Die Anderen - Chroniken aus dem Schwarzen Land - Ilona Sonja Arfaoui - E-Book

Die Anderen - Chroniken aus dem Schwarzen Land E-Book

Ilona Sonja Arfaoui

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Beschreibung

Erschaffen aus Hitze und Frost. Mit diesen Worten beginnt sie, die fieberhafte Suche nach jenem Stein, der in das Amulett des künftigen Hochkönigs eingefügt werden muss. Dort soll sich abermals das Schicksal des einstigen Schattenkönigs und Hexenmeisters erfüllen, wo der Dunkle Meister ihn und seine acht Gefährten vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe stellen wird. Die Reise ins Ungewisse beginnt. Ein Eid muss erfüllt werden, und am Ende entscheidet eine richtig gestellte Frage über die Zukunft aller Bewohner des Schwarzen Landes. Das Finale zu den beiden Vorgängern "Der König der Schatten" und "Der Hexenmeister, die Macht und die Finsternis". Die drei Bände sind jeweils ins sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Erschaffen aus Hitze und Frost

… mit diesen Worten beginnt sie, die fieberhafte Suche nach jenem Stein, der in das Amulett des künftigen Hochkönig des Schwarzen Landes eingefügt werden muss. Dort soll sich abermals das Schicksal des einstigen Schattenkönigs und Hexenmeisters erfüllen, wo der Dunkle Meister ihn und seine acht Gefährten vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe stellen wird. Die Reise ins Ungewisse beginnt. Ein Eid muss erfüllt werden, und am Ende entscheidet eine richtig gestellte Frage über die Zukunft aller Bewohner des Schwarzen Landes.

Das Finale zu den beiden Vorgängern „Der König der Schatten“ und „Der Hexenmeister, die Macht und die Finsternis“. Die drei Bände sind jeweils in sich abgeschlossen und unabhängig voneinander gelesen werden. .

Ilona Sonja Arfaoui: Jahrgang 1950, lebt mit ihren drei Katzen in Stuttgart. Sie arbeitete als Werbeberaterin und Grafik-Designerin in der Werbeabteilung eines Verlages. Sie hat in der Zwischenzeit die beiden Vorgänger, zwei phantastische Romane (Der Hexenmeister, die Macht und die Finsternis | Der König der Schatten) und eine kleine Katzengeschichte (Die Katze, der Traum und der Pharao) veröffentlicht. (www.ilonaarfaoui.com)

Seid immer verbunden in guten

und in schlechten Zeiten, dann

werdet ihr jederzeit in der

Lage sein, scheinbar

Unmögliches zu vollbringen

Der König der Schatten

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Die Festung der Herzogin

Die Große Ascheebene

Der Palast des Dunklen Meisters I

Die Festung der Herzogin II

Der Palast des Dunklen Meisters II

Die Stadt des Ersten Königs I

Die Festung der Herzogin III

Der Palast des Dunklen Meisters III

Die Stadt des Ersten Königs II

Die Festung der Herzogin IV

Das Graue Gebirge - Die Burg des Zweiten Königs

Auf unbekannten Pfaden

Die Verbotene Zone

Die Festung des Weißen Magiers I

Der Palast des Dunklen Meisters IV

Die Stadt des Ersten Königs III

Die Festung des Weißen Magiers II

Abschied vom Herrscher der Verbotenen Zone

Eine Straße in einem Vorort von London I

Auf dem Weg ins Niemandsland

Die Festung der Herzogin V

Der Palast des Dunklen Meisters V

Eine Straße in einem Vorort von London II|

Lord Duncans Festung (Schottland 12. Jahrhunderts)

Der Palast des Dunklen Meisters VI

Die Stadt des Ersten Königs IV |

Der Palast des Hochkönigs

Die Festung der Herzogin VI

Die Festung des Weißen Magiers III

Personen

Glossar

Prolog

Der Fremde ist zurück – ER spürt dessen Gegenwart, und wenn, gleich eines wilden Tieres, der misstrauische Instinkt die Oberhand behält, so wittert Er unverkennbar die Neugierde seines Besuchers.

