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Außer fremden Pässen, Kreditkarten und zwei verschiedenen Schuhen finden sich kaum Hinweise auf seine Vergangenheit. War er in einen Autounfall verwickelt, wie es ihm seine ständig wiederkehrenden Alpträume nahelegen? Warum ist seine Wohnungseinrichtung verschwunden? Sollte seine Schwester Katja wirklich untergetaucht sein, weil sie Informantin war, wie behauptet wird? Die schrittweise Rekonstruktion seiner Vergangenheit ist die Geschichte eines kriminellen Manövers ohne Beispiel. Undurchsichtige Figuren von den längst vergangen geglaubten Fronten des Kalten Krieges tauchen auf, um seine Ermittlungen zu behindern – aber sein Gedächtnis gibt immer nur Bruchstücke eines schwer durchschaubaren Mosaiks frei … PRESSESTIMMEN: "Ein Lesefest für den Thrillerfreund von der ersten bis zur letzten Seite. Es hat nur einen Nachteil: Es hat ein Ende" (Darmstädter Echo)
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Seitenzahl: 372
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Peter Schmidt
Die andere Schwester
Thriller
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Inhaltsverzeichnis
Titel
ZUM BUCH
PRESSESTIMMEN
ÜBER DEN AUTOR
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Impressum neobooks
„Er schloss verwirrt die Augen – und riss sie sofort wieder auf, als er sich der bodenlosen schwarzen Tiefe in seinem Innern bewusst wurde. Was haben sie mit dir gemacht, Gordon?“
Ein Mann findet sich in einem Hotelzimmer wieder – mit fremden Pässen, einigen Kreditkarten, zwei verschiedenen Schuhen und der bohrenden Frage, wer er eigentlich ist. Bei der schrittweisen Rekonstruktion seiner Vergangenheit fügt sich Stein um Stein zu einem beklemmenden Mosaik …
http://autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/
„Der einzige deutsche Autor von Polit-Thrillern, den man ernst nehmen muss.“
(Rudi Kost, Eßlinger Zeitung) „Ein Lesefest für den Thrillerfreund von der ersten bis zur letzten Seite. Es hat nur einen Nachteil: Es hat ein Ende“
(Darmstädter Echo) „Peter Schmidt, von Kritikern als Deutschlands Politthriller-Autor Numero 1 gelobt, versteht es, Spannung und Verwirrung zu erzeugen und so hart an der Realität zu bleiben, dass seine Spekulationen keineswegs so fiktiv wirken, wie sie erdacht sind.
(Wirtschaftswoche)
„1. Wahl für alle Bibliotheken."
(Einkaufszentrale für öffentliche Bibliotheken) „'Die andere Schwester’ erhält das Pulp-Prädikat ‚Krimi des Monats’"
(Sender Freies Berlin)
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Ungekürzte, überarbeitete Neuausgabe der Hardcover-Fassung, Rasch und Röhring Velag Hamburg / TB-Ausgabe Goldmann, München
Copyright © 2013 Peter Schmidt
Peter Schmidt, geboren im westfälischen Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers John le Carré als einer der führenden deutschen Autoren des Spionageromans und Politthrillers. Darüber hinaus veröffentlichte er Kriminalkomödien, aber auch Medizinthriller (zuletzt „Endorphase-X“), SF- und Wissenschaftsthriller, Psychothriller und Detektivromane.
Bereits dreimal erhielt er den Deutschen Krimipreis („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.
Schmidt studierte Literaturwissenschaft und sprachanalytische und phänomenologische Philosophie mit Schwerpunkt psychologische Grundlagentheorie an der Ruhr-Universität Bochum und veröffentlichte rund 40 Bücher, darunter mehrere Sachbücher.
Der Himmel
ist übel zugerichtet
von roten Sternen
Aus einem Moskauer Lied
Saul oder Paul, Paul oder Saul, Benjamin oder der Geist über den Wassern ... erwusstenichtmehr, woihmderKopfstand. Gleich würden sie die Tür eintreten.
Oder bildete er sich das alles nur ein …?
Beide Fensterflügel standen offen und er klammerte sich mit ausgestreckten Armen an die Messingpfosten des Bettgestells …
Der grünlackierte Wandsockel vor ihm veränderte auf bedrohliche Weise seine Form. Quadrat, Rhombus und dann ...
… endlich, endlich wieder jenes liegende Rechteck, das, hoffentlich, seine natürliche Gestalt war …
Von unten drang Verkehrslärm herauf. Straßenbahnen quietschten und das Geräusch der Automotoren wirkte merkwürdig rau, der rasselnde Atem von Seeungeheuern oder langgestreckten Riesenraupen, die sich durch die Straßen wanden.
Wenn er seine Augen schloss, stürzte er aus großer Höhe in die nachtschwarze Tiefe, und um ihn her sprühten Funken auf wie Weihnachtssterne.
Aber viel beängstigender war der Gedanke, gleich die Kontrolle über sich zu verlieren. Seine Fäuste umschlossen das Metall der Bettpfosten so fest, dass die Gelenke knackten.
Er starrte das offene Viereck des Fensters an, um es durch seinen starren Blick zu bannen – um es daran zu hindern, näher zu kommen.
Die Vorstellung, vom zweiten Stock auf die belebte Straße zu springen, war lächerlich und realistisch zugleich.
Ein kaum zu beherrschender Zwang – aber anscheinend doch nicht stark genug, um seine verkrampften Finger zu lösen.
Schädelbruch und beide Beine gebrochen, dachte er. Oder gekrümmt wie ein Embryo als verkohlte Leiche in der Oberleitung. Bekam man überhaupt einen Stromschlag, wenn man das Kabel berührte?
Gorden ließ probeweise einen Pfosten los – es ging ganz leicht – und langte nach dem Buch auf der Nachtkonsole. Kaum die richtige Lektüre für diesen Zustand: Der Fänger im Roggen.
Es hatte, von irgend jemandem vergessen, unter dem Bettgestell gelegen, mit Anmerkungen und angetrocknetem Orangensaft beschmiert.
Er war völlig klar im Kopf, jedenfalls, was die Mathematik und das logische Denken anbelangte. Dreizehn mal siebzehn? Zweihunderteinundzwanzig.
Gesetzt den Fall, alle Pfeifenraucher sind Griechen, und Sokrates ist Grieche – was raucht er, falls man daraus einen Schluss ziehen kann?
Vielleicht Marlboro. Aber diese Klarheit war merkwürdig beängstigend. Wie der sonnige, blaue Himmel vor einer Wasserstoffbombenexplosion.
Er versuchte die ersten Sätze des zweiten Kapitels zu verstehen: SiehattenjedereinZimmerfürsichallein. BeidewarenumdieSiebzigodersogarälter. AbersiegenossenihrLeben – wennauchaufeineetwasverrückteArt.
Doch zwischen den Worten klafften Lücken. Jedes Wort stand einzeln, nur für sich. Er brauchte etwa drei Minuten, um durch wiederholtes Lesen ein eher halbherziges Gefühl in sich wachzurufen, er habe ihren Sinn verstanden.
Sie genossen das Leben – wenn auch auf eine etwas verrückte Art. Traf das auch auf ihn zu? Benjamin oder der Geist über den Wassern.
Er schloss verwirrt die Augen ... und riss sie sofort wieder auf, als er sich der bodenlosen schwarzen Tiefe in seinem Innern bewusst wurde. Was haben sie mit dir gemacht, Gorden?
