Hildegundis und die Kinderkrone - Regina E.G. Schymiczek - E-Book

Hildegundis und die Kinderkrone E-Book

Regina E.G. Schymiczek

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Beschreibung

Das Ruhrgebiet im Jahre 1040. Die Wälder an der Ruhr sind noch voller Tücken. Wölfe, Wildschweine und Räuber hausen dort und werden zur Bedrohung für harmlose Reisende. Das Christentum ist in dieser Region noch jung, im Verborgenen gibt es noch viel Heidentum und Aberglaube. Die fast zwölfjährige Grafentochter Hildegundis wird zur Erziehung in das hochadelige Damenstift Astnide geschickt, aus dem in späteren Zeiten einmal die Ruhrmetropole Essen hervorgehen soll. Sie muss sich nicht nur von ihren Eltern und Geschwistern trennen, auch ihren Spielgefährten Martin sieht sie nur noch selten, wenn er ihren Vater als Junker begleitet. Vertraut aus der alten Heimat ist ihr nur ihre Dienerin Gewa, doch Hildegundis ahnt nicht, dass Gewa heimlich der alten Religion angehört und schon bald einen Kreis von Gleichgesinnten in Astnide findet, der in dunkle Machenschaften verwickelt ist und auch ihr gefährlich wird. Einem Attentat entgangen, darf Hildegundis Äbtissin Theophanu nach Köln begleiten und trifft dort zu ihrer großen Freude Martin wieder. Zufällig erfährt sie hier von einer geplanten Verschwörung. Ihr beherztes Eingreifen führt dazu, dass König Heinrich die Kinderkrone Ottos III. der Goldenen Madonna in Astnide stiften will. Doch am dem Weg nach Astnide verschwindet die Krone spurlos ... Hildegundis, ihre Familie und Freunde sind fiktive Gestalten, die mit historischen Personen zusammentreffen. Die Umstände, unter denen die Krone nach Essen kam, sind nicht geklärt. Außerdem ist weder eindeutig nachweisbar, ob es sich tatsächlich um die Kinderkrone Ottos III. handelt, noch ob Heinrich III. je in Essen war. Die Krone ist heute in der Schatzkammer des Essener Doms, der Kirche des ehemaligen Damenstifts Astnide, zu sehen; die Goldene Madonna befindet sich im Dom selbst.

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GISELA GAB DEN ANSTOß,INGRID UND LOTTIE GABEN CONSILIUM ET AUXILIUM

IHNEN IST DIESES BUCH GEWIDMET

Inhaltsverzeichnis

Die Abreise

Über Werden nach Astnide

Neue Freundinnen

Die Aufnahme

Einige Überraschungen

Wieder ein Abschied

Ärger mit einem Esel

Osterfest im Stift

Gefährliche Begegnungen

Die Höhle

Ein Unwetter mit schweren Folgen

Die Reise nach Köln

Die Verschwörung

Lehnseid und Brautschau

Ein Turnier und ein königliches Versprechen

Sommer in Astnide

Heiratspläne

Gerichtstag zu Michaelis

Was geschah mit der Kinderkrone?

Gefangen in der Höhle

Unerwartete Hilfe

Die Krönung

1. Die Abreise

„Steht auf, Kinder!", rief die Magd Imma, als sie die Kammer betrat, in der die gräflichen Kinder schliefen.

Hildegundis schlug die Augen auf und war sofort hellwach. Heute war ihr großer Tag, und sie hatte gestern schon vor Aufregung kaum einschlafen können. Sie blinzelte, doch erkennen konnte sie in dem dunklen Raum nur, was der Schein von Immas Kerze erhellte. Die Zwillinge Altfrid und Agana lagen wie immer eng aneinandergekuschelt auf ihrem Lager aus Stroh und Fellen und murrten unwillig, als die stämmige Magd sie energisch weckte. Hildegundis streckte sich und stand auf. Als ihr Blick auf ihr eigenes Lager fiel, dachte sie daran, dass hier bald die kleine Herika schlafen würde. Herika war Hildegundis' jüngste Schwester. Sie war erst zwei Jahre alt und schlief jetzt noch bei ihrer Amme.

Imma hatte inzwischen das Fenster geöffnet und ließ die kühle Luft eines frühen Aprilmorgens im Jahre des Herrn 1040 hinein, bevor sie mit dem Nachtgeschirr nach unten ging. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, nur ein leichter rötlicher Schimmer zeigte sich in der Ferne.

„Macht euch fertig, Kinder, dass ihr rechtzeitig zum Morgenmahl erscheint", sagte die Magd mit strenger Stimme und ging dann hinunter in die Halle.

Trotz der frühen Stunde war aus dem Burghof schon eine Vielzahl von Geräuschen zu hören. Ein Hahn krähte aus voller Kehle, Gänse schnatterten, und das zornige Wiehern und Stampfen eines Pferdes war zu hören, das vom heftigen Fluchen eines jungen Mannes begleitet wurde. Hildegundis lehnte sich über die Brüstung und schaute hinunter. Ihr blondes Haar, das sich in vielen kleinen Locken ringelte, fiel ihr dabei vorwitzig ins Gesicht.

„Gernot versucht, Vaters Hengst zu striegeln", rief sie ihren Geschwistern zu.

„Lass mich sehen, lass mich sehen!"

Altfrid und war plötzlich auch ganz munter. Seine blonden Locken, die denen seiner großen Schwester glichen, waren noch vom Schlaf zerzaust und standen zu allen Seiten ab. Vor zwei Wochen waren die Zwillinge sechs Jahre alt geworden, und seit diesem Tag erhielt Altfrid auch Reitunterricht von einem Knecht seines Vaters. Genau wie seine elf Jahre alte Schwester Hildegundis hatte er eine natürliche Begabung für das Reiten und interessierte sich für alles, was mit Pferden zu tun hatte. Agana, seine Zwillingsschwester, die ihm mit ihrem glatten braunen Haar auch äußerlich nicht sehr ähnlich sah, war da ganz anders. Sie hatte Angst vor Pferden. Ihre erste Reitstunde endete mit lautem Geschrei und ihrem festen Vorsatz, nie wieder auf solch ein Untier zu steigen.

Hildegundis hob ihren Bruder, der zwei Köpfe kleiner war, hoch und zusammen sahen sie lachend den verzweifelten Versuchen des Reitknechtes zu, das Tier zu bändigen. Beide Kinder erhielten ihren Reitunterricht zwar auf der sanften Stute, die ihrer Mutter als Reittier diente, bewunderten aber das mächtige schwarze Streitross ihres Vaters weit mehr und hielten sich oft in dessen Stall auf. Bei ihnen gab sich der große Hengst stets ganz sanftmütig – sehr zum Ärger von Gernot, dem Knecht, der vom Grafen dazu bestimmt worden war, sich um das Tier zu kümmern, dem es aber einfach nicht gehorchen wollte. Auch jetzt trat er voller Wut nach dem Tier, das dem Tritt aber geschickt auswich.

„Gut gemacht, Grani!“, rief Hildegundis in den Hof hinunter dem Pferd zu. Die brutale Art des Knechtes war ihr zuwider.

Gernot warf einen wütenden Blick nach oben. Diese kleine Zicke! Es ärgerte ihn maßlos, dass das Mädchen, dem er an Körperkraft ja haushoch überlegen war, trotzdem besser mit dem muskulösen Tier umgehen konnte als er. Doch dann senkte er schnell wieder den Kopf – es durfte ja niemand mitbekommen, dass er die Tochter seines Herrn derart unehrerbietig ansah. Seine dunklen Gedanken konnte jedoch niemand sehen.

Da ging die Tür wieder auf und die Magd Imma stand erneut in der Kammer.

„Ja, seid ihr denn noch nicht fertig?! Hildegundis, komm vom Fenster weg und hilf deinen Geschwistern beim Anziehen. Agana, steh jetzt endlich auf – sonst gieß' ich dir Wasser übers Gesicht!"

Da stand auch Agana auf, denn sie wusste, dass Imma keine leeren Drohungen ausstieß. Imma blieb nun auch dabei und beaufsichtigte das Anziehen, dann führte sie die Kinder in die große Halle hinunter.

*

Hier hatte sich schon das ganze Gesinde eingefunden. Im Kamin loderte ein wärmendes Feuer. Davor lagen drei große struppige Hunde, deren Schwanzwedeln verriet, dass sie sich auch ein paar Brocken vom Frühstück erhofften. Der große Raum war von vielfältigen Geräuschen erfüllt. Die Mägde schwatzten und lachten miteinander, während sie das Geschirr auf der langen Holztafel auftrugen. Die Knechte kamen von ihrer Morgenarbeit herein und sogen hungrig die Düfte ein, die die Frauen wie einen Schleier aus der Küche hinter sich herzogen.

Hildegundis kicherte, als sie sah, dass Gernot, noch von dem Kampf mit dem Pferd erhitzt, sich den Schweiß von der Stirn wischte. Das brachte ihr einen strafenden Blick von Imma ein. Imma war ganz der Meinung ihrer Herrin, Hildegundis’ Mutter, dass ein hochgeborenes Mädchen immer Haltung bewahren sollte. Inzwischen waren alle an ihre Plätze an dem langen Tisch getreten und warteten darauf, dass der Hausherr erschien – erst dann durfte man sich setzen.

