Die Andere - Alina Malinova - E-Book

Die Andere E-Book

Alina Malinova

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Beschreibung

Ich habe Honig gegessen; bin in leuchtende Wälder geflohen, um dem hier, jetzt, dem daheim zu entgehen; habe Luft geatmet, Wasser aus klaren Quellen getrunken, habe ... Honig aus Tschernobyl. Meine Heimat hat die Erde verschlungen. Meine Welt, meine Wurzeln. Wer hat mich verraten? Schweigen. Eine richtige Schwester hatte ich erst, als Shirin ihre Hand in die meine legte, und wir gemeinsam ins Abendrot gingen. Großmutters Enkelkind. Die Andere ... Bin ich deshalb so heimatlos geworden?

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Ein altes Buch mit vergilbten Blättern. Großmutter wollte nie, dass ich es lese. Obwohl ich sonst jedes Buch ansehen und durchlesen durfte. Ein verbotenes Buch. Erst jetzt beginne ich zu verstehen. Ein verschlossener Briefumschlag, den ich in ihm finde. Zwei alte Photographien. Nur eine lässt sich verifizieren, als ich sie Mutter zeige. Die andere? Mama schweigt. Erst nach mehrmaligem Drängen ringt sie sich durch, mir Antwort zu geben. "Damals bin ich evakuiert gewesen." Mehr nicht. Distanziert. Als wäre sie nie Teil dieser Familie gewesen. Ihrer. Und somit auch meiner. Ich weiß, in Zeiten des 'Großen Vaterländischen Krieges' sind viele Kinder jenseits des Urals sicher gewesen. Erwachsene auch. Wenn sie nicht bleiben mussten, wollten ... oder konnten. Der Riss. Mama und Großmutter sind sich später nie mehr nahe kommen. Auch nachdem sowjetische Truppen siegreich bis nach Berlin marschiert waren und bei ihrem Rückmarsch einen eisernen Vorhang um sich zogen. Frostjahre, Tauwetter, das sich mit neuem Frost, Offenheit, Umgestaltung und schließlich Chaos und Unheil vermengte. Tiefe Gräben, die sich quer über Generationen hinweg ziehen. Sie verbinden oder immer mehr trennen. Auch in unserer Familie. Schwarz oder weiß. Zwischentöne scheint es nicht mehr zu geben. Fehlende Brücken, all die Abgründe zu überwinden. Seltsam, ich bin unbewusst immer auf der falschen Seite gestanden. Alina - die Andere. Über den Namen meiner Schwester will ich nicht philosophieren. Später. Also Nomen ist Omen? Vielleicht ... Großmutter mauerte, wenn ich sie bat, über 'alte Zeiten' zu reden. Schweigen. Unbestimmt. Immer ein wenig Vorsicht bei allem Reden. Selbst mir gegenüber, die ich doch bei Babka immer so etwas wie eine Sonderstellung hatte. Ewige Fragen also, die doch unbeantwortet bleiben. Jahrelang. So oft ich auch fragte. "Das brauchst du nicht wissen, Kindchen ..." und wenn ich doch weiter drängte: "Es war Krieg - da galten andere Regeln ..." "Auch in dieser Sache?" Großmutter schweigt. "Vielleicht." Oder auch nicht. Nebelwände, wie ich sie nur aus den Tiefen meiner Pripjetsümpfe kenne. Ein milchiges Weiß nur an deiner Seite. Vor dir ... um dich. Und doch - vergleiche ich die Bilder, wie sie jetzt vor mir liegen, beginne ich zu verstehen. Zu verstehen, weshalb ich zwischen Mama und mir immer eine unsichtbare Mauer fühlte. Fühlen musste. Es hat nicht nur daran gelegen, dass Tacjana immer die bessere von uns beiden Schwestern zu sein schien. Vielleicht auch war. Ist. Auch darin will ich kein Urteil fällen. Zwischen Mama und mir ist immer ein viel zu reales Phantom gestanden. Jenes Mädchen, dessen Bild ich jetzt zwischen den Fingern halte. Anita. Ein anderes, zu gleiches Leben. Ein unausgesprochener Vorwurf auch. Was wäre gewesen, wenn es niemals eine 'Operation Barbarossa' gegeben hätte? Wenn Mama nie in die Fremde zu ihren Großeltern geschickt worden wäre. In jene andere Welt die ihre Mutter nie zu verstehen schien. Zu ertragen. Eine Gegenwelt. Tacjana-Welt, will ich es auf unsere Generation übertragen. Wenn Anita nicht 'in die Wälder gegangen' wäre, wie man damals sagte. Wenn ... Bruchstücke, die sich erst jetzt zu einem Mosaik zusammenfügen. Dreieckslinien, in die auch ich gerate, geraten bin. Geraten musste? Die Andere. Fragen, zu denen ich jetzt keine Antwort mehr finde. Wenn Großmutter mir mit jener nur ihr eigenen Sorgfalt die Haare zu einem schweren Zopf flocht - bin ich dann ihr Enkelkind gewesen ... oder? War es Anita, der sie immer mit Engelsgeduld die Geheimnisse ihrer Welt erklärte? Deren Aufgaben auch ich zu erfüllen hatte. Erfüllte. Auch wenn ich oft nur Sorge hatte, wieder einmal etwas falsch zu machen. Gemacht zu haben. Ist mein Trotz gegen Babka oft nicht Anitas in jenen Wochen nach Kriegsbeginn gewesen? Mein Leben? Oder kann ich auch dies so nicht vergleichen. Es war Krieg - da gelten andere Regeln. Auch dass vierzehnjährige Mädchen unter die Partisanen gehen, in die Fänge der Wehrmacht geraten? Eine Mutter auf der Schwelle ihrer Haustür den abgeschnittenen Zopf ihrer Tochter findet? Und alle wissen, was dies bedeutet. Ich will nicht weiter reden. Jetzt nicht. Später vielleicht.

