Die andere Heimat - Gert Heidenreich - E-Book + Hörbuch

Die andere Heimat Hörbuch

Gert Heidenreich

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Beschreibung

Eine Erzählung von Freiheitssehnsucht und Verzweiflung der Menschen im Hunsrück um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Vor allem aber von ihrer Hoffnung, ihrer Heimatliebe und ihrem Mut. Sie widerstanden einem Winter mitten im Sommer, erlebten jahrelange Hungersnöte, eine Epidemie nahm ihnen die Kinder. Dennoch hielten sie an ihren Träumen von einem besseren Leben fest und glaubten an ihre Zukunft. Gerd Heidenreich erarbeitete zusammen mit dem Regisseur Edgar Reitz das Drehbuch zu dessen Film 'Die andere Heimat'.

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Zeit:3 Std. 32 min

Sprecher:Gert Heidenreich
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Gert Heidenreich

Die andere Heimat

Erzählung

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Die andere HeimatNachwort von Edgar Reitz
[home]

Etwas in ihr schrie.

Margarethe Simon schwankte auf dem Stuhl zwischen ihren Söhnen, die sie zum Feldrain trugen, ihr Körper neigte sich mit den Schritten von Gustav und Jakob nach links und rechts, und während Margarethe lächelte, schrie etwas in ihr.

Es war nicht ihre Krankheit, nicht die Atemnot, es war die Not des Abschieds, die in ihr schrie, es war die Gewissheit, dass von morgen an einer der beiden, Gustav, der Ältere, nicht mehr hier sein würde, um sie mit Jakob zum Rand des Leinfeldes zu tragen, dessen Blau sich bis zum Horizont dehnte und dort zu verdunsten schien.

Zwanzig Stunden. Mehr waren es nicht mehr. Und diese Stunden waren, das spürten alle, die hier lebten, voller Abschied.

Margret war neunundvierzig Jahre alt, ihr Haar war grau. Sie hatte sich lange gefürchtet vor diesem Sonntag im Juni 1843, dem Achtzehnten des Monats, der ihre Familie teilen würde und vielleicht bald das ganze Dorf. Es gab nichts anderes mehr als die Teilung ihrer Welt in jene, die gingen, und jene, die blieben. In jene, die weniger Angst vor den Gefahren der unfassbar weiten Reise über das Weltmeer als vor dem Hunger zu Hause hatten; und die anderen, die wussten, dass sie mit einer leeren Stelle im Herzen zurückbleiben würden, doppelt hungrig von nun an.

Gustav hatte versprochen, wiederzukommen, wenn er, wie es allenthalben hieß, sein Glück gemacht hätte. Margret Simon konnte sich nicht beruhigen mit diesem Trost. Sie wusste, dass es ein Abschied für immer war. Trennung bis in den Tod. Niemand konnte diesen Abschied verhindern, sie nicht, der preußische König nicht und nicht einmal Gott, der ihr von fünf Söhnen die beiden gelassen hatte, um ihr jetzt einen zu nehmen.

 

Noch einmal trugen Gustav und Jakob ihre Mutter gemeinsam auf einem Stuhl über den Feldweg aus dem Dorf hinaus und auf das blühende Flachsfeld zu. Der Stuhl schaukelte sanft zwischen ihnen, und Margret lächelte. Sie fühlte sich leicht zwischen ihren kräftigen Söhnen, die sie aus dem Dorf hinausbrachten, dorthin, wo über den Halmen das Leinblau bis zum Horizont dalag wie ein zweiter Himmel unter dem ersten.

Der Arzt hatte darauf bestanden, dass sie in die Natur gebracht wurde, so oft dies nur ging. Als er das letzte Mal ihre Lungen abgehört hatte, konnte sie ihm seine Besorgnis ansehen.

»Margretche, deine Lunge rumpeln und rassele wie ein alter Bollerwagen. Dau musst naus an die Sonne und die gute Luft atme! Sonst bringt die Lungesucht dich um. Kee Arzt is so gut wie die freie Natur! Vom gute Esse, das de brauche tätst, will eich gar net rede.«

Sie hatte genickt und wie üblich geantwortet: »Wie soll denn des geh?«

Dann aber hatte sie eingestanden, dass es ihr längst schwerfiel, ihrer Hausarbeit nachzukommen. »Eich han ja kei Luft zum weite Laufe, eich tu mich auf die Bank setze vorm Haus.«

