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John Adderley ermittelt in seinem zweiten Fall im schwedischen Karlstad. Die Geschäftsführerin einer erfolgreichen neuen Dating-App wird ermordet aufgefunden. Schnell gerät die Schwester der Toten ins Visier der Ermittlungen. Beide Frauen hatten seit jeher ein schwieriges Verhältnis, geprägt von Neid und Abhängigkeit. Je tiefer John in die Vergangenheit der Schwestern vordringt, desto deutlicher wird, dass der Mord nur ein Puzzleteil eines Verbrechens viel größeren Ausmaßes ist. Während John der Spur folgt, holt ihn sein altes Leben ein, das er glaubte, in den USA zurückgelassen zu haben. Und zwar mit tödlicher Wucht.
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Seitenzahl: 464
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem TitelDen andra systern bei Norstedts, Stockholm.
© by Peter Mohlin, Peter Nyström Deutsche Erstausgabe © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich Coverabbildung von Studio Light and Shade / Shutterstock - Digalakis Photography / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749903665www.harpercollins.de
Die Mädchen fanden nach einer Weile in den gleichen Rhythmus. Sie hielten sich an den Händen und glucksten vergnügt, als die Schaukel an dem Stahlrahmen immer höher ausschwang. Die Mutter verpasste das Schauspiel, weil sie auf ihr Handy starrte, aber von der etwa zwanzig Meter entfernten Bank aus erkannte Alicia die Freude in den rotznasigen Gesichtern. Zwei Schwestern, synchron in einer perfekten Pendelbewegung und im Einklang mit der Welt. Als wären sie ein und derselbe Körper.
Es war kalt, ein paar Grad unter null. Ihre Beine waren inzwischen fast taub. Zu ihrer eigenen Überraschung blieb sie dennoch sitzen. Es sah ihr gar nicht ähnlich, Kinder beim Spielen im Park zu beobachten.
Normalerweise nahm Alicia ein Taxi von der Arbeit nach Hause, ein Luxus, den sie sich gönnte, um die neugierigen Blicke im Bus zu vermeiden. Aber heute war sie die drei Kilometer vom Büro im Zentrum von Karlstad zu ihrem Haus in Norrstrand gelaufen.
Die Nachmittagssonne hatte so schön gewärmt, dass sie eine Straßenecke früher innegehalten und sich auf der Bank niedergelassen hatte. Dann war sie sitzen geblieben. Sie zeichnete Figuren mit den Füßen in den Schnee und dachte, dass dieser Tag eigentlich doch ganz in Ordnung war. Und wenn dieser Tag in Ordnung war, konnte es auch der nächste sein. Und der danach.
Sie lächelte vor sich hin und schüttelte den Kopf. Hier saß sie, Alicia Bjelke, und klang wie ein Selbsthilferatgeber.
»Ich muss mal.«
Diese Feststellung der jüngeren Schwester ließ die Mutter mit dem Handy aufspringen. Alicia hatte keine eigenen Kinder, konnte sich aber vorstellen, dass es eine Weile dauerte, die Kleine aus dem Bibernylon zu schälen. Um Schlimmeres zu verhindern, schleppte die Mutter das Kind zu dem weißen Holzhaus neben dem Spielplatz. Die ältere Schwester wurde ermahnt, nirgendwohin zu gehen. Sie holte wieder Schwung, ohne sich aber richtig abzustoßen. Allein machte das Schaukeln nicht so viel Spaß.
Alicia dachte an die Unterhaltung, die sie vor etwas mehr als einem Monat mit ihrer eigenen Schwester geführt hatte. Es war ein Sonntag gewesen, der dritte Advent, kurz bevor der erste Schnee fiel. Sie hatte alle Karten offengelegt und Stella erklärt, warum der Start von Raw in Deutschland verschoben werden musste.
Der Dating-Service, den die Schwestern gemeinsam gegründet hatten, war kein Hobbyunternehmen in einem Studentenzimmer mehr. Als IT-Verantwortliche brauchte Alicia einen angemessenen Rahmen, um ihrer Arbeit nachgehen zu können, und die Situation war unhaltbar geworden. Sie arbeitete vierzehn Stunden am Tag und träumte nachts in Programmiersprache. Stella hatte den Arm um sie gelegt und zugehört. Darin war sie gut, ihre Schwester, sie wusste immer, wann sie reden und wann sie ruhig sein musste. Und sie hatte versprochen, den Starttermin um sechs Monate zu verschieben. Die Gesundheit ging vor.
Alicia erinnerte sich an das Gefühl der Erleichterung. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie eine ganze Nacht durchgeschlafen. Weihnachten war gekommen und gegangen, und sie hatte es unter der Bettdecke kaum wahrgenommen.
Sie blickte zu dem Mädchen auf der Schaukel. Es schwang jetzt schneller vor und zurück. Der Gummireifen, auf dem es saß, geriet in Schieflage und stieß schließlich gegen den Stahlpfosten. Der zarte Körper wurde durch die Luft gewirbelt und landete im Schnee. Alicia lief zu dem Mädchen und half ihm sanft auf.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
Das rotwangige Kind kämpfte mit den Tränen. In diesem Moment hörte Alicia Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, stand die Mutter vor ihr. Sie hatte offenbar gesehen, was passiert war, und war zurückgeeilt. Ihre Blicke kreuzten sich, und Alicia bemerkte, wie die Frau zurückzuckte.
»Komm, wir gehen heim«, sagte sie zu ihrer Tochter.
»Sie ist richtig weit durch die Luft gesegelt, aber die Landung war sanft. Ich denke, sie hat sich vor allem erschrocken«, sagte Alicia und richtete sich auf.
Die Frau antwortete nicht. Sie starrte sie nur weiter an.
»Wir gehen jetzt«, stieß sie schließlich hervor.
»Ich wollte ihr nur helfen.«
»Danke, aber wir kommen allein zurecht.«
Der Blick der Mutter blieb auf sie gerichtet. Alicia kannte die Reaktion. Eine Mischung aus Faszination und Ekel. Meistens ertrug sie es. Es war nicht das erste Mal, dass jemand ihr Gesicht anstarrte. Aber das Stieren dieser Tussi war einfach zu viel. Alicia hatte ihre Tochter getröstet, und jetzt wurde sie wie eine Aussätzige behandelt.
»Wenn Sie das Monster länger anschauen wollen, müssen Sie dafür bezahlen«, sagte sie und streckte die Hand aus.
Die Kerze flackerte, als die Kellnerin vorbeiging. John sah ihr nach, während sie zwischen den Tischen hindurch zu der Gruppe am anderen Ende des Restaurants eilte. Drei Männer und eine Frau, alle in Bürokleidung. Er hatte sie als After-Work-Trupp abgetan, konnte sich aber nicht ganz sicher sein. Genau da lag das Problem. Er konnte sich bei gar nichts sicher sein.
Aus den Lautsprechern dudelte muntere Salsamusik. Dieselbe Playlist wie immer. Die Musik im Rederiet war ebenso vorhersehbar wie die Speisekarte: spanische Tapasgerichte und Rioja-Weine. Normalerweise fühlte sich John inmitten der rustikalen Holztische und der Kronleuchter an der Decke wie zu Hause. Das Restaurant war nur einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt, und er kam mehrmals pro Woche hierher. Aber heute Abend war er auf der Hut. Die Lage konnte sich jederzeit ändern, und dann muss er bereit sein.
»Mann, ist es hier drinnen heiß. Ich dachte, nur die Finnen gehen gern in die Sauna.«
Das Lachen, das von der anderen Seite des Tisches kam, übertönte die Musik. Das dröhnende Gelächter war Trevors markantestes Merkmal. John hätte es sogar in einem Meer von lachenden Menschen herausgehört.
Sein Freund öffnete den Reißverschluss seiner Jacke. Als eine Hand unter dem gefütterten Stoff verschwand, packte John die Waffe fester, die er unter dem Tisch versteckte. Langsam wanderte sein Zeigefinger zum Abzug. Der Schuss würde, wenn er ihn abfeuerte, in den unteren Bereich des Bauchs treffen.
»Aber was weiß ich, Saunieren ist vielleicht auch in Schweden beliebt«, fuhr Trevor fort. Er zog seine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Beide Hände waren wieder sichtbar, und John konnte aufatmen. Noch letzte Nacht war er überzeugt gewesen, dass sein Freund tot war. Ihm jetzt im Rederiet gegenüberzusitzen, fühlte sich völlig unwirklich an.