Als es in meiner Familie nicht mehr ging, hat Großmutter mich mit einem Machtwort bei sich aufgenommen. Keine Widerrede. Gleichsam jenem anderen Mädchen knapp ein halbes Jahrhundert früher. Die Andere. Hinter unserem Rücken werden wohl viele im Dorf geredet haben. Damals. Nicht anders als in meinen Zeiten. Verbindet uns beide nicht auch ein weiteres geheimes Schicksal, das sich für mich immer mit Fischen in den Pripjet-Sümpfen verbindet? Tschernobyl desgleichen. Strahlenden Landen. Verboten. Verloren. Wer war Anita? Ein fröhliches Bauernkind, das die ersten Klassen der Mittelschule besuchte, natürlich auch zu Hause mitzuhelfen hatte, mithalf. Mit ihrem älteren Bruder eine allgeschwisterliche Hass-Liebe teilte. Wohl nicht nur auf dem Schulweg mit ihren Freundinnen quatschte, vielleicht schon von einer ersten Liebe träumte. Und die doch viel lieber bei Babka ihre Zeit verbrachte. Oftmals, dass sie ihre Mutter erst spät des Abends nach Hause brachte. 'Ungezogene Göre.' Nur gut, dass sie wusste, dass ihre Tochter nicht irgendwo Unsinn machte! Das Mädchen jedoch auch, die ihr Vater 'gebrauchte', wie mir einmal Babka erzählte. Damals als ich in ihren Armen weinte. Die Andere. Und wieder ist stilles Verstehen gewesen. Oder kann ich auch dies nicht vergleichen. "Es war Krieg - da gelten andere Regeln." Ist also Tschernobyl nur das Argument gewesen? Mama hat mich mit keinem Blick angesehen, als sie mich, die ungezogene, nicht zu erziehende Tochter der Obhut ihrer fremden Mutter anvertraute. Hodinas trostloses Morgengrauen als würdige Bühne. Wortloses Abschiednehmen. Mehr nicht. Oder war auch dies nur eine Reprise vergangener Zeiten? Was ist damals zwischen Mama und ihrer Mutter geschehen? Damals ... als sich nicht nur für Jahre die Türe zwischen ihnen schließen sollte. Eine neue, doch bekannte Familie, in die Babka ihre Kleine schickte. Niemand konnte wissen, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Deutsche Truppen, die schon die Grenzen überschritten. In rascher Folge vorzudringen schienen. Vielleicht hat Großmutter noch die Taschen ihrer vierjährigen Kleinen zum Bus getragen, ihr beim Einsteigen geholfen, Abschied genommen. Sicherlich. Und dann? Ich stelle mir vor: Langsam entfernte sich der Bus in die Ferne. Hier kann niemand schnell fahren. Endlos gerade Straßen. Schwere Wolken, die tief über dem Boden liegen, sich im Horizont mit dem Land vermengen, dem Wald ... Oder ist es ein wolkenloser Tag gewesen? Ist Babka noch lange am Straßenrand gestanden ... ein kühler Wind, der sicher auch damals wehte, oder musste sie schnell wieder nach Hause zurückkehren ... oder? Warum ist Anita bei Großmutter geblieben, nicht Mama, ihre Tochter? Weil Krieg herrschte und Anita Rache nehmen wollte, musste ... Mit gerade einmal vierzehn Jahren. Wofür?

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