Endlich betrat das Grafenpaar die Halle. Graf Thietmar war ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann von athletischem Körperbau, dem man ansah, dass er sich zu Pferd und im Kampf gut behaupten konnte. Gräfin Elisabeth entsprach dem Schönheitsideal der Zeit: Sie war schlank, hatte zarte Gliedmaßen und ein feines, oval geschnittenes Gesicht. Ihrem Stand gemäß trug sie ihr Haar von einem Schleier bedeckt. Doch wenn dieser ein wenig verrutschte, konnte man sehen, dass Hildegundis die Lockenpracht von ihrer Mutter geerbt hatte.

Ihnen folgten die Kammerzofe der Gräfin und Martin, der Sohn eines fränkischen Adeligen, der etwas älter als Hildegundis war und seit Kurzem als Junker am Hof des Grafen Thietmar diente. Wie es üblich war, wurde er seit seinem siebten Lebensjahr zum Ritter ausgebildet. Die ersten Jahre dieser Ausbildung hatte er bei einem Adeligen verbracht, der dann bei einer Fehde ums Leben gekommen war. Zusammen mit den Kindern des Grafen erhielt er von Gräfin Elisabeth und dem Burgkaplan Unterricht in höfischem Benehmen, in Literatur und Religion. Außerdem wurden er und der Sohn des Grafen vom gräflichen Waffenmeister in den verschiedenen Kampftechniken geschult.

Im Alter von 14 Jahren würde er den ersten Teil seiner Ausbildung abschließen und sich dann Knappe nennen dürfen. Danach galt es, sich in der Beherrschung der ritterlichen Künste zu üben und diese zu vervollkommnen: Reiten, Schwimmen, Speerwerfen, Jagen und die Beherrschung von Brettspielen gehörte dazu. Nach dem Ablegen zahlreicher Prüfungen würde er dann endlich den ersehnten Ritterschlag bekommen.

Hildegundis rannte auf die Eltern zu, gefolgt von ihren Geschwistern.

„Kind, nicht immer so wild!", mahnte die Gräfin, drückte ihre älteste Tochter aber doch ein wenig länger als sonst an sich. Auch der Graf strich dem Mädchen mit einem etwas wehmütigen Blick durchs Haar, bevor er die Zwillinge begrüßte. Nachdem alle an der langen Holztafel Platz genommen hatten, verteilten die jüngsten Mägde dampfenden Hirsebrei, das übliche Morgenmahl, in die bereit stehenden Tonschüsseln.

Der Burgkaplan sprach ein Gebet, dann beugte sich der Graf zu seiner Gemahlin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte, löste den Schlüsselring, den nur sie als Hausherrin zu tragen berechtigt war, von ihrem Gürtel, winkte eine Magd heran und erteilte ihr einen Auftrag.

„Bevor wir mit dem Morgenmahl beginnen", sprach der Graf, der sich erhoben hatte, und einige Voreilige ließen schnell die Löffel wieder sinken, „möchte ich ein paar Worte an euch richten."

Hildegundis schaute ihren Vater mit leuchtenden Augen und vor Aufregung roten Wangen an, denn sie wusste, gleich würde er von ihr sprechen.

„Wie ihr wisst", fuhr der Graf fort, „ist heute der Tag, an dem meine Tochter Hildegundis mein Haus verlassen wird, um im Hochedlen Stift Astnide erzogen zu werden, für unsere verstorbenen Angehörigen zu beten und ein gottgefälliges Leben zu führen. Um diesen freudigen Tag zu ehren und alle, die Hildegundis auf ihrer Reise begleiten werden, zu stärken, lässt meine Gemahlin nun die Keller öffnen und Bier bringen. Dazu gibt es noch Brot und Käse. Stärkt euch und betet für die glückliche Reise meiner Tochter!"

Der Graf setzte sich und laute Hochrufe auf Hildegundis und ihre Eltern erklangen, als die Mägde Bierkrüge, Brot- und Käselaibe herein trugen. Solch ein üppiges Frühstück gab es sonst nicht mal an hohen Feiertagen.

Während Agana eifrig den Hirsebrei löffelte und dabei schon nach dem frisch gebackenen Brot Ausschau hielt, hatte Altfrid seine Schüssel noch nicht angerührt.

„Gehst du wirklich heute fort?", fragte er Hildegundis, die ihm gegenüber saß, mit leiser Stimme.

„Ja!" antwortete Hildegundis glücklich. „Mutter sagt, das Stift Astnide ist das schönste Bauwerk, das sie je gesehen hat – beinahe so schön wie das Himmlische Jerusalem. Und stell dir vor, die neue Äbtissin Theophanu ist die Enkelin von Kaiser Otto. Es gibt dort zierliche Säulen aus Marmor, einen herrlichen Garten, einen Brunnen – und ich werde tatsächlich die Goldene Madonna sehen!"

Die Gräfin hatte ihrer ältesten Tochter das Stift, das an einer der wichtigsten Heerstraßen des Reiches, dem Hellweg, lag und das berühmte Marienbildnis in den prächtigsten Farben geschildert. Im Februar waren Hildegundis’ Eltern nach Astnide gereist, um am Fest Maria Lichtmess an der Prozession teilzunehmen, bei der die Goldene Madonna ihre Schatzkammer verließ und zur Kirche getragen wurde. Das Marienbildnis war in der ganzen abendländischen Christenheit berühmt. Seinen Namen verdankte es der Tatsache, dass der hölzerne Kern komplett mit Gold verkleidet war. Die Äbtissinnen von Astnide waren seit jeher als kunstsinnig bekannt – so waren auch nur die besten Künstler mit der Herstellung der Statue beauftragt worden, die ungefähr 50 Jahre zuvor, also um das Jahr 990, fertig gestellt worden war.

Auch über die Geschichte des Stiftes hatte Hildegundis viel von ihrer Mutter gehört. Das Stift selbst war um das Jahr 852 von Bischof Altfrid gegründet worden. Er gehörte zu einem mächtigen Adelgeschlecht und wollte einen Ort schaffen, an dem die weiblichen Mitglieder seiner Familie erzogen wurden und für ihre verstorbenen Angehörigen beten konnten. Gräfin Elisabeth hatte ihrer Tochter erklärt, dass das Gedächtnis der toten Angehörigen bis zur Auferstehung am Jüngsten Tag bewahrt werden müsse – einerseits, damit die Toten nicht vergessen würden, andererseits auch, um deren irdische Sünden auszugleichen, für die sie selbst nicht mehr sühnen konnten. Diese wichtige Aufgabe innerhalb einer Familie fiel den weiblichen Mitgliedern zu oder den Jungen, die für eine geistliche Laufbahn ausersehen waren. Die Mädchen, die auf Astnide unterrichtet wurden, stammten hauptsächlich aus dem Hochadel oder waren direkt mit dem Kaiserhaus verwandt. Sie mussten kein Ewiges Gelübde ablegen wie in einem Nonnenkloster, sie konnten das Stift auch wieder verlassen, wenn sie heiraten wollten.

Nur wenigen Mitgliedern des niederen Adels wurde die Gunst gewährt, ihre Töchter ebenfalls dorthin zu schicken. Die Aufnahme erfolgte nach einer strengen Auswahl. Hildegundis' Eltern waren froh und stolz, dass ihre Tochter dafür erwählt worden war. Für Hildegundis war Astnide, wovon sie schon so viel gehört hatte, fast ein magischer Ort, den sie sich so schön wie das Paradies vorstellte. Sie war aufgeregt und glücklich, dorthin gehen zu dürfen.

„Aber mit wem soll ich dann reiten, wenn ich mein eigenes Pferd bekomme, mit wem kann ich mich im Hengststall verstecken?", fragte Altfrid, der sehr an seiner großen Schwester hing, traurig.

Hildegundis sah zu Martin hinüber, der neben Altfrid saß. „Martin wird sich um dich kümmern, nicht wahr?", sagte sie und blickte Martin eindringlich an. Der bekam einen roten Kopf, wie so oft, wenn Hildegundis ihn direkt ansprach, fuhr sich verlegen mit einer Hand durch seine dunklen Haare und beeilte sich zu nicken.

„Und bald bist du alt genug, dann wirst auch du als Junker deinen Dienst in einer anderen Burg antreten. Das wird so aufregend, dass du mich dann gar nicht mehr vermisst", versuchte Hildegundis ihren kleinen Bruder aufzumuntern. Der seufzte und sah zu seiner Zwillingsschwester hinüber, die ungerührt weiterlöffelte. Er stieß sie mit dem Ellbogen an.

„Du bist wohl gar nicht traurig, dass Hildegundis weggeht, was?"

„Mutter hat gesagt, wenn Hildegundis weg ist, dann zieht Herika in unsere Kammer. Und dann bin ich die Älteste. Ich habe dann das Sagen!", wich Agana einer direkten Antwort aus, kratzte zufrieden ihre Schüssel leer und sah ihren Bruder herausfordernd an.

„Ich bin genauso alt wie du!", protestierte Altfrid.

„Ja, aber in der Kammer hat die Frau das Sagen, sagt Mutter!", beharrte das Mädchen.

*

Nachdem das Morgenmahl beendet war, zerstreuten sich alle, um ihre Aufgaben zu erledigen. Die letzten Gepäckstücke wurden auf die Wagen geladen. Das Licht der aufgehenden Sonne fiel auf den geschäftigen Burghof. Noch war es so kühl, dass man den Atem der kräftigen flämischen Zugpferde sehen konnte, die ungeduldig mit den Köpfen schlugen und mit den Hufen scharrten. Es versprach, ein schöner, sonniger Tag zu werden. Langsam versammelte sich das Gesinde im Burghof. Die Zeit war gekommen, Abschied zu nehmen.