Sein Entsetzen war so mächtig, die Angst, einer unbeherrschbaren Macht ausgeliefert zu sein, deren Spuren sich im Nichts verloren, dass er sich abrupt aufrichtete – und erst als er vor dem Bett stand, leicht gekrümmt, den Kopf mit dem buschigen Jungenhaar so geneigt, dass sein Kinn schmerzhaft die knochige Brust berührte, wurde er sich der Tatsache bewusst, die Bettpfosten losgelassen zu haben.
Seine Beine waren – zur eigenen Verwunderung – keine Automatik, sie strebten nicht sofort dem Fenster zu, um sich aufs Pflaster zu stürzen, sondern verhielten sich wie die gutkontrollierten Beine eines Durchschnittsbürgers. In diesem Augenblick wünschte er sich sogar, einer zu sein.
Unten in der Bar waren Menschen. Er fühlte sich sicherer bei dem Gedanken, zwischen ihnen an der Theke zu sitzen.
Der moderne Metallkasten des Aufzugs stand in merkwürdigem Gegensatz zum alten Baustil des Hotels, und im Spiegel neben der Schalttafel wirkten seine sonst so jugendlich sympathischen Züge mit den in die Stirn hängenden dunkelbraunen Haaren wie das erschrockene rotfleckige Gesicht eines braven Bürgers, der gerade in einem dunklen Hinterhof ausgeplündert worden war, obwohl man ihm eben erst auf der Polizeiwache mitgeteilt hatte, seine Töchter seien in die Hände brutaler Kidnapper gefallen.
Etwas zuviel auf einmal, selbst wenn man so nervenstark und unbekümmert war wie er.
Das Gesicht verschwand auch nicht, als er auf dem Barhocker Platz nahm. Es ließ sich nicht mehr vertreiben, sondern folgte ihm wie ein anhänglicher Köter überallhin.
Er bestellte einen doppelten Espresso – "stärker und schwärzer als die vergangene Nacht", wie er mit belegtem Hals und krächzender Stimme herausbrachte. Gegenüber war eine die ganze Thekenlänge einnehmende Barscheibe mit zerkratztem Silberbelag.
Die wandernde Form seines Gesichts, die sich in den Wellen des Belags verzerrte und die bei jeder Kopfbewegung zu- oder abnahm und seinen Nasenansatz wie eine Gummimaske dehnte und wieder zusammenschloss, wirkte auf unheimliche Weise realistischer als die nichtssagenden Züge des Barkeepers. Mit seiner Fliege, dem steifen weißen Hemd und der Lederschürze schien er lediglich eine hohle Attrappe seiner selbst zu sein.
Gorden verspürte das unwiderstehliche Verlangen, hinter seinen Rücken zu greifen, um sich zu vergewissern, dass er keine Halbform aus gepresster Pappe war.
Und dieser Eindruck legte sich auch nach dem zweiten Espresso nicht. Das Koffein schien seinen Zustand eher noch zu verstärken.
Wie ein Fieberkranker, dachte er.
Gleich wird man mich fragen, was mit mir los ist. Abmarsch in die Klapsmühle, Zwangsjacke ... und wenn nach den Beruhigungsspritzen das Stadium des Protestes und der Rebellion einsetzte, die Gummizelle ... War man erst mal in den Fängen dieser Chemiefritzen, dann würde das labile chemisch-elektrische Gleichgewicht des Körpers schnell nachgeben.
Saul oder Paul, Paul oder Saul, Benjamin oder der Geist über den Wassern ...
Gorden übergab sich … beide Hände an die Backsteinwand gestützt … und entdeckte, dass er in einer dämmrigen Toreinfahrt stand.
Über ihm – Postkarte oder Filmausschnitt? – die Sichel des Mondes, die auf die Fernsehantenne am Dachfirst einhieb. Er hustete, um den Rachen freizubekommen.
Rausch ausgeschlafen? Filmriss, so nannte man das wohl im Jargon. Hieß er wirklich Gorden? Wo war er gewesen? Durch die Nacht geirrt? Was war in der Zeit nach den beiden Espresso passiert?
Die Fenster auf der anderen Straßenseite hingen schief – nein, sein Kopf. Er blickte unter seinen Armen durch, und die zwitterhaften Konturen der Dächer und Wände, das silbrige Licht über den Dachpfannen, das sich nicht entscheiden wollte, ob es mehr dem Morgen als der Nacht zuneigte, verwirrten sein Zeitgefühl.
Jemand, dem ein paar Stunden fehlen, verbringt in aller Regel die nächsten Minuten damit, sich der Realität zu versichern und seine Erinnerungen zu prüfen, bis er gewiss sein kann, dass er nicht geträumt hat.
Aber Gorden verschwendete keinen Gedanken daran.
Er lugte um die Ecke der Toreinfahrt – unbekannte Gegend, links oder rechts? –, entschied sich für links und eilte, leicht hinkend, die Straße entlang. Erst jetzt wurde er sich der Tatsache bewusst, dass etwas mit seinem rechten Fuß nicht stimmte. Unterhalb des Innenknöchels.
Vor der Fassade des Filmtheaters jagte ihn eine Straßenkehrmaschine auf den Gehsteig zurück.
Jemand rief aus dem Beifahrerfenster:
"Such dir eine Mülltonne als letzte Ruhestätte, alter Penner", und er blickte überrascht an seinem Aufzug herab.
Wahrhaftig: Penner war sogar noch geschmeichelt. Der Stoff über seinem linken Knie hing in Fetzen herunter und entblößte seine bleiche Kniescheibe. Sein Sakko hatte das Aussehen eines schimmeligen Lappens angenommen – und einer seiner beiden Schuhe musste vertauscht worden sein ...
Ausgeraubt! war sein erster Gedanke. Aber warum sollte ihm jemand einen fremden Schuh anziehen?
Noch dazu einen aus rotbraunem Krokodilleder?
Kein Dieb oder Räuber würde so menschenfreundlich sein, es sei denn, im Scherz. Gorden versuchte ärgerlich die Lederkante am rechten Innenknöchel umzubiegen, sie scheuerte und drückte.
Er untersuchte den Inhalt seiner Taschen. Papiere, Geld, zwei Pässe, verschiedene Visitenkarten – eher zuviel als zuwenig. Wozu zwei Pässe? Er wusste nicht, ob er erleichtert oder irritiert sein sollte.
Eine talentierte Spürnase konnte zweierlei tun: sich hinsetzen und warten, ob die Bewusstseinstrübung vorüberging – oder herumjagen, bis der Tag der Wahrheit und Erleuchtung kam. Mit der kleinen Einschränkung, dass er ein Mensch ohne Sitzfleisch war.
Er hatte schon in der Schule keinen Augenblick still sitzen können. Seine Lehrer pflegten immer zu behaupten, er sprühe vor überbordender Energie – überbordend, dieses Wort hatte ihn besonders beeindruckt.
Nur eben in die falsche Richtung. Seine Energie sprudelte nicht in Richtung Latein und Mathematik, sondern zur Schulhofmauer, hinter der die Apfelbäume lagen.
Unerklärlich, dass er sich ausgerechnet daran erinnerte, aber nicht an das, was passiert war.
Irgendwo da vorn war etwas, das wie ein Stadtzentrum aussah. Schaufenster, Portale, Plakatwände. HelfenSieuns, dassunsereBrüderinderehemaligenDeutschenDemokratischenRepublik keineBürgerzweiterKlassewerden! verlangte ein Plakat. Es war am unteren Rand mit Hakenkreuzen beschmiert.