Der Fremde hat sich keine Mühe gegeben, die Schritte zu dämpfen, während er sich bis vor das Tor seiner Behausung wagte.

Er scheint, keine Furcht zu haben, dieser Fremde. Dabei sollte er sich eigentlich fürchten. Jeder, der dieses Tal betritt, fürchtet sich – vor den Wilden Horden und vor allem vor IHM – sogar die wagemutigsten Dummköpfe. Wagemutig mag der Fremde vielleicht sein, ein Dummkopf ist er gewiss nicht.

Selten verirren sich Fremde in dieses Tal. Diejenigen, die den Weg zu IHM finden, sind sich darüber bewusst, welches Risiko sie dabei eingehen, aber genauso darüber, welcher Preis sie am Ende für dieses Risiko erwartet. Sie alle wollen zu IHM. Sie, die bereits Unsterblichkeit erlangten, streben jetzt nach der Vollendung, nach Wissen und Macht. Und ER muss ihnen dabei behilflich sein.

Die Meisten von ihnen versuchten bisher, mit geheuchelt unterwürfiger Schmeichelei in seine Geheimnisse einzudringen, einige glaubten, mit Gewalt ihr Ziel zu erreichen. Sie alle scheiterten kläglich. Immerhin wird ihnen nun schmerzhaft jenes Wissen zuteil, dass sie sich mit einer Macht eingelassen haben, der sie nicht gewachsen sind.

ER hat niemals die Absicht, ihnen wehzutun, will sie nicht verletzen, sie nicht den Wilden Horden zum Fraß vorwerfen. ER will, dass sie bei ihm bleiben, ihm Gesellschaft leisten in der Einsamkeit seines abgelegenen Tales.

Sie fragen IHN nach seiner Fähigkeit, Macht und Wissen zu erlangen – anfangs noch ängstlich mit der nötigen Zurückhaltung. Jedoch, sobald ER ihnen mit dem Anflug eines Lächelns zu verstehen gibt, dass ER ihnen wohlgesinnt ist, verlieren sie mit einem Mal jegliches Maß an Anstand, werden, getrieben von Hochmut und Ehrgeiz vermessen, raffgierig und ungeduldig.

Sie wühlen rücksichtslos unermüdlich in seiner Vergangenheit, fragen IHN nach allem Erdenklichen, aber kein Einziger von ihnen hat IHN bis jetzt nach seinem Namen gefragt.

Nichts sehnt ER sich so sehr herbei, als das - wieder einmal seinen Namen aussprechen zu dürfen.

Draußen 1959 - 2019

Die Festung der Herzogin I

1

In jener Nacht, in der Der König der Schatten im Palast des Dunklen Meisters zum Hochkönig des gesamten Schwarzen Landes ernannt wurde, ließ ich es mir nicht nehmen, sichtbar für dessen Bewohner, meine Anwesenheit kundzutun. Das gelb-grün-blau-violett flirrende, zuckende Licht in der undurchdringlich erdrückenden Finsternis, das meinen bisher verborgenen Herrschaftssitz nun zum Leuchten brachte, sollte genug Beweis dafür sein. Jawohl, die Gerüchte, die Legenden, die Mythen, die Sagen, begleitet von ungläubigem Kopfschütteln, in den bescheidenen Unterkünften, in den ärmlichen Höhlen, den prachtvollen Palästen erzählt – sie sind wahr geworden. Sie existiert! Die Festung der geheimnisvollen Herzogin! Ehrlich gesagt, ich habe mir bis jetzt noch nicht die Mühe gemacht, herauszufinden, weshalb man von mir als der Herzogin spricht! Nun ja, es gibt hier im Schwarzen Land, das seit einigen Jahrzehnten als Draußen bezeichnet wird, neben den marodierenden Wilden Horden ebenso Sklaven, Diener, Jäger, Priester, Berater, Fürsten und Könige – warum also nicht eine Herzogin?