John brummte eine Antwort und suchte den Raum weiter nach unbekannten Feinden ab. Der Restaurantbesitzer wusste, dass er Polizist war, und hatte ihn, ohne Fragen zu stellen, vor der offiziellen Öffnungszeit in den Buchungsordner schauen lassen. Das Ehepaar am Fenster und die Familie mit dem Kinderwagen hatten ihre Reservierungen frühzeitig vorgenommen, sie konnte er ausschließen. Den breitschultrigen Mann am Tisch links vom Eingang musste er hingegen im Auge behalten. Er hatte kurzfristig reserviert, und das Gleiche galt für den After-Work-Trupp, der in diesem Moment von der Kellnerin bedient wurde.
John blickte zur Bar. Dort sah er zwei Stammgäste, die er oft grüßte, aber auch ein unbekanntes Gesicht. Oder eher einen Nacken. Der Mann mit dem silbergrauen Haar, das zu einem Knoten zusammengebunden war, stand mit dem Rücken zu ihm und trank sein Bier aus der Flasche.
»Verdammt, wie schön, dich wiederzusehen. Du weißt gar nicht, was das für mich bedeutet«, sagte Trevor und schien sich aufrichtig zu freuen.
John zwang sich zu einem Lächeln und versuchte festzustellen, ob sein Freund dünner geworden war. Das Jackett saß schon ein wenig locker über den Schultern, und das Hemd spannte wirklich nicht mehr so stark über der Brust. Entweder hatte Trevor abgenommen oder seine Kleidung absichtlich zu groß gekauft, um diesen Eindruck zu erwecken.
Sein Freund wischte sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn und nahm in derselben Bewegung seine Strickmütze ab. John zuckte zusammen, als er die Glatze sah. Vor vier Monaten, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, war der Schädel noch mit dichtem, lockigem Haar bedeckt gewesen.
»Guck nicht so schockiert«, sagte Trevor. »Was hast du erwartet?«
John senkte den Blick. »Weiß ich eigentlich nicht«, murmelte er.
Das Verhalten seines Freundes wirkte sowohl vertraut als auch fremd. Er erkannte die Bassstimme, das Lachen und die ausholenden Gesten. Gleichzeitig hatte Trevor etwas Gekünsteltes an sich. Die Geste, mit der er seine Mütze abgenommen hatte, war theatralisch gewesen. Als hätte er versucht, mit seiner Glatze die größtmögliche Wirkung zu erzielen.
John machte sich bewusst, dass ein wenig Schaum und ein Rasiermesser ausreichten, um die Nebenwirkungen einer Chemotherapie vorzutäuschen. Er musste weiterhin davon ausgehen, dass Trevor ein Köder war und ihr Wiedersehen eine Falle. Wenn seine Verfolger im Restaurant lauerten, hatte er immerhin einen Heimvorteil. Die Drehtür zur Küche war nur ein paar Schritte entfernt, und vom Reich des Küchenchefs führte ein Ausgang zur Straße hinter dem Gebäude. Dort stand Johns Auto und enthielt alles, was er für ein Leben auf der Flucht brauchte.
»Wie geht es dir?«, fragte Trevor. Er lächelte hinter der flackernden Kerze.
Als John nicht antwortete, sagte er: »Komm schon, sag mir, was los ist. Und wenn das eine Waffe ist, die du unter dem Tisch in der Hand hast, kannst du sie weglegen.«
Alicia wollte noch etwas zu trinken bestellen und sah sich in der Pizzeria um. Hierhin, ins Palermo, war sie nach dem Vorfall im Park geflohen. Sie mochte das Restaurant, es lag in der Nähe ihrer Wohnung und in sicherer Entfernung von Raws kaputt-designtem Büro in der Stadt.
Hier drinnen war es aufrichtig hässlich, und es gab keine kitschige Ironie. An den weiß gestrichenen Ziegelwänden hingen Filmplakate aus den Achtzigern und Neunzigern. Auf die schwarz lackierten Tische war eine Glasplatte geschraubt, unter der sich die Speisekarte befand.
Ratko stand wie immer hinter der Theke und knetete die Teigklumpen. Als er aufblickte, hob Alicia ihr leeres Glas und zeigte darauf. Er nickte.
Der Eigentümer des Palermo wirkte im Restaurant fast genauso fehl am Platz wie sie. Er besaß den beliebtesten Nachtclub der Stadt, das Safir, und mehrere trendige Cafés, in denen die Gäste Frappuccino und Sojalatte tranken – und nicht wie hier stark gerösteten Filterkaffee. Aber mit dem Palermo hatte er einmal angefangen, und Ratko bestand darauf, hier an mehreren Abenden in der Woche Pizza zu backen und Gäste zu bedienen, obwohl das Lokal nicht viel zur Erweiterung seines Imperiums beitrug.
»Du willst mir immer noch nicht sagen, warum du so wütend bist?«, fragte er und stellte das Bier auf den Tisch.
Das vierte.
Alicia dachte an die Frau im Park. Wie sie jetzt bestimmt mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher saß und ihrem Mann von dem unangenehmen Vorfall erzählte. Nicht davon, dass die älteste Tochter von der Schaukel gefallen war, sondern von der Missgeburt, die das Mädchen aus dem Schnee gezogen und es zu Tode erschreckt hatte.
»Hör auf zu nerven«, sagte Alicia. »Du siehst ja, wie ruhig ich jetzt bin. Der reinste buddhistische Mönch.« Sie schloss die Augen und tat, als würde sie meditieren. Eigentlich hatte sie auch Lust auf ein Glas Wodka, verzichtete aber darauf. Sie hatte nämlich keine Lust auf Ratkos besorgtes Gesicht, wenn er ihr den Schnaps einschenkte.
Vor ein paar Jahren hatten sie eine kurze Affäre gehabt und das unwahrscheinlichste Paar in ganz Karlstad gebildet. Seine Eltern waren als Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien gekommen. Er trug immer die teuersten Hemden und die neuesten Jeans. War stets darauf bedacht, dazuzugehören, von denen akzeptiert zu werden, die etwas zählten. Sie war die Außenseiterin, der Freak mit dem komischen Gesicht. Das Mädchen, das sich mit Computern auskannte und schwarze Jeans und Hoodies trug.
Natürlich hatte Ratko darauf geachtet, die Geschichte geheim zu halten. Offen mit ihr aufzutauchen hätte ihn einige Stufen auf der sozialen Leiter gekostet, die er unbedingt emporklettern wollte. Nicht einmal die Stammgäste im Palermo wussten, dass sie miteinander im Bett gewesen waren.
Alicia hob das Glas Bier zum Mund, als ein lautes Grölen vom anderen Ende des Restaurants herüberschallte. Die Fußballfans besetzten wie üblich den langen Tisch vor dem Großbildfernseher. Sie waren eine Untergruppe im Palermo und mischten sich selten unter die anderen Stammgäste, von denen es nur wenige gab, wenn man ehrlich war. Eigentlich nur ein paar verlorene Seelen wie sie und die spielsüchtigen Zombies, die an den Spielautomaten ganz hinten im Lokal hingen.
»Hören die nie auf rumzubrüllen? Das Spiel ist doch vorbei«, sagte sie.
»Ja, aber es ist Mittwoch. Quiznacht.«
Alicia griff sich an die Stirn. »Den Kampf der intellektuellen Giganten hatte ich ganz vergessen.«
»Versuch mal, ein bisschen nett zu sein. Es ist gut fürs Geschäft, wenn sie länger bleiben«, sagte Ratko und kehrte zur Theke zurück.
Da hob einer der Männer die Stimme. »Von wann bis wann war Fredrik Reinfeldt schwedischer Ministerpräsident?«
Am langen Tisch wurde es leise, während sich die Teilnehmer in ihren Teams berieten.
»2006 bis 2014«, rief Alicia und nahm einen tiefen Schluck Bier.
Die Fußballfans warfen wütende Blicke in ihre Richtung. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich ungebeten in das Quiz einmischte.
Der Mann, der die Frage gestellt hatte, stand auf und kam zu ihrem Tisch. Er hatte dünne Arme und schmale Schultern, aber einen weit vorstehenden Bierbauch unter dem Trikot. Alicia hatte gehört, dass die anderen ihn »Professor« nannten. Als sie Ratko fragte, ob er wirklich einer sei, hatte er Tränen gelacht. Der Mann war Aushilfslehrer am Gymnasium, und das reichte anscheinend aus, um sich den Spitznamen zu verdienen.
»Ich weiß, dass du alle Antworten auf die Fragen kennst, die ich für heute Abend aufgeschrieben habe«, sagte er und wedelte mit einem Stück Papier in der Luft herum. »Aber für die Jungs wird es langweilig, wenn du immer alles vorsagst.«
Seine Stimme war freundlich, und Alicia verlor ihre Streitlust.
