Briefgeheimnis - Regina E.G. Schymiczek - E-Book

Briefgeheimnis E-Book

Regina E.G. Schymiczek

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Beschreibung

Eine gefährliche Affäre, ein berühmtes Gemälde und geheime Codes ... Im Jahr 1660 lebt der 17jährige Joris als Lehrling bei dem Maler Jan Vermeer und seiner Familie in Delft. Als dieser den Auftrag erhält, die Frau eines erfolgreichen Kaufmannes und Schiffseigners zu portraitieren, setzt das eine Reihe von Ereignissen in Gang, die ein Mordkomplott zur Folge haben. Das Gemälde spielt dabei eine wichtige Rolle. Doch welche geheimen Botschaften hat Vermeer in seinem Werk "Der Liebesbrief" versteckt? Welche Rolle spielen Kontakte aus Joris' dunkler Vergangenheit in der Geheimen Bruderschaft? Gelingt es ihm, das Vertrauen seines Meisters zurückzugewinnen und seine große Liebe zu erobern? Der spannende Roman um das Entstehen eines berühmten Gemäldes macht das deftige barocke Leben im Goldenen Zeitalter der Niederlande wieder lebendig und enthüllt die versteckten Codes in den Bildern jener Zeit.

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Für Lottie und Ingrid, die mit mir in Delft auf den Spuren Vermeers unterwegs waren …

„Der Liebesbrief“ ist der Titel eines Ölgemäldes des holländischen Malers Jan Vermeer (*1632, +1675). Der Titel wurde nicht von Vermeer selbst vergeben, sondern hat sich im Laufe der Zeit als Bezeichnung für dieses Werk durchgesetzt. Über den Inhalt des Briefes ist nichts bekannt, und die im Bild vorhandenen Attribute geben nur vage Hinweise. Auffällig ist der besorgte Gesichtsausdruck der Dame des Hauses, der so kein zweites Mal im Oeuvre des Malers erscheint. Es ist nicht belegt, ob es sich um eine Auftragsarbeit gehandelt hat.

Das Bild ist 44 Zentimeter hoch und 38,5 Zentimeter breit. Es befindet sich heute im Rijksmuseum in Amsterdam.

Handlung und Personen in dieser Geschichte sind, bis auf den Maler Jan Vermeer, seine Familie und den Maler Pieter de Hooch, frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Geschehnissen wären rein zufällig.

Regina E.G. Schymiczek, Januar 2023

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.

Delft, November 1660

Joris schlug sich den Mantelkragen hoch und zog seine Mütze noch ein bisschen tiefer ins Gesicht, als er aus dem Haus der Lukasgilde trat.

Maler, Bildhauer und Kunsthändler schlossen sich schon seit langer Zeit in den größeren Städten zu einem Verbund unter dem Schutz des Evangelisten Lukas zusammen, von dem die Legende besagt, dass er einst die Gottesmutter Maria gemalt habe. So war er zum Schutzpatron der Maler geworden. In der Gilde wurden die Regeln ausgearbeitet, nach denen die Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen ablief. Die Gilde achtete auch darauf, dass ihre Mitglieder ehrbare Handwerker waren und ihre Arbeit eine hohe Qualität hatte. Gesellen- und Meisterstücke wurden hier begutachtet und entsprechend bezeugt.

Joris‘ braune Haare lugten unter seiner Kopfbedeckung hervor und er wusste jetzt schon, dass sie sich durch die Feuchtigkeit wieder zu Locken ringeln würden. Dabei trug er sie kürzer, als es gerade Mode war. Er versuchte jeden Morgen sie glatt zu bürsten, denn Locken waren etwas für Mädchen. Das sagten jedenfalls die Metzgergesellen auf dem Markt, die ihn immer mit seinen Haaren aufzogen.

Angetrieben von einem starken Südwestwind peitschte der eiskalte Novemberregen durch die spärlich beleuchteten Delfter Straßen, und er wünschte, er wäre schon zu Hause. Da spürte er eine Hand auf seiner Schulter.