Jede der zahllosen Anderswelten, in denen ich außerdem verkehre, hat sich ohnehin ihren eigenen speziellen Namen für meine Wenigkeit erdacht. Und für die Menschen der Erde, auf der ich ab und zu nach dem Rechten schaue, bin ich je nach deren Kultur, Stimmung, Glauben, Temperament, Abneigung oder Zuneigung der Dämon, die Göttin, die Hexe, die Elbe, die gute Fee, die böse Fee, der Troll, der Kobold, die Zauberin, die Geliebte des Gehörnten Gottes, die Herrin des Waldes (wirklich ein Wunder, dass ich mir die vielen freundlich beziehungsweise feindlich gesinnten Titel überhaupt merken kann). Muireall – diesen schönen, wohlklingenden Namen mag ich am liebsten. Ich denke, dass ich ihn so lange behalten werde, bis jemandem irgendwann, irgendwo ein noch viel schönerer, wohlklingenderer Name für mich einfällt.

Man wird sich wahrscheinlich fragen, weshalb es ausgerechnet mich in das Schwarze Land verschlagen hat. Natürlich hat es mich in dem Sinn keineswegs hierher verschlagen, denn mein Refugium wurde mit voller Absicht in dieser unwirtlichen Gegend errichtet. Verhüllt vom dichten Nebelschleier, den gierigen Blicken räuberischer Banden entzogen, soll es gleich einer stillen Oase in der grauen, von Stürmen gebeutelten Wüste Zuflucht für diejenigen sein, die Hilfe, Zuspruch und Erholung benötigen, um weiterhin in der brutalen Anderswelt bestehen zu können. Die meisten von ihnen bleiben nur für eine kurze Zeit, bevor sie sich abermals hinaus in die zerklüfteten Gebirge und Ascheebenen wagen. Einigen von ihnen bin ich gezwungen klarzumachen, dass ihr Aufenthalt in meiner grünen Wärme begrenzt ist und ich sie notfalls – so leid es mir tut – mit Gewalt in ihre graue Kälte hinauswerfen muss. Ganz wenige dürfen allerdings bleiben. Sie sind meine Wächterinnen, die die Festung während meiner Abwesenheit verwalten und beschützen. Ich gebe es unumwunden zu, ich bin ungern hier, selbst wenn ich mir und meinen engsten Vertrauten in der Festung so etwas wie ein kleines Paradies geschaffen habe. Es ist das Land, das Schwarze Land, das schleichend seine Bewohner vergiftet. Aber ich möchte nicht weiter ausbreiten, wer oder was mich dazu nötigt, zu bestimmten Zeiten hier zu verweilen. Meine Gäste jedenfalls danken mir zum Abschied oftmals so überschwänglich für ihre Heilung, dass es mir beinahe das Herz bricht, sie gehen zu lassen. Denn bei der sogenannten Heilung handelt es sich lediglich um eine vorübergehende Linderung ihrer Qualen, bis das Draußen abermals von ihren geschundenen Seelen Besitz ergreift; zumal ich aus Gründen der Sicherheit dafür sorge, dass sie, sobald sie dem Tor den Rücken zukehren, ihren letzten Aufenthaltsort vergessen und die Festung der Herzogin nur noch als ein mythischer Ort in ihrem Gedächtnis haften bleibt.

Zusätzlich hat man (präzise: meine Autorin) mich auch noch dazu beauftragt euch, liebe Leserinnen und Leser, von dieser Anderswelt zu erzählen, und wir haben viel Zeit, sehr viel Zeit. Denn zu erzählen gibt es viel, sehr viel: von den Dunklen Herrschern, den Erwählten, den Königen samt deren Gefolge, einem angeblich vermissten Amulett sowie vom König der Schatten – und mit ihm werde ich jetzt beginnen.

2

Ich hatte nicht vorgehabt, sie zu empfangen. Aber sie blieb hartnäckig, forderte zuerst wütend Einlass, und als man ihr zu verstehen gab, dass ihre Forderung auf taube Ohren stieß, verwandelte sich die brüllende Löwin blitzschnell in ein wimmerndes Kätzchen. Oh ja, dieses Talent beherrschte sie noch immer ausgezeichnet, innerhalb des Bruchteils von einer Sekunde ihre Rolle zu wechseln, und noch immer gelang es ihr, mit dieser eindrucksvollen Vorstellung ihren Willen durchzusetzen. Die schöne Lady Guinevere mit den smaragdgrünen Augen – so zerbrechlich, so unbeugsam, ausgestattet mit einer gesunden Portion an Niedertracht.