„Wo ist denn Hildegundis?", fragte die Gräfin beunruhigt, als sie ihre Tochter nirgendwo sah.

„Ich komme schon, Mutter!", rief Hildegundis und zerrte den Hengst ihres Vaters am Zügel hinter sich her. Das große Tier trottete gutmütig mit. An ihrer Seite lief Martin. Hildegundis hatte bemerkt, dass Gernot das Pferd nur mit Mühe gesattelt hatte und nun losgegangen war, um Hilfe zu holen, da er den Hengst nicht dazu bringen konnte, ihm aus dem Stall nach draußen zu folgen. Sie hatte Martin überredet, mit ihr in den Hengststall zu gehen, um das Tier zu holen.

„Altfrid ist noch zu klein, um allein mit Vaters Pferd fertig zu werden. Wenn ich jetzt weggehe, musst du ihm helfen. Und meinem Vater gefällt es bestimmt auch, wenn er sieht, dass du dich mit Grani verstehst", erklärte Hildegundis, als sie Martins fragenden Blick sah und streichelte das samtene Maul des Pferdes.

„Gib ihm ein bisschen von dem Futter", ermutigte sie Martin, der respektvoll die mächtigen Muskeln des Tieres betrachtete.

Zögernd streckte Martin die Hand aus und ließ Grani daran schnuppern. Vorsichtig nahm das Tier die darauf liegenden Körner mit den weichen Lippen auf.

„Er ist wirklich schön – ein Pferd von dieser Rasse habe ich noch nie zuvor gesehen", sagte Martin.

„Er stammt aus dem Norden. Dort lebt ein wilder Stamm, der diese Pferde züchtet. Friesen heißen sie, glaube ich", erläuterte Hildegundis. „Vater hat ihn von dort mitgebracht, als er gerade ein Jährling war. Ich kann mich noch daran erinnern, wie alle gelacht haben, weil er mit seinen langen Beinen so staksig aussah. Jetzt hat man ihm schon viel Gold für den Hengst geboten. Aber Vater wird Grani niemals hergeben.“

Die Gräfin seufzte, als sie sah, dass Hildegundis, trotz des guten Kleides, das sie trug, mal wieder die Arbeiten eines Stallknechtes verrichtete. Kurz bevor sie bei den Wagen ankamen, drückte Hildegundis dem Jungen den Zügel in die Hand.

„Jetzt mach' du weiter", flüsterte sie ihm zu.

Martin starrte sie erst verblüfft an, dann führte er den Hengst, der auch willig mitging, vor den Grafen, der die Verzurrung der Gepäckstücke überprüfte.

„Herr Graf, Euer Pferd", sagte er bescheiden.

Hinten aus den Stallungen kam Gernot gelaufen. Während sich der Graf in den Sattel schwang rief er: „Gernot! Ich hatte schon vor zehn Minuten nach dem Pferd verlangt! Jetzt haben es mir die Kinder gebracht – so geht das nicht! Ich werde mir jemand anderen suchen, der sich um das Tier kümmert!"

Dann beugte er sich von dem tänzelnden Hengst herunter und sagte zu Martin: „Gut gemacht, mein Junge! Jetzt geh und hole die Überraschung!"

Erleichtert, dass der Graf die Eigenmächtigkeit nicht übel nahm, rannte Martin zurück zu den Stallungen, in dem normalerweise die Zugpferde untergebracht waren.

Hildegundis verabschiedete sich inzwischen von ihrer Mutter und den Zwillingen. Während Agana es ungerührt über sich ergehen ließ, dass Hildegundis sie an sich drückte, kullerten Altfrid dicke Tränen übers Gesicht, als ihn seine große Schwester in die Arme nahm.

„Du kommst mich bestimmt mal besuchen", flüstert Hildegundis ihm ins Ohr und hatte für einen winzigen Moment einen Kloß im Hals.

Als sie dann ihre Mutter umarmte, sagte die Gräfin: „Oh Kind, ich hätte dich so gern begleitet, aber es geht leider nicht – die Umstände …", ihre Hand glitt über ihren Bauch, „zu Michaelis werden wir dich sicher besuchen."

Hildegundis lächelte. Die Vorfreude über ihr neues Leben, von dem ihre Mutter ihr schon so viel erzählt hatte, hatte wieder Überhand gewonnen.

„Ist schon gut, Mutter", sagte sie. Sie wusste, dass ihre Mutter wieder ein Kind erwartete und eine lange Reise daher nicht in Frage kam. Trotzdem musste sie schlucken, denn plötzlich wurde ihr bewusst, dass eine sehr lange Zeit vergehen würde, bis sie die Burg am Niederrhein, ihre Mutter und Geschwister – die ganze vertraute Umgebung ihrer Kindheit – wiedersehen würde.

Dann fiel ihr Blick auf Martin, der eine hübsche Fuchsstute, die eine breite Blesse trug, über den Burghof führte. Sie hatte ein kleines, edles Köpfchen und spitzte aufmerksam die Ohren. Die lange Mähne umspielte ihren Hals wie flüssige Seide. Der Graf drängte sein Pferd ganz nahe an seine älteste Tochter und beugte sich herunter.

„Ich dachte, meine Hildegundis kann doch nicht in die Fremde gehen, ohne ein eigenes Reitpferd zu besitzen", sagte er lächelnd.

Hildegundis strahlte ihn an. „Für mich?", fragte sie glücklich.

Der Graf nickte. Stolz ging Hildegundis einmal um ihr erstes eigenes Pferd herum. Dann formte Martin mit den Händen einen Steigbügel und im Nu war Hildegundis im Sattel.

„Und du hast nichts verraten!", strahlte sie Martin an.

Der blickte lachend von unten auf.

„Dann wäre ja die Überraschung verdorben gewesen! Wir haben schon die ganze Zeit befürchtet, dass du mal in den Stall der Zugpferde gehen und sie entdecken würdest".

Hildegundis streichelte den glänzenden Hals des Pferdes und nahm die Zügel auf.

„Es kann losgehen!" rief sie fröhlich.

Die Gräfin seufzte wieder. Dieses Kind, dachte sie, wie wird es ihr wohl ergehen? Dann beugte sie sich herunter und versuchte ihren Sohn zu beruhigen, der heftig schluchzte. Seine Schwester Agana stand schweigend dabei und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.

Gewa, die Tochter eines Leibeigenen des Grafen und kaum älter als Hildegundis, war ausersehen worden, sie als Dienstmagd zu begleiten, und saß mit großen ängstlichen Augen schon auf einem der Wagen. Sie hatte sich bereits von ihrer Familie verabschiedet. Mit ihren mageren Fingern hielt sie krampfhaft ein kleines Bündel umklammert, das ihre Habseligkeiten enthielt. Auch für sie war es das erste Mal, dass sie die Umgebung der Burg verlassen würde. Sie hatte große Angst vor der Fremde. Und vor der Reise. Schließlich gab es genug Geschichten über Räuber, die Überfälle auf Reisende verübten. Ganz zu schweigen von den Dämonen, die angeblich in den Wäldern hausten. Und auf dem Weg nach Astnide gab es viele Wälder, die durchquert werden mussten.

Gewa rollte eine Träne über die Wange. Sie war fest davon überzeugt, dass sie ihre Familie nie wieder sehen würde. Mit einer Hand fingerte sie nach dem Amulett, das ihre Großmutter ihr in der letzten Nacht als Schutz vor bösen Geistern um den Hals gehängt hatte. Und jetzt war auch noch Gernot, ihr Vetter, beim Grafen in Ungnade gefallen.

Es hatte sie getröstet zu wissen, dass wenigstens ein Verwandter sie auf dieser Reise begleiten würde, wenn er dann auch wieder mit dem Grafen hätte zurückkehren müssen. Aber Graf Thietmar machte Ernst: Mit seiner Anweisung war Gernot seiner Sonderstellung als Pfleger des gräflichen Streitrosses enthoben worden und wieder einfacher Knecht. Damit gehörte er auch nicht mehr zur Reisebegleitung nach Astnide. Gernot stand nun beim übrigen Gesinde und starrte Martin wütend an, den er für sein Unglück verantwortlich machte. Martin war aber viel zu aufgeregt, um dies zu bemerken.

Schließlich war alles bereit. Nachdem der Burgkaplan den Reisesegen erteilt hatte, gab der Graf das Zeichen zum Aufbruch. Die Fuhrleute knallten mit den Peitschen, die grauen Zugpferde stemmten sich in das Geschirr und die beiden schweren Wagen setzten sich knarrend in Bewegung. Der Graf winkte noch einmal, überholte dann die Wagen und setzte sich an die Spitze. Hildegundis folgte ihm. Sie freute sich, wie feinfühlig die Stute auf ihre Hilfen reagierte. Ihr Vater musste eine Menge Gold für das Tier bezahlt haben. An ihrer Seite ritt Martin auf seinem braunen Wallach. Den Schluss bildeten vier bewaffnete Gefolgsleute des Grafen. Dann passierten sie das Burgtor. Hildegundis blickte nicht mehr zurück.

2. Über Werden nach Astnide

Der erste Reisetag verlief ruhig und ereignislos. Die Reisegruppe benutzte zum großen Teil die breiten Heer- oder Pilgerstraßen, die das Reich in alle Richtungen durchzogen. Sie trafen unterwegs Händler mit ihren langsamen Ochsenkarren, Mönche, die auf Eseln unterwegs waren und Pilger, die zu Fuß gingen und an ihren Pilgerhüten, Stöcken und Flaschen zu erkennen waren. Die meisten von ihnen waren auf dem Weg zu den großen Pilgerstädten im Süden und versuchten über Köln nach Rom und Jerusalem oder nach Santiago de Compostella zu gelangen.

