Ainos Traum - Alina Malinova - E-Book

Ainos Traum E-Book

Alina Malinova

0,0

Beschreibung

Ich habe Aino verlassen. Weil sie nicht mit mir gehen konnte, und ich nicht bleiben wollte. Verraten. Natürlich sagte sie es nicht, als wir uns ein letztes Mal umarmten, heftig, voll Leidenschaft ... und sie dorthin ging, wohin sie gehörte. Tallinn. Ein Straßenmädchen auf der Flucht: vor Serkan, dem sie schon einmal entfliehen konnte, vor sich selbst, ihren Erinnerungen, ihrem Hass, die einen Traum in sich trägt: Ainos Traum. Oder ist es nur eine Illusion ohne festen Boden?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 100

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



zwischen-europa-erzählt

„Was denkst du zwischen zwei Atemzügen?“

„Nichts, an was sollte ich denken?“ „Dass es

bald vorbei ist, vielleicht?“ „Dann kommt

gleich der nächste.“ „Und wenn ich es nicht

mehr möchte?“ „Dann musst du dich

entscheiden ...“

Ich bin über das Johannisfeuer gesprungen. Obwohl ich panische Angst davor hatte. Auch dabei hat mir Aino geholfen. Vor wie vielen Männern bin ich in die Knie gegangen, wie oft an kalten Mauern gestanden, um dabei nicht den Halt zu verlieren? Ich weiß es nicht. Nur die wenigsten haben mich mitgenommen. Irgendwohin. Die Orte sind ohnehin immer die gleichen. Schon bald habe ich aufgehört, mir für jedes Mal ein Zeichen zu setzen - kurze, tiefe Messerschnitte in Armen und Beinen. Aino hat es mir verboten. Weil es unsinnig ist, sich darüber Rechenschaft abzulegen. Wie oft bin ich mit den Jungs unserer Clique im dicken Zigarettennebel zusammen gesessen (die Musik dröhnte aus den Radioboxen, Alkohol und anderes kreisten), unter wie vielen von ihnen habe ich auf jener alten Matratze gelegen? Auch das habe ich vergessen. Wie oft habe ich ... Nein, ich bin nie so stark wie Aino gewesen. Sie, dieses seltsam starke und doch so verletzliche Mädchen, die oft stundenlang mit Kieselsteinen um sich werfen konnte, wenn sich die Welt nicht nach ihren Wünschen drehte: links, rechts, in die Luft, ins Meer ... auf uns alle, die wir uns dann nur ducken und in Sicherheit bringen konnten. Steinchen um Steinchen: größere, kleine – fielen sie ins Meer, zogen sie wachsende Kreise: „Wenn wir alle Wassertröpfchen wären, ein Meer voller Tränen, und ein Mensch käme, einen Stein zu werfen, dann ...“ „Was dann?“ „Ach, nichts ...“ Wir lachten: über Aino, ihre manchmal seltsamen Gedanken, Vorstellungen, Bilder und Träume. ‚Die Philosophin’, wie alle sie nannten. Nicht nur, weil sie solche Weisheiten von sich gab, nein: Aino ging zur Schule! Ohne dass sie jemand dazu zwang oder überredete. Nein, weil sie selbst es so wollte! Mit allen Konsequenzen, die dies bedeutete: kein Vodka (obwohl er warm macht), kein Kleber (der doch auf andere Weise das Leben erleichtert), kein ... „Das macht dumm!“ Wir lachten. Nur Zigaretten in Schachteln, eine nach der anderen – beim Lesen, Lernen, Hausaufgaben machen. Im Schulklo manchmal auch und dies sogar zwischen den Stunden. Skandal. Fast wäre sie deshalb von der Schule geflogen. Doch nein: Ihre Noten sprachen für sie. Nur ein Verweis also, eine energische Rüge vor versammelter Klasse. Hätten sie jedoch gewusst, dass diese Musterschülerin nach dem Unterricht am Bahnhof stand (oder auch anderswo, wo man(n) sie erwartete) und ... arbeitete, dann ... dann hätten sie sie auf der Stelle hinausgeworfen. Aber wie konnten sie denn ahnen, dass wir alle auf der Straße lebten, in alten leer stehenden Häusern, Schuppen oder winters in Unterführungen bei den Fernwärmerohren und auf eben solche Weise unser Leben erkämpften. Nicht weil wir es unbedingt wollten, sondern ... nun ja, weil wir keine andere Wahl hatten; oder keine, die passte ... Aino hat mich auf der Straße aufgegabelt, als ich schon aufgegeben hatte. Ein grauer Oktoberabend, Regen, der sich im Wechsel mit Schnee vermischte. Schon der zweite Tag, den ich allein durch Tallinn irrte – ohne Geld, ohne Hoffnung. Ohne Perspektive. Ein eisiger Wind blies durch die Straßen, trieb mich vor sich her, wenn ich mit ihm ging, hielt mich fern, wenn ich mich gegen ihn stemmte. Wieder eine Nacht, die mir Draußen ohne feste Bleibe drohte. Irgendwo. Nirgendwo. Gestern war alles noch erträglich gewesen. (Wenn man in dieser Sache überhaupt von mehr oder weniger erträglich sprechen kann.) Trockener zumindest. Ohne Sturm und Regen. Der Reiz des Neuen und in meinem bisherigen Leben Unerhörten, der wie eine Droge wirkte und mich immer weitertrieb, ein kleiner Schutzengel hinter mir, der mich sicher durch die Nacht manövrierte. Feuertaufe bestanden, hatte ich gedacht, als es Morgen wurde, die Geschäfte in der Stadt öffneten, und ich mich müde und doch auch merkwürdig aufgedreht auf eine etwas ruhigere Bank in der Altstadt setzte, ein Croissant kaute, mir den Tag überlegte und in mich hineinlachte, als mir einfiel, dass ich daheim in der Schule gerade Mathematik hätte. Sogar flüchtige Kontakte, die ich in den folgenden Stunden auf der Straße oder anderswo knüpfte. Einfach so. Das Leben ist leicht, frei ... Dann kam der Regen, der Wind, das langsame, aber unerbittliche Bewusstsein, dass ich hier in Tallinn keinen Platz kannte, an dem ich die folgende Nacht verbringen könnte. Das Dämmerlicht gnadenlos fortschreitender Stunden, halbwegs sichere Zufluchtsorte, die einer nach dem anderen schließen. Dich ausschließen. Angst bleibt, die nicht nur aus nächtlicher Dunkelheit geboren. Misstrauen. Szenen, die eigentlich zum Lachen, dich jetzt in Panik versetzen. „Halt an, Mädchen ...