Ach ja, die Wiedervereinigung. Gorden erinnerte sich undeutlich, irgend etwas mit dem anderen Teil Deutschlands zu tun zu haben.
Am Kreisverkehr bestieg er ein Taxi. Er versuchte vergeblich zu sagen: Universität, bitte, schnell ... Da, wo seine Zunge sonst willig gehorchte, war nur ein teigiger Klumpen, fast ohne Gefühl, ein Loch oder Nichts in der schwammigen Masse seines Mundes.
Der fragende Blick des Fahrers hing an seinen unbewegten Lippen.
Eine lange, quälende Zeitspanne verstrich, in der sie sich musterten wie zwei Idioten, die Probleme mit der Verständigung hatten. Der eine, weil er unfähig war, Gedanken zu lesen, der andere, weil er kein mühsam gestammeltes Wort herausbrachte.
"Ist Ihnen nicht gut?"
"Fahren Sie mich zur Universitätsbibliothek", sagte Gorden, als habe er nie irgend etwas so sicher beherrscht, wie flüssig zu sprechen. "Hintereingang."
Er horchte dem Geräusch der quietschenden Reifen nach, als der Wagen durchstartete, wie um ihn, den armen unberechenbaren Irren, möglichst schnell an seinem Ziel abzusetzen.
Na also, geht doch, dachte er. Alles eine Frage des Willens. Und wie viel mehr erst des guten Willens? Halleluja, ich werde fromm.
Angst trieb die verirrten Schäflein in die Arme des großen Schäfers zurück.
Das Wort Gethsemane kam ihm in den Sinn. Nein, aber im Ernst, Gorden, der gute Wille regiert die Welt. Sie weiß nur noch nichts davon. Er ist das große Sesam-öffne-dich.
Der schlechte ist nur sein ewig unterlegener Schatten, ein eitler, eifersüchtiger Scharlatan, der sich wie der Herr der Welt gebärdet.
Die Morgensonne schob sich rot und furchteinflößend groß über das Dach des Telegrafenamtes. Ein Feuerball, von dem man nicht recht wusste, auf wessen Seite er stand.
Dagegen nahm sich die schwarzgraue Backsteinfassade des Postgebäudes geradezu vertrauenerweckend gewöhnlich aus. Die Fensterkreuze wirkten mit ihren tiefen Nischen wie ins Halbdunkel gerückte Altäre. Gorden versuchte sich an ihren Anblick zu erinnern:
Er tat sozusagen probeweise so, als fahre er diese Strecke jeden Morgen zur Arbeit, um die Erinnerung hervorzulocken.
Aber da war keine Erinnerung. Es schien Herbst zu sein, mit einer deutlichen Ahnung von Winter und Feuchtigkeit oder erdigem Geruch in der Atmosphäre, als wittere man schon die Fäulnis in den Stielen, obwohl es schwülwarm war. Die meisten Passanten trugen Sommerkleidung. Ihrem leicht vorgebeugten Gang war anzumerken, dass sie es eilig hatten.
Einem klaren und deutlichen Ziel zuzustreben, und sei es auch nur eine Kaufhaustheke oder das nüchterne Büro einer Kohlenhandlung, kam ihm plötzlich erstrebenswerter vor als alles andere. Was ihn aufrecht hielt, war nur dieses eine Wort: Universität.
Er spürte, dass sich damit irgend etwas von Bedeutung verband. Aber was genau, das hätte er nicht zu sagen vermocht. Es war wie eine Ahnung im Dunstkreis des Begriffs. Man konnte assoziieren: Bibliothek, Büros, keine Gefahr, Türen schließen, Vorsicht, Gorden ...
Nein, nicht Gorden. Saul oder Paul, Paul oder Saul, Benjamin oder der Geist über den Wassern ... Beklemmung überkam ihn, als er sah, wie leicht sich sein Verstand verwirrte.
Die Klarheit und Ruhe in der Leere waren einem unbestimmten Gefühl des Grauens gewichen. Desorientierung, die stärkste Waffe überhaupt. Hatte er das nicht irgendwann gelernt?
Aber wo und bei wem? Irreführung, Desorientierung, Desinformation ... wie kam er auf Desinformation?
Desorientierung konnte einen Menschen zugrunde richten.
Wenn man jemandem seine gewohnte Umgebung nahm, und dazu gehörten auch seine Überzeugungen, seine unausgesprochenen Gedanken und der Sinn, den er seinem Leben beimaß, dann zerstörte man damit viel mehr, als wenn man ihn bloß demütigte oder ausraubte.
"Acht fünfzig."
"Bitte?"
"Hinterausgang Universität ..."
"Sind Sie sicher, dass ich zur Universität wollte?" Gorden musterte skeptisch die gläsernen Schwingtüren.
Das Gebäude war mindestens zwölf Stockwerke hoch, eine anonyme graue Wand aus Fensterscheiben, in denen sich die Wolkenberge spiegelten. Im obersten Stockwerk befanden sich umlaufende Balkone aus ungestrichenem Beton.
Das Wort Mauersegler kam ihm in den Sinn. Richtig: Von dort oben hatte sich schon mancher lebensmüde Student in die Tiefe gestürzt. Aber wo war sein Ziel? Welche Tür hätte er ansteuern sollen?
"Das fragen Sie besser Ihren Psychiater, Mann ... Achtfünfzig. Und versuchen Sie mir nicht auf die Tour mit dem sanften Irren zu kommen."
"Ich bin vielleicht irre, aber ich war nie sanft."
Gorden lächelte verklärt.
Das Gefühl, sich seine Verrücktheit einzugestehen, befreite ihn für einen Augenblick von seiner Angst und Verwirrtheit. Eine kostbare Sekunde lang, in der man wieder Hoffnung schöpfen konnte.
Er durchsuchte seine Jackentaschen nach ein paar Münzen. Dann hob er eine Hand über den Kopf und flüchtete vor dem beginnenden Regenschauer in die Eingangshalle. Der Taxifahrer blickte ihm nach, als habe er nicht alle Tassen im Schrank.
Drinnen wandte er sich noch einmal zurück, presste seine Nase gegen die Glastür – und war entsetzt zu entdecken, dass die staubigen grauen Steinplatten draußen keinen einzigen Tropfen zeigten. Er sah zum Himmel hinauf und wartete ...
Schon ein einziger winziger feuchter Kreis wäre die Erlösung gewesen. Hier drinnen war es kühler als draußen, trotzdem hatte er zu schwitzen begonnen bei dem Gedanken, dass wieder seine Halluzinationen anfangen könnten.
Rauchte er, oder war er Nichtraucher? Seine Handflächen klopften synchron und langsam nach unten vordringend die Außentaschen des Sakkos ab. Vergeblich. Also Nichtraucher.
Gorden starrte weiter durch die Scheibe in das nun bleiern und grau wirkende Licht hinaus …
Die gelbliche Färbung über den Dächern schien ein Gewitter anzukündigen. Also doch Tropfen? – Regentropfen, die auf dem warmen Stein sofort wieder verdunstet waren?
Er dachte an die Frau des Blockwarts während seiner Studienzeit. Wieder so ein Erinnerungsfetzen, der aus dem Nichts zu kommen schien. Sie war in ein Heim gebracht worden, weil sie stundenlang vor dem Haus darauf wartete, dass der große Mehlbeerbaum seine Blätter abwarf.