Wenigstens einmal im Leben eine Pilgerreise zu unternehmen, war der größte Wunsch der Christen in dieser Zeit. Selbst arme Leute nahmen dafür viel auf sich. Manche schafften es erst in fortgeschrittenem Alter, sich auf die Reise zu machen. Der Abschied von ihren Familien war dann oftmals ein Abschied für immer, denn die Reisen waren beschwerlich und dauerten lang. Zudem war das Reisen in diesen Zeiten auch sehr gefährlich. Pilger waren daher selten allein unterwegs, meist schlossen sie sich zu Gruppen zusammen. Dies bot dem Einzelnen mehr Schutz vor Straßenräubern, die selbst vor einfachen Pilgern nicht haltmachten.

Aufgrund der edlen Pferde, ihrer vornehmen Kleidung und der Soldaten war die Gruppe von Graf Thietmar sofort als Angehörige des Adels erkennbar. Sie wurden ehrerbietig gegrüßt und man machte sofort für sie Platz. Doch zweimal musste auch Graf Thietmar für einen noch Vornehmeren Platz machen. Einmal war es der Erzbischof von Köln, der ihnen mit großem Gefolge in schnellem Tempo entgegen kam. Soldaten mit Fahnen ritten ihm voran und sorgten dafür, dass es für Hermann I. keinen Aufenthalt gab. Graf Thietmar ließ seine Wagen an den Straßenrand fahren und halten. Er neigte respektvoll den Kopf, als der Erzbischof vorüber ritt, Hildegundis aber konnte den Blick nicht abwenden und betrachtete begeistert den herrlichen Schimmelhengst, den der Kirchenfürst ritt.

„Das war Hermann I., der Erzbischof von Köln“, erklärte Graf Thietmar seiner Tochter. „Er ist der Bruder der Äbtissin Theophanu. Vielleicht kommt er gerade von einem Besuch in Astnide.“

Die andere Begegnung war weniger erfreulich. Schon von weitem hörte man das Geräusch galoppierender Pferde, erschreckte Rufe von Menschen und das Knallen von Peitschen. Hildegundis drehte sich im Sattel um, denn die Laute näherten sich von hinten. Auch Graf Thietmar zügelte seinen Rappen und drehte sich um. Dann kamen auch schon einige Reiter herangedonnert. Zwei Soldaten jagten vorweg und schwangen ihre Peitschen. Wer nicht frühzeitig Platz machte, ob Mensch oder Tier, wurde gnadenlos davon getroffen.

„Platz für Seine Hoheit, Platz für Prinz Widukind!“, schrieen sie immer wieder und hatten offensichtlich großen Spaß dabei, die Leute auf dem Weg in Angst und Schrecken zu versetzen.

Hinter den beiden Soldaten kam ein Reiter auf einem großen Fuchshengst. Das war Prinz Widukind. Er grinste breit, als er sah, dass einer der Soldaten das linke Zugpferd des ersten Wagens von Graf Thietmar empfindlich an der Kruppe getroffen hatte und dieses sich erschreckt aufbäumte, was wieder die anderen Pferde scheu machte. Die Wagenlenker und Reiter hatten alle Hände voll zu tun, ihre Tiere zu beruhigen. Doch genauso schnell wie er gekommen war, so schnell war der Spuk dann auch vorbei. Wütend starrte Graf Thietmar dem Prinzen hinterher. Auch sein Hengst hatte die Ohren flach nach hinten gelegt und wieherte zornig hinter dem Fuchshengst her. Nur zu gern hätte er ihn zu einer Kraftprobe herausgefordert.

Danach ging die Reise friedlich weiter. Auf den sicheren Wegstrecken konnte Hildegundis ihr neues Pferd in allen Gangarten gut ausprobieren. Das schöne Wetter und der gute Reiseverlauf stimmten alle fröhlich. Als sie eine übersichtliche Ebene erreicht hatten, forderte Hildegundis übermütig Martin und ihren Vater zu einem Wettrennen heraus. Während Martin den Grafen noch fragend ansah, gab dieser statt einer Antwort seinem Hengst die Sporen. Das große Tier schoss sofort in weiten Sätzen davon. Lachend jagten die Kinder hinter ihm her. Als sie in einem weiten Bogen zu den Wagen zurückkehrten, zügelte Graf Thietmar seinen Rappen, so dass Hildegundis aufschließen konnte. Martins Brauner war weit abgeschlagen.

„Beim nächsten mal gewinne ich, Vater!“ rief Hildegundis atemlos, als sie bei ihm ankam.

„Da bin ich sicher!“, antwortete der Graf und blickte seine Tochter liebevoll und stolz an.

Die Nacht verbrachte die Reisegruppe auf der Burg eines befreundeten Adeligen, wo sie herzlich aufgenommen wurden. Menschen und Tiere konnten sich erst einmal ausruhen. Am Abend gab es ein großes Festessen, bei dem sich alle stärken konnten. Spielleute traten auf und musizierten zu Ehren der Gäste.

Ein Bänkelsänger brachte sie mit seinen frechen Liedern zum Lachen. Doch als er dann aus dem Stegreif ein Loblied auf ihre Anmut und Schönheit dichtete, wurde Hildegundis ziemlich verlegen. Es war das erste Mal, dass jemand sie als Erwachsene behandelte. Sie sah nicht, dass Martins Augen einen verträumten Glanz bekommen hatten.

Am Nachmittag des zweiten Tages erreichten sie das Benediktinerkloster zu Werden. Es war bereits 50 Jahre vor dem Stift Astnide von Bischof Ludgerus gegründet worden, als christlicher Stützpunkt im damals noch heidnischen Sachsengebiet. Hoch über dem Fluss Ruhr ragte der mächtige Turm von St. Ludgerus auf – die Kirche war nach dem inzwischen heilig gesprochenen Klostergründer benannt worden. Der Graf hatte beschlossen, hier die Nacht zu verbringen, so dass man am nächsten Tag zur Mittagsstunde das Stift Astnide erreichen konnte.

Heithanrich von Altenburg empfing die Gäste. Als Abt des Werdener Klosters hatte er den Status eines Fürsten. Entsprechend ehrerbietig wurde er von Graf Thietmar und Hildegundis begrüßt. Er war jedoch ein leutseliger Mann, der sich immer freute, wenn er Gäste beherbergen konnte. So konnte er Neues erfahren und Kontakte knüpfen. Er schüttelte dem Grafen die Hand und lächelte Hildegundis aufmunternd an.

„Es wird dir auf Astnide bestimmt gut gefallen. Die edle Theophanu ist zwar erst seit kurzer Zeit Äbtissin von Astnide, doch ich habe gehört, sie hat große Pläne für das Stift. Ich denke, sie ist eine kluge Frau, die den Mädchen, die ihr anvertraut werden, viel beibringen kann. Und die Verbindung zum Königshof", hier blickte der Abt bedeutungsvoll Hildegundis' Vater an, „ist auch nicht zu verachten."

Graf Thietmar nickte. Auch er hatte natürlich nicht nur eine standesgemäße Ausbildung im Sinn gehabt, als er alle Hebel in Bewegung setzte, um Hildegundis auf Astnide erziehen zu lassen. Der Kontakt zum Hochadel, den das Stift hatte, konnte für eine spätere Heirat seiner Tochter eine entscheidende Bedeutung haben.

Der Abt ließ es sich nicht nehmen, seinen Gästen persönlich die Kirche zu zeigen. Hildegundis staunte. Sie war noch nie zuvor in einem so großen Gotteshaus gewesen. Sie kannte nur die kleine Kappelle auf der Burg daheim und die Burgkapellen der befreundeten Adeligen.

Nach dem Rundgang stiegen sie hinab in die Krypta, die gerade erst nach umfangreichen Bauarbeiten erweitert worden war. Hier befand sich nicht nur die Grabstätte des Klostergründers, hier wurden auch die wertvollsten Reliquien des Klosters aufbewahrt. Nach einem kurzen Gebet am Grab des Heiligen zeigte ihnen der Abt einen Kelch.

„Dies ist der Kelch des Heiligen Luidger, den er selbst benutzt hat", erklärte er.

Als er sah, dass Hildegundis angestrengt auf das Schriftband starrte, das am oberen Rand des Kelches zu sehen war, fragte er das Mädchen: „Nun, Hildegundis, kannst du lesen, was da steht?"

„Ja", antwortete Hildegundis ohne zu zögern, "da steht: AGITUR HEC SUMMUS PER POCLA TRIUMPHUS. Das bedeutet: Durch diesen Becher vollzieht sich der höchste Triumph. Auf dem unteren Schriftband steht …".

Erstaunt unterbrach der Abt Hildegundis und sah Graf Thietmar an. „Ihr habt Eure Tochter bereits Lesen gelehrt? Und in lateinischer Sprache unterrichtet?"

Der Graf lächelte.

"Das war die Idee meiner Gemahlin. Sie ist selbst sehr bewandert darin und unterrichtet alle meine Kinder. Es ist ihre Überzeugung, dass Lesen und Schreiben für eine Frau, die mal einem großen Haushalt vorstehen wird, sehr hilfreich sein können. Und jetzt, wo Hildegundis nach Astnide geht – da muss sie keine Angst vor einem Vergleich mit den Prinzessinnen haben. Unser Burgkaplan, Pater Benedikt, ist sehr aufgeschlossen und unterstützt die Gräfin. Von ihm lernen die Kinder auch Latein. Ja, sogar die Knaben, mein Sohn Altfrid und Martin, der als Junker bei mir dient, stellen sich gar nicht so ungeschickt an. Na ja, so lange die Zeiten friedlich sind und die beiden ihre Ausbildung im Kriegshandwerk nicht vernachlässigen, habe ich auch nichts dagegen. Ich selbst habe mich mit diesen Dingen nie abgegeben. Reiten und Fechten – das sind die Dinge, die ein Mann beherrschen muss!"

