sie hatte er bisher noch nicht kennengelernt.

„Ja, mir geht’s gut. Was ist denn da nun Besonderes?“

„Wir haben es hier mit einem ungewöhnlichen Fall von Demastikation zu tun.“

„Können Sie das in meiner Sprache sagen?“

„Demastikation ist eine Form der Abrasion – das bedeutet Abnutzung, Abschleifung. Er hat ja kaum noch Zähne im Mund, aber sehen Sie sich mal die Seitenzähne an. Hier sieht man es ganz deutlich: Die Höckerchen, die normalerweise auf den Zähnen vorhanden sind, sind weg, die Zähne sind regelrecht glattgeschliffen.“

„Na gut, die zahnmedizinische Versorgung ist hier wahrscheinlich nicht gerade erstklassig, aber...“

„Das hat nichts mit vernachlässigter Zahnhygiene zu tun! Man findet eine Demastikation in dieser deutlichen Ausprägung eigentlich nur bei den Schädeln prähistorischer Siedlervölker. Sie wird nämlich durch die Bearbeitung der Nahrung – Getreide, Mais, etc. – mit Steinwerkzeug verursacht: Beim Mahlen brechen winzige Stückchen des Steins ab und geraten unter das Mehl. Sie werden mitgebacken und verzehrt. Durch das Kauen reiben die Steinchen auf den Zähnen und schleifen diese ab. Aber selbst im Reservat bereiten wir die Speisen heute nicht mehr mit Steinwerkzeug zu.“

Phil stand auf. Auch das verursachte wieder eine heftige Schmerzwelle. Er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen, stützte die Hände in die Hüften und holte tief Luft.

„Was... was genau wollen Sie mir denn jetzt damit sagen? Dass das ein prähistorischer Indianer ist, der es irgendwie geschafft hat, in unsere Zeit zu reisen?“

Lisa überlegte kurz. „Ich hätte es zwar nicht so ausgedrückt – aber das trifft es schon. Mal sehen, was die Obduktion ergibt.“

Phil rieb sich die Stirn.

„Das kann doch jetzt nicht Ihr Ernst sein. Wann war denn der Todeszeitpunkt? Vor 800 oder 900 Jahren?“

„Nein. Ziemlich genau vor zwei Stunden, die Totenstarre ist noch nicht eintreten.“

„Was?! Und wo ist es passiert? Hier?“

„Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass er post mortem bewegt wurde – allerdings ist hier ziemlich wenig Blut auf dem Boden. Mit anderen Worten: Ich kann es zurzeit nicht genau sagen.“

Phil rieb sich wieder die Stirn und wandte sich an Thadwick.

„Sheriff, sind Sie eigentlich mal auf die Idee gekommen, den Häuptling hier zu fragen, ob er den Mann kennt?“

„Natürlich, Sir. Der Häuptling, John Blackpony, ist aber ganz sicher, dass er ihn noch nie zuvor gesehen hat.“

„John Blackpony? Ist das...“

„Ja, das ist mein Vater“, meinte Lisa und lächelte wieder. Sie winkte zu der vor der Absperrung stehenden Menge hinüber. „Dad, komm doch bitte mal zu uns!“

John Blackpony hätte gut einen Häuptling in einem klassischen Western abgeben können. Sein Haar, durch dass sich einige graue Strähnen zogen, war zwar kurz und statt Lederkleidung trug er eine Jeans und ein kariertes Hemd, die Adlernase, die vor der Brust gekreuzten Arme und der strenge Blick stimmten aber mit der stereotypen Vorstellung überein.

Der Häuptling war etwa einen Kopf kleiner als Phil. Er baute sich direkt vor ihm auf und fixierte ihn. Das geduldige Verharren in scheinbar endlosem Schweigen gehörte zu den Traditionen vieler Indianerstämme und konnte ihre ungeübten Gegenüber schon mal zur Verzweiflung treiben.

Gut, dachte Phil, du kannst gern versuchen, hier den Chef im Ring zu spielen – damit beeindruckst du mich nicht. Ich bin in den verschiedensten Verhörtechniken ausgebildet und werde dich schon knacken.