Sie stand da und starrte erwartungsvoll die Äste an. Ihre Nachbarn hatten milde gelächelt und sich an die Stirn getippt. Es war Sommer gewesen. Im Herbst hatte man sie schließlich mit Medikamenten so weit gebracht, ihren eigenen Namen zu vergessen.
Wenn er etwas fürchtete, dann waren es diese Viehdoktoren in den Anstalten.
Er ging über die Dachterrasse, und im selben Moment, als er um die beiden Belüftungstürme aus verzinktem Stahlblech bog, entdeckte er zwischen der Mauerumrandung und dem Kasten des Fahrstuhlschachts eine geblümte Sonnenliege. Im schäbigen Grau des Betons wirkte ihr Anblick so überraschend, dass er sich verwundert die Augen rieb.
Über dem Kopfende hing ein gestreiftes Badetuch, und unter der Liege lag die farblich abgestimmte Sonnenbrille. Gestell rosa, mit lila Absetzungen. Das Buch darunter war ein schon reichlich zerlesener Anthony Burgess: "Tremor".
Gorden erinnerte sich noch so lebhaft des geilen und gefräßigen Geheimagenten Hillier, als habe er ihm eben am kalten Büfett des Luxusdampfers die Hand gedrückt.
"Zu wählen zwischen Tag und Nacht steht jedem frei, und Schwarz und Weiß sind mit dem gleichen Licht bedacht. – W. H. Auden", rezitierte er halblaut.
Wieso erinnerte er sich eines nebensächlichen Zitats im Vorspann von Tremor, aber nicht mehr daran, warum er einen Schuh aus rotbraunem Krokodilleder trug? Er musterte betrübt seine rechte Schuhspitze.
Einen Moment lang stellte er sich verwundert und zugleich argwöhnisch die Frage, warum er überhaupt hier heraufgekommen war. War das vielleicht seine Liege?
Gorden nahm probeweise darauf Platz und lehnte sich bequem zurück. Der Wind jagte eine Staubwolke über den Betonboden, und am östlichen Horizont trieben die letzten Ausläufer der Gewitterwolken. Er genoss die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, ihre Wärme gab ihm das Gefühl, wieder zu sich zu kommen. Eine Zeit lang horchte er dem Verkehr nach, der hier oben auf dem Dach der Universität nur noch ein schwaches Rauschen war ...
Danach musste er eingeschlafen sein, denn als er seine Augen öffnete, sah er vor sich eine junge Frau, die ihn mit so viel Unverständnis und Erstaunen musterte, als habe er sich bereits als Besucher eines fremden Sterns ausgewiesen.
"Hallo", sagte sie. "Darf ich fragen, was Sie auf meiner Sonnenliege treiben?"
"Aber sicher – ich genieße das schöne Wetter. ZuwählenzwischenTagundNachtstehtjedemfrei, undSchwarzundWeißsindmitdemgleichenLichtbedacht", wiederholte Gorden, seine Stimme deklamierend erhoben. "Sie lesen Agentenromane?"
"Das ist mein Beruf, jedenfalls manchmal. Ich unterrichte Literatur."
"Aha ...? Hätte Sie eher für eine von lüsternen alten Knaben verführte Sexualpriesterin gehalten."
"Dann wären Sie mein Theodorescu?" Sie schüttelte lächelnd den Kopf.
"Alle Achtung", staunte er. "Anscheinend haben Sie Ihren Autor ja wirklich genau gelesen? Nun sollten Sie mir nur noch sagen, wie ich heiße!"
Gorden musterte ihr Jungmädchengesicht. Sie sah weder wie die Sexualpriesterin in Burgess' Roman aus, noch als unterrichte sie Literatur. Eher wie das nette Mädchen von nebenan. Etwas zu zierlich und unterernährt für seinen Geschmack, mit dem kurzen dunkelblonden Haarschopf und der durchscheinend aussehenden Haut.
Zwei Schachteln Pralinen und eine halbe Flasche Sekt am Tag würden sie schon wieder auf die Beine bringen, wenn er sie erst einmal unter seine Fittiche genommen hatte.
Aber Vorsicht, Gorden! Solche Gesichter, die seinen Pflegeinstinkt wachriefen, brachten einen Kerl wie ihn nur in Schwierigkeiten.
"Sie haben Ihren eigenen Namen vergessen?"
"Ich glaube, ich heiße Gorden. Ganz sicher bin ich mir da nicht. Irgend etwas ist passiert heute nacht." Er strich sich bekümmert mit den Fingern über die Stirn.
"Sie haben getrunken, oder?"
"Ich trinke schon seit meiner Pubertät, daran kann es nicht gelegen haben. Meine Leber ist eine der am besten trainierten im Umkreis von fünfzig Kilometern."
"Darauf, dass Sie viel vertragen, brauchen Sie sich nichts einzubilden. Es gibt eine Menge hirnloser Narren auf der Welt, die Sie mit Leichtigkeit unter den Tisch trinken würden."
"Bei Gorden ist alles in Hochform", sagte er und hob scherzend zwei Finger zum Schwur. "Geist und Körper. Sie machen Ihre künftigen Kinder zu den glücklichsten der Welt, wenn sie mich ihr Vater sein lassen."
"Sagten Sie Gorden? Vielleicht Mark Gorden? Doktor Klein hat ein paar Mal diesen Namen erwähnt."
"Doktor Klein?"
"Stachus Klein, Lehrauftrag Kommunikationswissenschaften an der Universität Hamburg, falls Ihnen das etwas sagt? Mein Kollege."
"Ja ... ich erinnere mich. Stachus, altes Haus. Kommunikationswissenschaften. Was für ein verrücktes Fach." (Irreführung, Desinformation ... schoss es ihm durch den Kopf.) "Bringen Sie mich zum Doktorchen, Gnädigste. Er wird mich wieder in Ordnung bringen. Ich schwöre es."
"Klein ist gestern nicht zur Vorlesung erschienen. Der Dekan ließ zu Hause anrufen. Seine Haushälterin sagte, sie habe ihn seit vorgestern Abend nicht mehr gesehen."
"Dann bringen Sie mich in sein Büro. Schätze, deshalb bin ich hergekommen. Auf den Flügeln des Unbewussten, wenn Sie verstehen, was ich meine?"
Ihr Büro lag neben dem Steins, und Gorden wunderte sich, dass er bei seinen Besuchen nie einen Blick durch die Nebentür geworfen hatte. Er las ihr Namensschild und buchstabierte ihren Vornamen, um ihn sich für alle Zeiten einzuprägen. Ein grauer Blechschreibtisch, Papiere, Aktenordner und zwei Gespinste aus Seidenpapier: hellblaue, leicht verknitterte Friedenstauben in Rahmen aus dünnem Blumendraht. An der Stirnseite des Raumes brummte ein altmodischer Kühlschrank.
"Ich glaube, ich bin hoffnungslos verliebt in Sie, Pamela", sagte er, während er sich auf den Stuhl neben ihr niederließ, die Lehne vor der Brust, und ihr zusah, als sie ihm Kaffee einschenkte. Sie hielt die gläserne Kaffeekanne wie jemand, der auf der Intensivstation eine lebensrettende Infusion verabreichte.
"Nanu, so schnell? Gewöhnlich brauchen meine Verehrer wenigstens einen halben Tag, um mir einen Heiratsantrag zu machen."
"Sie sind die Frau meines Lebens, Pamela. Sie oder keine." Er wusste, dass das eine unverschämte Übertreibung war. Wie jeder blendende Charmeur mit so deutlichen Anzeichen des Genies versagte er bei der wahren Liebe völlig, es verschlug ihm ganz einfach die Sprache.