Doktor Zwirner hatte ihr das ausgeredet, die Misthaufen und Güllegruben vor den Schabbacher Häusern, der Rauch von der Schmiede direkt gegenüber: Das war nicht die Luft, die Margarethe Simon brauchte. Er hatte aus dem Fenster der Stube auf die Schmiede gegenüber geblickt, wo Johann Simon den Gaul von Zwirners Kalesche neu beschlug, und gesagt:

»Wenn dau net laufe kannst, musst dau getragen werden. Wozu hast dau den Hannes und eure starke Bube! Wannste tot bist, kannste aach kee Hausarweit mache.«

 

Morgen würde nur noch Jakob hier sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie der sie allein tragen sollte. Jakob war der Jüngere, ein schmaler, hochgeschossener Träumer, er hatte nicht Gustavs Kräfte. Gustav war morgen nicht mehr hier. Gustav war auf dem Weg nach – – –

Hier wollte sie nicht weiter denken. So viel Furcht vor der Zukunft war noch nie in ihr gewesen. Nicht in all den Jahren, in denen sie oft nicht gewusst hatte, was sie abends auf den Tisch stellen sollte.

Zum letzten Mal das Getragenwerden genießen. Noch einmal leicht sein. Schweben. Weil morgen alles schwer werden würde.

Margarethe Simon blickte voraus auf den blühenden Flachs und nahm stumm Abschied von Gustav, der links von ihr ging und mit der einen Hand die Sitzfläche, mit der anderen die Lehne hielt, in seinen Gedanken aber schon übers Meer fuhr, unausdenklich weit, in ein Land mit seltsamem Klang, wo er die andere, die glückliche Heimat finden würde. Doch seine Mutter, die niemals hinausgekommen war aus den Hügelschwüngen des Hunsrück, sah unheimliche Wälder und Abgründe, schwarze Menschen und reißende Bestien und verschlingende Gewässer, wenn sie an jenes Land dachte, das Gustav gewählt hatte, Brasilien, das Unvorstellbare und Bedrohliche, das ihr den Sohn nahm, den Ältesten, der noch vor einem Jahr versprochen hatte, in der Schmiede dem Vater die schwersten Arbeiten abzunehmen, weil Johanns Schlägen aufs Eisen die Wucht abhandenkam.

Sie sah rechts neben sich zu Jakob auf.

Er war es gewesen, mit seinem Schlaraffenland im Kopf, der seit Jahren vom guten Leben, vom Glück in der Ferne gesprochen hatte, von Brasilien und den grenzenlosen Möglichkeiten, die angeblich alle gefunden hatten, die schon ausgewandert waren. Die andere Heimat, die für jeden offen stand, der sich entschloss, die Hunsrücker Not zu verlassen. Schon als Junge schnappte er alles über Südamerika auf, befasste sich mit Geschichten über Indianer, redete in einem fort darüber und musste sich verspotten lassen für seine Schwärmerei.

Ausgerechnet der Pfarrer Hans Binz aus Simmern und der Lehrer Otto Bodtländer hatten ihm Bücher von Forschungsreisenden zu lesen gegeben. Sie hätten ihn besser ermahnen sollen, einer zu werden wie Gustav, der zupacken konnte und wusste, was das Leben von ihm forderte.

Jakob begann, sich in die Abenteuer und Bilder, die fremden Klänge und endlosen Urwälder hineinzuträumen, bis er mehr in ihnen zu leben schien als in Schabbach. Es war nicht seine freie Entscheidung, sich vor dem Hunger in seine Phantasie zu flüchten, um dort satt zu werden. Sondern die Welt, die aus den Büchern aufstieg, lockte ihn, sich in ihr zu verlaufen, und er konnte ihr nicht widerstehen.

 

»Niemeh Hunger.«

Er hatte das vor der leeren Kartoffelschüssel und der leeren Quarkschüssel beim Abendessen nur so vor sich hin gesagt, und Gustav, der auch noch Platz im Magen hatte, war sofort wütend geworden: »Spinnste wieder rum.«

Jakob ließ sich nicht einschüchtern. »In Brasilie geht keiner hungrig ins Bett! Da gibt’s Kässchmier und Grumbiere[1] genug!«

»Was weescht dau schon von Brasilien!«, setzte Gustav drauf, und schon waren sie wieder im Streit über das Paradies hinter dem Meer.