“ Die Schrittfolge erhöhen, ja in Trab übergehen. Er folgt deinem Eilen, holt dich ein, bleibt vor dir stehen, eine Tafel Nuss-Schokolade in der Hand ... drängt sie dir auf, als du sie nicht annehmen möchtest ... ein paar Schritte nebeneinander gehen ... bis zur nächsten Kreuzung ... wortlos sieht er dich an ... den Blick nicht erwidern ... dann trennen sich die Wege. „Gute Nacht, Mädchen.“ „Gute Nacht“, nur reflektorisch erwidern. Sonst nichts. Ich will nicht verstehen ... sträube mich dagegen ... (Bin ich schon so weit gekommen? An meinem zweiten Tag?) ... warten, bis ich ihn endgültig in der Weite verschwinden sehe ... eine Schokoladentafel in der Hand ... sie hin und her wenden ... überlegen ... sie heldenhaft auf den Bordstein legen ... sich in die Gegenrichtung wenden ... Wie spät ist es schon geworden? ... Weiter, so schwer es auch fällt; irgendwie versuchen, wieder etwas Zeit bis zum nächsten Morgen festzuhalten, ins Trockene zu kommen, dort zu bleiben, ins Warme … diese blöde Schokolade will mir nicht aus dem Sinn gehen ('Nuss magst du doch eh nicht, Julija!!!' Aber … seit, dem Croissant heute Morgen habe ich nichts mehr gegessen!). Einen Becher Kaffee so langsam es nur geht trinken ... winzige Schlückchen, den nächsten gar nur vortäuschen ... Fake-Schlücke ... einen Nachschlag kann ich mir nicht leisten. (Und sich von einer der verlorenen Gestalten um mich herum einladen zu lassen - dazu bin ich damals noch nicht soweit gewesen.) Nicht eindösen ... den Kopf immer schön aufrecht halten, als würde ich wirklich mein Buch lesen. Nicht vergessen, in plausiblen Abständen, die Seite umzublättern, den Becher an die Lippen zu führen ... es doch nicht durchhalten ... plötzlich die Hand des Securitymannes auf der Schulter spüren: „Geh heim, Kleines, hier ist kein Ort zum Schlafen! Soll ich dir ein Taxi rufen?“ „Danke, nicht nötig, mein Boy kommt gleich ... sein Auto wird wohl wieder nicht angesprungen sein, ist ein alter Karren ...“ „Verstehe ...“ Ein Lächeln zusammenbringen, Verständnis suchend, bittend. (Man hätte es auch anders auffassen können!) Trotzdem darf ich nicht bleiben. Also aufstehen, den Kaffeebecher austrinken und an den dafür vorgesehenen Platz stellen, wieder in das dunkle, windige Herbstnass hinaus treten. Wohin sich noch wenden? Nirgendwohin. Quer über die Straße gehen ... anhalten ... in der Tasche kramen, als wollte ich etwas suchen ... nichts ... nur Verzweiflung, Angst und Panik. Späte Gestalten, die an dir vorüber eilen ... dich nicht beachten oder Blicke auf dich werfen, die niemand gleichgültig nennen könnte ... deinen Blick auf den Boden richten ... jegliche Art von Blickkontakt vermeiden ... mit möglichst selbstsicher wirkendem Schritt an den Grüppchen vorübergehen, die vielleicht sogar über dich reden. Erst jetzt begriff ich, warum die meisten Mädchen in vergleichbarer Lage nicht alleine sein wollten, in Gruppen oder zumindest in Begleitung gingen, manchmal trennten sie ein paar Meter voneinander, wenn sie Passanten ansprachen; beständiger Blickkontakt, den sie dann unauffällig tauschten, manche von ihnen trugen gar ein Handy mit sich, das sie schnell aus ihren Taschen oder zuweilen sogar BHs zogen, wenn sie angerufen wurden. Gemeinsam bist du stark oder stärker als die anderen. Lektion eins meines neuen Lebens. Sicherer. Wie lange kannst du allein überleben? In einer fremden Großstadt, ohne Freunde oder Bekannte, von denen du nicht sofort zurückgeschickt werden würdest; ohne den Mut aufzubringen, irgendjemanden anzusprechen, geschweige denn um Hilfe zu bitten. Stillstand. Nicht mehr weiter wissen ... auf ein Wunder warten ... und doch schon lange nicht mehr an ein solches glauben ... resignieren ... innerlich sich schon aufgegeben haben ... Tallinn – Endstation, bitte alles aussteigen. Reglos an einer mir namenlosen Straßenecke stehen (sich die Straßennamen zu merken, hatte ich schon längst aufgegeben), das Geschehen oder Nichtgeschehen um sich beobachten, ohne es wirklich wahrzunehmen; sich hinkauern, wenn nicht nur die Beine zu schwer werden, einen Moment in der Hocke verharren, einen zweiten, dritten, wieder aufstehen, ein paar Schritte weitergehen, sogleich jedoch erneut anhalten, sich unschlüssig umdrehen. (Zurückgehen? Nein! Oder doch? Also, was jetzt!?)Sich bis zur nächsten Kreuzung schleppen, sich an ein schon krummes Verkehrsschild lehnen, die Kälte der Reglosigkeit in sich aufsteigen fühlen. Die Leere. Wäre es nicht am Besten, einfach ewig stehen zu bleiben?