„Was für ein Sauwetter! Lass uns schnell nach Hause gehen, Joris. Ich spendiere noch einen Genever im Mechelen.“

„Eine gute Idee, Meister“, stimmte Joris erfreut zu, schließlich war er mit seinen siebzehn Jahren schon fast erwachsen. Das Gasthaus Mechelen am Großen Markt war nur wenige Schritte entfernt. Zu ihrem Wohnhaus am Oude Langendijk mussten sie allerdings quer über den ungeschützten Marktplatz, an der protestantischen Nieuwe Kerk vorbei. Das war auch kein weiter Weg, doch bei diesem Wetter fiel jeder Schritt schwer. Außerdem war es bei der Gilde nicht gerade warm gewesen. Die Aussicht auf den Schnaps, der den Körper so schön von innen wärmte, war daher sehr verlockend. Zumal es sicher nicht bei dem einen Glas bleiben würde, denn Meister Jan Vermeer war ein großzügiger Lehrherr.

Er war achtundzwanzig Jahre alt, ein mittelgroßer, schlanker Mann, dessen Haarfarbe der von Joris glich. Allerdings waren seine Augen blau, nicht braun wie die seines Lehrlings. Sein Gesicht war stets glattrasiert und er legte Wert auf schlichte, aber gute Kleidung.

Aus seiner Sicht war es richtig, dass er das Mechelen zuhause nannte, da die Schankwirtschaft seinen Eltern gehörte und er dort aufgewachsen war. Seit dem Tod des Vaters führte es seine Mutter allein, und Jan unterstütze sie, wenn es seine Zeit erlaubte. Er stellte dort auch seine Bilder aus und versuchte die Wirtschaft als Kunsthandlung zu etablieren, wie es viele seiner Gildebrüder taten. Bilder verkauften sich gut, wo man Bier und Schnaps trank und es sich gut gehen ließ. Da sich das Lokal in unmittelbarer Nähe zur Lukasgilde befand, verkehrten dort viele Maler und Kunsthändler – ein Milieu, das Jan von klein auf kannte. Er war nun schon eine Weile nicht bei seiner Mutter gewesen, hatte den Besuch für diesen Abend aber fest eingeplant.

Als er die Tür zur Wirtschaft öffnete, ließ er sich von der wohlbekannten Mischung aus Wärme und den verschiedensten Gerüchen einhüllen, die für einen Schankraum typisch waren und in ihm immer ein Gefühl der Geborgenheit weckten.

„Jan! Gut, dass du kommst! Es ist sehr voll heute, ich kann deine Hilfe gut gebrauchen!“

Die vollschlanke Frau in den Fünfzigern, die hinter der Theke stand, wischte sich den Schweiß von der Stirn, als Jan und Joris sich durch die Menschen zu ihr durchschoben. Die Luft war dick vom Tabakqualm, es roch nach verschüttetem Alkohol, nach feuchten Mänteln und noch feuchteren Hunden, die hechelnd unter den Tischen lagen. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder – Stillleben, Porträts und Genrebilder sowie einige Seestücke. Viele stammten von Jan selbst, einige aber auch von anderen Malern, die er aus der Gilde kannte. Im großen Kamin knisterte ein schönes Feuer, das den Raum schon so eingeheizt hatte, dass Joris sich schnell seine Mütze vom Kopf zog. Er folgte seinem Meister hinter die Theke. Jan küsste seine Mutter auf die Wange, zog sich den Mantel aus und schlug das Regenwasser von seinem Hut.

„Ja, ich habe es mir gedacht. Aber zuerst brauchen wir mal einen Genever. Sie geizen bei der Gilde mit Brennholz – sieh dir den armen Joris an, er ist völlig durchgefroren!“

Digna Baltens lächelte, als sie Joris ansah. Sie hatte den Jungen in ihr Herz geschlossen, seit er als Lehrling bei ihrem Sohn angefangen hatte. Er erinnerte sie an Jan, als er in diesem Alter war. Schnell griff sie zwei kleine Zinnbecher, füllte sie mit dem beliebten holländischen Wacholderschnaps und gab sie den beiden.

„Habt Dank, Mijvrouw“, sagte Joris und strahlte sie an.

Jan prostete ihm zu und Joris setze den Becher an die Lippen. Er genoss es, den Weg der hochprozentigen Flüssigkeit vom Mund in den Magen zu verfolgen und dann zu spüren, wie die Wärme seine kalten Gliedmaßen erreichte. Besonders an einem Abend wie diesem.