»Du kannst dir mein Schweigen mit einem Gläschen Smirnoff erkaufen«, sagte sie.
Er lachte und streckte die Hand aus. »Abgemacht.«
Auf dem Weg zurück zu dem langen Tisch kam der Mann an der Theke vorbei, bezahlte den Wodka und deutete mit einem Kopfnicken in ihre Richtung. Wie Alicia erwartet hatte, wirkte Ratko nicht glücklich darüber. Aber was gingen ihn ihre Alkoholgewohnheiten an? Sie schliefen nicht mehr miteinander und trafen sich nie außerhalb des Palermo.
Sie nahm ihr Handy und scrollte durch den Posteingang, ohne eine einzige Nachricht zu öffnen. Betrunken E-Mails zu lesen und zu beantworten war eine schlechte Idee, das wusste sie aus Erfahrung. Sie legte das Telefon auf den Tisch und dachte an Stella. Die Aufzeichnung des Fernsehinterviews in Stockholm müsste jetzt vorbei sein. In die Tiefe hieß die Sendung, und sie sollte morgen ausgestrahlt werden.
Alicia hatte sich über den pompösen Untertitel lustig gemacht: Begegnungen mit Menschen, die unsere Zeit prägen. Dennoch musste sie zugeben, dass die Beschreibung zutraf. Der Dating-Service, den sie und Stella eingerichtet hatten, war in vielerlei Hinsicht bahnbrechend und veränderte die Art und Weise, wie sich Menschen online kennenlernten.
Wie Alicia ihre Schwester kannte, würde sie nach dem Interview in der Hauptstadt bleiben und sich in den Bars rund um den Stureplan bewundern lassen. Im Gegensatz zu ihr musste Stella nicht um einen Drink betteln.
Ratko sagte nichts, als er den Wodka brachte. Er stellte einfach das Glas auf den Tisch und ging zurück zur Theke.
»Komm schon, es ist nur ein Gläschen«, rief sie ihm nach.
Er drehte sich um und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wurde aber abgelenkt, weil zwei Männer in schwarzen Lederjacken die Tür des Palermo öffneten. Alicia glaubte, einen von ihnen zu erkennen. Er hatte einen grauen Bart und Tätowierungen im Gesicht und auf dem rasierten Schädel. Mit seiner Größe und den breiten Schultern wirkte er neben seinem Begleiter wie ein Riese. Die Aufschrift Präsident auf seiner Jacke war überflüssig. Jedem im Raum war klar, wer hier wem Befehle erteilte.
Ratkos sonst so selbstbewusster Blick flackerte. Er fingerte an dem Goldkettchen unter seinem weit aufgeknöpften weißen Hemd herum. Der Präsident sagte ein paar Worte zu seinem Begleiter, der sich daraufhin an einen Tisch in der Ecke bei den Spielautomaten setzte. Dann verschwand der Hüne mit Ratko in der Küche.
Alicia wusste nicht, warum sie lachen musste, aber nachdem sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Der Alkohol war schuld. Und die blöde Kuh auf dem Spielplatz, die das grimmige Biest in ihr geweckt hatte. Nicht, dass es jemals besonders tief geschlafen hätte, aber trotzdem.
Im Ernst … Lief das immer noch so? Rockerbanden, die Gastronomen wie Ratko Angst einjagten und die Kasse leerten.
Alicia kippte den Wodka hinunter und ging zum Tresen, um sich nachzuschenken. Der Aushilfslehrer stockte inmitten der nächsten Frage, als sie über die Theke griff und die Flasche nahm. Der Rocker in der Ecke starrte sie an, blieb aber sitzen, während sie das Glas füllte und ihm dann damit zuprostete.
Alicia war beim dritten Wodka angekommen, als Ratko und der Präsident aus der Küche zurückkehrten. Ihr war schwindelig, und sie musste sich am Tresen festhalten, um nicht vom Barhocker zu fallen.
»Wie viel zahlt er?«, fragte sie.
Der Mann in der Lederjacke sah sie überrascht an. »Was?«
»Ja, wie viel muss man blechen, damit einem das Lokal nicht zertrümmert wird?«
»Könntest du uns bitte in Ruhe lassen«, sagte Ratko und packte sie am Arm.
Alicia riss sich los und verschüttete dabei den Rest im Glas auf dem lackierten Brett aus dunklem Holz.
»Okay, okay, ich formuliere die Frage neu«, sagte sie. »Ratko zahlt in bar, oder?«
»Und wer zum Teufel bist du?«, fragte der Präsident.
»Betrachte mich als unabhängige Finanzberaterin. Und du musst nicht antworten, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass er bar bezahlt. Was idiotisch ist. Du hast ja keine Ahnung, wie viel Mühe ihr euch sparen würdet, wenn ihr es anders aufzieht.« Alicia bemerkte, dass sie lallte.
Der Mann blinzelte mit seinen hellblauen Augen und versuchte zu verstehen, was sie sagte. »Wie meinst du das?«, fragte er.
»Ich meine, dass Bargeld in kriminellen Kreisen eine veraltete Währung ist«, artikulierte sie so deutlich sie konnte.
»Verdammt, Alicia, hör auf jetzt. Das ist kein …« Ratko verstummte, als der Lederjackentyp die Hand hob und sie bat, fortzufahren.
»Wie viele Stunden verbringst du jeden Monat mit Geldwäsche?«, fragte sie. »Komplett unnötig, wenn du mich fragst. Ihr müsst mit der Zeit gehen und digital arbeiten.«
»Digital, wie denn?«, sagte der Präsident.
»Mit Kryptowährungen natürlich. Die sind so gemacht, dass sie nicht zurückverfolgt werden können. Aber vielleicht ist euch das zu fortschrittlich?«
Alicia sah, wie Ratko bei der Beleidigung zusammenzuckte. Er sah sie besorgt an, als wollte er ihr sagen, sie solle verschwinden.
»Redest du von Bitcoins?«, sagte der Präsident und schien tatsächlich ein wenig zu lächeln.
Alicia lachte. »Nein. Du musst noch einen Schritt weiter sein. Kein ernst zu nehmender Krimineller nutzt noch Bitcoins. Ich würde Monero, Ethereum oder vielleicht Zcash vorschlagen.«
»Okay, und was ist das?«
»Andere, intelligentere Kryptowährungen. Ich denke, Monero wäre das Beste für dich. Wenn du die Adresse des Empfängers in der Blockchain verschlüsselst und dem Absender eine falsche Adresse gibst, ist die Zahlung fast unmöglich nachzuverfolgen.«
Der Präsident blickte sie mit großen Augen an und drehte sich dann zu Ratko um. »Wer zum Teufel ist diese Frau?«
»Es tut mir leid«, sagte Ratko.
»Nein, verdammt, ich mag sie.« Er umrundete den Tresen und setzte sich neben Alicia.
»Schenk uns zwei Jägermeister ein«, sagte er und stellte das umgefallene Glas wieder hin.
»Ich trinke Smirnoff.«
»Okay, dann zwei Smirnoff.«
Der Präsident hielt Alicia eine Schachtel Marlboro hin. »Rauchst du?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte, das wäre in Restaurants mittlerweile verboten.«
»Ist es auch«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. »Was ist mit deinem Gesicht passiert? Das sieht ja furchtbar aus.«
Alicia erzählte ihren üblichen Witz, um die Stimmung aufzuhellen: dass es sie an eine Pizza Vesuvio erinnere und sie manchmal allein vom Blick in den Spiegel hungrig werden könne.
Der Präsident lachte und machte ihr das erste Kompliment, das sie je im Erwachsenenalter für ihr Aussehen bekommen hatte – und inzwischen war sie immerhin neunundzwanzig Jahre alt. »Auf jeden Fall sind deine Möpse absolut fantastisch. Silikon, richtig?«
»Nee. Die Natur hat mich so geschaffen.«
Ratko füllte die Schnapsgläser wieder auf und gab sich Mühe, nicht zu zeigen, dass er ihnen zuhörte. Aber er verpasste kein Wort, das wusste Alicia.
Langsam erwachte das Palermo wieder zum Leben. Die Fußballfans spielten ihr Quiz weiter, und die Glücksspieler wagten sich an den Tresen, um Geld zu wechseln. Der Präsident hob den Arm und stieß mit Alicia an.
Sie deutete mit einem Nicken auf den zweiten Rocker, der in der Ecke saß. »Denkst du nicht, dass dein persönlicher Assistent auch ein Glas will?«
Der Lederjackentyp lachte erneut. »Mach dir keine Sorgen, er wird dafür bezahlt, dort zu sitzen.«
»Mit Moneros würdest du auch diese Kosten sparen«, sagte Alicia. »Du musst nicht einmal hierherkommen. Das heißt, solange Ratko bezahlt.«
»Du sagst es«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.