Ohne Vorwarnung überrollte ihn da wieder eine Schmerzwelle, schlimmer als alle zuvor – er schnappte nach Luft. Dann wurde es dunkel.

*

Phil stand auf einem Felsplateau und überblickte eine weite Ebene. Die Sonne strahlte vom Himmel, doch es war nicht zu heiß. Die Luft war frisch und klar. Er konnte in das gleißende Licht sehen, ohne dass es ihm etwas ausmachte. Eine tiefe Zufriedenheit erfüllte ihn. Dann hörte er einen hohen Schrei. Direkt aus der Sonne flog etwas auf ihn zu. Als es sich näherte, erkannte Phil, dass es ein mächtiger Adler war. Seltsamerweise verspürte er überhaupt keine Angst, als das Tier immer näher kam. Dann wachte er auf.

Das Hemd klebte an seinem Körper, er war schweißgebadet. Vor seinen Augen baumelte ein Gebilde aus Stöckchen, Federn, Perlen und bemalten Steinen. Ein rhythmischer indianischer Singsang erklang. Phil wollte sich aufsetzen, aber jemand drückte seine Schultern wieder nach unten.

„Bleiben Sie liegen, sonst wird Ihnen übel.“

War das Bernies Stimme? Phil war nicht ganz sicher. Wo war er? Was passierte hier?

„Lassen Sie mich!“

Er schüttelte die Hände von seinen Schultern ab und richtete sich auf. Er erkannte, dass er sich in einem Raum befand. Rund um das Bett, auf dem er lag, standen Indianer und sahen ihn mit unbewegten Gesichtern an. Einer hielt das seltsame Gebilde vor sein Gesicht und sang dazu, ein anderer hielt ein kleines Tongefäß in den Händen, aus dem Rauch aufstieg. Phil kam nicht mehr dazu, sich über diese skurrile Situation zu wundern – er musste sich heftig übergeben. Das Einzige, das er noch registrierte, war, dass Bernie ihm eine Schale hinhielt.

Als die Krämpfe endlich nachließen, fiel er erschöpft auf den Rücken. Bernie wischte ihm mit einem feuchten Tuch über das Gesicht. Sie sah ihn voller Mitgefühl an.

„Geht’s wieder, Agent Norton?“

„Phil. Mein Name ist Phil“, brachte er etwas mühsam hervor. In dieser Situation wäre es einfach lächerlich, wenn sie ihn anders als mit seinem Vornamen anreden würde. „Ja, danke. Keine Ahnung, was mit mir los war...“

Das strenge Gesicht von John Blackpony tauchte über ihm auf.

„Welches Tier haben Sie gesehen?“

„Ein Tier? Wann?“

„Eben. Im Traum. Haben Sie da ein Tier gesehen?“

„Ja... tatsächlich. Einen Adler... ich habe von einem Adler geträumt... aber woher...?“

Der Häuptling nickte bedächtig.

„Jetzt haben Sie ein Totem. Ein mächtiges Totem.“

Die anderen nickten auch und murmelten zustimmend. Dann verließen alle den Raum, bis auf Bernie. Vorsichtig setzte Phil sich auf. Doch jetzt passierte nichts mehr. Ihm wurde nicht schlecht, und die Kopfschmerzen waren komplett verschwunden.

Da kam Lisa herein.

„Herzlichen Glückwunsch! Ich habe gehört, Sie haben jetzt ein Adler-Totem!“

„Ja, danke.“ Phil zog eine Grimasse. „Bei mir zu Hause nennt man das nicht Adler-Totem, sondern sich die Seele aus dem Leib kotzen!“

Lisa lachte.