„Von der Gilde kommt ihr, sagst du?“, fragte Digna, während ihr Sohn Krüge mit Bier füllte und Joris anfing, benutzte Becher zu spülen. Sie hatten schon oft zusammen im Mechelen ausgeholfen und waren ein eingespieltes Team.

„So ist es. Ich habe Joris den Zunftbrüdern vorgestellt.“

„Schon? Aber er ist doch noch nicht lange genug bei dir. Ich dachte, erst nach sechs Jahren Lehrzeit dürften die Jungen dort Mitglied werden.“

Jan grinste. „Das ist auch so. Aber man hält bei der Gilde große Stücke auf mich. Mein Bild mit der Stadtansicht von Delft hat für einiges Aufsehen gesorgt. Ich denke, es dauert nicht mehr lang und man trägt mir den Posten des Dekans an. Joris ist begabt und nächstes Jahr ist es eh so weit. Da ist es ganz gut, wenn man seinen Namen schon mal kennt.“

„Wie geht es Catharina und den Kindern? Sie muss mal wieder mit den Kleinen vorbeikommen! Es ist schon eine Weile her, dass ich sie gesehen habe.“

„Sie geht mit den Kindern nicht gern aus, bei diesem Wetter. Sie erkälten sich leicht.“

„Wie kommst du mit Maria Thins klar? Jetzt, wo ihr in ihrem Haus wohnt? Geht deine Schwiegermutter dir nicht furchtbar auf die Nerven mit dem papistischen Firlefanz? Ich habe gehört, sie gehe mindestens zweimal in der Woche zu den Jesuiten!“

„Lass gut sein, Mutter! Ich habe mich entschieden und so ist es gut.“ Sein Übertritt zum Katholizismus lag nun schon einige Jahre zurück, war aber immer noch Grund für Sticheleien seiner Mutter.

„Meister Vermeer!“, übertönte da eine kräftige Stimme den allgemeinen Geräuschpegel, „Meister Vermeer, mir gefällt Euer Bild von dem Mädchen mit dem Brief. Was wollt Ihr dafür haben?“

Ein großer Mann in teurer Kleidung war von seinem Stuhl aufgestanden und tippte mit seinem Spazierstock auf ein Bild an der Wand, auf dem ein Mädchen in einem blauen Kleid an einem Tisch saß und ganz in einen Brief vertieft war.

„Mijnheer Verstraaten, Ihr habt ein gutes Auge! Das Bild bekommt Ihr für 22 Gulden!“ Digna war durch und durch Geschäftsfrau und mal wieder schneller mit der Antwort als ihr Sohn.

„22 Gulden? Für so ein kleines Bild? Dafür bekomme ich einen Gerard Dou, der doppelt so groß ist!“

„Vielleicht, aber ohne echtes Ultramarin! Wisst Ihr, was das allein kostet? Und beachtet die meisterliche Darstellung des Lichteinfalls! Das ist die neueste Technik, das kann Euch ein Gerard Dou nicht bieten!“

Digna kannte sich nicht wirklich in den Techniken der Malerei aus, hatte aber schon von Jans Vater die besten Verkaufsargumente gelernt. Der Mann, der sich nicht nur nach der neuesten Mode gekleidet hatte, sondern auch die zurzeit moderne Barttracht aus Schnurr- und Spitzbart trug, überlegte einen Augenblick. Dann zückte er seinen prall gefüllten Geldsack.

„Also gut. Ich gebe Euch 20 Gulden dafür.“

„Ich danke Euch, Mijnheer Verstraaten. Wartet, ich nehme das Bild für Euch ab.“

Dieses Mal war Jan schneller. Ihm war das Feilschen seiner Mutter peinlich. Er ging zur Wand, hängte das Bild ab und übergab es dem Käufer. Der zählte ihm die 20 Gulden in die Hand. Als Jan zur Theke zurückkam, meinte er etwas ungehalten: „Ich habe es schon so oft gesagt, Mutter – ich danke dir für deine Unterstützung, aber ich kann meine Bilder wirklich selbst verkaufen!“

„Ach, tatsächlich? Du hättest es ihm doch für 12 Gulden gelassen! Wärst du nicht dazwischen gegangen, hätte ich noch mehr herausschlagen können – Verstraaten ist verrückt nach allem, was modern ist!“

Zwei Stunden und zwei Genever später hatte Joris rote Wangen und war todmüde. Endlich schickte sich sein Meister an, zu gehen. Es regnete und stürmte immer noch, aber das machte Joris jetzt nicht mehr viel aus. Der Genever hatte seinen Körper gewärmt und seinen Geist gleichmütig gemacht. In den Regen mischten sich immer mehr Schneeflocken. Vielleicht würde es in dieser Nacht noch den ersten Frost geben.