Alicia spürte eine Hand auf ihrem Oberschenkel und das leichte Kribbeln im Bauch, das die Berührung verursachte. Sie erstarrte zur Salzsäule, als der Rocker sie sanft auf den Hals küsste.
»Bin gleich wieder da«, sagte er und rutschte von seinem Hocker.
Sobald er in der Toilette verschwunden war, kam Ratko zu ihr. »Was zur Hölle machst du?«
»Was?«
»Weißt du, wer dieser Typ ist?«
Alicia musste die Augen schließen. Wegen der schnellen Kopfbewegung, mit der sie sich zu Ratko umgewandt hatte, drehte sich der ganze Raum.
»Er sieht verdammt gut aus. Das ist alles, was ich jetzt wissen muss.«
»Hör mir zu, er ist der Anführer eines Motorradclubs, der versucht, Teil der Bandidos zu sein.«
»Aufregend«, sagte sie. »Ich habe noch nie mit einem Präsidenten geschlafen. Ab morgen kannst du mich First Lady nennen, wenn du willst.«
Ratko fuhr sich mit der Hand durch die gegelten Haare. »Du bist total betrunken, Alicia. Ich möchte nur nicht, dass du etwas tust, was du …«
»Das ist das falsche Wort«, unterbrach sie ihn.
»Was?«
»Ich bin total hässlich, nicht total betrunken.«
»Ach, hör doch auf.«
»Wieso, bin ich doch. Aber wenigstens schämt der da sich nicht für mich.«
Sie zeigte auf den Präsidenten, der gerade aus der Toilette kam und wieder auf den Tresen zuging.
»Komm, wir trinken noch ein letztes Glas an einem ruhigeren Ort«, sagte er und legte ihr den Arm um die Schulter.
Alicia stand auf und ließ sich von ihm in die Jacke helfen. Auf dem Weg zur Tür verlor sie das Gleichgewicht und stieß gegen den Tisch mit Besteck, Serviettenhaltern und Gläsern, die zu Boden fielen. Der Präsident legte den Arm um ihre Taille, und sie genoss es, seinen festen Griff zu spüren.
Ratko stand am Tresen und verfolgte ihren alles andere als eleganten Abgang. Aber sie dachte gar nicht daran, seinen Blick zu erwidern. Sie konnte verdammt noch mal machen, was sie wollte. Sein Job war es, den Schnaps einzuschenken und die Klappe zu halten.
Der Deckenventilator rotierte mit Höchstgeschwindigkeit. Das Wummern ließ Alicia aufblicken. Der Raum drehte sich wie in einem Kaleidoskop. Hinter ihr wollte der Aushilfslehrer am langen Tisch wissen, was die Hauptstadt von Kolumbien war.
Alicia legte die Hand an ihren Mund und rief durch den Raum: »Bogotá!«
Dann verließ sie die Pizzeria Palermo und trat in die Winterkälte.
John hielt die Kellnerin mit einem diskreten Kopfschütteln davon ab, an den Tisch zu kommen. Die Unterhaltung war nicht für fremde Ohren bestimmt, und sie durfte auch nicht sehen, wie er die Dienstwaffe wieder in das Schulterholster unter seiner Jacke steckte.
»Warum vertraust du mir nicht?«, fragte Trevor, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Würdest du es an meiner Stelle tun?«
»Vielleicht nicht«, gab er zu. »Paranoia ist die Hölle, wenn man sie einmal zulässt.«
John wusste, dass sein Freund aus Erfahrung sprach. Vor einem Jahr waren beide noch beim FBI gewesen und hatten ein nigerianisches Drogennetzwerk in Baltimore infiltriert. Jeder Tag ein Kampf gegen die Angst, entlarvt zu werden. Trotzdem hatte Trevor es geschafft, seine Rolle so gut zu spielen, dass er zur rechten Hand des Anführers geworden war. Das sagte etwas über seine einzigartige Fähigkeit aus, sich zu verstellen und Vertrauen zu gewinnen.
»Bist du allein hier?«, fragte John.
»Ja, natürlich. Was glaubst du denn? Dass Ganiru mich geschickt hat?«
Das war sein Name. Ganiru Okeke. Der Anführer des Drogennetzwerks, der aufgrund der Zeugenaussagen von John und Trevor bei einem Prozess im vergangenen Herbst zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden war.
»Kein so abwegiger Gedanke, oder?«, meinte John. »Dass er dich benutzt, um mich zu finden.«
Der Freund seufzte resigniert. »Ist es okay, wenn ich etwas zu trinken bestelle, oder glaubst du, die Kellnerin wird dir den Korkenzieher in den Hals bohren?«
»Klar, mach nur«, sagte John in dem Wissen, dass er selbst genauso auf die Einwände reagiert hätte. Er hätte das Misstrauen zerstreut, indem er es ins Lächerliche zog. Hätte die Bedrohung verharmlost und Ganirus Männer als Hirngespinst dargestellt.
Trevor winkte die junge Frau herbei und erklärte ihr, dass sie mit dem Essen noch warten wollten, er aber gerne ein Bier trinken würde. Als sie zum nächsten Tisch weitergegangen war, beugte er sich vor.
»Okay«, sagte er. »Lass es uns von Anfang an durchspielen, damit ich es kapiere. Bevor wir nach dem Prozess getrennt wurden, habe ich zwei Konten in einem verschlüsselten E-Mail-Dienst eingerichtet. Warum habe ich das in deinen Augen getan?«
»Damit wir aus der Ferne miteinander in Kontakt bleiben können, trotz unserer neuen Identitäten.«
»Hier hattest du also noch keinen Verdacht?«
John schüttelte den Kopf.
Trevor schob die Kerze weg, damit er sich nicht an der Flamme verbrannte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du mir schreiben würdest«, sagte er.
»Das hatte ich auch nicht vor.«
John erinnerte sich an die Ermahnungen seines damaligen Chefs. Wer am Zeugenschutzprogramm teilnahm, musste bereit sein, sein früheres Leben vollständig hinter sich zu lassen. Jeder Kontakt war ein potenzielles Sicherheitsrisiko.
»Warum hast du deine Meinung geändert?«
»Aus demselben Grund, aus dem du ursprünglich unsere beiden E-Mail-Konten eingerichtet hast.«
Trevor nickte und sah ihn ernst an. Für einen Moment spürte John wieder die starke Bindung zwischen ihnen. Das besondere Band, das sich entwickelt hatte, weil sie Ganirus Terrorherrschaft aus nächster Nähe gesehen hatten und wussten, wie groß das Gewaltpotenzial des Drogendealers war. Wer von einem solchen Mann verfolgt wurde, brauchte einen Freund, der nachvollziehen konnte, wie es war, nie wieder eine ganze Nacht durchzuschlafen.
Die Kellnerin brachte das Bier.
»Ich halte dieses Ratespiel nicht mehr aus«, sagte Trevor, als sie wieder weg war. »Wann genau soll ich dich deiner Meinung nach verraten haben?«
John musterte sein verständnislos dreinblickendes Gegenüber. »Du hast es nicht freiwillig getan«, sagte er. »Ich denke, die Verfolger haben dich dazu gezwungen.«
»Die Verfolger?«
»Ja, die Auftragskiller, die Ganiru bezahlt, um nach uns zu suchen. Ich weiß nicht, wie sie dich gefunden haben, ich weiß nur, dass sie es geschafft haben.«
Trevor sah aus, als würde er sich verschlucken. »Nein, verdammt …«
»Warte«, unterbrach John ihn und fuhr fort: »Sie haben deinen Computer durchsucht und die E-Mails gefunden, die wir uns geschickt hatten. Weil wir darin nie gesagt haben, wo wir waren, haben sie mir in deinem Namen geschrieben.«
»Also glaubst du, dass das hier …« Trevor legte eine Hand auf seinen Bauch. »… nur ein Bluff ist. Dass mein Dickdarm nicht von Tumoren zerfressen ist.«
John erinnerte sich daran, was für ein brillanter Schauspieler der Mann war, der ihm gegenübersaß. »Ja«, sagte er. »Genau das denke ich.«
»Aber dann verstehe ich nicht … Warum hast du mich herkommen lassen?«
»Weil ich ein naiver Idiot bin, der den Köder von dem angeblich krebskranken Freund geschluckt hat, der sich noch einmal treffen und tränenreich verabschieden wollte. Erst letzte Nacht wurde mir klar, dass etwas nicht stimmt. Ich habe deine alten E-Mails gelesen und kleine Abweichungen im Stil festgestellt, die ausgerechnet zu dem Zeitpunkt einsetzten, als du Magenprobleme bekamst.«
»Und das sind deine Beweise«, sagte Trevor. »Meine schlechte Grammatik und die miese Rechtschreibung.«
»Die letzten E-Mails stammen nicht von dir, da bin ich mir sicher«, sagte John, merkte aber, dass seine Überzeugung schwand.