»Vom Kaiser kriecht jeds genuch Land!«

»Vom Kaiser …«

»Un Vieh!«

»Der Kaiser von Brasilien!« Gustav hatte gelacht. »Der kennt daich doch gar net, dau Depp!«

Die Mutter hatte versucht, Jakob zu beruhigen: »Vom Hoffe alleensich werd käner satt, Jakobche.«

Und bevor der etwas erwidern konnte, hatte der Vater das Gespräch beendet: »Des kemmt bloß von de Bicher. Darr is jo all domm Zeug! Un Lese macht net satt.«

 

Margarethe hatte Jakobs Kinnmuskeln pumpen sehen. Wenn er zornig war, stiegen Tränen in seine Augen. Damals war er fünfzehn. Die Sehnsucht wuchs mit ihm. Er war ein neugieriger Schüler, ein hartnäckiger Tagträumer und nicht für das Eisenhandwerk geschaffen. Vielleicht war er deshalb ihr Liebling. Sie hatte nie Lesen gelernt, aber wenn sie Jakob in ein Buch vertieft sah, spürte sie das Geheimnis, das ihn mit den Erzählungen verband. Sie hätte es gern mit ihm geteilt.

Und nun blieb er hier, und sein Bruder, der ihn so oft als Spinner verlacht hatte, nahm ihm seinen Traum weg und ging damit fort. Gustav verließ Schabbach. Die Familie. Mit ihm ging die Sicherheit dahin.

Jakob würde die Schmiede übernehmen müssen, ob er wollte oder nicht. Aber ein richtiger Schmied, dachte sie, wird der nie und nimmer.

Seltsam, wie sich alles gedreht hatte im letzten Jahr.

Sie schloss die Augen und fing an, dem leichten Schwanken zwischen ihren Söhnen nachzugeben, ließ ihren Kopf taumeln, ein Schwindel erfasste sie, ihr fiel jene Kirmesnacht ein, als sie jung war und Wein getrunken hatte und auf dem Tanzboden in Kirschweiler sich unter den Burschen den einen ausgesucht hatte, der am größten war, am stärksten und am meisten Branntwein in sich hatte.

Damals war es auch Juni gewesen, fast sommerlich warm, sie wusste den Tag nicht mehr, nur, dass sie sich in dieser hitzigen Nacht nach dem vierten Tanz mit dem Johann Simon aus der Schabbacher Schmiede, den sie alle Schmiedhannes nannten, von ihm festhalten lassen musste, sonst hätte sie sich ewig weitergedreht. Als er sie packte und ihren Körper spürte, wurde ihm selbst schwindlig, sie blieben stehen, schwankten leicht, hielten sich einer am anderen. Sahen einander an. Einen Augenblick zu lang. Die Kapelle spielte einen neuen Tanz, und sie waren vom Tanzboden die Treppenbretter hinuntergestiegen. Geflüchtet. Ins Dunkel gelaufen. Gesagt hatten sie beide nichts, aber viele stumme, gehetzte Schritte später, weit hinter dem Kirmesplatz am Kirschweiler Waldgrund, wo die Musik schon kaum mehr zu hören war und das meiste Licht vom Mond kam, hatte sie sich ins Moos gelegt, Johanns nasses Gesicht an sich gezogen und sich nehmen lassen, nein, sie hatte ihn genommen, selbst ihre Röcke hochgeschoben, hatte mit fiebernden Händen den schwitzenden Mann ermutigen müssen, und als die Natur seine Scheu besiegt hatte, war ihr der eigene Atem nicht mehr genug, und ihr schien es, als ob von jetzt an der Hannes für sie mit atmen müsste.

Damals hatte sie ihren ersten Sohn empfangen, Franz, und der wollte, wie später auch Lena, ihr viertes Kind, und wie der Jakob, ihr Jüngster, und jetzt Gustav, immer nur weg aus dem Hunsrück und fort über die Hügel und hinaus in die Welt.

Was war das nur mit den Simons, dass sie so flüchtig waren?

Franz war als Hufschmied zur Fremdenlegion unter die Franzosen gegangen, die hatten ihn nach Spanien geschickt in den ersten Carlistenkrieg, und dort war er geblieben, vielleicht hatte er da ein Grab, vielleicht nicht. Irgendwann hatte sie aufgehört, auf ihn zu warten, auf ihr erstes Kind, von allen dem Vater am ähnlichsten.

Auf der Kirschweiler Kerb war aus Margarethe Veeck Schmieds Margret geworden. Margret Simon. Johann hatte sie genommen, weil sie schwanger war. Ob er sie liebte? Er sorgte für sie, sie sorgte für ihn. Wenn sie ihn in der Schmiede von der Tür aus beobachtete, wie er hoch ausholte und aufs glühende Eisen hämmerte, bewunderte sie ihn. Sie liebte den Schwung seines Arms. Den Klang der Schläge auf dem Amboss. Aber sie sagte es nicht.