Dann hatten sie das große Haus am Oude Langendijk erreicht. Als Jan die Haustür aufschloss, sah er, dass in der Küche noch Licht war.

„Geh schlafen, Joris“, meinte er leise zu dem Jungen, während er selbst den Flur entlang zur Küche ging.

„Gute Nacht, Meister“, antwortete der Lehrling und versuchte, die steile Treppe nach oben zu gehen, ohne dass eine der Stufen knarrte. Er hielt inne, als er unten die Stimme von Maria Thins hörte, die sich keine Mühe gab, leise zu sprechen. Joris hatte schon früh gelernt, dass es von Vorteil sein konnte, Informationen zu sammeln.

„Wo kommst du so spät her? Du warst im Mechelen, nicht wahr?“

„Ich war mit Joris bei der Gilde, um ihn dort vorzustellen. Und ja, danach waren wir im Mechelen. Dort handele ich schließlich mit Bildern, ich muss mich da auch sehen lassen!“

„Du hast was getrunken, ich kann es riechen!“

„Ist das ein Verbrechen? Außerdem habe ich nicht nur etwas getrunken, sondern auch ein Bild verkauft!“

„Tatsächlich? Welches denn?“ Die Stimme von Jans Schwiegermutter wurde milder.

„Eines von meinen eigenen: Das Brieflesende Mädchen im blauen Kleid. Verstraaten hat 20 Gulden dafür gezahlt.“

„Das ist schön! Joannis, ich habe auch eine gute Nachricht für dich: Es gibt vielleicht einen Porträtauftrag!“

Seine Schwiegermutter war die Einzige, die ihn bei seinem Taufnamen rief. Der klang für sie katholischer als die Abkürzung Jan. Aus Liebe zu Catharina war er zum Katholizismus übergetreten, denn nur unter dieser Bedingung hatte Maria Thins ihm vor sieben Jahren ihre Zustimmung zur Heirat mit ihrer Tochter gegeben. Das Verhältnis zwischen Jan und seiner Schwiegermutter war aber schwierig geblieben, obwohl sie ihn seit der Hochzeit in jeder Hinsicht unterstützte. Nach dem Tod ihrer jüngsten Enkelin, die nicht einmal ein Jahr alt geworden war, hatte sie sich noch intensiver um Catharina gekümmert. Als dann vor einem Monat, kurz nach der Beerdigung der kleinen Cornelia, das vierte Mädchen geboren wurde, hatte Jan ihrem Drängen nachgegeben und war mit seiner ganzen Familie, inklusive seinen Lehrlingen Joris und Piet, zu ihr in das große Haus gezogen. Hier war Platz genug für alle und Jan hatte im zweiten Stock ein großzügiges Atelier zur Straßenseite bekommen. Er liebte die schönen, bleiverglasten Fenster und hatte schon begonnen, sie in seine Bilder zu integrieren. Jetzt sah er Maria interessiert an.

„Ein Porträtauftrag? Von wem?“

„Ich war heute Nachmittag auf einer kleinen Gesellschaft bei den de Koenings. Du weißt, sie lieben dein Bild von ihrer Tochter bei der Musikstunde. Dort waren auch Jacob van Bolsmeer und seine Frau Cornelia zu Gast. Van Bolsmeer war begeistert von dem Bild – es wäre so ganz nach dem Leben, hat er gesagt. De Koening war natürlich sehr stolz und hat mich als deine Schwiegermutter vorgestellt. Ich habe mich erst etwas geziert, dann habe ich ihm gesagt, ich würde ein gutes Wort bei dir einlegen, dass du mal bei ihm vorbeischaust.“

Sie lachte über ihre eigene List.