„Jetzt ist es ja vorbei. Das war eine Folge Ihrer Vortex-Erfahrung. Wenn Menschen wie Sie, die eine paranormale Aura gut wahrnehmen können, unvorbereitet auf einen Vortex treffen und noch nicht einmal ein Totem als unterstützenden Seelenbegleiter haben, sind sie voll negativer Energie, die sich entladen muss. Das äußert sich meist in einem sofortigen Blackout und einer nachfolgenden Übelkeit. Darum hat unser Schamane Ihnen geholfen, auf die Suche nach einem Totem zu gehen.“

„Sie sind doch Medizinerin“ – er sah sie mit einer Mischung aus Unsicherheit und Vorwurf an – „wenn Sie das alles wissen, hätten Sie mir nicht einfach etwas gegen die Kopfschmerzen und die Übelkeit geben können, statt mich diesem indianischen Exorzismus zu überlassen?!“

„Natürlich. Aber so unsympathisch sind Sie mir auch nicht. Sie hätten dann nämlich immer noch kein Totem und der nächste Vortex würde Sie wieder fällen wie einen Baum. So werden Sie jetzt keine Probleme mehr haben.“

„Das beruhigt mich – vor allem, weil die Existenz von Vortexen bisher überhaupt nicht bewiesen werden konnte. Bei den Leuten hier habe ich mich jedenfalls gründlich blamiert!“

Lisa sah ihn verwundert an. „Sie haben sich doch nicht blamiert! Im Gegenteil – der Stamm hat großen Respekt vor Ihnen. Eine Vortex-Erfahrung und ein Adler-Totem – das zeugt von einem starken Geist!“

Phil seufzte. Lisa redete über diese Dinge, als wären sie das Normalste der Welt.

„Der starke Geist wird sich jetzt noch einmal den Tatort ansehen. Wenn alles aufgenommen und gesichert ist, muss die Leiche abtransportiert werden.“

*

Nachdem alles erledigt war und er noch ein paar Fotos geschossen hatte, bedankte sich Phil bei John Blackpony und verabredete sich mit dem Sheriff und Lisa für den nächsten Morgen im Büro. Dann stieg er wieder zu Bernie in den Jeep.

Sie fuhren eine Weile schweigend in die beginnende Abenddämmerung. Phil überlegte, was er sagen sollte. Die ganze Angelegenheit war ihm ziemlich peinlich. Etwas zögernd begann er: „Bernie, vielen Dank, für... dass Sie da waren. Das werde ich nicht vergessen.“

Bernie lächelte zu ihm herüber. „Schon gut, Phil. Das war ja nicht gerade ein erster Arbeitstag wie aus dem Handbuch. Normalerweise ist es bei uns auch eher ruhig.“

„Wieso war das Büro eigentlich nicht besetzt? Agent Brooks wird mich doch noch einarbeiten, bevor er in Pension geht. Ist er krank?“

Bernie sah ihn etwas unsicher an.

„Wie gesagt – normalerweise ist es bei uns sehr ruhig. Eigentlich ist in den letzten Jahren überhaupt nichts passiert. Da sehen wir das etwas locker mit den Arbeitszeiten. Tom – ich meine Agent Brooks – war vielleicht jagen.“

„Jagen?! Kann hier jeder kommen und gehen, wie es ihm passt?“

„Regen Sie sich bloß nicht wieder auf, Phil. Das Telefon stellen wir auf einen von uns um. So sind wir immer erreichbar.“

„Ja, wenn es Empfang gibt.“

Phil schüttelte den Kopf. Die Arbeitsmoral hier war noch schlechter, als er befürchtet hatte.

*

Das Schild am Ortseingang verkündete stolz, das Cruces Negros 183 Einwohner hatte. Und eine einzige Straße, die es tatsächlich verdiente, so genannt zu werden, setzte Phil in Gedanken dazu. Auf dieser Straße, die den stolzen Namen Main Street trug, zählte Bernie ihm beim Vorbeifahren alle wichtigen Institutionen des Ortes auf: die Tankstelle, das Büro des Sheriffs, das FBI-Büro, eine Arztpraxis, das Seekers Hotel, den Amtssitz des Bürgermeisters, das Haus von Mrs O‘Gehry...

„Und hier ist das Drugs & Eats – hier bekommt man alles, was man zum Leben braucht, es ist unser Supermarkt, unsere Kneipe und unser Restaurant!“, erklärte sie stolz.