»Jetzt lass mal den Mist und nutz deinen gesunden Menschenverstand. Wenn es so ist, wie du sagst, warum liege ich dann nicht auf dem Grund eines Sees? Die Verfolger hätten doch nichts mehr von mir, oder?«
Auf diese Frage hatte John keine vernünftige Antwort. Er hatte geglaubt, Trevor wäre tot, und war nur ins Restaurant gekommen, weil er noch einen kleinen Funken Hoffnung gehabt hatte. Solange es eine theoretische Möglichkeit gab, dass Trevor noch lebte, war es seine Pflicht. Das bloße Auftauchen seines ehemaligen Kollegen hatte jedoch nicht ausgereicht, um sein Misstrauen zu zerstreuen, und jetzt fühlte er sich wie ein paranoider Verräter.
»Verdammt, John, ich weiß nicht, was ich sagen soll, damit du mir glaubst.« Trevor hob sein Bierglas und studierte die Flamme der Kerze durch das bernsteinfarbene Getränk.
Die Mauer des Schweigens zwischen ihnen war undurchdringbar. Wieder ließ John den Blick durch den Raum wandern. Die Männer, die er als potenzielle Bedrohung ausgemacht hatte, saßen immer noch an ihren Plätzen und schienen das Essen und Trinken zu genießen.
»Möchtest du, dass ich gehe?«, fragte Trevor.
Als John nicht antwortete, stand er auf und zog die Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Hose. »Ich hoffe, das ist genug«, sagte er und warf einen Hundertkronenschein auf den Tisch. »Ich weiß nicht, was ein Bier in Schweden kostet.«
Trevor war schnell beim Ausgang. Die kleine Glocke über der Tür läutete, als er das Restaurant verließ, und ein Hauch von Winterkälte fegte durch den Raum. Draußen auf dem Bürgersteig schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und setzte die Mütze auf seinen kahlen Schädel.
Ohne dass John begriff, was ihn dazu antrieb, sprang er auf, schob sich an dem Paar am Fenstertisch vorbei und klopfte gegen die Fensterscheibe. Trevor hielt inne und sah zu ihm. Ein paar Sekunden lang standen sie nur da und starrten sich an. Dann gab John seinem Freund mit einem Wink zu verstehen, dass er wieder ins Warme kommen sollte.
Als sie sich erneut gegenübersaßen, erschien die verwirrte Kellnerin und fragte mit gerunzelter Stirn: »Brauchen Sie den Tisch noch? Es warten nämlich noch andere Gäste an der Bar.«
»Ja, wir würden gerne etwas essen, oder?«, sagte John mit einem fragenden Blick zu seinem Freund.
Trevor griff nach der Banknote und ließ sie in der Hosentasche verschwinden. »Auf jeden Fall.«
Sie bestellten einen großen Tapas-Teller zum Teilen. John hielt sich an Mineralwasser, während Trevor ein weiteres Bier bestellte.
»Der Arzt möchte, dass ich auf Fleisch und andere schwer verdauliche Lebensmittel verzichte. Aber irgendwas kann ich sicher essen.«
»Nimm du zuerst, ich esse einfach, was übrig bleibt«, sagte John.
Es widerstrebte ihm, den Krebs als Wahrheit zu akzeptieren, aber im Moment gab es keine Alternative. Wenn er wieder Misstrauen zeigte, wäre das Gespräch beendet.
»Weiß Minette, dass du krank bist?«, fuhr er fort und sah im Geiste Trevors Ex-Frau vor sich. Er hatte sie nie getroffen, aber die Fotos einer unerwartet jungen Frau mit Rasta-Zöpfen und wachem Blick gesehen, die sein Freund ihm in Baltimore gezeigt hatte.
»Nein, wir haben keinen Kontakt. Ich habe meinen Ansprechpartner beim FBI gebeten, sie wissen zu lassen, wenn … ja, wenn es vorbei ist.«
Seine Trauer war nicht zu übersehen. Sie strömte aus jeder Pore des voluminösen Körpers. Seine Frau hatte während der Infiltration ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Trevor war davon ausgegangen, dass die drei gemeinsam ein neues Leben beginnen würden. Aber Minette wollte etwas anderes. Sie reichte die Scheidung ein und verschwand mit ihrer Tochter in einem eigenen Schutzprogramm.
»Kann man denn wirklich nichts gegen die Tumore tun?«, fragte John.
»Nein, der Krebs hat bereits gestreut. Er sitzt in der Leber und in den Lymphknoten. Der Zug ist abgefahren.«
»Was sagt der Arzt? Wie viel Zeit hast du noch?«
»Sechs bis acht Monate. Wenn ich mit der Chemotherapie weitermache.«
»Und ohne?«
»Deutlich kürzer.«
»Also setzt du die Behandlung fort?«
Trevor schüttelte langsam den Kopf. »Und versuch nicht, mich zu überzeugen«, sagte er. »Die Scheiße fesselt mich ans Bett, und ich muss mich tagelang übergeben. Da lebe ich lieber kürzer und kann mich dafür auf den Beinen halten.«
John wollte nach der Tochter fragen. Ob Trevor über seinen Kontaktmann wenigstens ein paar Berichte über sie bekam. Stattdessen lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung. Weg von dem Krebs und der zerbrochenen Familie.
»Wo hast du in den letzten Monaten gelebt?«, fragte er.
Trevor verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Auf Bali.«
»Na klar. Das dachte ich mir. Strände und Cocktails.«
»Ja, und Bräute in Bikinis. Dort hätte ich dich brauchen können. Wir wären ein tolles Team gewesen. Du hättest die heißen Mädchen abgeschleppt, und ich hätte die Verschmähten aus der zweiten Reihe getröstet.«
John musste über den geschmacklosen Witz des mehr als zehn Jahre älteren Kollegen lachen. In Baltimore hatte Trevor ihn einen »Jungen« genannt, obwohl er vierunddreißig war, und ihn wegen seiner Eitelkeit verspottet. In vielerlei Hinsicht waren sie auch die äußeren Gegensätze des anderen. John achtete sorgfältig auf seinen Körper und trug immer gut geschnittene Anzüge, während sein Freund etwas übergewichtig war und seine Klamotten im Schlussverkauf besorgte.
»Und was ist mit dir?«, erkundigte Trevor sich. »Warum bist du in diesen Winkel der Erde gezogen?«
John widerstand dem Impuls, die Wahrheit zu sagen. Dass er seine ersten zwölf Lebensjahre in Karlstad verbracht hatte und immer noch anständig Schwedisch sprach. Diese Geschichte musste warten, bis er absolut sicher war, dass er seinem Freund trauen konnte.
»Ich habe Schweden immer gemocht«, sagte er stattdessen. »Es wirkte sicher und geborgen. Einfach ein gutes Land zum Leben.«
»Aber was ist mit der Dunkelheit? Hier dämmert es verdammt noch mal schon wieder, bevor die Sonne überhaupt aufgegangen ist.«
»Ja, darauf war ich nicht wirklich vorbereitet. Aber die Leute hier sagen, dass es im Sommer genau andersherum ist. Dann ist es bis elf Uhr abends hell.«
Die Kellnerin brachte erst die Getränke und kurz darauf die Tapas. Trevor griff zu, aber das meiste blieb auf seinem Teller liegen. Mit dem Bier hatte er weniger Schwierigkeiten. Sein Glas war leer und wurde gegen ein neues ausgetauscht, bevor John sein Mineralwasser halb ausgetrunken hatte.
»Wie lange bleibst du hier?«, fragte John und bereute die Frage sofort.
Trevor stocherte verlegen mit der Gabel in dem spanischen Gericht herum.
»Du hast kein Rückflugticket, stimmt’s?« Ohne die Antwort abzuwarten, legte John seine Hand auf den Arm seines Freundes.
Trevor war nicht nach Schweden gereist, um sich endgültig zu verabschieden und dann nach Hause zurückzukehren. Er war hergekommen, um nicht allein zu sterben.
»Entschuldige, aber ich muss pinkeln.« Trevor räusperte sich und schob den Stuhl zurück. Als er aufstand, schwankte er und musste sich auf die Tischplatte stützen, um das Gleichgewicht zu halten.