Schmaler war sie geworden, schmaler und blasser – ein ehemals schmales, blasses Menschenkind, nun verwandelt in eine schmale, blasse Andere. Während sie hektisch irritiert meine Umgebung erkundete, wartete ich geduldig auf ihr Anliegen. Ich ließ sie gewähren, und ein Anflug von Mitleid drohte, bei ihrem traurigen Anblick von mir Besitz zu ergreifen, sie tröstend in die Arme zu schließen. Ja, liebe Schwester, deine flackernden Smaragdaugen täuschen dich nicht, du befindest dich tatsächlich mitten im Draußen in meinem Domizil, erhellt von einer wärmenden unsichtbaren Sonne, umgeben von grünen Sträuchern, deren soeben erwachten mannigfaltigen Blüten ein betäubender Duft entströmt. Und nicht zu vergessen, der unverkennbare Geruch der Erde, die du vor so unendlich vielen Jahren gezwungen wurdest zu verlassen. Es war dein damaliger Gemahl, der dich tötete, nachdem du ihn erbärmlich betrogen, herausgefordert, jedoch gewaltig unterschätzt hattest. Wie hieß er gleich nochmal? Ich hoffe, dass mir rechtzeitig sein Name wieder einfällt, schließlich soll er in dieser Chronik eine nicht unwichtige Rolle spielen. Immerhin erinnere ich mich noch an sein Gesicht – das Gesicht eines Engels. Verschieben wir es auf später und konzentrieren wir uns wieder auf Lady Guinevere. Schwester oder Feindin, beides, denke ich. Ich entscheide mich allerdings vorsichtshalber für die letztere Variante, obwohl es mir schwer fällt, in diesem zierlichen, bleichen, bebenden Ding meine Feindin zu sehen.

„Hohe Herrin des Waldes, ich bin erfreut, Euch zu sehen, und noch mehr erfreut bin ich, dass sich die Gerüchte um Eure Festung als ein Trugschluss erwiesen haben.“ Selbstverständlich war sie erfreut, mich zu sehen, sonst wäre sie wohl kaum hier, weil … „Ich brauche dringend Eure Hilfe!“ Im Gegensatz zu mir hatte sie offensichtlich, bevor sie mich aufsuchte, nicht darüber nachgedacht, ob ich für sie eine Schwester oder eine Feindin war (ungewöhnlich, aber verständlich, nachdem ich den Anlass ihres plötzlichen Besuches erfahren hatte). Sie sah nicht nur miserabel aus, es ging ihr miserabel. Der verzweifelte Ausdruck in ihrem Gesicht, die fahrigen, abgemagerten Hände, die ruhelos ihre schwarzen Haare traktierten, überzeugten mich, ihrer Bitte, beziehungsweise Forderung Gehör zu schenken.

„Es ist mein Bruder, Hohe Herrin, der Eure Hilfe so dringend benötigt!“ Nun hatte sie in der Tat meine geballte Aufmerksamkeit. Vor allem war ich begierig, auf der Stelle zu erfahren, weshalb ihr Bruder nicht selbst zu mir kam und mich um Hilfe bat. Die Frage wäre sowieso überflüssig gewesen, denn die Antwort erahnte ich ja bereits – er war offensichtlich nicht in der Lage, mich aufzusuchen, Lady Guineveres Bruder, den sie hin und wieder als ihren kleinen Bruder bezeichnete. Klein war er seit Ewigkeiten nicht mehr – einst der Erwählte des Dunklen Meisters, dann der stolze König seines untergegangenen Volkes, nun der gebrochene König der Schatten, und für diejenigen, die ihn fürchteten, hassten, verachteten und verfolgten, war er nichts weiter als der Schwarze Hexenmeister. Sicher war ihm etwas zugestoßen – etwas unfassbar Schreckliches. Wie sonst würde sich seine hochmütige Schwester auf die beschwerliche Suche nach meiner Festung begeben haben, um sich ausgerechnet vor mir, ihrer Feindin und Rivalin, demütig in den Staub zu werfen? Und was mit ihm geschehen sein mochte, alles, aber wirklich alles, was in meiner Macht stand, beabsichtigte ich, in Bewegung zu setzen, ihn, aus welcher Klemme auch immer, in der er mal wieder steckte, zu befreien. Lady Guineveres kleiner Bruder, ihr König, ihr Geliebter – und mein Geliebter!