„Van Bolsmeer? Der Kaufmann?“

„Der wohlhabende Kaufmann und Eigner von drei Handelsschiffen, jawohl! Genau dieser ist es, der seine Gattin auf einem Bild von dir sehen möchte!“

„Das hast du gut eingefädelt, Maria, das muss ich sagen! Nimm meinen Dank dafür! Gut, ich werde mit Joris morgen – nein, das ist zu früh – übermorgen bei ihm vorbeigehen. Und jetzt muss ich ins Bett, schlaf gut, Maria.“

Joris hörte, wie auf dem Fliesenboden Stühle gerückt wurden. Es wurde Zeit, dass er seinen Horchposten verlies. Ein Porträt! Eine richtige Auftragsarbeit! Vielleicht wollte der Auftraggeber eine Szene dargestellt haben. Und vielleicht würde er diesmal nicht nur an der Ausstattung der Szene mitarbeiten, sondern eine der Assistenzfiguren malen dürfen! Er war jetzt bereit dafür, da war er ganz sicher.

Leise stieg er die restlichen Stufen hoch, bis unter das Dach. Hier gab es vier Kammern, auf jeder Dachseite zwei. Die beiden Räume zur Hofseite wurden jeweils von der Köchin Edda und vom alten Knecht Habbo bewohnt. Die Zimmer zur Straße teilten sich einmal die beiden Hausmädchen, Beeke und Dorina, und einmal die beiden Lehrlinge. Joris schlief hier zusammen mit Piet. Der Junge war erst zwölf Jahre alt und hatte kurz vor dem Umzug als zweiter Lehrling bei Meister Vermeer angefangen.

„Joris? Bist du das?“, fragte ein zartes Stimmchen ängstlich. Piet fürchtete sich im Dunkeln. Und vor Geistern. Joris sah seinen strubbeligen Blondschopf aus den Kissen auftauchen.

„Ja, Piet, ich bin es. Schlaf weiter.“

„Ich habe noch gar nicht geschlafen. Du warst lange fort! Uh, du stinkst nach Tabak und Schnaps!“

„Männer riechen so. Wenn du erst mal siebzehn Jahre alt bist, riechst du auch so. Jetzt rück etwas, ich habe ja überhaupt keinen Platz!“

Unter dem Dach wurde nicht geheizt, und es war eiskalt in dem kleinen Zimmer. Joris zog schnell seine Sachen aus, sein Nachthemd über und drängelte sich dann in das warme Bett, das sie sich teilen mussten. Piet machte aber bereitwillig Platz – er war so froh, dass er nicht mehr allein war.

2.

Zwei Tage später, kurz vor elf Uhr am Vormittag, war Joris mit Meister Vermeer unterwegs zum Delfter Kaufmannsviertel. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Temperatur war unter den Gefrierpunkt gefallen. Auf der Straße war das Wasser in den Spalten des Klinkerpflasters gefroren und die eisernen Absperrgitter, die die Grenzen der zu den Häusern gehörenden Bürgersteige anzeigten, hatten kleine Eisbärtchen bekommen. Der Himmel war grau verhangen und der aus Nordost kommende Wind nahm ständig an Kraft zu. Es sah nach Sturm aus. Außerdem fiel die Temperatur weiter.

Joris hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen und versuchte, sein Kinn im Kragen seiner Jacke zu verstecken. Hoffentlich sind wir bald da, dachte er. Ein reicher Kaufmann hat bestimmt ein wohlgeheiztes Haus.

„Joris“, riss ihn da die Stimme seines Meisters aus seinen Gedanken, „was haben wir alles dabei?“

Der Junge klopfte mit der Hand auf die große, lederne Umhängetasche, deren Riemen ihm quer über die Brust lief.

„Einen Zeichenblock, einige Kohlestifte, zehn Porträtskizzen …“

„Und was noch?“

„Hm …“

Vermeer blieb stehen und sah seinen Lehrling streng an.

„Du hast doch wohl nicht das Tongefäß vergessen?“

„Oh, nein, nein, Meister! Natürlich, das Gefäß mit dem Ultramarin!“

„Gut.“ Der Maler ging weiter. „Warum haben wir das alles dabei?“

Joris blies sich den warmen Atem in seine kalten Hände. Auch, um ein bisschen Zeit für die Antwort zu gewinnen.