Wie lange ich schon im Halbdunkeln jener Straßenecke stand, weiß ich nicht mehr. Wie lange mich Aino beobachtet hatte, auch das kann ich nicht sagen. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Vielleicht kam sie aber auch gerade erst um die Ecke, irgendwelche Vokabeln vor sich hersagend, wie sie es immer tat, oder Formeln und andere Sachen ... „So geht das nicht!“ Erschrocken blickte ich auf und sah in das Gesicht eines fremden Mädchens: kein Kindergesicht mehr, doch auch noch nicht erwachsen; irgendwo dazwischen; spindeldürr, lange blonde Haare, die zu einem dicken Zopf verflochten waren, ein Augenpaar, das mich unverhohlen von oben bis unten musterte und schließlich auf meinem Gesicht verharrte: „Du bist nicht von hier.“ Ich nickte: „Aus Narva.“ „Das meine ich nicht. Alleine?“ Ich nickte von neuem, auch wenn ich Angst hatte und diesem Verhör am liebsten entkommen wäre. „Ich verstehe.“ Ihre Schuhe zeichneten Kreise. „Willst du mitkommen?“ „Wohin?“ „Zu mir.“ Ich zögerte. Sicher waren es Ewigkeiten. „Also, bis morgen will ich hier nicht warten!“ „Mhm ...“ Und als wir schon mehrere Minuten schweigend durch die Stadt gegangen waren, wie beiläufig: „Ich bin Aino. Und du?“ „Julija.“ Mehr nicht. Wortlos gingen wir weiter.