»Alles okay?«
»Die Schmerzmittel. Ich habe sie vergessen. Sie sind verdammt stark und sollten nicht mit Alkohol gemischt werden.«
John warf einen Blick auf die steile Wendeltreppe, die zu den Toiletten im Keller hinabführte.
»Ich komme mit«, sagte er. »Meine Blase drückt auch.«
Er ging vor Trevor die Treppe hinunter. Nah genug, um notfalls eingreifen zu können, aber ohne ihm den Arm zur Unterstützung anzubieten. Unten angekommen, mussten sich beide bücken, um mit dem Schädel nicht gegen die niedrige Betondecke zu stoßen.
»Ladies first«, sagte John und gab Trevor mit einem Wink zu verstehen, dass er vorausgehen sollte.
Sie standen nebeneinander an den Urinalen. Trevor warf einen Blick zur Tür und knöpfte dann den oberen Knopf seines Hemdes auf. John wollte fragen, was er da tat, doch Trevor legte den Zeigefinger auf den Mund. Er öffnete einen weiteren Knopf und schob den Stoff zur Seite.
Dort – mitten auf seinem riesigen Brustkorb – klebte ein Mikrofon.
Alicia war schon ein einige Male so abgestürzt, dass sie einen Filmriss hatte, aber das hier war die Krönung. Dies war der Urvater aller Räusche, das Original, dem alle Betrunkenen der Welt nacheiferten.
Die Katastrophe hatte mit ein paar Bieren im Palermo begonnen, war eskaliert, als sie die idiotische Entscheidung traf, mit dem Anführer eines Motorradclubs ins Bett zu gehen, und hatte schließlich damit geendet, dass sie auf dem Heimweg von seiner Wohnung in einer Schneewehe einschlief.
Laut Krankenakte hatte ihre Körpertemperatur einunddreißig Grad betragen, als sie bewusstlos in die Notaufnahme des Zentralkrankenhauses eingeliefert worden war. Die letzte Erinnerung, die Alicia von der Nacht abrufen konnte, war ein bellender Hund. Genauer gesagt waren es Erinnerungsgeräusche. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, die Augen zu öffnen.
Als sie aufwachte, lag eine merkwürdige aufblasbare Decke auf ihr. Sie war an eine Maschine auf dem Boden angeschlossen, die heiße Luft hineinpumpte. Ihr Gesicht hatte den jungen Arzt auf der Intensivstation zu einer irrigen Annahme veranlasst. Im ersten Moment dachte er, die Verletzungen würden mit der Verkühlung zusammenhängen, und es war ihm sehr peinlich, als Alicia ihm erklärte, dass sie alt waren.
Der Tag war in einem Nebel aus Schlaf und Übelkeit vergangen. Erst als es draußen wieder dunkel wurde, fühlte sie sich ein wenig wacher. Laut dem Monitor neben dem Bett war ihre Körpertemperatur auf 36,2 Grad angestiegen.
Eine Krankenschwester kam vorbei und kündigte Besuch an. Am Klackern der Absätze im Korridor erkannte Alicia, dass es Stella war. Sie hatte dem Personal die Nummer ihrer Schwester gegeben, als sie fragten, wen sie kontaktieren sollten.
Stella schwebte in ihrem braunen Kaschmirmantel ins Zimmer. Ein Duft von Parfüm legte sich über den sterilen Geruch von Desinfektionsmitteln. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, und Alicia nahm ihre Hand, die sich im Vergleich zu ihrem eigenen Körper, der immer noch auftaute, heiß anfühlte.
»Ich saß im Zug aus Stockholm, als mich das Krankenhaus angerufen hat. Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt. Du hättest sterben können, ist dir das klar?«
Ja, das war ihr klar. Der Arzt hatte ihr das auch schon ein paarmal gesagt.
»Was ist denn passiert?«, fragte Stella.
Alicia fiel es schwer, ihrer Schwester in die Augen zu sehen. Sie wollte es ihr nicht erzählen. Wie oft waren sie schon in dieser Situation gewesen? Stella, die auf einem Stuhl neben einem Krankenhausbett saß und sich Sorgen machte, während sie selbst, das schwarze Schaf, unter der Decke lag.
»Ich habe ein bisschen zu viel getrunken«, sagte sie.
»Ein bisschen zu viel?«
»Okay, viel zu viel.«
»Warst du an diesem abscheulichen Ort?«
»Wenn du damit das Palermo meinst, dann ja.«
Alicia versuchte, sich ihre Schwester unter den Gästen in ihrer Stammkneipe vorzustellen. Das war schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Stella war groß und schlank, hatte aber dennoch feine Rundungen. Ihr glattes Haar war von Natur aus blond und umrahmte ein symmetrisches Gesicht mit hohen Wangenknochen. Bereits als Kind hatte sie an der Kasse im Supermarkt die Modemagazine durchgeblättert und die Posen der Models auf den Fotos eingeübt.
»Wie war das Fernsehinterview?«
Stella ließ Alicias Hand los und lehnte sich zurück. »Gut, glaube ich, zumindest fühlte es sich so an.«
»Wann wird es ausgestrahlt?«
»Um sieben.«
»Wo schaust du es dir an?«, fragte Alicia.
»Im Büro. Die anderen aus dem Vorstand wollten unbedingt, dass wir heute Abend eine After-Work-Party für die Mitarbeiter organisieren. So traurig, dass du nicht dabei sein kannst. Denn du musst ja bis morgen hierbleiben, oder?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben mir nichts gesagt.« Alicia sah sich in dem kahlen Raum um, dessen medizinische Geräte ihre Körperfunktionen überwachten. Die Wände waren krankenhausweiß, und an einem Nagel hing immer noch der Kalender der schwedischen Ärztekammer aus dem vergangenen Jahr. Eines war sicher: Sie wollte hier nicht übernachten.
Stella wollte mehr darüber erfahren, was am Vorabend und in der Nacht tatsächlich passiert war, und nach etwas Überredung erzählte Alicia ein paar ausgewählte Details. Die Geschichte mit dem Präsidenten ließ sie jedoch weg. Es war peinlich und erbärmlich, wie sie sich benommen hatte.
»Meine Güte«, sagte Stella, als Alicia fertig war. »Du musst besser auf dich aufpassen. Wir brauchen dich. Ich brauche dich.«
Der besorgte Blick ihrer Schwester verstärkte ihre Scham.
»Gibt es einen besonderen Grund, warum das gerade jetzt passiert?«, wollte Stella wissen.
Alicia schüttelte langsam den Kopf. Sie wusste, worauf Stella hinauswollte. Ausrutscher wie dieser waren oft ein Zeichen dafür, dass sie überarbeitet war. Und solche Episoden endeten immer auf die gleiche Weise – mit einer Bruchlandung.
»Nein, mir geht es gut.«
»Bist du sicher?«
»Ja, es war nur ein Ausrutscher. Eine einmalige Sache.«
»Du weißt, dass du es mir sagen musst, wenn du wieder auf dem Zahnfleisch gehst.«
»Keine Sorge. Alles fühlt sich viel besser an, seit wir den Start in Deutschland verschoben haben. Gestern habe ich schon um zwei Uhr Feierabend gemacht. Vielleicht ist das das Problem – ich habe zu wenig zu tun.« Alicia versuchte es mit einem Lächeln.
Ihre Schwester erwiderte es, schien jedoch nicht überzeugt zu sein. Sie stand auf, zog ihren Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Erst jetzt bemerkte Alicia, was sie darunter trug. Wenn sie sich nicht täuschte, war es das Gaultier-Kleid mit schwarzen Perlen, das sie vor Kurzem gekauft hatte.
»Schön«, sagte sie, um das Thema zu wechseln.
»Danke, ich trage es zum ersten Mal.«
»Hattest du es beim Interview an?«
»Nein, das rote. Aber für heute Nacht wollte ich das hier nehmen.«
Alicia runzelte die Stirn. »Für die After-Work-Party?«
»Nein … Oder ja, da auch natürlich.«
»Dann gehst du danach noch woandershin?«
»Ja, vielleicht.« Stella lächelte und strich sich mit ihren perfekt manikürten Fingern durchs Haar. Sie neigte den Kopf nach hinten, und ihre lange Mähne wogte wie in einer Shampoo-Werbung.
»Wer ist es?«, fragte Alicia.
Ihre Schwester wirkte stolz und verlegen zugleich. Als wollte sie es sagen, wüsste aber nicht, ob sie es sollte. Das sah Stella gar nicht ähnlich. Sie hatte nie ein Geheimnis aus ihrem extravaganten Liebesleben gemacht.