Dann machte er nur noch den Eindruck eines zwar gutartigen, aber zu jeder Kommunikation unfähigen Idioten. In diesem Stadium war er noch nicht angelangt. Pamela war eher wie eine Schwester für ihn, zu der man eine besonders innige Beziehung hatte. Als er an seine Schwester dachte, blitzte der Name Katja in seiner Erinnerung auf ...
AberbewegeichmichnichtdurchmeineSucheaufsiezu? EsisteinegeradeLinie. DirektinihreArme.
Er wurde sich plötzlich des Umstands bewusst, dass ein Teil seines Gedächtnisses zurückgekehrt war, jedenfalls, was seine und des Doktors Suche nach Katja anbelangte. Die Vergiftung schien nachzulassen.
"Sagen Sie mir, wer ich bin, Pamela."
"Das haben sich schon viele gefragt."
"Hat Doktor Klein denn nie ein Wort über mich verloren?"
"Ich glaube, er war immer des Lobes voll über Sie. Er sagte, Sie seien sein bester Freund."
"Sie schmeicheln mir."
"Klein ist sehr zuverlässig."
"Das macht sein Verschwinden nur um so verdächtiger."
Er lehnte sich im Drehstuhl zurück und musterte die offenen Schreibtischfächer. Sie waren in Kleins Büro gegangen, weil er hoffte, dort Hinweise über sich und seine Vergangenheit zu finden.
Aber was er auch in die Hand nahm: zwei ungarische Fachzeitschriften, ein billiges Stofftier mit langer Nase, das wie ein Losgewinn von der Kirmes aussah, Pappbecher, lilafarbene Papierservietten und Kunststoffgeschirr – kein einziger Gegenstand löste in ihm so etwas wie Wiedererkennen aus.
Aus irgendeinem Grund hatten diese Universitätsbüros das Ambiente gemütlich eingerichteter Rattennester. Vielleicht lag es am malerischen Durcheinander von Papierstapeln, offenstehenden Karteikästen und vorgespiegelter Arbeitswut.
Zwischen den Mappen entdeckte er aufgeschlagene Illustrierte und Urlaubsfotos, und vor Kleins Schreibmaschine stand eine halbvolle Kaffeekanne. Er streckte die Hände aus, seine Fingerspitzen zitterten wie die eines starken Trinkers.
Als er hinter Pamela durch den Flur gegangen war, hatte sein Gang solche Zugkraft nach rechts gehabt, dass er dauernd Gefahr lief, mit den Schultern den rauen Verputz zu streifen. Rechts oder links – er nahm an, das war gleichgültig. Es war wie ein Schwindelanfall: Man neigte immer dem Abgrund zu, in den man hinabzustürzen drohte.
Pamela zog ihm das Hemd aus und rasierte ihn mit Doktor Kleins Tandemklinge. Sein Gesicht wirkte unter der Masse des zu dick aufgetragenen Schaums wie Augen und Nase in einem verrutschten Nikolausbart.
Die Prozedur fand im Waschraum statt, und als die Tür aufflog und ein dicklicher, asthmatisch wirkender Dozent mit hochrotem Kopf nach seinem Hosenschlitz greifen wollte, um sich jenes Körperteils zu bemächtigen, der nach Gordens fester Überzeugung bis jetzt mehr Unglück als Lust über die Welt gebracht hatte, verspürte er zum erstenmal seit seiner Kindheit wieder jenes wohlig einlullende Gefühl, dass alle Verantwortung an eine höhere Macht – die seines Erziehungsbevollmächtigen – abgetreten worden war.
Man brauchte sich um nichts mehr zu kümmern. Selbst was gutes Benehmen war, wurde von übergeordneter Stelle geregelt. Und er entdeckte entzückt Pamelas Sinn für Scherze.
"Sie müssen sich im Waschraum geirrt haben", fertigte sie den dicklichen Dozenten ab. "Nächste Tür rechts."
Der andere ließ seinen Blick ungläubig über die Waschbecken und Gordens eingeschäumtes Gesicht gleiten.
Als er eine Entschuldigung stammelnd in der Damentoilette verschwunden war, prusteten sie beide los und verstreuten dabei große Flocken des Rasierschaums über Spiegel und Kacheln.
"Was werden Sie jetzt tun?“, fragte Pamela.
"Warten, bis mein Gedächtnis zurückgekehrt ist."
"Das kann lange dauern."
"Malen Sie nicht den Teufel an die Wand."
"Sie sollten es erst mal mit Ausschlafen versuchen."
"Ich habe vergessen, wo ich wohne", sagte er und horchte dem trostlosen Klang seiner eigenen Stimme nach. "Ich bin in einem Hotel am Stadtrand aufgewacht. Wahrscheinlich, nachdem ich hilflos durch die Straßen geirrt war. Als ich spürte, dass ich ein Bett brauchte, muss ich dieses Zimmer genommen haben."
"Und Ihre Papiere?" Sie zeigte auf die Pässe und Visitenkarten in der gläsernen Ablage, den Inhalt seiner Jackentaschen.
"Alles fingiert. Gefälschte Identitäten, nehme ich an."
"Klingt ziemlich abenteuerlich, oder?"
"Ich tappe genauso im dunkeln wie Sie. Wenn Sie sich mit mir einlassen, werden Sie keine ruhige Minute mehr haben, Pamela. Mein Leben ist wie einer Ihrer Romane. Ich ahne – ach was, ich bin sicher, dass ich eine ziemlich bemerkenswerte Vergangenheit habe."
"Wollen Sie damit bei mir Eindruck schinden?"
"Ich versuche alles, um Sie 'rumzukriegen", bestätigte er. "Ich lasse keinen Trick aus. Vielleicht sind meine Gedächtnisausfälle ja nur vorgetäuscht, weil Sie einen hilflosen Narren wie mich niemals in die schnöde, kalte Welt zurückjagen würden?"
"Es ist ziemlich warm für diese Jahreszeit."
"Ja, leider."
"Was halten Sie davon, zur Polizei zu gehen? Dort wird man schon herausfinden, wer Sie sind."
Er zuckte unsicher die Achseln. "Wer weiß – vielleicht werde ich ja steckbrieflich gesucht? Vielleicht wird man mich sofort in eine Zelle stecken, weil ich den alten Damen im Park ihre Handtaschen entrissen habe?"
"Ja, das wäre Ihnen zuzutrauen. Sie könnten bei mir schlafen", sagte Pamela zu seiner Überraschung. "Im Zimmer meiner Mutter. Sie ist voriges Jahr gestorben – wenn Ihnen Häkeldeckchen, Trauerflors um die Bilder meines Vaters und schwarze Eichenmöbel mit Holzwürmern nichts ausmachen?"
"Sehr freundlich, ich nehme Ihre Einladung an."
"Natürlich nur, bis Sie sich wieder an Ihre eigene Adresse erinnern."
"Bei so angenehmer Behandlung wird sich mein Gedächtnis noch etwas länger Zeit lassen."
"Vielleicht sollte ich Sie doch lieber ins Krankenhaus bringen, falls man Sie wirklich vergiftet hat?"
"Nein, ich misstraue diesen Geschäftemachern im weißen Kittel. Dann schon lieber ein indianischer Medizinmann, der ums Feuer tanzt und gelegentlich eine Handvoll Pulver in die Flammen wirft, um die bösen Geister zu vertreiben. Das ist ein ehrliches Unternehmen, ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen."