„Aha“, meinte Phil ohne Begeisterung. Dann werde ich ja bald sowohl die drei Standard-Eintöpfe als auch alle 183 Einwohner von Cruces Negros kennengelernt haben, dachte er. Mit ein wenig Wehmut sah er vor seinem geistigen Auge die überfüllten Straßen von Manhattan vor sich, wo die Werbeschilder der Delis sich gegenseitig mit köstlichen Angeboten übertrafen.

Bernie bog in einen unbefestigten Seitenweg ab und hielt vor dem einzigen zweistöckigen Gebäude.

„Die Zentrale hat Ihnen hier ein Appartement gemietet. Es ist im ersten Stock. Hier können Sie wohnen, bis Sie etwas Passendes gefunden haben.“

Sie kramte in ihrer Hosentasche und beförderte einen Schlüssel hervor, den sie Phil übergab.

„Soll ich Ihnen noch mit dem Gepäck helfen?“

Phil winkte ab.

„Danke, ist nicht nötig.“

Er holte seine Sachen aus dem Kofferraum. Bevor er die Klappe schloss, rief er Bernie zu: „Wir sehen uns morgen um 09:00 Uhr im Büro! Danke nochmal!“

Sie winkte ihm zu und fuhr dann weiter.

3. Der Anschlag

Sonntagabend

Das Appartement hatte einen kleinen Wohnraum mit offener Küche, ein noch kleineres Schlafzimmer und ein Bad. Eine winzige Klimaanlage gab ihr Bestes und röhrte, was das Zeug hielt. Immerhin hatte sie Erfolg und die Temperatur war angenehm kühl – jemand war so aufmerksam gewesen und hatte sie rechtzeitig angestellt.

Phil stellte sein Gepäck ab, ging ins Bad und drehte skeptisch den Wasserhahn der Dusche auf. Wenn es da irgendwelche Schwierigkeiten gab, würde er gar nicht erst auspacken. In diesem Klima ohne Dusche zu wohnen, kam nicht in Frage. Er war fast überrascht, als die Wasserzufuhr tadellos funktionierte.

Nachdem er geduscht und sich frische Sachen aus dem Koffer gefischt hatte, wurde er von seinem knurrenden Magen daran erinnert, dass es mittlerweile fast 20:00 Uhr war.

Na, dann werde ich wohl direkt mal das Drugs & Eats ausprobieren, dachte er. Eine andere Möglichkeit bleibt mir ja sowieso nicht.

Als Phil das Lokal betrat, staunte er, wie groß der Laden war. Er hatte eine rechteckige Form, mit einer langen Bar auf der einen Schmalseite und einer offenen Küche auf der anderen. Dazwischen gab es drei Regalreihen mit abgepackten Lebensmitteln und allerlei Nützlichem – von Waschmitteln bis Heftzwecken. Vor der Küchentheke standen vier winzige Tische. Dort saß niemand, an der Bar waren aber alle Hocker besetzt und eine zweite Reihe von Leuten stand davor. Wenigstens der halbe Ort schien sich hier versammelt zu haben. Der Geräuschpegel, der durch Musik, Gespräche und Gelächter verursacht wurde, war bereits ziemlich hoch, und es roch nach Alkohol und Bratfett.

Hinter der Bar war ein gutgelaunter Mann in Phils Alter damit beschäftigt, alle Getränkewünsche zu erfüllen. Wie die meisten Einwohner von Cruces Negros trug auch er Jeans und ein kariertes Hemd. Seine hellbraunen, leicht gelockten Haare und ein Drei-Tage-Bart gaben ihm ein verwegenes Aussehen, das besonders bei der weiblichen Kundschaft gut anzukommen schien. Mit seinen haselnussbraunen Augen zwinkerte er gerade einer nicht mehr ganz jungen Brünetten zu, die halb auf der Theke lag und ihm schmachtende Blicke zuwarf.