*

Tallinn ist groß. Viel größer als ich bis dahin gedacht und von Besuchen gekannt hatte: ein einziges Wirrwarr aus Straßen und Gassen, das mich nicht nur in den ersten Tagen meiner neuen ‚Freiheit’ verwirrte. Links, rechts, hinein, hinaus aus der späten Menge; Kreuzungen, Ampeln, Unterführungen, nicht nach rechts blicken, nach links nicht, mitten durch die Stadt, einem Fisch gleich (wie Aino später einmal sagte). Wieselflink. Ich konnte ihr nur mit Mühen folgen. Minuten, eine halbe Stunde, ich weiß es nicht, alles drehte sich in meinem Kopf in schnellen Kreisen. Tallinn, hinein, hinaus, schließlich brachte sie mich in einem leer stehenden Haus unter, musterte mich von neuem und kramte aus einer nagelaufgehängten Tasche irgendwelche trockene Kleidungsstücke hervor: „Da, zieh' das an, sonst wirst du mir nur krank noch, so durchnässt wie du bist.“ Und als ich zögerte: „Du bist mir eine ... ich geh’ schon.“ Draußen zündete sie sich eine Zigarette an, der Rauch schlängelte sich durch die fehlende Türe. Was tun? Weglaufen? Bleiben? Bei diesem seltsamen Mädchen? (Was wollte sie von mir? Mich?) Aber was wäre die Alternative? Augenblicke. Zweifel. Schwanken. So schnell ich konnte, zog ich mich um. Das fremde Mädchen lachte: „Darf ich jetzt kommen.“ „Mhm.“ In der folgenden Nacht überließ sie mir ihre Decke und rollte sich katzengleich in einer Ecke zusammen. Ahnte sie doch, dass ich fortgelaufen wäre, hätte sie von mir verlangt, dass ich ihre Decke teilte. Eine Nacht, in der ich vor Angst kein Auge zudrückte, mich stundenlang von einer Seite auf die andere wälzte und nur darauf wartete, dass etwas geschähe. Aber es geschah nichts. Stunden. Oder doch nur Minuten? Schließlich muss ich doch eingeschlafen sein. Denn als ich am nächsten