"Medizinmänner sind in unseren Breiten schwer aufzutreiben."
Beim Frühstück traf er ein paar Mal mit der Gabel seine Oberlippe. Je länger er seine zitternden Hände betrachtete, desto weniger Vertrauen setzte er in seine Fähigkeit, allein mit der Vergiftung fertig zu werden. Er hatte den festen Willen zu überleben, aber seine Muskeln und Nerven wirkten noch unkontrollierbarer als am Vortag.
Irgendwo in der Stadt gab es eine kleine Kirche mit buntem Glasdach und angebauter Kapelle, die Tag und Nacht für unermüdliche Beter geöffnet war – vor deren Altar man sich notfalls hinknien konnte, falls man einer höheren Macht die Regie überlassen wollte. Fehlte nur noch ihr genauer Standort.
Ihre Turmspitze winkte ihm aus dem Dunst der Erinnerung zu wie der Mast eines Schiffes, das im nebligen Hafen dauernd seinen Ankerplatz wechselte. Er wusste, dass er immer stark und unbeugsam gewesen war, ein Mensch mit robuster Natur. Vielleicht war gerade deshalb sein Sturz aus solcher Höhe besonders schmerzhaft.
"Ist das eine Marotte von Ihnen, dieser Schuh mit dem Krokodillederbesatz?“, erkundigte sich Pamela, als er sie nach Dienstschluss zum Essen abholte. Sie schien guter Dinge zu sein, als freue sie sich aufrichtig, ihn wiederzusehen. Aber sein Blick war abwesend.
Er sah sich auf magische Weise von einem politischen Plakat angezogen, das, gar nicht einmal besonders werbewirksam oder aufdringlich, an einem Steinmast der Oberleitung hing.
"Was sagten Sie, bitte?"
"Ihr Schuh ..."
"O ja, richtig ... etwas exzentrisch, oder? Den anderen muss man mir weggenommen haben. Ich werde ihn so lange tragen, bis mir eingefallen ist, wer mir das Ding verpasst hat", fügte er hinzu. "Und vor allem: warum." Sein Blick kehrte wieder zum Plakat zurück. "Dieser Slogan da oben ...?"
"Ja, was ist damit?"
"Das wollte ich Sie fragen. Er erinnert mich an irgend etwas."
"Nur weiter so. Sie sollten allem nachgehen, was Sie wieder gesund werden läßt, Gorden."
HelfenSieuns, dassunsereBrüderinderehemaligenDeutschenDemokratischenRepublik keineBürgerzweiterKlassewerden! las er. GegendenunkontrolliertenZuzugvonAusländern. GegendieÖffnungnachOsten. "Dieses Gesicht – der Mann ist doch ein Rechtsradikaler, oder?"
"Rechtsradikale Parteien schießen jetzt überall wie Pilze aus dem Boden."
Er versuchte sich an den Politiker zu erinnern. Seine Brauen waren dunkel und kräftig, die Züge so glatt und makellos wie auf den idealisiert gemalten Porträts russischer Revolutionspolitiker. Sein Gesicht wirkte weder besonders vertrauenswürdig noch wie das eines Gauners. Eher schon ein wenig weltentrückt, als hätte er sich für einen Augenblick großmütig aus seinem Platz im Olymp dazu herabgelassen, den Wählern gute Ratschläge zu erteilen.
"Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wer solche Prozesse steuert?“, fragte Gorden. "In einer Zeit, in der man in Europa sein Herz für den Osten entdeckt?"
"Nein, was wollen Sie denn damit andeuten?"
"Manchmal fällt es einem schwer, an Zufälle zu glauben. Das Ganze hat zu sehr den Charakter einer absichtlichen Gegensteuerung."
"Was meinen Sie mit 'absichtlicher Gegensteuerung'?"
"Na, wenn eines guten Tages die polnische Westgrenze genauso durchlässig werden sollte wie die Grenzen innerhalb der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ich meine: nicht bloß visumfrei, sondern wirklich freizügig, dann führt das zu einer engeren Anbindung an die Menschen drüben. Zu persönlichen Kontakten, zu Freundschaften. Man lernt einander besser verstehen."
"Wer sollte dagegen etwas haben?“, fragte sie.
"Den Falken im Westen kann das gar nicht gefallen. Den Waffenschiebern, den Rüstungsfabrikanten, den Geheimdiensten, die ihre Feindbilder verloren haben."
"Ist das Ihre Aufgabe – solchen Ideen nachzugehen?"
"Ich weiß nicht", sagte er nachdenklich. "Ich glaube, Stachus und ich haben uns tatsächlich mit diesen Fragen beschäftigt."
"Verdächtigungen, Verschwörungstheorien ...", sagte Pamela und warf ihm einen belustigten Blick zu.
"Ja, mag sein."
"Das Hobby von Männern, die Kinder geblieben sind! Entdecken überall böse Hintermänner in der Politik. Arbeitete Doktor Klein nicht sogar an einem Buch über dieses Thema?"
"Hm, ja, kommt mir bekannt vor", bestätigte er. "Aber ich erinnere mich nicht, welchen Titel es hat."
Er schwankte leicht, als sie die Fahrbahn überquerten und zwischen hohen Blumenkübeln den Eingang des italienischen Lokals betraten. Die Kälte einer Klimaanlage drang surrend aus dem Gitterrost über der Garderobe. Wieder wurde seine Schulter magisch von der Wand angezogen, sein linkes Bein trat zu kurz, und sein Arm streifte schmerzhaft den rauen Verputz, als er hochfuhr, um sich abzufangen.
"Großer Gott, ich stütze Sie besser ...", sagte Pamela und versuchte ihn zu halten.
Aus den Muskeln auf seiner linken Seite schienen große Stücke entfernt worden sein. Er musste sich erst mühsam wieder in jede einzelne Muskelfaser hineintasten, sie dehnen und strecken.
"DasFabelhaftedaranist, dassmankeineSchmerzenhat", murmelte er. "Daranmerktman, dassesanfängt."
Sie setzten sich an einen Tisch in der Ecke, über dem eine anheimelnde grüne Lampe hing. Unter den hölzernen Nischenbögen und der Dekoration aus alten Kupfervasen, getrockneten Seesternen und Fischernetzen wurde er sich noch deutlicher der Tatsache bewusst, dass er sich draußen auf eine merkwürdig ungreifbare Weise bedroht gefühlt hatte.
"Was haben Sie da eben zitiert?“, fragte Pamela.
"Zitiert?" Er schüttelte überrascht den Kopf. "Ich habe nichts zitiert."
"Der Satz steht in Hemingways 'Schnee auf dem Kilimandscharo'."
"So? Na, dann scheine ich ja literarisch einigermaßen beschlagen zu sein. Auf die Weise setzt sich das Puzzle meiner Erinnerungen zusammen, ich mache Fortschritte, Pamela! Eigentlich dachte ich nur darüber nach, dass meine Gleichgewichtsstörungen keine Schmerzen verursachen."
"An Ihrer Stelle würde ich lieber einen Arzt aufsuchen."
"Wenn Sie wollen, dass meine Liebe zu Ihnen so alt wird wie mein Großvater, sollten Sie mir niemals Vorschriften machen. Haben Sie eigentlich englische Vorfahren – wegen Ihres Vornamens?"
"Meine Mutter war Britin."
"Sie folgte Ihrem Vater also auf das Festland? Das muss die große Liebe gewesen sein, oder? Ich bin ein unheilbarer Romantiker", fügte er entschuldigend hinzu. "Im Restaurant essen ohne Kerzen auf dem Tisch – Neonlicht, künstliche Blumen, Vernunftehen, das alles ist mir ein Gräuel."