Wenn er abends als schwarzer Mann aus der Schmiede kam und wortlos zum Küchentrog ging, um sein Gesicht und den ganzen Oberkörper mit Seife zu waschen, goss sie aus dem Eimer Wasser nach und hielt ihm das Handtuch hin. Die anderen warteten am Tisch, bis er fertig war und sich setzte. Dann war aus dem schwarzen Schmied wieder der Vater geworden, dem von der Mutter als Erstem die Grumbieren auf den Teller gelegt wurden.

Sieben Kinder. Drei lebten. Sie fragte sich plötzlich, ob sie noch alle Namen wusste. Und die Gesichtchen? Alles löste sich auf. Ein kleines Bleiches, schemenhaft im kleinen Sarg. Dann nur noch ein weißer Raum.

Das Schwanken war vorüber. Gustav und Jakob hatten sie auf ihrem Stuhl am Feldrand abgesetzt.

Sie öffnete die Augen, aber das Blau des Leinfelds blieb aus. Sie blickte in ein graues Nichts. Sie riss den Mund auf. Doch sie konnte nicht rufen.

* * *

Unter ihr im Tal lag die Mosel wie eine silberne Riesenschlange zwischen den Weinbergen, die vom hellen Grün der jungen Rebentriebe überzogen waren. Die Natur hatte in diesem Jahr spät begonnen, ihre Kräfte zu zeigen, der Winter hatte sich bis in den Mai hingezogen.

Lena hielt ihre kleine Tochter auf dem Schoß und sah schweigend auf den Fluss. Ohne es zu merken, griff sie nach dem Kreuz, das sie an einer dünnen Halskette trug. Schmerz und Zorn, die sie in den letzten Jahren mit Resignation verdeckt hatte, waren wieder da. Sie spürte, dass es Zeit wurde, all das zu ändern, womit sie sich abgefunden hatte. Wenn Gustav sie noch einmal sehen wollte, bevor er auf immer davonging, war das für sie ein Zeichen.

Jetzt stiegen die Bilder von damals wieder auf, als ihre Familie sie verstoßen hatte. Irgendwie hatte sie gelernt, es zu ertragen. Die eigene Familie war ihr wichtiger geworden. Doch heute fühlte sie sich zum ersten Mal auch von ihrem Mann allein gelassen. Er hatte ihre Angst und ihre Wut und ihre Sehnsucht nach den Brüdern und den Eltern mit einer Handbewegung abgetan: »Die haben damals kein Herz gehabt und heute auch nicht.«

Walter Zeitz war ein stiller, unauffälliger und zuverlässiger Mann, nicht wie die Winzer vom Rhein, denen man hier nachsagte, sie seien immer gut gelaunt, und wenn sie nicht gut gelaunt waren, seien sie grob wie die Abdecker.

Walter war Moselwinzer. Ein ausgeglichener Charakter, den man ebenso selten schimpfen wie lachen hörte. Ihr hatte gefallen, dass er nicht viel sprach.

Knapp sechzehn Rheinische Morgen war das Gut groß, das er als einziger Sohn geerbt hatte, drei Viertel davon Steillagen. Dazu ein großes Wohnhaus überm rechten Moselufer, oberhalb von Zell, in Althaus, das an der Hunsrückseite lag.

So war Lena wenigstens ein Stück weit in ihrer Heimat geblieben.

Aus der Schabbacher Armut ins wohlständige Moselweingut Zeitz. Für sie und ihren Mann war es, trotz der Mühen an den ansteigenden Hängen und der Traubenfäule im letzten Jahr, ein Gottesgeschenk. Der Riesling von hier, den der Urgroßvater Althauser Glückling getauft hatte, war keins der großen Gewächse, aber in guten Jahren verkaufte er sich bis nach Weimar, obwohl die es dort näher zum Dresdener Traminer hatten.

Lena Zeitz hatte es gut getroffen. Sie wurde jetzt sechsundzwanzig, sie hatte ihrem Walter zwei Kinder geboren, die beide am Leben geblieben waren, und war wieder schwanger.

Waren es schon fünf Jahre? Sie blickte auf die Moselschleife hinunter, wo der Fluss heraufblendete und am anderen Ufer das Dorf Kaimt und am Hang darüber Barl in der Junisonne lagen wie aus dem Baukasten ihres Sohns Hannickel. Der fast Vierjährige trieb sich irgendwo im Weinberg herum.