Der Abt zog die Augenbrauen hoch.

„Es sei denn, Euer Sohn würde sich für eine geistliche Laufbahn entscheiden."

„Altfrid ist mein einziger Sohn und mein Erbe. Es steht fest, dass er einmal mein Land übernehmen wird. Spätestens im nächsten Jahr wird er seine Ausbildung als Junker beginnen. Sollte Gott in seiner Güte uns allerdings noch einen Sohn schenken – Ihr müsst wissen, meine Gattin ist gesegneten Leibes und erwartet in Kürze ihre Niederkunft – so wird es diesem, als dem Jüngeren, natürlich freistehen, in ein Kloster einzutreten. Ich würde das sogar begrüßen."

Der Abt nickte bedächtig und beschloss, die Entwicklung im Hause des Grafen Thietmar im Auge zu behalten. Die Aufnahme von Hildegundis in das Stift Astnide deutete darauf hin, dass sich der Graf der Gunst des Königshauses erfreute – seinen Sohn als Mönch im Werdener Kloster aufzunehmen, könnte daher ein vorteilhaftes Bündnis darstellen.

Hildegundis hatte dem Gespräch still zugehört. Der Unterricht der Kinder, besonders der Jungen, war oft Gegenstand einer gutmütigen Plänkelei zwischen ihren Eltern. Doch so oft ihr Vater sich auch darüber lustig machte, so standhaft blieb ihre Mutter bei ihrer Meinung, dass das für die Kinder das Richtige wäre. Sie stammte aus dem südfränkischen Adel, wo diese Sitte weiter verbreitet war. Auch Martin hatte berichtet, dass in seiner Heimat nicht nur diejenigen Jungen, die für ein Leben im Dienste der Kirche bestimmt waren, Lesen und Schreiben lernten.

*

Nach der Besichtigung der Krypta war es Zeit für die Abendmesse, die Graf Thietmar aus Dank für die bisher so glücklich verlaufene Reise lesen ließ. Alle Mitglieder der Reisegruppe nahmen daran teil.

Als die Mönche in die St. Ludgeruskirche einzogen und mit ihren vollen, klaren Stimmen zu singen begannen, bekam Hildegundis eine Gänsehaut. Die feierlichen Gesänge hallten von den hohen Mauern wieder, die von Dutzenden von Kerzen beleuchtet wurden. Ihr flackerndes Licht erhellte auch die feine Malerei an den Wänden der Seitenschiffe. Duftender Weihrauch stieg auf.

„Und Astnide soll noch schöner sein", dachte Hildegundis und seufzte.

Gewa, die hinter ihr stand, wagte kaum die Augen zu erheben. Sie musste sich in den Arm kneifen, um sicher zu sein, dass sie nicht schon längst tot war und nun mitten zwischen den Himmlischen Heerscharen stand.

Nach der Messe gab es ein einfaches, aber schmackhaftes Mahl im Refektorium des Klosters. Martin, der sich auf der Reise im Umgang mit den Pferden und besonders in der Betreuung von Grani bestens bewährt hatte, war vom Grafen nun zum Verantwortlichen für die Reitpferde ernannt worden. Als das Essen beendet war, ging er daher hinaus, um zu überprüfen, ob die Tiere gut versorgt waren. Hildegundis, die das sah, entschuldigte sich schnell und folgte ihm.

„Warte auf mich!", rief sie etwas atemlos, als sie Martin bei den Stallungen eingeholt hatte.

Martin blieb stehen.

„Danke!", sagte er und lächelte sie an.

„Wofür?" fragte Hildegundis erstaunt.

"Na, dafür, dass du das mit dem Hengst eingefädelt hast – sonst wäre ich heute nicht so von deinem Vater belohnt worden".

„Ach, ich wusste gleich, dass Grani dir gehorchen würde. Komm, wir sehen mal, wie es ihm geht. Hier, ich habe ein paar Möhren mitgenommen. Die reichen auch für die anderen Pferde. Schließlich muss sich meine neue Stute noch an mich gewöhnen."

Die Kinder gingen durch die Stallungen, wo die Pferde auf frischem Stroh standen und zufrieden ihr Futter kauten. Martin nahm seine neue Position sehr ernst und überprüfte nicht nur die Unterbringung der Tiere, sondern kontrollierte auch das Geschirr und Sattelzeug. Er hatte schon früh gelernt, dass schadhaftes Zaumzeug für einen Reiter sehr gefährlich werden konnte. Außerdem sollten Pferde und Geschirr morgen besonders glänzen, damit man beim Einzug auf Astnide einen guten Eindruck machte.

„Wigger", rief er einen der mitgereisten Reitknechte, „hier liegt noch eine schmutzige Trense auf dem Boden!"

„Ich kümmere mich sofort darum, Junker Martin", antwortete der Knecht diensteifrig.

Obwohl Martin erst kurze Zeit im Hause des Grafen Thietmar war, war er wegen seiner bescheidenen Art sehr beliebt. Die Reitknechte waren froh, dass Martin jetzt anstelle des herrischen und oft brutalen Gernot die Verantwortung für die Pferde hatte. Trotz seiner Jugend respektierten sie ihn.

Als die Kinder zu der Box kamen, in der Grani stand, hob der Hengst den Kopf vom Futtertrog und wieherte leise. Seine lange schwarze Mähne fiel ihm über die Augen. Begeistert kaute er dann auf der Möhre, die Martin ihm gab. Anschließend besuchten sie Martins Braunen und Hildegundis' Fuchsstute. Hildegundis streichelte ihre Blesse und hielt ihr eine Möhre hin, die sie vorsichtig anknabberte.

„Vielleicht werde ich sie Freya nennen", sagte Hildegundis zu Martin.

Beide hatten nicht bemerkt, dass Gewa inzwischen den Stall betreten hatte. Sie hatte Hildegundis' Bemerkung mitbekommen und riss entsetzt die Augen auf.

„Das bringt Unglück, ein Pferd nach einer Göttin zu benennen", murmelte sie und griff nach dem Amulett an ihrem Hals.

Ihre Großmutter hatte ihr viel von den alten Göttern ihrer Vorfahren erzählt. So wusste sie, dass Freya die germanische Göttin der Fruchtbarkeit war. Auch ihre Mutter hielt es für klug, sich nicht nur auf den christlichen Gott zu verlassen, sondern gleichermaßen die germanischen Gottheiten zu ehren, wie es ihre Ahnen schon immer getan hatten. Das konnte natürlich nur im Verborgenen geschehen, denn der Graf duldete keinen heidnischen Kult auf seiner Burg.

„Herrin", sprach Gewa dann Hildegundis an, „Euer Vater hat mich geschickt, Euch zu suchen. Das Lager ist fertig und es ist Zeit schlafen zu gehen."

Hildegundis runzelte die Stirn. „Schon? Aber ich bin noch gar nicht müde!"

„Hildegundis", meinte Martin diplomatisch und tätschelte den Hals der Stute, „ich glaube, es wäre besser, deinem Vater zu gehorchen – wo er dir solch ein wertvolles Geschenk gemacht hat."

Hildegundis überlegt kurz und nickte dann.

„Ja, du hast wohl Recht. Ich wünsche dir eine gute Nacht."

„Dir auch eine gute Nacht!", antwortete Martin. Als sie mit Gewa den Stall verließ, blickte er ihr nach. Zum ersten Mal dachte er daran, dass er die junge Grafentochter wohl vermissen würde.

Als Hildegundis und Gewa das Hauptgebäude betraten, trafen sie den Grafen, der gerade dem Abt eine gute Nacht wünschte.

„Nun, Hildegundis, warst du wieder im Stall?"

„Die Stute ist ein wunderschönes Tier, Vater, vielen Dank!", wich Hildegundis einer direkten Antwort aus und umarmte ihren Vater.

Graf Thietmar küsste seine Tochter auf die Stirn.

„Schön, dass sie dir gefällt. Sie hat orientalisches Blut. Hast du schon einen Namen für sie?"

„Ich wollte sie Freya nennen."

„Na, bei ihrer Herkunft würde ein maurischer Name wie Fatima wohl besser passen als der Name einer nordischen Göttin", lachte der Graf.

„Das stimmt", nickte Hildegundis und Gewa atmete erleichtert auf.

Graf Thietmar begleitete seine Tochter und das Dienstmädchen bis zu der Zelle, die den Mädchen als Nachtlager zur Verfügung gestellt worden war.

„Du brauchst keine Angst zu haben", sagte er, „ich schlafe gleich nebenan“.

„Gute Nacht, Vater.“

„Gute Nacht, mein Kind.“

*

Gewa hatte für ihre junge Herrin und sich selbst zwei Lager bereitet. Über das Stroh, das sie von den Mönchen bekommen hatte, hatte sie weiche Decken gebreitet. Nachdem sie Hildegundis aus dem Kleid geholfen und sie mit weiteren Decken zugedeckt hatte, löschte Gewa die Kerze und schlüpfte selbst auch unter ihre Decke.