"Lassen wir die Toten lieber ruhen, Gorden. Was sagten Sie da eben über das Alter Ihres Großvaters? Es hörte sich nett an.
Übrigens erinnere ich mich jetzt an den Namen eines Journalisten – relativ unbekannt, keiner von den wirklichen Stars, glaube ich –, der genauso heißt wie Sie. Ich bin noch gar nicht darauf gekommen, dass er und Kleins Freund ein und dieselbe Person sein könnten", meinte sie überrascht.
"Erinnern Sie sich auch an seinen Vornamen?"
"Nein, tut mir leid." Sie dachte nach. "J ... ja, J. Gorden ... das wäre möglich. Wenn wir zu Hause sind, werde ich Ihnen einige seiner Artikel heraussuchen. Soviel ich weiß, war er drüben Bürgerrechtler, vor der Wiedervereinigung. Warten Sie mal, dann gibt es da noch einen Gorden, J. C. Gorden, glaube ich, der ..."
"Einer von diesen verdammten Wortverdrehern", meinte er, eher nachdenklich als überrascht. "Sieht mir wieder ähnlich. Sich den blasiertesten und dünkelhaftesten Beruf von allen auszusuchen. Das passt zu mir, oder?"
"Sie sind nicht so schlimm, wie Sie vorgeben."
"Es würde auch erklären, wieso ich in diesen Kreisen verkehre, bei Stachus und an der Universität."
Der Saal war so groß wie das Auditorium einer Hochschule und fiel zum Podium hin steil ab. Als er sich über die Sesselreihen beugte, überkam ihn wieder die Furcht, den Halt zu verlieren. Unter dem Podium zeichnete sich ein helles Viereck ab, das bei Boxveranstaltungen den Ring bildete.
Er ging durch die leeren Reihen, das Kuppelgewölbe aus Beton und grün gestrichenen Balken über sich, an denen Transparente eines Festivals hingen, und sein Blick folgte den weggeworfenen Handzetteln, Eintrittskarten und Pappbechern, als seien sie eine Spur, der sich nachzugehen lohnte.
Irgendwo erklang Musik. Jenseits der Flügeltüren war die grelle Sonne, und darin, solange ihn das Licht blendete, nur undeutlich abgezeichnet, eine Rennbahn mit niedrigen Gebäuden. Er ging den Wiesenhügel hinauf, bis er unter sich das Gelände der Kirmes sah.
Das Karussell mit seinen weit ausschwingenden Kettensitzen war in voller Fahrt, aber leer. Noch ein Stück weiter standen Wohnwagen. Dahinter bewegten sich Lastkähne über den Kanal, und ein Düsenflugzeug stieß durch den weißblauen Dunst.
Gorden ließ sich treiben, er versuchte sich über seine Gedanken und Gefühle klarzuwerden.
Wo war Doktor Klein? Gab es darauf einen Hinweis? Und Katja?
Man hat mich meiner Persönlichkeit beraubt, dachte er. Ich bin nichts weiter als ein Torso, ein Bauch mit Füßen – so gut wie tot. Aber warum hatte man das getan? Der scheppernde, rhythmische Klang der Kirmesorgel beraubte ihn für einen Augenblick jeder Konzentration.
Ein schmächtiger, asiatisch aussehender Mann mit Hängeschultern arbeitete sich dicht hinter ihm durch das Gedränge, jede neu entstandene Lücke ausnutzend, seine Bewegungen waren fließend und gelenkig wie die eines gutdressierten Hundes.
Einmal glaubte Gorden seinen Atem im Nacken zu spüren: den süß-sauren Geruch fremdländischer Gewürze. Aber als sie vor der Achterbahn standen, löste er ein Ticket am Kartenhäuschen, ohne ihm Beachtung zu schenken.
Gleich darauf sah er ihn im Wagen über die Bahnen sausen. Der Mann schwenkte seine dünne weiße Leinenmütze in Richtung einer Gruppe junger Mädchen.
Zu viele James-Bond-Filme gesehen, Gorden!
Das Mosaik, dieses Bild, das sich schon mit so klaren Andeutungen zusammenzufügen begann, löste sich unversehens in ein karges Gerippe auf. Was wusste er eigentlich über sich? Dass er einen Schuh verloren hatte und politische Artikel schrieb.
Aber selbst solcher Nebensächlichkeiten würde er sich erst in mühseliger Kleinarbeit vergewissern müssen. Ein langer, quälender Prozess der Rückerinnerung. Entnervt steuerte er auf ein Taxi zu, das zwischen den Kirmeswagen am Ende der Sackgasse wartete, seine runden Scheinwerfer sahen ihn an wie Augen.
Er ekelte sich davor, jede Einzelheit zu drehen und zu wenden, um in seiner Vergangenheit zu wühlen, die vermutlich genauso unerquicklich war wie die der meisten Durchschnittsmenschen.
Brotberufe, Sklaverei von acht bis vier, fünf Wochen Jahresurlaub und die schöne Illusion, man sei schon deswegen sein eigener Herr, weil man abends die Schuhe ausziehen und mit einer Flasche Bier in der Hand seine müden Füße vor den Fernseher betten konnte.
"Kantstraße neun."
Er horchte verwundert dem Klang seiner Stimme nach. Kantstraße, das musste die Straße sein, wo seine Wohnung lag.
Mit einem Schlage fühlte er sich wieder im Besitz seines Gedächtnisses, obwohl das eine mindestens genauso fragwürdige Illusion war wie die Überzeugung, als Angestellter über sein Schicksal verfügen zu können.
Aber dort würden Erinnerungsgegenstände in Hülle und Fülle sein: Papiere, Bilder, Möbel, Kleidung, Kalender und sogar Briefe.
Aus dem Markenetikett einer Hose ließ sich vielleicht rekonstruieren, wo sie gekauft worden war. Ein Foto musste einen ganzen Wust von Erinnerungen wachrufen. Bücher, Artikel, falls er denn wirklich welche geschrieben hatte, Rechnungen. Ein Zahlungsbefehl zum Beispiel würde wie ein Geständnis wirken.
Dein Charakter ist ausgezeichnet, Gorden, aber deine Zahlungsmoral läßt sehr zu wünschen übrig. Wie viele Tage Ihrer Schuld gedenken Sie als Haft abzusitzen? Selbst eine Verurteilung als Raubmörder wäre noch eine Erleichterung gewesen angesichts dieses konturlosen Daseins, dieses Taumels durch das Nichts.
Das Haus kam ihm unbekannt und grau vor. Ein glanzloser Wohnsilo, der aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg stammte. Seitdem musste sein Besitzer gerade zwei halbe Eimer Farbe für den Anstrich der Fassade verwendet haben. Sich an ein so exquisites Quartier nicht mehr erinnern zu können war fast schon wie Selbstschutz.
Er musterte die Türschilder. Den Namen Mark Gorden gab es hier nicht.
Aber im zweiten Stock hatte man das Schild entfernt. Er sah durch die Scheiben des Krämerladens auf der anderen Straßenseite. Der Verkäufer trug einen weißen Kittel und füllte Regale auf.
Angestellter eines kleinen Lebensmittelgeschäftes zu sein, dachte er – das würde alle Probleme mit einem Schlage beenden. Man wusste, wer man war, wenn auch um den Preis einer klaren Rangordnung von Herr und Sklave.