3

Der Trank des Vergessens! Das ist ganz simpel die poetische Umschreibung für eine der begehrtesten und beliebtesten Drogen. Hin und wieder tödlich für die Erdenmenschen, immer risikobehaftet für die Anderen im Schwarzen Land. Angeblich hergestellt von den Dunklen Herrschern, wird sie hier großzügig verteilt und ihre Rezeptur vorzugsweise an die Erwählten weiter gereicht – selbstverständlich nicht ohne eine Gegenleistung. Um welche Gegenleistung es sich dabei womöglich handelt, entzieht sich jedoch meiner Kenntnis, – und, ehrlich gesagt, will ich es auch gar nicht wissen.

Ein Trank, der vor allem widerspenstige, aufständische, unzufriedene, rebellische und gefährliche Untertanen für eine Weile oder sogar für immer ausschalten soll. Ein Trank, der in eine wundersame, trügerisch glückliche Welt entführt. Ein Trank, der Elend, Hunger und Furcht vergessen lässt. Aber auch ein Trank, der die Unvorsichtigen und Unerfahrenen im wahrsten Sinne des Wortes vergessen lässt, wieder aus jener Scheinwelt zu erwachen, um sich irgendwo, irgendwann zwischen ihr und der Realität in einer leeren Unendlichkeit zu verlieren.

Wenn es jemanden gibt, der genügend triftige Argumente hat, sich diesen Trank des Vergessens einzuflößen, dann ist es Lady Guineveres Bruder – und das tut er oft, sehr oft, zu oft. Sie hindert ihn nicht daran, greift nicht ein, während er davon, mehr als ihm gut tut, in sich hineinschüttet, lässt ihn gewähren, wenn sie ihm nicht sogar eigenhändig dieses vermaledeite Zeug verabreicht, ihn damit betäubt und gefügig macht. Und das seit jenem verhängnisvollen Morgen, an dem er sich nach seinem grausamen Opfertod im Körper eines Anderen wiederfand.

Es dauerte eine Weile, bis ich endlich den Zusammenhang von Der-Bruder-Trank-des-Vergessens-Verzweiflungs-Abwesenheits Hilfe begriffen hatte, weil Lady Guinevere offensichtlich nicht imstande war, ihre gekeuchten Sätze in eine verständliche Reihenfolge zusammenzufügen. Jeden Augenblick fürchtete ich, dass ihre fahlen Wangen plötzlich vor Erregung zu verglühen begannen. Nachdem sie verstummt war, musterten mich die Smaragdaugen zwischen unterwürfigem Flehen und wieder aufkeimender Angriffslust.

„Ihr werdet ihm doch helfen?“

„Setzt Euch, Mylady. Reißt Euch gefälligst zusammen!“

Mein ungeduldig barscher Tonfall ließ sie einen Augenblick erstarren, bevor sie sich sichtlich erschöpft in die weichen Polster eines Sessels fallen ließ. Sie schob einen Zweig, der ihre Sicht verdeckte, hastig beiseite, zuckte zusammen; erschrocken darüber, dass ihre knochige Hand tatsächlich diesen wirklich existierenden Gegenstand und nicht irgendein stoffloses Phantom gestreift hatte.

