Drachenhaut - Alina Malinova - E-Book

Drachenhaut E-Book

Alina Malinova

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Beschreibung

Marina ist verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Keiner kann sagen, wohin. Keiner kann sie finden. Wen immer wir in Tallinn auch fragen. In der Stadt, am Bahnhof, im Hafen. In Kopli gar. Überall. Das Schweigen der Straße. Wo ist Marina? Als hätte das Meer sie verschlungen ...

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Inhaltsverzeichnis

DAS MÄDCHEN IM HAFEN

TAMARKA

JULIJA2

TAMARA PTIČKA

EDEN BRENNT

TAMARKA

ZWEIHUNDERT

TAMARKA

TALLINN - HELSINKI

MARINA

MIKA

TA-MARA

DAS MÄDCHEN IM HAFEN

Sie hätte nur laut pfeifen müssen, ein gellender Pfiff, mehr nicht, und alles wäre gut gewesen. Aber sie hatte das Zeichen nicht gegeben; hatte diesen ihr eigentlich völlig unbekannten Mann fest an die Hand genommen („Komm, wir müssen schnell durch hier. Kopli, das ist gefährlich.” „Warum? Ist doch ganz ruhig hier.”) und mit sich gezogen. Warum nur? Weil er sie in Rocca al Mare ganz sanft umarmt und ihr Gesicht mit zarten Küssen benetzt hatte? Weil er mit ihr Eis gegessen und sie später ein Mal, gleich noch einmal durch die Luft gewirbelt hatte? („Du bist so leicht wie eine Feder, Marina!”) Weil seine Augen so tief waren wie das Meer, seine Stimme so weich und seine ganze Art so zuvorkommend, so ehrlich, so schön? Weil Amors Pfeil sie irgendwo bei der Dicken Margarete gestriffen und sie spätestens auf dem Domberg zu träumen begonnen hatte, es könnte für immer sein? Weil ...

Tallinn - wie groß ist diese Stadt, wie alt, wie reich an Dingen zu sehen. Erleben. Sehenswürdigkeiten, die alle Touristenführer beschreiben. Alltägliches, Ausgefallenes. Wie überall im Leben. Der Hafen – ein Tor zum Westen, Süden und Norden. Boote, kleine und große, die bald rasch, bald bedächtig ihrem Ziel zustreben. Ein Mädchen saß auf der Kaimauer, scheinbar gelangweilt, die Hände spielten mit Kieseln, ihre Augen, sie suchten. Und wenn einer der Skipper von seinem Boot in ihre Richtung blickte, ihr ein Zeichen gab oder gar zurief: ein prüfender Blick auf das Boot, den Mann, ein Nicken, je nachdem, ein Kopfschütteln. Minuten, bis sie sich schließlich auf halbem Weg trafen: „Ich heiße Marina. Und du?” Ein Name.