Phils Eintritt blieb nicht unbemerkt – alle drehten sich zu ihm um, und die Gespräche verstummten. Der Barkeeper grinste, läutete dann eine kleine Glocke und rief laut: „Leute, hier kommt Nr. 184! Heißen wir ihn herzlich in Cruces Negros willkommen!“

Die Menschen applaudierten, umringten Phil, klopften ihm auf die Schultern und schoben ihn zur Bar. Ein großer, stämmiger Mann Anfang Fünfzig kam mit breitem Grinsen auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Phil fiel auf, dass er eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Sheriff hatte.

„Herzlich willkommen in Cruces Negros, Agent Norton. Ich bin Brad Thadwick, der Bürgermeister. Meinen kleinen Bruder Big Bill, den Sheriff, haben Sie ja schon kennengelernt. Tja, Sie sehen ja, wie die Leute sich freuen, dass Sie hier sind. Ich fürchte, um eine Lokalrunde werden Sie nicht herumkommen!“

Er lachte dröhnend und schlug Phil mit seiner fleischigen Hand herzhaft auf die Schulter. Der Barkeeper sah ihn erwartungsvoll an.

Phil räusperte sich und nickte dann. „Also gut – eine Runde auf mich!“

Der Barkeeper strahlte und läutete seine Glocke dreimal. Die Menge johlte und drängelte sich wieder um die Bar. Nachdem alle mit Getränken versorgt waren, sah Phil sich mit einem Bierglas in der Hand nach einem Platz um. Auf einen Wink des Bürgermeisters stand ein Mann auf und bot Phil seinen Barhocker an.

Ein weiterer Wink und dessen Nachbar erhob sich ebenfalls. Der Bürgermeister schien Phils Gesellschaft noch weiter genießen zu wollen und hievte sich zu diesem Zweck umständlich auf den Hocker neben ihm.

„Wie ich gehört habe, war Ihr erster Tag ja direkt aufregend. Einen Mord haben wir hier seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt.“

„Ja. Und Sie wissen ja sicher auch von Ihrem Bruder, dass wir über laufende Ermittlungen nicht sprechen dürfen.“

„Natürlich. Aber scheuen Sie sich nicht, mir alle Fragen zu stellen, die Sie auf dem Herzen haben!“

Phil drehte sein Bierglas in der Hand und sah den Bürgermeister dann ernst an.

„Wie komme ich hier an etwas Essbares?“

Brad Thadwick sah ihn einen Moment verblüfft an, dann lachte er. Er wollte Phil wieder auf die Schulter schlagen, doch der wich diesmal geschickt aus. Er hatte genug vom Schulterklopfen.

„Mein Junge, Sie gefallen mir!“, tönte der Bürgermeister, drehte sich um und brüllte zum anderen Ende des Ladens: „Fish, tanz mal hier an und präsentiere deine Speisekarte!“

Ein paar Minuten später bahnte sich ein Indianer langsam und würdevoll einen Weg durch die Menge. Er war nicht besonders groß aber ziemlich kräftig gebaut. Sein langes Haar war in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten. Er blieb vor dem Bürgermeister und Phil stehen.

„Das ist der Koch des Drugs & Eats, Paul Twofish. Wir nennen ihn einfach Fish“, stellte der Bürgermeister ihn vor.

Dass es sich um den Koch handeln musste, hatte Phil auch schon an dessen fleckiger Schürze erkannt.

Der Indianer sah ihn einen Moment lang mit unbewegter Miene an.

„Es gibt Hirschsteak.“, sagte er schließlich.

Phil wartete gespannt. Als der Indianer schwieg, setzte er nach: „Okay... und sonst?“

„Hirschsteak.“

„Ja... dann nehme ich doch einfach – das Hirschsteak.“

Fish nickte ernst.

„Eine gute Wahl.“

Dann machte er sich auf den Weg zurück zu seiner Küche. Langsam und voller Würde.

Phils Handy meldete sich. Er entschuldigte sich beim Bürgermeister und drehte sich weg. Fünf verpasste Anrufe verkündete das Display – Belinda! Er hatte völlig vergessen, dass er sich bei ihr melden wollte.