„Ich fasse zusammen: Ihr habt Eurem Bruder den Trank des Vergessens gereicht – bestimmt in einem Eurer protzigen Pokale und Euch dabei – natürlich ganz unabsichtlich, in der Dosierung vertan. Jetzt, jetzt wacht er nicht mehr auf, und Ihr fürchtet, dass er Euch entgleitet. Verflucht, Ihr fürchtet Euch zu Recht. Ist es nicht so?“

„Nicht ganz, meine liebe Schwester.“

Sie nannte mich also meine liebe Schwester und dabei lächelte sie – nun war es an mir, sehr vorsichtig mit meiner weiteren Wortwahl zu sein. Ihre untrügliche Charaktereigenschaft, nämlich das entwaffnend freundliche Lächeln, während der heimtückische Dolch hinter ihrem Rücken geduldig auf seinen Einsatz lauerte, sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

„Er selbst hat sich in der Dosierung verschätzt!“

Wir verschwendeten noch ein Weilchen unnütze Zeit damit, unsere gegenseitigen Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, bis ich schließlich den bewegungslosen Körper ihres kleinen Bruders vor mir liegen hatte.

4

Cahal O’Brien! Wie lange war es her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte? Trotzdem war mir jedes Detail seines Schicksals auch nach dem Opfertod vor den Stufen seines Altars – dem Altar des Lichts – nicht entgangen. Wie er sich, angekommen im Schwarzen Land, mit Lady Guinevere dem Gericht der Dunklen Herrscher entzog, drei Jahrhunderte später mit ihr zusammen in einem neuen menschlichen Körper seinen einstigen Geliebten aufsuchte. Den Geliebten und den Schüler, der für den grauenvollen Untergang seines gesamten Volkes verantwortlich war. Erik, Erik Gunnarsson – jetzt ist mir gerade sein Name wieder eingefallen. Erik, bildschön wie ein Engel, gefährlich und tödlich. Der ideale Gemahl für Lady Guinevere, bildschön wie eine Elfe, gefährlich und tödlich. Sie war es, die beabsichtigte, ihm den Tod zu bringen, und doch war es sie, die am Ende von ihm geholt wurde, währenddessen ihren kleinen Bruder ein sehr langer, mehr als unangenehmer Aufenthalt in einem schottischen Verlies erwartete.

Ob es nun wichtig ist oder nicht, so möchte ich nur kurz erwähnen, dass sowohl Erik als auch Cahal natürlich in jedem ihrer menschlichen Körper einen anderen Namen trugen. Lawrence Duncan (später Cesare Alba, Rodrigo de Alpojar, momentan Prof. Stanford – so viele Leben, so viele traurige und verfluchte Leben) und Guy Macenay; zwei Kontrahenten, die unermüdlich ihrer stetigen Hassliebe frönten. Ich werde meine Chroniken allerdings mit denjenigen Namen fortsetzen, die die beiden bei ihrer ersten Begegnung trugen: Erik Gunnarsson und Cahal O’Brien.

Aber, meine lieben Leserinnen und Leser, ich bemerke, dass ich soeben im Begriff bin, zu hastig vorzugreifen. Ich nehme mich jedoch ab jetzt zusammen und versuche, euch diese Geschichte in der richtigen Reihenfolge zu erzählen. Eine unselige Geschichte, die vor langer Zeit mit einer inniglichen Freundschaft begann und bis heute von erbitterter Feindschaft beherrscht wird.

Bevor ich jedoch mit dem nächsten Kapitel beginne, in dem wir Cahal beziehungsweise Guy über die große Ascheebene zum Tor des Niemandslandes begleiten, lasst uns noch eine kleine Zeit in meiner Festung verweilen.

5

Beinahe war ich versucht, ihn nicht aufzuwecken. So friedlich und entspannt wie er da lag. Er lächelte, ich erinnerte mich zu gern an sein Lächeln. Ich erinnerte mich an jenen Tag, an dem er mich in meiner bescheidenen Behausung aufsuchte und ich ihn, einen mageren verwirrten vierzehnjährigen Jungen, zum Mann machte. So viele unberührte Jünglinge und erwachsene Männer sind im Laufe der Zeiten durch meine Hände beziehungsweise Betten gegangen (schockiert?). Ich mochte jeden auf seine ganz spezielle Art und Weise, aber ihn, Cahal O’Brien, habe ich geliebt, so sehr, dass ich ihn sogar, obwohl es mir die Götter strengstens untersagten, in eine Anderswelt entführen wollte, die für ihn nicht vorgesehen war. Seine Bestimmung war und ist das Schwarze Land, für das er sich letzten Endes entschied. Es tat so weh, so furchtbar weh, ich hätte niemals im Entferntesten geahnt, dass mir in einem meiner vielen Leben jemand so weh tun konnte. Er handelte richtig, indem er das Leben für sein Volk opferte, obwohl er wusste, dass ihn sein Weg künftig in Entbehrungen und Leid führen würde.