Durch die dicken Mauern erklang gedämpft der Gesang der Mönche, die zum Nachtgebet, zur Komplet, in die Kirche zogen. Gewa umklammerte ihr Amulett und wagte nicht, die Augen zu schließen. Die fremde Umgebung, der mystische Klang der Gesänge – all das machte ihr Angst. Als sie schließlich doch von der Müdigkeit übermannt wurde, hatte sie einen schrecklichen Traum von der germanischen Göttin Freya, die, erbost über die Idee, einem Pferd ihren Namen zu geben, rachedurstig ihren wilden Keiler Hildesvini aussandte, um Hildegundis zu bestrafen.

Die Mönche kamen schon vom Morgenlob, der Laudes, zurück, als Hildegundis erwachte. Sie fühlte sich frisch und ausgeruht. Gewa war zeitig aufgestanden und hatte bereits die meisten ihrer Sachen gepackt. Es gab ein einfaches Frühstück, dann wurden die Reitpferde gesattelt und die Wagenpferde angespannt. Abt Heithanrich brachte seine Gäste persönlich an die Pforte.

„Bei Eurem nächsten Besuch wird es vielleicht schon eine Brücke über die Ruhr geben – die Pläne sind fertig und die Arbeiten können beginnen. Doch heute müsst Ihr noch die Fähre benutzen. Ich habe bereits einen Boten hinuntergeschickt, der alles vorbereitet."

Graf Thietmar dankte dem Abt nochmals für seine Gastfreundschaft, dann brach man auf.

Auf dem abschüssigen Weg den Klosterberg hinunter zum Ufer des Flusses mussten die Fuhrleute ihre Gespanne gut im Zaum halten, damit sie nicht zu schnell wurden. Die Tiere waren ausgeruht und die Frühlingssonne spornte sie zusätzlich an, so dass sie am liebsten in Galopp gegangen wären.

Am Anlegesteg der Fähre herrschte ein reges Treiben. Die Fährmänner diskutierten lebhaft mit dem Boten des Klosters, einigen Bauern und zwei Kaufleuten, die augenscheinlich mit ihren schwer beladenen Fuhrwerken übersetzen wollten, aber nun der Reisegruppe des Grafen den Vortritt lassen sollten.

Graf Thietmar befahl seinen Kutschern etwas abseits vom Steg anzuhalten. Dann winkte er zwei Männer seiner Eskorte zu sich. Die beiden anderen blieben zur Bewachung der Wagen zurück. Auch die Kinder sollten hier warten. Zu Martin sagte er: „Du bleibst bei Hildegundis!“

Langsam ritt der Graf mit seinen Männern auf die Menschen am Ufer zu. Er schlug seinen Umhang zurück, so dass sein Schwert frei lag und er ungehindert zur Waffe greifen konnte, sollte das nötig werden.

Graf Thietmar hatte schon mehrfach erlebt, dass eine bloße Unmutsstimmung in einer Menschenmenge plötzlich in rohe Gewalt umschlagen und schließlich einen blutigen Kampf nach sich ziehen konnte. Sein Hengst spürte ebenfalls die Spannung, die in der Luft lag, ließ seine Ohren spielen und kaute unruhig auf dem Gebiss.

Als sie die Menge erreichten, verstummten die Menschen. Der Bote des Klosters bahnte sich einen Weg durch die Leute.

„Herr Graf, die Fähre ist bereit.“

Graf Thietmar ließ seinen Blick über die Menge schweifen, die sich nun langsam teilte und den Weg frei gab.

„Sehr gut“, antwortete er ruhig.

Hildegundis und Martin, die das Geschehen mit Sorge verfolgt hatten, atmeten erleichtert auf.

Mit seinem furchtlosen Auftreten und den offen zur Schau getragenen Waffen hatte Graf Thietmar sich den Respekt der Leute erworben, die jetzt neugierig die vornehme Reisegruppe betrachteten. Sie hatten nicht oft die Gelegenheit, Adelige in ihrem besten Hofstaat aus der Nähe zu betrachten. Nicht nur Hildegundis trug heute ihr schönstes Gewand, vom Grafen bis zum jüngsten Reitknecht hatten sich alle auf das Feinste herausgeputzt. Sogar Gewa sah ganz manierlich aus. Die Beschläge am Geschirr der blank gestriegelten Pferde blitzten und ihre Hufe glänzten, als wären sie mit Lack bestrichen.

Tuschelnd tauschten sich die Bauernfrauen über Hildegundis’ wunderschönes Kleid aus, während ihre Männer sich gegenseitig auf die edlen Pferde aufmerksam machten. Die Kaufleute neigten ehrerbietig die Köpfe und lenkten ihre Wagen zur Seite, damit der Tross des Grafen Platz hatte.

Das Verladen der Fuhrwerke und der Pferde verlief problemlos. Für Hildegundis und auch für ihre Stute Fatima war es das erste Mal, dass sie eine Fähre betraten. Beide waren aufgeregt.

„Komm einfach hinter mir her“, sagte Martin aufmunternd und ging mit seinem erfahrenen Braunen voran.

Vorsichtig folgte Hildegundis ihm. Auch der Bote des Klosters kam mit seinem Pferd auf die Fähre.

„Der Hochwürdige Herr Abt hat mir aufgetragen, Euch voran zu reiten, um Euer Kommen in Astnide anzukündigen“, erklärte er dem Grafen.

„Da sag dem Hochwürdigen Herrn Abt meinen besten Dank, wenn du ins Kloster heimkehrst“, antwortete Graf Thietmar erfreut.

Es lag noch ein großes Stück dichten Waldes vor ihnen, das außer wilden Tieren auch allerlei Gesindel beherbergen konnte. Nur ungern hätte er auf einen seiner Männer verzichtet, um ihn als Boten zum Stift vorauszuschicken – und unangemeldet vor der Edlen Theophanu zu erscheinen, wäre völlig unschicklich und undenkbar gewesen. Der Graf war dem Abt für seine Weitsicht daher sehr dankbar.

Am anderen Ufer angekommen, verabschiedete sich der Bote und verließ als erster die Fähre. Im Galopp jagte er in den Wald hinein und war schon bald nicht mehr zu sehen. Die Reisegruppe formierte sich wieder und folgte mit den schweren Wagen langsam nach, wobei der Graf nun zwei bewaffnete Männer an die Spitze gestellt hatte.

*

„Der Wald ist wirklich sehr dicht“, meinte Hildegundis zu Martin, der neben ihr ritt.

Sie betrachtete die hohen Bäume und hatte automatisch die Stimme gesenkt. Bevor Martin antworten konnte, hob einer der beiden Männer, die voran ritten, die Hand. Knirschend kamen die Wagen zum Stehen und die Reiter zügelten ihre Pferde.

Ein umgestürzter Baum versperrte den Weg. Es war nur ein dünner Baumstamm, der den Reitern keine Probleme bereitet hätte, für die Fuhrwerke stellte er jedoch ein unüberwindliches Hindernis dar.

Keiner sprach ein Wort, aber alle Männer hatten wie auf ein Kommando ihre Schwerter gezogen und suchten mit wachsamen Augen den Waldrand ab.

Auch Martin hatte seinen Dolch gezückt und stellte sich mit seinem Pferd schützend vor Hildegundis. Alle wussten, dass Räuber und Wegelagerer ihren Opfern mit Baumstämmen den Weg zu versperren pflegten, um sie dann bequem ausrauben zu können.

Alles blieb still. Der ganze Wald schien den Atem anzuhalten. Graf Thietmar ritt ein kurzes Stück des Weges zurück, doch es war niemand zu sehen. Als er zurückkam, steckte er sein Schwert wieder in die Scheide. Alle atmeten auf und taten es ihm nach. Jetzt waren auch die Vögel wieder zu hören.

„Gott sei es gedankt, es scheint keine Falle zu sein!", sagte Martin erleichtert zu Hildegundis und sprang vom Pferd.

Der Graf war bereits abgestiegen und warf Martin die Zügel seines Hengstes zu. Einen Mann ließ er dann über den Baumstann setzten, um den Verlauf des Weges zu überprüfen, ein weiterer blieb hinter den Wagen. Mit den anderen beiden machte sich Graf Thietmar dann daran, den Baumstamm aus dem Weg zu räumen.

Hildegundis war im Sattel geblieben und ließ ihre Stute am Wegesrand nach Gräsern suchen. In Gedanken war sie schon in Astnide und stellte sich vor, wie man sie dort wohl empfangen würde.

Völlig unerwartet riss ihr Pferd da auf einmal den Kopf hoch und machte einen Satz zur Seite. Das war so plötzlich passiert, dass Hildegundis fast aus dem Sattel geschleudert worden wäre. Nur mit Mühe konnte sie sich halten und versuchte Fatima zu beruhigen, die wild mit den Augen rollte und auf der Stelle tänzelte. Auch die anderen Pferde wurden unruhig und Grani wieherte.

Während sich alle um die Pferde kümmerten, sah Gewa von ihrem erhöhten Platz auf dem Wagen, wie sich das Unterholz bewegte.

Dann hörte man Äste knacken und bald darauf das zornige Schnaufen eines übel gelaunten Wildschweins. Der Kopf eines Keilers mit mächtigen Hauern schob sich durch das Gebüsch.

Gewa dachte sofort an ihren Traum und glaubte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen.

„Hildesvini!", schrie sie in höchster Angst.

„Mädchen!", donnerte Graf Thietmar, der schnell herbeigeeilt kam, sie an. „Was ist das für ein heidnischer Unsinn! Das ist kein mystischer Göttergefährte, sondern bloß ein wildes Schwein!"