„Honey! Du, ich wollte auch gerade...“

„Weißt du, welche Sorgen ich mir gemacht habe?! Warum reagierst du nicht? Ich habe schon fünf Mal angerufen!“

„Ja, es tut mir leid – aber dieser Ort ist wirklich am Ende der Welt! Erst hatte ich keinen Empfang, dann musste ich sofort zu einem Tatort...“

„Was ist das für ein Lärm im Hintergrund? Läuft da eine Party?“

„Nein, keine Party. Das ist die Dorfkneipe.“

„Ach, ich denke, es ist dort so einsam!“

Phil kannte den schnippischen Tonfall. Es würde schwierig werden, sie zu beruhigen.

„Belinda, glaub mir, mir ist bestimmt nicht nach Feiern zumute. Ich habe bis jetzt noch nicht einmal etwas gegessen!“

„Genieß deine Willkommens-Party! Du kannst dich ja nachher noch mal melden, wenn es ruhiger ist – ich bin heute eh lange auf!“

Dann wurde die Verbindung abgebrochen. Phil seufzte.

Der Bürgermeister grinste, schaffte es nun doch, ihm auf die Schulter zu klopfen und wuchtete sich dann vorsichtig von dem Barhocker herunter.

„Ich lasse Sie jetzt mal in Ruhe essen, das Steak kommt sicher gleich. Wir sehen uns morgen – ich habe Bernie einen Termin in Ihren Kalender eintragen lassen, 16:30 Uhr in meinem Büro! Dann erzähle ich Ihnen ein bisschen was über unsere Stadt!“

*

Zurück auf der Thadwick-Ranch, die etwas außerhalb von Cruces Negros lag, zitierte Brad Thadwick seinen Bruder Bill in sein Arbeitszimmer. Er hatte ein großes Kristallglas mit einem gut eingeschenkten Brandy in der Hand, das er beim Eintritt seines Bruders wütend auf den Schreibtisch donnerte. So heftig, dass der Brandy überschwappte und eine kleine Pfütze machte.

„Was hast du dir dabei gedacht, diesen neuen FBI-Mann dazu zurufen?!“

„Das war Lisas Idee! Wegen des Zahnbefunds – da ist sie sofort misstrauisch geworden. Und Tom war nicht im Büro. Aber er wird den Neuen ja dann ja eh richtig einweisen.“

„Ja, zu dumm, dass Lisa sofort die Zähne untersucht hat. Aber egal, wir müssen dafür sorgen, dass Agent Norton die Sache für eine stammesinterne Angelegenheit hält!“

*

Das Hirschsteak war groß und wirklich sehr gut. Es erhielt Phils ganze Aufmerksamkeit. Auch die Beilagen waren nicht schlecht: Kartoffelecken, die mit schmackhaften einheimischen Kräutern gewürzt waren und Pilze, deren Sorte Phil nicht kannte, die aber wunderbar aromatisch schmeckten. Während er aß, leerte sich langsam das Lokal. Alle, die gingen, verabschiedeten sich mit einem Schulterklopfen von ihm und versicherten ihm nochmals, wie sehr er in Cruces Negros willkommen war.

Als er fertig war, schob er mit einem zufriedenen Seufzer den Teller von sich weg und sah auf. Er war mit dem Barkeeper allein.

„Mehr hätte ich auch nicht ertragen. Wenn mir noch einer auf die Schulter geklopft hätte, hätte ich zurückgeschlagen“, murmelte er und rieb sich die schmerzende Stelle.

Der Barkeeper lachte, griff zwei Gläser und eine Flasche teuren schottischen Whisky und schenkte großzügig ein. Er schob Phil ein Glas hin.

„Geht aufs Haus. Statt Schulterklopfen.“

Phil grinste und stieß mit ihm an.