Man ging morgens zur festgesetzten Zeit an die Arbeit, und der Tag verlief ohne Überraschungen, denn wer im Viertel anschrieb und wer selten seine Rechnungen bezahlte, das erfuhr man schon in den ersten Wochen.
Er öffnete mit gespanntem Blick die Tür zum Treppenhaus. Auf dem Zwischenabsatz spielten Kinder, zwei rotznasige Banditen, die einem Mädchen mit stämmigen Beinen – es war zwei oder drei Jahre älter als sie – das Zigarettenrauchen beibrachten. Er versuchte an ihren Mienen abzulesen, ob sie ihn kannten.
Aber das war ein genauso hoffnungsloses Unterfangen, wie einem Pokerspieler vor dem Aufdecken seine Blattfolge zu entlocken.
Als er um den nächsten Treppenabsatz bog, glaubte er sich plötzlich zu erinnern. Ein unerkanntes Genie hatte sich auf der Wand zwischen den Korridortüren mit der in grellen Grundfarben gemalten Vision einer Welt verewigt, die aus Männern in Tauchanzügen, fehlgebildeten Gnomen und gallertartigen Außerirdischen bestand.
Hänsel-und-Gretel-Farben, Grün, Rot und Gelb in einer Intensität, die sogar einen Blinden hätte glauben machen können, das Dunkel vor seinen Pupillen beginne sich endlich zu lichten.
Er hoffte inständig, dass er nicht selbst dieser unbekannte Künstler war, es hätte ein etwas bizarres Licht auf sein Innenleben geworfen. Gorden drückte die Etagentür auf, sie war bloß angelehnt. Im Wohnzimmer stand ein voller Farbeimer. Der Raum hinter dem Durchbruch erweiterte sich an der Fensterseite zum alkovenartigen Erker, in dem nur noch ein paar leere Blumentöpfe standen. Der Boden des Podests war mit Sitzmatten aus geflochtenem Bast bedeckt.
Das Ganze erinnerte wegen seines vorgebauten Glasdachs an ein Atelier. Durch die Dachscheiben sah man den brüchigen Backsteinkamin. Die Tapeten oder das, was von ihnen übriggeblieben war, denn einige Bahnen hingen in Fetzen herunter, als habe man bereits mit der Renovierung begonnen, waren in nüchternem Weiß gehalten.
Auf dem Kaminvorsprung im Wohnzimmer lag ein Stapel alter Zeitschriften. Er durchstreifte unruhig die Räume und blieb erst wieder stehen, als der Blick aus dem Fenster seine Aufmerksamkeit erregte.
Ja, er erinnerte sich: Diesen Ausblick hatte er immer besonders gemocht …
Es war ein kreisrunder kleiner Park mit alten Bäumen und weißen Bänken. In der Mitte stand ein bronzener Vogelbauer.
Also gut, machenwirKassensturz, dachte er. Dies ist zweifellos meine Wohnung. Aber warum wurde sie ausgeräumt?
Er kehrte ins Treppenhaus zurück und musterte noch einmal die Namensschilder. Keines kam ihm bekannt vor. Er sah zwischen dem Geländer hindurch auf den ersten Treppenabsatz hinunter. Die Kinder waren verschwunden, man hörte sie im Hof lärmen.
Gorden ging die Seitentreppe zum Anbau hinauf und folgte einem Geruch von Essen, der so scheußlich war, dass man damit leicht ganze Säle hätte räumen können – eine Mischung aus Kohl, ranzigem Öl und eingelegtem Knoblauch, Speck und Majoran, wenn er sich nicht täuschte. Aber das war sicher nicht das vollständige Geheimnis der Mischung.
Er läutete und wartete ab, bis sich schlurfende Schritte hinter der Tür näherten. Dann trat er einen Schritt zurück, damit man seine volle Statur im Türspion begutachten konnte.
"Sie wünschen?"
Das Gesicht der Frau erinnerte an einen fleischfarbenen Blasebalg. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so unvermittelt ihren Kopf durch den Türspalt stecken würde. Ihre Hässlichkeit ließ ihn unmerklich zurückfahren.
"Na, Kleiner, 'n Schreck gekriegt beim Anblick einer richtigen Madam?"
"Wir kennen uns doch, oder?“, fragte Gorden.
"Kennen? Nein ... sollten wir das?"
"Ich bin der Mieter aus der Wohnung unter Ihnen."
"So? Na, da haben Sie Pech. Ich kümmere mich nicht um die Nachbarn im Haus. In dieser Bruchbude geht jeder seiner eigenen Wege."
"Aber wir müssten uns schon mal irgendwann im Treppenhaus begegnet sein," beharrte er.
Sie studierte kopfschüttelnd sein Gesicht. "Ihr jungen Burschen seht doch alle gleich aus."
Gorden verlor schlagartig die Lust, noch weiter sein Recht bei ihr geltend zu machen, ein Mensch aus Fleisch und Blut und kein nichtssagender Schatten zu sein: jemand, der irgendwann wahrgenommen worden war. Und sei es auch nur, weil er vergessen hatte, den Flur zu wischen oder die Mülleimer zu leeren.
Er ging hinunter und läutete an der Tür zwei Etagen tiefer.
Eine Frau um die Vierzig öffnete, Typ verhärmte Lehrerin in ausgeleierter Strickjacke.
"Pardon, ich war ein paar Tage lang nicht zu Hause", sagte er und zeigte durch die Flurdecke nach oben. "Haben Sie eine Ahnung, wer meine Wohnung ausgeräumt haben könnte?"
"Ihre Wohnung ausger ...? Nein."
"Aber Sie erinnern sich noch an mich?"
Ihr Blick forschte einen Moment lang in seinem Gesicht. Sie hatte dunkle, traurige Augen, als sei sie zu oft von den Männern enttäuscht worden. Gorden versuchte möglichst seriös und vertrauenswürdig dreinzublicken, ganz der nette Mieter von nebenan, der immer für eine Dose Kondensmilch oder vergessene Zündhölzer zur Verfügung stand.
"Bedauere. Ich bin gerade erst von einem längeren Studienaufenthalt aus Italien zurückgekehrt."
"Gorden, Mark Gorden", sagte er und streckte leutselig seine Hand aus. "Wie gefiel Ihnen Florenz?"
"Tut mir leid, hier im Haus kümmert sich niemand um den anderen."
"Hab' ich auch schon bemerkt." Gorden nickte vielsagend, er musterte die kleinen Fäuste in den ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke – dann machte er auf dem Absatz kehrt. Er hatte es plötzlich eilig, aus dem Haus zu kommen. Dass er so schnell aufgab, schien sie zu überraschen.
"Jemand hat Ihre Wohnung ausgeräumt?" rief sie ihm nach. "Ist ja ungeheuerlich. Wenn Sie wollen, koch ich Ihnen schnell einen Kaffee? Sie könnten von meinem Telefon aus die Polizei anrufen."
"Ihr freundliches Angebot in Ehren, aber das wäre doch wohl ein wenig zuviel Aufwand wegen einer verschwundenen Wohnungseinrichtung." Er spürte, dass mit seinem Ärger auch sein Sarkasmus zurückgekehrt war, und diese Beobachtung erleichterte ihn mehr als ein paar wiedergefundene Stühle. Jemand schien alle Erinnerungen an ihn ausradieren zu wollen, falls er seinen Hausstand nicht selber aufgelöst hatte, und offensichtlich hätte er dafür kein besseres Haus als dieses finden können.