»Komm schon, Schwester. Wer hat dieses Kleid verdient?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Stella. »Die betreffende Person legt in der Regel keinen Wert darauf, wie ich angezogen bin.«
Alicia sah sie überrascht an. »Nicht? Was meinst du damit?«
»Ja, da hast du etwas zum Nachdenken.«
»Und deshalb frage ich ja – weil ich darüber nachdenke.«
Stella lächelte geheimnisvoll. Sie kam um eine Antwort herum, weil die Krankenschwester den Raum betrat und die aufblasbare Decke zurechtrückte.
»Fühlen Sie sich jetzt besser? Sie müssen sich ausruhen, es wäre großartig, wenn Sie eine Weile die Augen zumachen könnten.«
Alicia nickte zustimmend, und die weiß gekleidete Frau eilte wieder hinaus in den Korridor.
Stella nahm ihren Mantel und beugte sich über das Bett. »Du hast gehört, was sie gesagt hat. Du sollst schlafen. Pass auf dich auf und sag dem Personal, dass sie mich jederzeit anrufen können, wenn du etwas brauchst.« Sie gab ihr einen sanften Kuss auf die vernarbte Wange.
Alicia biss die Zähne zusammen und hielt die Luft an. Niemand sonst wagte es, ihr Gesicht so zu berühren.
An der Tür drehte sich ihre Schwester noch einmal um. »Dating in the Dark«, sagte sie. »Deshalb spielen die Klamotten keine Rolle.«
Wenn Alicia nicht so müde gewesen wäre, hätte sie gelacht. Stella war in vielerlei Hinsicht wie ein Kind. Das Geheimnis brodelte in ihr, und am Ende konnte sie es nicht für sich behalten.
»Und was zum Teufel ist das?«, fragte Alicia.
»Das musst du selbst rausfinden. Du bist das Genie von uns beiden.«
Der Blick aus der obersten Etage des Empire State war beeindruckend. John hatte das Haus am Hafen nach New Yorks klassischem Wahrzeichen benannt. Das Gebäude war nicht annähernd so hoch wie das Original, für Karlstader Verhältnisse jedoch ein Wolkenkratzer.
Je nachdem, durch welches Fenster er hinausschaute, sah er entweder das Wasser des Vänern oder den Turm des Doms im Stadtzentrum. Aber nur tagsüber, im Hellen. Jetzt war es dunkel, und John blickte in eine andere Richtung. Nach innen. Auf seine eigene erbärmliche Existenz.
Warum hatte er Trevor überhaupt eine E-Mail geschickt? Die Regeln für den Zeugenschutz gab es aus guten Gründen. Aus jahrzehntelanger Erfahrung vieler geschützter Personen. Aber hatte er sich darum geschert? Nein, natürlich nicht.
Nicht einmal, als er vermutet hatte, dass ihm die Verfolger schrieben, hatte er die Chance genutzt, aus der Stadt zu fliehen. Stattdessen hatte er seine Gefühle regieren lassen, und jetzt war es zu spät. Ganirus Killer lauerten garantiert vor der Wohnung und würden eingreifen, wenn er einen Fluchtversuch unternahm.
Erneut dachte John an die Szene in der Toilette des Rederiet zurück. Trevor hatte ihm eine Serviette zugesteckt, auf der stand: Typ mit Haarknoten an der Bar und Lad mich für morgen zu dir ein.
Dass der Kerl mit den silbergrauen Haaren für Ganiru arbeitete, war keine Überraschung. Er hatte ganz oben auf der Liste der potenziellen Verfolger gestanden. Als sie wieder am Tisch saßen, hatte John zu erkennen versucht, ob der Kerl einen Sender im Ohr hatte, jedoch keinen gesehen. Wahrscheinlich war das Gerät im Gehörgang versteckt. Die Helfer des Mannes waren ebenso unsichtbar. Vielleicht hörten sie in einem Auto auf dem Parkplatz hinter dem Restaurant zu.
Trevors Aufforderung, ihn nach Hause einzuladen, verursachte John Unbehagen. Gleichzeitig verstand er, warum sein Freund das vorschlug. Auf diese Weise konnten sie den wachsamen Augen entkommen, und der Vorschlag musste von John kommen. Den Verfolgern würde es nicht gefallen, wenn Trevor das Gespräch von sich aus an einen Ort verlegte, den sie nicht einsehen konnten. Es war schon schlimm genug, dass John mit ihm auf die Toilette im Keller gegangen war.
Nach einigem Zögern hatte er daher die Anweisung befolgt und gefragt, ob Trevor am nächsten Abend um sechs Uhr bei ihm vorbeikommen wolle.
John sah auf seine Uhr.
In einer Viertelstunde war es so weit.
Er holte ein Bier aus dem Kühlschrank in der Küche. Seine Mietwohnung bestand aus einem einzigen Raum von mindestens zweihundert Quadratmetern. Die Möblierung war gelinde gesagt spärlich. Ein schmiedeeisernes Bett, ein Chesterfieldsessel vor den Fenstern mit Seeblick und im Küchenbereich ein Tisch aus unbehandeltem Kiefernholz sowie drei hochkant aufgestellte Obstkisten, die als Stühle dienten.
John setzte sich auf eine davon und öffnete das Bier. Seine Hand zitterte, als er die Flasche an den Mund hob. Ein vielstimmiger Katastrophenchor schrie in seinem Kopf. Man würde ihn verprügeln. Grausam foltern. Es war nur eine Frage von Minuten, bis die Verfolger in die Wohnung stürmen und sie in eine Folterkammer verwandeln würden.
John versuchte, nach dem einzigen verbliebenen Strohhalm zu greifen. Trevor hatte ihn zwar verraten, aber er hatte auch sein Hemd aufgeknöpft und das Mikrofon auf seiner Brust entblößt. Das musste bedeuten, dass er die Seite wechseln und nicht mehr an Ganirus Operation teilnehmen wollte. Wie auch immer die aussah.
Als es klingelte, entsicherte John die Dienstwaffe und ging zur Wohnungstür. Er ließ den Besucher ins Treppenhaus und wartete, das Auge an den Spion in der Tür gepresst. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Aufzug in der obersten Etage angelangt war. Erst als er sah, dass es wirklich Trevor war und dass sein Freund unbegleitet kam, entspannte er sich und ließ ihn in die Wohnung.
»Wow, das ist ja ein krasses Penthouse«, sagte Trevor und setzte sich auf eine der Obstkisten in der offenen Küche.
»Die Einrichtung ist ein bisschen schräg, aber ich mag es«, sagte John. Vielleicht würden die Knochen in seinem Körper noch eine Weile intakt bleiben. »Willst du ein Pils?«, fragte er.
»Danke, gerne.«
John holte eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Er überlegte, die Vorhänge zuzuziehen, entschied sich aber dagegen. Das Geräusch würde vom Mikrofon auf Trevors Brust aufgenommen werden, und hier oben konnte ohnehin niemand in die Wohnung blicken.
Er stellte das Bier zusammen mit einem Notizblock und einem Bleistift auf den Tisch. Den Stift hatte er mit Sorgfalt ausgewählt. Er hatte eine weiche Mine und kratzte nicht auf dem Papier.
»Prost«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf den Tisch.
Trevor kapierte das Spiel. Er schrieb groß Entschuldigung auf die Seite und hielt den Block wie ein Plakat in die Luft.
John nahm den Stift.
Was ist los? schrieb er.
Trevor zeigte seine Fähigkeit zum Multitasking, als er erzählte, wie schlecht das einheimische Bier auf Bali schmeckte, und es gleichzeitig schaffte, die Frage zu beantworten.
Sie haben mich gefunden. Keine Ahnung, wie. Sie haben das Passwort geknackt und die E-Mails beantwortet, genau wie du gesagt hast.
John zog den Block zu sich.
Krebs? schrieb er.
Trevor schüttelte den Kopf.
Natürlich war das eine gute Nachricht. Trotzdem ärgerte sich John, getäuscht worden zu sein.
Warum bist du hier? schrieb er.
Die Antwort seines Freundes zog sich in die Länge, und John kaufte ihnen einen Moment der Stille, indem er verkündete, dass er auf die Toilette gehen müsse. In Wirklichkeit ging er nur in den Flur, zog seine Schuhe aus und schlich in Strümpfen zum Tisch zurück, um Trevors Antwort zu lesen.
Sie fragten nach einem Film, und da wurde mir klar, dass du etwas gegen Ganiru in der Hinterhand hast. Ein Video, das an die Öffentlichkeit gehen würde, wenn dir etwas zustoßen sollte.
John nahm einen tiefen Schluck aus der Bierflasche.
Dann war es so, wie er vermutet hatte: Trevor wusste von seiner Lebensversicherung. Das Video war vor einem Jahr zufällig während eines Auftrags mit dem Chef des Drogennetzwerks in einem Vorort von Baltimore zustande gekommen.