„Soll ich dir Tallinn zeigen?” Wie kannte sie die sie dann musternden Blicke. Männerblicke halt. Was da noch Weiteres sagen? Tallinn also, ein gemeinsamer Tag; und wenn es Nachmittag war (und bis zum Abend noch so viele Stunden): „Rocca al Mare – kennst du das?” „Was ist das?” „Ein Freilichtmuseum, das muss man auch sehen.”Meist war der Blick ihres Begleiters dann eher gelangweilt gewesen. Ein Augenaufschlag sodann, das richtige Körperspiel: „Bitte ... und ich freu' mich schon so auf heut' Abend.” Rocca al Mare also, das Meer und abends auf dem Rückweg: Kopli ... Das Leben macht hart. Einen Tag lang hatte sie sich verkauft, hatte sich vieles gefallen lassen, wofür sich die meisten vor ‚ihren' Frauen wohl schämten. Ein Job, kalt wirst du dabei, ein Spiel mit Reizen, Gefühlen, Hormonen ... Ein Pfiff nur, durchdringend und laut, wie ihn nur Mara in die Luft werfen konnte ... den Rest hätten die Jungen erledigt; ein Job nur, genau wie der ihre. Und wenig später hätte sich Marina unter ihrer grauen Decke eng an Tamara gekuschelt – nicht dass man jetzt denkt, nur so ist es wärmer. „Ein Kerl, wie immer ...”, ein Gedanke zu herbstdunkler Stunde, mehr nicht. Ihre feste Haut aus Drachenschorf schützte sie immer: vor Wunden, Bildern, vor Sehnsucht und Träumen ... Und am nächsten Morgen hätte sie dieses vielleicht gerade einmal zwölfjährige Mädchen neben sich ganz zärtlich zur Seite gerollt, ihr noch einmal über die ständig zerzausten Haare gestrichen („Ich müsste ihr einmal eine Bürste besorgen!”): „Schlaf noch ein wenig. Der Tag ist lang, so lang und draußen heult Wind und Regen!”, wäre selbst aus der Decke gekrochen und zum Hafen gegangen. Wie immer, wie gestern, wie morgen. Irgendwann würde sie Tamara mitnehmen – zu zweit ist es besser. Aber das hatte Zeit. Warum ihr das antun, wenn sie es jetzt noch nicht musste?! ... Tamara also – eines Tages war sie vor ihr gestanden, frierend, nicht wissend wohin und wie weiter. (So wie es auch ihr ergangen war vor eineinhalb Jahren.) „Mama ...” „Was ist mit Mama?” Eigentlich hatte sie anderes zu tun, als sich um fremde Kinder zu kümmern ... „Was ist mit ihr, sag schon ...” Tamara hatte geschwiegen, auf ihre zerschlissenen Schuhe geblickt, war ihrem Blick ausgewichen, und Marina hatte verstanden. „Schon recht, musst es nicht sagen. Sag's einfach 'mal später.” Seitdem hatte sie so etwas wie eine kleine Schwester, die ihr überallhin folgte. Zu zweit ist es besser, auch hier, zumal in der Gruppe ... Frühling, Sommer, Herbst. Irgendwann waren die Jungs auf die Idee mit dem Hafen gekommen, eine gute Idee, besser als alles andere. Nur kalt musst du werden, eine Drachenhaut muss wachsen, ohne Risse und Wunden. Nicht nur dabei, nein im ganzen Leben. „Was machst du immer, wenn du in die Stadt gehst, Mara?” „Ich warte, dann gehe ich mit Touristen spazieren und zeige ihnen die Stadt ... und am Abend komme ich zu dir zurück und erzähle, was ich gesehen habe.” Tallinn, der Hafen, die Stadt, ihr Job – die eine Seite. Die andere verschwieg sie dem Mädchen. „Ich will auch mit.” „Nein, Tamara.” „Warum?” Was sollte sie ihr antworten? „Du musst doch auf unsere Decke aufpassen. Sonst wird sie gestohlen!” „Aber ...” „Nicht aber!” „Ich könnte sie mitnehmen!” „Nein, was hast du nur für lustige Gedanken! Du bleibst hier und basta.” Mit was für großen runden Augen hatte Tamara sie angesehen, dann traurig genickt: „Ja, Mama.” „Ich bin nicht deine Mama, das weißt du doch!” Fast tat es ihr leid, dass sie die Kleine nicht mitnahm. Aber es ging nicht. Auch wenn es schön wäre...