„Die Zeichenblätter und die Kohlestifte sind für erste Entwürfe.“

„Richtig. Den meisten Menschen fällt es schwer, sich etwas vorzustellen. Es hilft ihnen, wenn man es aufzeichnet. Weiter.“

„Die Porträtskizzen sind für … sie sind Muster.“

„Stimmt. So kann Herr van Bolsmeer sehen, in welchem Stil ich arbeite. Fahre fort.“

„Das Ultramarin … Meister, warum nehmen wir das Ultramarin mit?“

Jan lächelte. Joris konnte es nicht wissen, er hatte es ihm noch nicht erklärt. Aber der Junge war intelligent, vielleicht kam er selbst darauf.

„Was denkst du, Joris? Was ist Ultramarin in erster Linie?“

„Teuer!“, platzte der Lehrling heraus.

Jan nickte. „Sehr richtig. Das ist der Grund, warum wir es mitnehmen: Wir zeigen Herrn van Bolsmeer, dass wir über einen großen Vorrat davon verfügen, das wird ihn beeindrucken und ihm die Sorge nehmen, dass er Geld für die Farbe vorstrecken muss. Das wiederum wird ihn schneller dazu bringen, uns den Auftrag zu erteilen!“

Joris sah seinen Meister bewundernd an. An was er alles dachte! Ja, bei ihm lernte er nicht nur malen, sondern auch, wie man mit Auftraggebern umging und Bilder verkaufte.

Dann hatten sie das Haus des Kaufmanns erreicht. Jan betätigte den schweren Türklopfer. Ein paar Minuten später wurde die Haustür von einer Dienstmagd geöffnet, die einige Jahre älter als Joris war. Sie hatte ein frisches Gesicht, rote Wangen, klare, blaue Augen und trug eine saubere weiße Haube, unter der ein paar blonde Löckchen hervorlugten.

„Ja, bitte?“, fragte sie.

Jan starrte sie an und studierte ihre Gesichtszüge. Joris kannte diesen Gesichtsausdruck – in Gedanken malte Meister Vermeer bereits ein Porträt von dem Mädchen und überlegte, in welches Bild er sie einbauen konnte.

Die Dienstmagd sah ihn irritiert an, weil er nichts sagte. Er schien ganz in ihren Anblick versunken zu sein. Joris räusperte sich und antwortete an seiner Stelle: „Meister Vermeer und sein Lehrling möchten Herrn van Bolsmeer in einer … persönlichen Angelegenheit sprechen.“

Die Magd deutete einen kleinen Knicks an und antwortete: „Ich werde beim Gnädigen Herrn nachfragen.“

Zu Joris‘ Bedauern schloss sie die Haustüre wieder, ohne sie hereinzulassen. Wieder blies er seinen Atem in seine Hände und trat mit den Füssen auf der Stelle, um sie zu wärmen.

„Sie ist so klar, so natürlich …“, murmelte Jan mit entrücktem Blick. „Weißt du, Joris, ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, eine einfache Magd zu malen. Nicht als Assistenzfigur, nein als Porträt, um ihrer selbst willen, wie eine Dame von Stand. Aber in ihrer eigenen Umgebung, dort, wo sie die Herrin ist – im Hof oder in der Küche. Ja, dafür wäre das Mädchen ideal …“

„Aber, Meister! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr van Bolsmeer für ein Bild seiner Magd zahlen würde! Die sieht er doch sowieso jeden Tag.“

Jans Blick wurde wieder klar. Er lachte und schlug seinem Lehrling auf die Schulter.

„Du hast gut aufgepasst, Joris! Ja, es ist wahr, wir müssen immer daran denken, welche Motive sich auch verkaufen lassen. Aber manchmal, wenn die Geschäfte gut laufen, können wir es uns auch leisten, einfach das zu malen, was uns gefällt!“

Da wurde die Türe wieder geöffnet und die Dienstmagd bat sie herein: „Herr van Bolsmeer wird Euch nun empfangen. Bitte folgt mir in den Salon.“

Sie betraten den Flur mit den zurzeit in den Niederlanden so beliebten schwarz-weißen Bodenfliesen und stiegen dann die Holztreppe hinauf in den ersten Stock. Herr van Bolsmeer lehnte an einem beeindruckend großen Kamin, der mit den berühmten blauweißen Delfter Kacheln verziert war. Das Feuer, das darin brannte, war allerdings eher klein.