Auch zu seiner Taufe waren die Simons nicht gekommen, obwohl er doch in seinem Namen Johann-Nikolaus den seines Großvaters trug. Ihre Jüngste, das zweijährige Gretchen auf ihrem Schoß, das unaufhörlich in seiner eigenen Sprache erzählte, was es im Tal sah, trug den Namen der Großmutter: Margarethe-Maria. Doch Margret hatte nichts von der Enkelin wissen wollen, wenn sie überhaupt wusste, dass das Mädchen auf der Welt war.

Lena war am Morgen nach dem Streit mit Walter aus dem Haus gelaufen, hatte die Kinder mitgenommen und war zur Bank über dem Weinberg aufgestiegen, die Walters Großvater an dieser Stelle errichtet hatte und die wieder und wieder, wenn Zeit und Wetter sie verzehrt hatten, erneuert worden war. Unten lag Zell, und Lena konnte den weißen Turm der Kirche St. Peter leuchten sehen. Dort hatten sie geheiratet, 1838. Das schlimmste der Hungerjahre, ein eisiger Sommer im Schnee, und manchmal dachte sie, dass sie deshalb geflohen war, hierher an die Mosel, wo die Vorratskammern nicht alle leer standen. Mehr als die Hälfte der Weinstöcke war erfroren. Doch sie erholten sich wieder.

Johann und Margret und Gustav und Jakob waren nicht zur Hochzeit gekommen. Der Schmied hatte es verboten. Hedwig, ihre Großmutter, wäre gekommen, doch niemand wollte sie »zu den Katholischen« fahren. Auch Lenas Gebete zur Mutter Maria hatten nicht geholfen. War sie denn damals trotz der langen Konversion mit Buße und Neutaufe noch nicht katholisch genug gewesen? Ohne den Segen von Vater und Mutter kann keine Ehe gelingen … Dennoch ging es gut. Fünf Jahre.

Und jetzt hatte sie sich zum ersten Mal mit Walter über die Konfession gestritten.

Er kam langsam und gebeugt den Hang herauf, setzte sich neben sie und blieb stumm. Sie hatte ihn kommen sehen. Beide blickten ins Tal, wussten nicht, wie sie ihr Schweigen durchbrechen sollten, und spürten, dass etwas mit ihnen geschah, dass etwas von außen in sie eindrang, eine Kälte, die sich zwischen ihnen einnistete und der sie gemeinsam begegnen mussten. Erstarrt saßen sie nebeneinander, und keiner konnte sich entschließen zu sprechen.

Da fing das Kind an zu weinen. Beide wandten sich Gretchen zu, und beim Trösten des Mädchens berührten sich ihre Hände.

»Wenn der Gustav erst auf dem Rheinschiff ist in Bacharach, ist es zu spät«, sagte Lena.

»Ich weiß. Aber sie haben dich damals davongejagt, und das werden sie jetzt wieder machen.«

Er strich ihr übers Haar, sie strich Gretchen übers Haar. Das Kind beruhigte sich. Lena schloss die Augen und spürte auf ihrem Kopf die Hand ihrer Großmutter, Hedwigs weiche alte Hand, die trösten konnte wie nichts sonst auf der Welt. Und sie hörte die Stimme der Großmutter wieder wie damals: »Dau musst dir nix denken. Der Ururgroßvater von deim Vatter war ja au noch Katholik und is erst auf dem Sterwebett evangelisch gewore.«

»Und wenn sie dich und mich und die Kinder wieder wegschicken? Ich weiß nicht, was ich dann tu«, sagte Walter leise.

»Dann hab ich den Gustav und sein Jettchen wenigstens noch mal gesehen. Es ist doch für immer.«

 

»Fier immer un eewisch!«, hatte ihr Vater geschrien.

Damals stand Johann hoch aufgerichtet vor ihr, schwarz war er aus der Schmiede gekommen, hielt die Hand in der Luft, die Hand, mit der er sie geschlagen, wieder ausgeholt und mitten im zweiten Schlag eingehalten hatte. »Für immer bist dau net mehr unser Kind!«

Es war kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag.

Und ihre Mutter? Margret blieb stumm. Weiß im Gesicht, in der Ecke neben dem Alkoven, starr und aufrecht auf einem Hocker. Sie hatte gehört, wie ihr Hannes sich von ihrer gemeinsamen Tochter lossagte. Wagte nicht mal zu weinen. Schluckte den Schmerz. Biss ihre Angst in sich hinein. Wusste schon, dass von heute an Lenas Hände im Haushalt fehlen würden. Lena hatte nach dem Schlag des Vaters mit brennendem Gesicht zur Mutter gestarrt, als könnte sie sich mit Blicken dort Hilfe holen.