Tallinn. Ein Tag ... ein Abend. Und dann? Wenn er Glück hatte, verlor er nur Geld, anderes ... wenn nicht ... nun ja, halt das Leben. Marina war es schon nicht mehr wichtig: Drachenhaut, Schuppen und Flechten; ein Mädchen gefangen unter ihrem Panzer. Doch manchmal, nein, eigentlich immer, brauchte sie trotz alledem das tröstende Wissen, Tamara warte schon den Tag über auf sie, um aufgeregt auf sie zu zustürmen, wenn sie sie schon von weitem kommen sah. „Lass mich erst ausschnaufen.” Schnell die Schuhe ausziehen, die Klamotten, die sie so sehr schonte – sie wären ohnehin viel zu kalt für den Herbst hier draußen – sich alles von soeben abwaschen. „So, jetzt bin ich Marina!” „Was bist du sonst?” „Mhm, eine Dame!” Tamara lachte, Marina auch. Und beide breiteten all die kleinen Schätze, die Mara beschafft hatte, auf ihrer Decke aus. Ein kleines Festmahl im Halblicht einer durch Fensterhöhlen kriechenden Laterne. Früher schaute oft auch Grischa vorbei, der immer zwischen Himmel und Erde schwebte, manchmal so lustig war, dass sogar Mara laut lachte, andermals aber bis in die Unterwelt weinte. Wellen – auch bei ihr, ja, bei allen hier draußen. Sehnsucht ist eine rote Pflanze; sie leuchtet im Dunkeln ... Erinnerungen ... bunte Blätter ... meist schob Marina sie lustlos zur Seite; doch manchmal hob sie handvollweise diese bunte Pracht auf, um sie in die Luft zu werfen, übermütig, fröhlich; wie ein Kind, das sie doch eigentlich war mit ihren wenigen Jahren. „Früher habe ich mir oft aus Blättern eine Burg gebaut, Tamarka, eine richtige Burg. Stell' dir vor: Du bist in einer luftig leichten Kammer ... und bunt sind die Wände!” Doch dann war immer ihr Bruder gekommen und hatte mit den Füßen so lange ins Laub getreten, bis Marina wütend herauskam und ihn verjagte ... Manchmal auch mehr. Natürlich gab es dann Ärger. Aber Marina hatte nicht geweint, nicht geschrien, sich geschützt, wie sie irgendwie konnte. „Damals lernte ich, dass stark sein nichts mit Kraft zu tun hat, sondern mit Zähigkeit und innerer Stärke. Gegen alles kannst du dich schützen. Nur nicht gegen Kälte.” Ein Igel mit aufgestellten Stacheln. Dann war sie einfach immer öfter von zu Hause weggelaufen, nur um stundenlang durch die Stadt zu irren; Menschen, Hunde, Katzen, Autos, Straßenbahnen ... schließlich zurück, Mama hatte weggeschaut, ganz so wie immer. Träume sind unsichtbar. In der Schule hatte Marina sie sichtbar gemacht. Weil die Wahrheit nicht passte. Oder wer wollte schon wissen, wie es bei ihr daheim aussah? Eine Welt – eng, weit. Flucht – Rückkehr, Reue; dann alles von neuem. Eines Abends ... was muss ich auch das noch erzählen ... alles schien in ihr zu zerbrechen ... alles ... ihr Leben. Und als sie wieder allein war, hatte sie ihre Stoffkatze in den Arm genommen, etwas Geld aus Mutters Schatulle und war gegangen. Hinaus in die Welt, hinaus aus einem zumindest nach Außen hin geordneten Leben. Tallinn ist groß, riesig kennst du nur das Leben einer Kleinstadt. Und als das Geld aufgebraucht war, blieb nur noch Kampf, Überleben. Der Park ... die Nacht. Angst kann dir den Schlaf rauben, dich aushöhlen ... viel mehr als Frost oder Schmerzen. Begegnungen, Schatten, Wirklichkeit. Sie, ein wildes Tier, aufgeschreckt, um sich schlagend und beißend. Tage, vielleicht eine Woche. Dann hatte Grischa sie angesprochen: „Hast du eine ...” „Was?” „Ne Kippe halt!” Marina hatte den Kopf geschüttelt, nur weg hier; nur weg von diesem kahlgeschorenen Jungen, dem zwei Schlagringe um die Handgelenke schlenkerten, mit Augen, deren Flackern sie nur noch mehr verschreckten. „Keine Panik, bist wohl neu hier.” Seine Augen, für einen Augenblick hatten sie einen fast liebevollen Zug angenommen: „Ich bin Grischa, und du?” „Mara.” Ein Lächeln. „Allein hier?” „Mhm ...” „Das geht nicht ...” Grischa, Julija sodann. In manchen Situationen ist es eben doch besser, ein Mädchen einzuschalten. Mit ihr war sie nach Kopli gekommen, hierher, dort, mit Grischa. Und wieder hatte ihr Leben eine neue Wendung genommen. Grischa, Kopli, Julija, Bogdan, die anderen Jungen und Mädchen der Clique ... Wenn sie gelangweilt zusammen saßen, Klebstoff, Zigaretten oder Vodka kreisten, hatte sie anfangs abgelehnt, später aber doch mitgemacht: Vodka wärmt, auch wenn du dich vor ihm ekelst, nicht nur den Körper; eine Nebelwand ... Marina – irgendwie musste sie leben. Heimatlosigkeit ist ein Baum mit tausend Ästen, sie schreien nach Boden. Und wenn Marina die Sehnsucht nach Wärme oder Geborgenheit wie Tsunamiwellen überkam, nach einem Leben wie sie es noch ganz entfernt kannte, hatte sie sich unter Grischas Decke nach links und rechts gewälzt, schlaflos im Halbschlaf, hatte leise geschrien, geweint ... „Wach auf Marusja, aufwachen!” Wie oft hatte Grischa sie dann aufgerüttelt, einen Augenblick an sich gedrückt, nur um dann wieder selbst in Dämmerschlaf zu versinken, Marina allein lassend in ihrer Einsamkeit und Trauer. Grischa war hart wie Stein. „Auch du musst es werden, sonst hast du hier keine Chance!” Eines Abends hatte er Marina in die Stadt mitgenommen. Eine Nacht – es war nicht die letzte dieser Art. Das Leben macht hart. Ein Steinsims am Bahnhof, warten .... bis ... Wenigstens hatte sie einen Freund, der sie schützte. Grischa. „Bist du eifersüchtig?” „Ich? Nein ...” Wie schön war es, dass seine Augen ganz anderes erzählten. „Es tut gut, dass ...” „Was?” „Dass du es doch bist ...” Grischa, Marina. Am nächsten Tag hatte er den