Natürlich war dem Grafen bewusst, dass die Begegnung mit dem wütenden Keiler trotzdem gefährlich war. Immer wieder kamen auch erfahrene Jäger bei der Wildschweinjagd zu Tode, wenn die Tiere sich in die Enge gedrängt fühlten und angriffen.

Da er keine Lanze zur Hand hatte, mit der Wildschweine normalerweise gejagt wurden, hatte Graf Thietmar sein Schwert gezogen. Er ging energisch auf den Keiler zu und schwang das Schwert gegen ihn, um ihn zu vertreiben. Das Tier war davon aber nicht beeindruckt – im Gegenteil. Es schnaufte wieder, schüttelte den Kopf und stürzte plötzlich auf den Grafen zu. Blitzschnell senkte der sein Schwert und machte einen Schritt zur Seite. Er konnte dem rasenden Keiler aber nicht ganz ausweichen, wurde von einem seiner Hauer am Bein gestreift und umgerissen. Im Fallen konnte er dem Tier jedoch die Klinge zwischen die Rippen stoßen. Tödlich getroffen brach das Wildschwein zusammen. Es zuckte noch einige Male und blieb dann still liegen.

Wie erstarrt hatten alle dem Schauspiel zugesehen. Jetzt kam wieder Bewegung in die Gruppe und alle redeten durcheinander. Hildegundis sprang vom Pferd und rannte zu ihrem Vater. Der rappelte sich gerade mit Martins Hilfe auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern.

„Sankt Hubertus sei Dank – das ist ja gerade noch mal gut gegangen."

„Du bist verletzt, Vater!", rief Hildegundis, als sie das Blut an seinem Bein bemerkte.

„Ach, das ist nur ein Kratzer", beruhigte Graf Thietmar seine Tochter, humpelte aber doch ein wenig und ließ sein Pferd von Martin halten, als er aufstieg.

„Packt den Keiler auf den ersten Wagen", rief er seinen Männern zu und meinte dann verschmitzt zu Hildegundis: „Da wird sich die Stiftsküche aber freuen, wenn wir so prächtiges Wildbret mitbringen."

Die Männer luden das Wildschwein auf und bestiegen dann auch ihre Pferde. Der Weg war frei geräumt und es konnte weitergehen.

Von keinem bemerkt, schnitt Gewa mit ihrem kleinen Messer dem Keiler ein paar Haare aus der Schwanzquaste und steckte sie in einen winzig kleinen Lederbeutel, den sie dann zwischen ihren Sachen versteckte. Sie war fest davon überzeugt, dass das gefährliche Tier sie auf Befehl der Göttin Freya angegriffen hatte und seine Haare daher über magische Qualitäten verfügten.

Endlich ließen sie den Wald hinter sich. Sie erreichten die ersten Felder und kamen bald an kleinen Gehöften vorüber.

Hildegundis suchte den Horizont mit den Augen ab. Dann zeigte sie mit ausgestrecktem Arm in die Ferne: „Da ist es!"

In der hügeligen Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitete, an einem kleinen Flüsschen namens Berne gelegen, ragte der Turm der Stiftskirche in den Himmel. Daneben erstreckten sich zahlreiche Wohn- und Wirtschaftsgebäude, die von einer wehrhaften Mauer umgeben waren. Auch eine kleine Ansiedlung war zu sehen.

Vor ihnen lag das Stift Astnide.

3. Neue Freundinnen

Als sich die Gruppe dem Stift weiter näherte, sahen sie, dass ihnen von dort eine kleine Gruppe Berittener entgegenkam.

„Äbtissin Theophanu schickt uns eine Eskorte!", rief Martin aufgeregt.

Hildegundis schluckte und nickte nur. So kurz vor der Ankunft war sie doch ziemlich aufgeregt.

Als die neun Reiter die Reisegruppe erreicht hatten, ließ der Graf halten. Der Hauptmann der Truppe ritt auf ihn zu und begrüßte ihn.

„Die Hochwürdige Frau Äbtissin heißt Euch Willkommen und bietet Euch und Eurem Gefolge den Schutz ihrer Mauern an. Meine Männer und ich haben die Ehre, Euch hin zu geleiten."

Graf Thietmar bedankte sich, dann setzte sich der Tross wieder in Bewegung. Als Graf stand ihm eine Eskorte für ein bestimmtes Wegstück zu. Je edler ein Gast war, desto mehr Leute wurden ihm entgegengeschickt und desto früher begann die Begleitung. Kündigte ein König sein Kommen an, so zogen ihm oft mehr als hundert Männer entgegen und begleiteten ihn mehrere Tage lang zu seinem Ziel.

Sie näherten sich dem Stift und kamen zunächst durch die kleine Ansiedlung, die sich rund um die Stiftsgebäude gebildet hatte. Handwerker und Kaufleute hatten sich hier niedergelassen.

Die Ankunft eines adeligen Trosses war für die Anwohner immer wieder ein Schauspiel, das sie sich nicht entgehen ließen. Die Nachricht, dass eine neue kleine Stiftsdame ihren Einzug hielt, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Leute drängten sich am Weg und starrten neugierig die Fremden an. Schließlich passierte die Reisegruppe das große Tor des Stiftes und hielt vor dem Hauptgebäude an. Bedienstete eilten herbei, um sich um die Pferde zu kümmern.

Eine Dienstmagd begrüßte sie ehrfurchtsvoll und brachte dann Graf Thietmar und Hildegundis in den Empfangsraum der Äbtissin. Eine Gruppe edel gekleideter Damen und zwei Mädchen in Hildegundis' Alter standen bereits zu ihrem Empfang bereit.

Graf Thietmar legte Hildegundis eine Hand auf die Schulter und führte sie zu der Frau, die am Kopfende des Raumes auf einem thronartigen Sessel saß.

„Hochwürdige Äbtissin Theophanu", sagte er und verneigte sich, „hier bringe ich Euch meine Tochter Hildegundis."

„Seid willkommen, Graf Thietmar", antwortete die Äbtissin und wandte sich dann an Hildegundis, die in eine tiefe Kniebeuge versank: „Sei auch du mir herzlich willkommen, Kind. Möge Astnide dir eine neue Heimat werden."

Ihre Stimme klang überraschend dunkel, aber freundlich. Nach einem Moment wagte Hildegundis schließlich den Blick zu heben und sie anzuschauen. Das war also die berühmte Äbtissin Theophanu!

Theophanu gab ihr einen Wink, sich zu erheben und blickte sie ebenfalls forschend mit ihren dunklen, ein wenig mandelförmigen Augen an. Sie trug nicht nur den Namen ihrer Großmutter, die als byzantinische Prinzessin geboren worden war und als Kaiserin einen Großteil Europas regiert hatte. Ihr dunkler Teint verriet, dass sie auch viel von deren orientalischem Blut geerbt hatte. Sie war älter als Hildegundis Eltern und hatte die 40 wohl schon überschritten, doch strahlte sie eine Tatkraft aus, die sie wesentlich jünger machte. Man merkte ihr auch an, dass sie von Kindheit an auf eine herausragende Stellung vorbereitet worden war und gewohnt war, Befehle zu erteilen.

Die Äbtissin stellte dann die Stiftsdamen vor, deren Namen Hildegundis vor lauter Aufregung sofort wieder vergaß.

Bis die Reihe an die Letzte kam. „Dies ist Reganwi. Sie ist für unsere jüngsten Zöglinge verantwortlich", erläuterte Theophanu. „Sie wird dir alles zeigen und erklären", meinte sie zu Hildegundis.

„Herzlich willkommen auf Astnide, Hildegundis", sagte Reganwi und strahlte sie an.

Hildegundis lächelte etwas scheu zurück, schloss die junge Stiftsdame, die ungefähr 17 Jahre alt war, aber sofort in ihr Herz.

Dann stellte Reganwi die beiden Mädchen vor, die Hildegundis neugierig betrachteten.

„Die beiden sind vor drei Wochen angekommen", sagte die Stiftsdame, „dies ist Doda aus Limburg und hier haben wir Frithuwif aus dem Herzogtum Bayern."

„Willkommen, Hildegundis!", riefen die Mädchen im Chor.

Die beiden hätten kaum unterschiedlicher sein können. Während die blasse Doda dunkelhaarig und von zierlicher Statur war, war Frithuwif kräftig gebaut und besaß leuchtend kastanienrotes Haar. Sie hatte ein freundliches, pausbäckiges Gesicht, lustige Augen und Sommersprossen.

Die Äbtissin lud die gesamte Reisegruppe des Grafen nun zum Mittagsmahl. Da die Zeit schon weit fortgeschritten war, fiel es recht einfach aus.

Das Wildschwein, das Graf Thietmar erlegt hatte, war freudig begrüßt worden und sollte am Abend des nächsten Tages, zur Feier von Hildegundis' offizieller Aufnahme in das Stift, verzehrt werden.

Der Bericht über das Jagderlebnis brachte Graf Thietmar bewundernde Blicke der Damen ein. Nach dem Essen wurde dem Grafen ein Gästequartier zugewiesen. Theophanu schickte ihm auch eine Stiftsdame, die sich in der Heilkunde auskannte, mit einer Salbe für die Wunde.

Hildegundis wurde inzwischen von Reganwi durch die Hauptgebäude der Abtei geführt. Doda und Frithuwif begleiteten sie. Die weitläufige Anlage beeindruckte Hildegundis sehr. Für die Ausstattung waren nur die besten Materialien verwendet worden.

Mutter hat nicht übertrieben, dachte Hildegundis.