Ganiru hatte ihn gebeten, im Auto zu warten, während er jemanden in einem Lagerhaus traf. John ignorierte die Anweisung und filmte das Treffen heimlich durch einen Riss im Wellblech. Der schnurrbärtige Mann, mit dem Ganiru sprach, war kein Unbekannter. Er war einer der angesehensten Zivilbullen der Polizei von Baltimore und leitete alle wichtigen Ermittlungen im Bereich der Drogenkriminalität im östlichen Distrikt.
Die beiden Alpha-Männchen schienen wütend aufeinander zu sein und gestikulierten wild herum. Als der Schnurrbärtige mehr Geld für seine Dienste verlangte, zückte Ganiru eine Waffe mit Schalldämpfer und schoss ihm in den Kopf.
John war hastig zurück zum Auto gelaufen. Wäre der verdeckte Ermittler ehrlich gewesen, hätte John seinem FBI-Kontaktmann beim nächsten Treffen das Beweismaterial übergeben. Aber für korrupte Bullen galten andere Regeln. John beschloss, den Film zu behalten, um so etwas gegen Ganiru in der Hand zu haben. Korrupt oder nicht, die Strafe für einen Polizistenmord war lebenslange Haft.
Nach dem Prozess hatte er Ganirus Anwalt diskret einen USB-Stick mit einer Kopie der Videodatei zukommen lassen – zusammen mit der Nachricht, dass der Film im Falle von Johns Tod im Internet veröffentlicht und der Link per E-Mail an das örtliche Büro des FBI in Baltimore geschickt würde. Die Beweise würden zu einer neuen Anklage führen und die sieben Jahre hinter Gittern in eine Ewigkeit verlängern. Es war ein besserer Schutz gegen Ganirus Rache als alles, was das FBI bieten konnte.
John setzte den Stift auf das Papier und ignorierte Trevors Blick. Sein Freund schien enttäuscht zu sein, dass er ihn nicht in sein Geheimnis eingeweiht hatte.
Du hast die Frage nicht beantwortet: Was machst du hier?
John unterstrich den letzten Satz und schob ihm den Block zu. Trevor blätterte zu einer leeren Seite, um genügend Platz zum Schreiben zu haben.
Ich habe gehört, wie sie davon gesprochen haben, dich zu foltern, bis du den Film herausgibst. Da habe ich ihnen gesagt, dass das sinnlos ist. Sie könnten dich noch so quälen, du würdest niemals verraten, wie du die Veröffentlichung arrangiert hast. Das wäre ja gleichbedeutend mit dem Tod. Also habe ich angeboten, dir das Geheimnis zu entlocken. Mein Leben im Austausch für das Video, das ist der Deal.
Also bist du ihr Spitzel? schrieb John.
Ich hatte keine Wahl. Sie hätten mich umgebracht, antwortete Trevor.
John merkte, dass sein »Toilettenbesuch« nicht so lange dauern konnte. Er stand leise auf, schnürte seine Schuhe im Flur, betätigte im Badezimmer die Klospülung und kehrte mit lauten Schritten zum Küchentisch zurück.
»Willst du ein paar Erdnüsse vor dem Essen?«, fragte er.
»Ja, das wäre gut.«
John füllte eine Schüssel, während er einen Blick auf das warf, was sein Freund schrieb.
Ich möchte, dass das Video mich auch schützt. Ganiru muss erfahren, dass er keinem von uns Schaden zufügen kann, ohne dass es verbreitet wird.
Trevors Wunsch war nachvollziehbar, aber es war immer noch nicht klar, ob John ihm vertrauen konnte. Er dachte an die Videodatei, die sich auf einem Server in der Cloud befand. Einmal in der Woche besuchte er eine Website und gab den achtstelligen Code ein, der die Veröffentlichung des Videos verhinderte. Wenn er die Details des Plans enthüllte, ging er ein großes Risiko ein.
Trevor schien sein Zögern zu verstehen.
Du musst jetzt nicht antworten, schrieb er. Schlaf eine Nacht drüber, dann können wir uns noch mal treffen und mehr »reden«. Bis dahin müssen wir das Spiel weiterspielen.
John nickte. Genau das hatte er vor. So zu tun, als sei sein kranker Freund nach Karlstad gekommen, um zu sterben, und ihn möglichst bald wieder zum Abendessen nach Hause einzuladen.
Aber erst mussten sie den heutigen Abend überstehen. Er sah auf die Uhr und versuchte zu schätzen, bis wann Trevor bleiben musste, damit die Verfolger nicht misstrauisch wurden. Zwei Stunden gefüllt mit sinnlosem Gerede für das Mikrofon an Trevors Brust lagen vor ihnen.
John wurde schon langweilig, wenn er nur daran dachte.
Alicia saß auf dem Rücksitz des Taxis und schaute durch das beschlagene Fenster, als sie auf dem Heimweg vom Krankenhaus am Stora Torget vorbeifuhren. Der geschmückte Weihnachtsbaum stand immer noch neben dem Rathaus und leuchtete in der Winterdunkelheit, obwohl die Weihnachts- und Neujahrswochenenden längst vorbei waren.
Der Arzt hatte sie nach dem abendlichen Check entlassen, ohne dass Alicia lange diskutieren musste. Er war auch der Meinung, sie könne genauso gut zu Hause schlafen und sich dort erholen. Ihre Körpertemperatur war wieder normal und ihr Allgemeinzustand so gut wie unter den gegebenen Umständen möglich.
Das Auto fuhr an Sandgrund vorbei und weiter hinaus auf die Brücke in Richtung Sundsta. Der Klarälven lag still und gefroren da. Alicia musste sich ins Gedächtnis rufen, welcher Tag heute war. Donnerstag.
Sie nahm ihr Handy aus der Tasche. Das Display leuchtete im Halbdunkel auf, und allein der Anblick der langen Liste ungelesener E-Mails machte sie müde. Die Arbeit lockte sie nicht mehr wie früher, genauso wenig die Einsamkeit in ihrem Haus am Norrstrand.
Alicia beugte sich zum Taxifahrer vor. »Vergessen Sie die Gröna Gatan, wir fahren stattdessen zum Palermo. Wissen Sie, wo das ist?«
Der Mann musterte sie im Rückspiegel. »Meinen Sie die Pizzeria auf der Norra Allén?«
»Genau. Fahren Sie mich bitte dorthin.«
Ratko stand wie immer hinter dem Tresen und blickte auf sein trauriges Königreich aus Spielsüchtigen und Sportfans.
»Du schon wieder?«, fragte er. »Das hätte ich nach gestern nicht gedacht.«
»Solltest du nicht in einem deiner angesagten Clubs sein?«, erwiderte Alicia und bereute ihren biestigen Ton sofort.
Sie hatte im Taxi eine Entschuldigung vorbereitet. Wie sie sich gestern benommen hatte, war nicht in Ordnung gewesen, aber Ratkos selbstgerechter Blick hinderte sie daran, die Worte auszusprechen. Sie wollte ihm diesen »Ich-hab’s-dir-doch-gesagt«-Triumph nicht gönnen.
»Ich gehe nachher in die Stadt«, sagte er. »Vor elf ist im Safir nichts los.«
»Großartig, dann hast du Zeit, mir eine Capricciosa zu machen.«
Eigentlich war sie nicht hungrig. Aber der Arzt hatte ihr gesagt, sie solle etwas essen, und es fühlte sich gut an, Ratko ein wenig herumzukommandieren. Alicia setzte sich an ihren üblichen Tisch, den die anderen Stammgäste stets frei ließen. Ein ungeschriebenes Gesetz. So wie Familienmitglieder feste Plätze am Küchentisch haben.
»Bezahle ich bei dir, oder soll ich das Geld direkt deinen Freunden mit den Lederjacken geben?«, rief sie gerade laut genug, dass es auch die Fußballfans vor dem Fernseher hören konnten.
Ratko warf ihr einen scharfen Blick zu, und Alicia breitete die Arme zu einem unschuldigen »Was denn?« aus. Auf dem Tisch waren noch Streifen vom Putzlappen auf der Glasplatte zu sehen. Besonders sauber war es hier nicht, aber das hatte sie auch nicht erwartet.
Ratko brachte ihr ein Glas Wasser und setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl.
»Warum bist du mit dem Kerl mitgegangen?«, fragte er.
»Ich dachte, dass er vielleicht mit mir schlafen will.« Ihre Antwort war trotzig wie die eines Kindes.
»Natürlich geht es mich nichts an, mit wem du Sex hast …«
»Genau«, unterbrach sie ihn.