Er war ein stattlicher Mann mit einem stattlichen Bauch, trug teure Kleidung und sein ergrautes Haar nach der neuesten Mode schulterlang sowie einen gepflegten Vollbart. Sein üppiger weißer Spitzenkragen, der gestärkt und so groß war, dass er fast seine Schultern bedeckte, zeigte seinen Wohlstand ebenso wie die edle, schwarze Samtjacke mit Silberknöpfen und die Stulpenstiefel aus weichem Leder. Erwartungsvoll sah er seinem Besuch entgegen.

Jan zog mit einer schwungvollen Bewegung seinen federbesetzten Hut vom Kopf und verneigte sich. Joris tat es ihm nach. Nur weniger schwungvoll. Außerdem besaß er nur eine wollene Mütze.

„Mijnheer van Bolsmeer“, grüßte Jan.

„Meister Vermeer! Wie schön, dass Ihr es einrichten konntet. Bitte nehmt Platz!“ Er deutete auf einen der geschnitzten Stühle an dem Tisch vor dem Kamin und ließ sich selbst auf einen anderen fallen.

Joris wusste, dass diese Einladung nicht für ihn galt und blieb daher neben dem Stuhl stehen, auf den Vermeer sich setzte.

„Darf ich Euch etwas anbieten? Einen Port vielleicht? Oder wollt Ihr mir bei meinem kleinen Laster Gesellschaft leisten? Ich nehme jeden Morgen um elf Uhr einen frischen Matjes zu mir. Mit einem Genever, versteht sich. Das ist gesund und stärkt die Manneskraft!“

„Mijnheer van Bolsmeer, wer kann schon einem frischen Matjes widerstehen? Ich nehme Eure Einladung gern an.“

Der Kaufmann nickte zufrieden und wandte sich an die Dienstmagd, die noch an der Tür stand.

„Griet, bring zwei Matjes und eine Kanne Genever hoch.“

Die Magd knickste. „Ja, Mijnheer.“ Dann verließ sie den Salon und schloss die Türe hinter sich.

„Mijnheer van Bolsmeer“, begann Jan, „meine Schwiegermutter hat mir erzählt, Ihr tragt Euch mit dem Gedanken ein Porträt Eurer Frau anfertigen zu lassen. Ich habe hier ein paar Beispiele mitgebracht, um euch zu zeigen, wie ich arbeite – Joris, die Muster!“

Joris holte die Porträtskizzen aus der Tasche und gab sie Jan. Der breitete sie vor dem Kaufmann auf dem Tisch aus, auf dem ein weicher, bunter Teppich lag. Auch das war vor kurzem in Mode gekommen.

Van Bolsmeer nahm die Blätter eins nach dem anderen mit seinen fleischigen, üppig beringten Fingern hoch und betrachtete sie.

„Schön, sehr schön. Ich habe Eure Kunst schon bei den de Koenings bewundert, Meister Vermeer. Es ist unglaublich, wie lebensecht das Mädchen aussieht! Und der Raum – man glaubt ja geradezu, man könne in das Bild hineinlaufen! Wie macht Ihr das bloß?“

„Zuviel der Ehre, Mijnheer.“ Jan lächelte bescheiden. „Es ist zum einen eine mir von Gott geschenkte Gabe, zum anderen eine erlernte Technik. Kommen wir zu Eurem Bild – habt Ihr schon eine Vorstellung von dem Raum, in dem ich eure Gemahlin darstellen soll?“

„Raum? Ähm, nein. Ich möchte das alles am liebsten Euch überlassen. Ich habe nur den Wunsch, dass das Bild ganz modern ist. Nicht zu groß – man will ja noch etwas anderes an die Wand hängen, nicht wahr, haha. Und hintergründig soll es sein. Dass man viel daraus lesen und sich den ganzen Abend darüber unterhalten kann. Das hat mir bei den de Koenings gut gefallen. So möchte ich das auch haben: Es soll einen Vorhang geben, der das Bild verdeckt. Erst wenn die Gäste davor Platz genommen haben, wird der Vorhang aufgezogen und man spricht über das Bild. Ich denke an einen blauen Samtvorhang. Bekommt Ihr das hin, ein Bild, das zu einem blauen Samtvorhang passt?“

Joris musste sich das Grinsen verbeißen. Ein Bild, das zum Vorhang passt! Er wusste, dass sein Meister diese neureichen Pfeffersäcke verachtete, denen es nicht wirklich auf die versteckten, komplizierten Botschaften ankam, die kunstvoll in die Gemälde eingebaut wurden. Sie wollten nur damit prahlen, dass sie sich solche Bilder leisten konnten. Nun wartete er gespannt auf Jans Reaktion.