„Tyler Vanderscheidt“, stellte sich der Barkeeper vor. „Mir gehört das Drugs & Eats. Als ich vor drei Jahren hier ankam, ist es mir übrigens ähnlich ergangen.“

„Ich glaube kaum, dass Ihr erster Tag hier mit meinem vergleichbar ist!“

„Nein, nicht ganz. Jedenfalls bin ich nicht über eine Leiche gestolpert. Über den Vortex aber schon. Und über Lisa. Sie hat mich auch zu ihrem Medizinmann geschleppt und dafür gesorgt, dass ich auf genau die gleiche unappetitliche Weise an mein Totem kam wie Sie.“

„Woher wissen Sie davon?“

„Von Fish. Er lebt im Reservat.“

Phil sah zum anderen Ende des Raumes, wo der Koch gerade die Schürze abnahm, ihnen noch kurz zunickte und dann ging.

„Ich dachte, er wäre eher wortkarg.“

„Ist er auch. Er redet nur über das, was ihm wichtig ist.“

„Hm. Was hat er denn sonst noch so gesagt?“

Das plötzliche Splittern von Glas ließ beide Männer zusammenfahren. Genau zwischen ihnen sauste ein Pfeil durch, der sich dann mit einem deutlichen Knirschen in die hölzerne Rückwand der Bar einbohrte – nachdem er ein Fenster neben dem Eingang durchschlagen hatte.

„Runter!“, brüllte Phil und ließ sich gleichzeitig von seinem Hocker auf den Boden fallen, während Tyler hinter dem Tresen Schutz suchte.

„Licht aus!“, zischte Phil ihm zu und zog die Waffe, die er unter dem Jackett trug. Als es dunkel war, huschte er vorsichtig zum Eingang. Es war niemand zu sehen. Nachdem er die nähere Umgebung sorgfältig abgesucht und sich überzeugt hatte, dass kein Mensch in der Nähe war, ging er zurück zum Lokal.

„Sie können das Licht wieder anmachen, der Schütze ist weg“, rief er Tyler zu.

Als es wieder hell war, betrachtete der Barkeeper kritisch den in der Wand steckenden Pfeil.

„Ich denke, das sollte nur ein Warnschuss sein. Wer auch immer das war, er hätte bestimmt getroffen, wenn er Sie oder mich hätte töten wollen. Wir waren ja die perfekten Zielscheiben. Sehen Sie sich den Pfeil an! Die Verzierungen – sieht so nicht auch der Pfeil aus, mit dem der Zeitreisende getötet worden ist?“

„Der Zeitreisende – erzählen Sie bloß nicht so einen Blödsinn herum!“

„Wieso Blödsinn? Die Indianer sagen, dass wären Ihre Worte gewesen!“

Phil seufzte und schüttelte den Kopf. „Das ist völlig aus dem Kontext gerissen!“ Er tippte eine Nummer in sein Handy.

„Sheriff? Agent Norton hier. Ja, ich weiß, es ist spät. Wir haben aber einen Notfall. Auf das Drugs & Eats ist ein Anschlag verübt worden. Schnappen Sie sich Ihren Deputy und Ihr Zeug und kommen Sie her. Der Tatort muss gesichert werden.“

Nachdem ihre Aussagen aufgenommen, die Spuren gesichert und der müde Sheriff und sein Deputy wieder abgezogen waren, holte Tyler noch einmal die Whiskyflasche hervor.

„Agent Norton, auf diesen Schreck haben wir uns noch einen Drink verdient!“

„Phil. Und ja, gerne.“

„Tyler.“

Die beiden stießen an.

„Pfeile, Totems – ich komme mir vor wie in einem Wildwest-Film. Was hältst du denn eigentlich von dieser ganzen Totem-Geschichte?“, wollte Phil wissen.

Tyler zuckte die Schultern. „Mit Totem kommt man auf jeden Fall besser klar als ohne.“

„Was soll das denn heißen? Glaubst du tatsächlich an so etwas – übernatürliche Seelenbegleiter, die einen durch Gefahren leiten?“

„Ich weiß nur, dass ich nie wieder Schwierigkeiten mit einem Vortex hatte, seit ich mein Totem habe.“

„Du hast das eben schon erwähnt – du hast dieses Gebilde neben dem Highway also tatsächlich auch gesehen?“