Während Frithuwif jede Erklärung von Reganwi kommentierte, war Doda eher still und lächelte Hildegundis nur ab und zu freundlich an. Besonders gut gefiel Hildegundis der Kreuzgang, von dem ihre Mutter ja schon berichtet hatte. Die zierlichen Marmorsäulen hatten wunderschöne Kapitelle, in die filigrane Löwen, Drachen und Fabelwesen gemeißelt waren. Der herrlich angelegte Garten mit dem Brunnen in der Mitte strahlte eine paradiesische Ruhe aus. Genauso hatte sie es sich vorgestellt.

„Werde ich jetzt die Goldene Madonna sehen?“, fragte sie Reganwi.

„Nein, da musst du dich noch gedulden. Sie ist in der Schatzkammer verwahrt und da haben wir keinen Zutritt. Ich zeige dir nun die übrigen Gebäude.“

Als sie weitergingen, sagte Doda leise zu Hildegundis: „Die Goldene Madonna ist wunderschön. Man meint, dass sie von innen strahlt. Sie sieht aus, als wäre sie direkt vom Himmel gekommen.“

*

„Hier ist das Dormitorium, hier schlafen wir. Siehst du, hier ist mein Bett, dort drüben Dodas. Neben mir ist noch eins frei – das könntest du nehmen", erklärte Frithuwif, als sie den Raum betraten, der als Schlafsaal für die jüngsten Mitglieder des Stiftes diente.

Hildegundis nickte. Sie freute sich, dass sie von den beiden Mädchen so nett aufgenommen wurde. Ihr Blick wanderte in dem Raum umher und sie bemerkte, dass es noch zwei weitere Betten gab. Fragend blickte sie Reganwi an.

„Kommen noch mehr Mädchen?"

„Ja. Wir erwarten noch zwei sächsische Prinzessinnen. Ihr Bote kam auch heute Morgen an und informierte uns, dass sie in einigen Tagen hier sein werden."

„Dann werden wir ihre Aufnahme auch noch gerade vor Beginn der Karwoche feiern können", fügte Frithuwif hinzu.

„Du denkst aber auch immer ans Essen!“, sagte Doda mit leichter Empörung in der Stimme. „Da ist es kein Wunder, wenn man von euch Bayern erzählt, ihr würdet auch Gänse zu den Wassertieren zählen, nur um in der Fastenzeit auch einen Gänsebraten essen zu können!“

„Aber, es wäre doch Verschwendung, wenn ein Grund zum Feiern ausgerechnet in die Fastenzeit fiele“, versuchte Frithuwif sich zu rechtfertigen. Dann stieß sie Hildegundis an. „Ich freue mich schon auf den Wildschweinbraten morgen Abend.“

Hildegundis kicherte, während Doda den Mund verzog.

„Wir haben jetzt schon Fastenzeit“, sagte sie ernst.

„Ich weiß, ich weiß. Aber jetzt sind Ausnahmen noch erlaubt. In der Karwoche nicht mehr. Dann gibt’s erst Ostersonntag wieder einen richtigen Braten. Sonst essen wir nur Fisch. So kenne ich das schon von zu Hause.“

Frithuwif schüttelte sich und Hildegundis musste wieder lachen.

Reganwi lachte auch und meinte: „Du wirst das schon überstehen, Frithuwif. Jetzt freuen wir uns erstmal auf Morgen. Das ist schließlich Hildegundis’ großer Tag. Bist du gut vorbereitet?“

„Ich glaube schon. Mit meiner Mutter und mit unserem Burgkaplan habe ich immer wieder geübt“, antwortete Hildegundis.

„Frithuwif ist bei ihrer Aufnahme mitten im Glaubensbekenntnis stecken geblieben.“

„Nur einmal, Doda – und nur, weil ich so aufgeregt war! Dafür musste der Kaplan der Äbtissin dir zweimal sagen, dass du aufstehen sollst, sonst würdest du heute noch in der Kirche knien.“

Hildegundis seufzte.

„Ich werde auch ganz schön aufgeregt sein. Hoffentlich mache ich alles richtig.“

„Mach dir keine Sorgen. Es wird schon klappen“, beruhigte Reganwi sie.

„Ihr zwei“, sagte sie dann zu Doda und Frithuwif, „ihr geht jetzt ins Schulzimmer und übt eure Psalmen. Ich werde mit Hildegundis jetzt noch den genauen Ablauf für morgen durchgehen. Wir sehen uns dann zur Vesper.“

Nachdem die beiden verschwunden waren, erklärte Reganwi Hildegundis geduldig Schritt für Schritt, was am morgigen Tag passieren würde.

*

Als die Glocke zur Vesper läutete, brachte Reganwi Hildegundis zu ihrem Vater, um sich selbst den übrigen Stiftsdamen anzuschließen, die dann gemeinsam mit der Äbtissin in die Kirche ziehen würden. Den Stiftsdamen war ein besonderer Teil der Kirche im Altarraum vorbehalten. Graf Thietmar und Martin konnten Hildegundis nur kurz begrüßen, bevor sie gemeinsam den Kirchenraum betraten.

„Wie gefällt es dir denn?“, flüsterte Martin ihr zu.

Hildegundis lächelte und nickte nur. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, alle neuen Eindrücke zu verarbeiten. Schon die große Ludgeruskirche in Werden war für sie überwältigend gewesen. Doch die vielen Kostbarkeiten, die es hier zu sehen gab, verschlugen ihr den Atem. Der riesige siebenarmige Bronzeleuchter am Altar beleuchtete den Einzug der Stiftsdamen, deren Gesang den Raum erfüllte. Ab morgen würde auch Hildegundis im Chor der Stiftsdamen ihren Platz haben.

Zum Abendessen versammelten sich die Stiftsdamen und alle Gäste, so dass der Saal sehr voll wurde. Frithuwif bahnte sich einen Weg durch die Menschen, hin zu Hildegundis, die mit ihrem Vater und Martin zusammenstand. An der Hand zog sie einen jungen Mann hinter sich her, dessen dunkle Locken einen leichten kastanienfarbenen Schimmer aufwiesen. Auch seine Augen blitzten so lustig wie Frithuwifs, so dass man schnell ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen den beiden vermuten musste.

„Graf Thietmar, ich grüße Euch", sagte Frithuwif etwas atemlos, „dies ist mein großer Bruder Tassilo. Er ist gerade angekommen. Er hat Euer Streitross im Stall gesehen und will Euch fragen …"

„Ist ja gut Frithuwif, das kann ich Graf Thietmar auch selbst sagen", unterbrach sie ihr Bruder. „Herr Graf, ich muss das ungebührliche Benehmen meiner Schwester entschuldigen – ihr Temperament geht einfach oft mit ihr durch", meinte er dann ein wenig verlegen.

„Dann ist es ja kein Wunder, dass sie sich sofort mit Hildegundis angefreundet hat", antwortete Graf Thietmar mit einem belustigten Blick auf seine Tochter.

„Nun, Doda wird da schon für den richtigen Ausgleich sorgen", ließ sich da eine weibliche Stimme vernehmen. Es war Reganwi, die mit Doda zu der kleinen Gruppe stieß. Da Dodas Eltern bereits hatten abreisen müssen, war sie nun ganz allein. Darum hatte sich Reganwi ihrer angenommen. Frithuwif stieß Hildegundis an und beide kicherten, als sie beobachteten, wie Tassilo fasziniert Reganwi anstarrte, die ganz rot wurde.

Graf Thietmar räusperte sich schließlich und fasste den jungen Ritter am Arm.

„Wie geht es denn Eurem Vater, dem Grafen Heinrich? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Und habe ich recht gehört, Ihr wolltet etwas über die Herkunft meines Hengstes erfahren, Tassilo?"

„Äh, ja, äh, genau …", Tassilo ließ sich widerstrebend vom Grafen wegziehen.

In diesem Moment wurde es schlagartig ruhig, denn Äbtissin Theophanu betrat den Saal. Sie gab ein Zeichen und alle traten an die langen Tische. Nachdem sie ein kurzes Gebet gesprochen hatte, setzten sich alle und dann wurde das Essen aufgetragen. Es gab reichlich Fisch aus dem stiftseigenen Weiher, Käse, frisches Brot und Bier.

Martin, der seit ihrer Ankunft kaum Zeit gehabt hatte mit Hildegundis zu sprechen, setzte sich neben sie. An seiner anderen Seite nahm Doda Platz.

„Bist du Hildegundis' Bruder?", fragte sie ihn.

Frithuwif, die neben Hildegundis saß, beugte sich neugierig nach vorn, um den Jungen besser betrachten zu können und seine Antwort zu hören.

„Nein, das ist Martin aus dem Frankenland. Er ist Junker bei meinem Vater", antwortete Hildegundis an Martins Stelle.

„Es wird gemunkelt, dass demnächst auch Jungen hier aufgenommen werden sollen. Ich dachte schon, du wärst der Erste", meinte Frithuwif mit vollem Mund, weil sie gleichzeitig auf einem großen Stück Käse kaute. Reganwi, die gegenüber saß, sah sie missbilligend an.

„Nein, nein", antwortete Martin jetzt schnell, „ich will Ritter werden. Alles, was ich dafür brauche, lerne ich bei Graf Thietmar. Und dann werde ich einmal die Nachfolge meines Vaters als Burgherr in meiner Heimat antreten. Wir haben große Ländereien, da gibt es oft Grenzstreitigkeiten – dann muss man gut mit der Waffe umgehen können."

„Martin kann auch sehr gut mit Pferden umgehen", erzählte Hildegundis nicht ohne Stolz.