„Selbstverständlich, Mijnheer. Joris, das Gefäß!“

Joris kramte schnell aus der Tasche das Tontöpfchen hervor. Jan nahm es und öffnete es vorsichtig. Dann hielt er es van Bolsmeer hin, der neugierig hineinsah.

„Was ist das?“

„Genau das, was zu einem blauen Samtvorhang passt: Reines Ultramarin.“

Die Augen des Kaufmanns weiteten sich. Er verstand nichts von Malerei, aber den Wert von Ultramarin kannte er. Das aus dem blauen Lapislazuli-Stein gewonnene Pigment war nicht nur wegen seiner Farbbeständigkeit und des aufwändigen Herstellungsverfahrens sehr kostbar, auch der lange Weg, den es zurücklegen musste, trieb den Preis in die Höhe: Die besten Sorten kamen aus Afghanistan über Venedig nach Europa.

„Und Ihr würdet dieses Ultramarin für mein Bild verwenden?“

„Ganz richtig. Ultramarin und Gold.“

„Gold?!“ Die Augen wurden noch größer.

Vermeer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und malte mit beiden Händen eine weibliche Kontur in die Luft.

„Ich denke, ich würde Eure Gemahlin in einem goldenen Kleid malen. Die Farbe würde mit Blattgold angerührt.“

Van Bolsmeer schluckte. Das Bild würde ein Vermögen kosten. Und alle würden ihn beneiden. Er nickte begeistert.

„Ja, genau so! Macht es genau so!“

„Gut. Dann müssen wir jetzt noch über die Szene und die Ausstattung sprechen.“

Da klopfte es und die Tür wurde geöffnet. Griet kam mit einer Silberplatte herein, auf der vier Heringsfilets lagen, die von einem Berg Zwiebelringe bedeckt waren. Ihr Duft füllte schnell den Raum. Joris lief das Wasser im Mund zusammen. In der anderen Hand trug die Magd einen Zinnkrug.

„Ah! Es ist soweit! Meister Vermeer, kostet von dem Fisch und sagt mir, ob Ihr je frischeren Matjes gegessen habt!“

Griet setzte die Sachen auf dem Tisch ab, holte aus einem Schrank zwei Gläser und goss den Genever aus dem Krug ein.

Herr van Bolsmeer griff zu seinem Glas, als sein Blick auf Joris fiel.

„Wenn Ihr den Jungen jetzt nicht braucht, kann er in die Küche gehen und sich dort etwas geben lassen.“

„Danke, Mijnheer. Joris, du hast es gehört – aber lass mir ein paar Blätter und einen Stift da.“

Joris holte die Sachen aus der Tasche und gab sie Jan, machte einen Diener und murmelte einen Dank. Dann ging er mit Griet die Treppe hinunter.

Die Magd lächelte ihn an.

„Magst du auch einen Hering? Oder lieber eine Schokolade?“ Ihre Augen blitzten. Ein hübscher Junge, dachte sie.

„Schokolade? Ist das dieses Getränk aus der Neuen Welt? Ich habe gehört, dass man es am spanischen Hofe trinkt!“

Griet nickte stolz. „Am spanischen Hof und in unserem Hause, jawohl!“

„Oh ja, das würde ich sehr gern probieren!“

In der großen Küche waren eine Köchin und zwei Mägde mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt. Sie sahen nur kurz auf und nickten Joris zu, dann arbeiteten sie weiter.

Griet bot Joris einen Platz an dem großen Arbeitstisch an und stellte eine Steinguttasse vor ihn hin. Ein junger, schwarzweißer Kater hoffte, dass etwas Interessantes passieren würde und sprang auf den Tisch.