Und ich, ich war soeben im Begriff, ihn genau wieder auf diesen leidvollen Weg zurückzuschicken. Sein scheinbar glückseliger Gesichtsausdruck täuschte, so wie auch der trügerisch liebliche Duft der Droge, der sich mit dem ungezähmten Raubtiergeruch seines Körpers vermischte.

Sie, es waren sie – wer sie waren, werdet ihr, liebe Leserinnen und Leser, noch erfahren, die ihn gerade noch rechtzeitig vor mein Tor gelegt hatten. Meine Wächterinnen schafften ihn auf der Stelle in mein Schlafgemach, betteten ihn auf ein frisches Laken, während sie ihn eiligst zu entkleiden begannen. Jetzt wurde meine gesamte Energie dafür benötigt, seine Seele vor dem ewigen Nichts zu bewahren.

Er kannte meine Stimme, er liebte meine Stimme. Sie würde ihn an unsere vielen gemeinsamen Stunden, welche wir in meiner Behausung, verborgen in den Wäldern seines Reiches, miteinander verbracht hatten, erinnern. Ich folgte Cahals verschüttetem Gedächtnis, suchte nach den verschlossenen Türen, öffnete sie und ließ zuerst ihn herein: den Frühling mit den noch zaghaften Gesängen der Vögel, wenn sie sich aufmachten, die Nester für ihren Nachwuchs zu bauen, dann den Sommer, begleitet vom unermüdlichen Zirpen eifriger Insekten, dann den Herbst mit seinem raschelnden Laub, das die scheuen Waldbewohner auf ihrer Suche nach Futter behutsam beiseiteschoben, und schließlich den Winter mit dem Krächzen der Rabenvögel, während sie scharenweise die kahlen Äste der Bäume bevölkerten.

Ich hoffte so sehr, dass ihm diese Bilder noch lange nach dem Erwachen in Erinnerung bleiben würden, nach dem Erwachen in einem Schwarzen Land, in dem es nichts weiter gab als öde Ascheebenen und karge Gebirge. Sacht legte ich die Hand auf seine knochige Brust. Sein Atem war schwach, aber regelmäßig, tastete hinauf zu den eingefallenen Wangen. In dem Moment, als meine Lippen die seinen berührten, schlug er die Augen auf, seine schwarzen unergründlichen Augen mit dem wissenden Blick einer von vielen Verletzungen gezeichneten alten Seele. Seine vertraute Stimme krächzte:

„Meine Herrin. Ihr seid zurück, Ihr seid zurück!“

Draußen 1959 - 2019

Die Große Ascheebene

1

Der Blick zurück auf König Kierans Stadt. Errichtet von unbekannten Baumeistern im unerschütterlichen Glauben daran, dass die meterhohen, meterdicken Mauern jeglichen Widrigkeiten von außen standhielten, seien es die Wilden Horden oder die mannigfaltigen Naturkatastrophen, die das Leben im Schwarzen Land noch zusätzlich erschwerten. Sie hielten, bis auf wenige Ausnahmen stand, diese meterhohen, meterdicken Mauern, bildeten seit vielen Jahren einen vermeintlich uneinnehmbaren Schutzwall um die Stadt. Und während der langen Jahre hatte König Kierans Vorgänger, Richard McDuff, es sogar unerschrocken und selbstbewusst, gewagt, sie in Richtung der Großen Ascheebene zu erweitern.

Aber in der Zwischenzeit gerieten die Warnungen einstiger Bewohner in Vergessenheit. Diese hatten es längst vorgezogen, sich in die sicheren Kolonien der kalten, schroffen Gebirge zurückzuziehen. Sie verzichteten klugerweise auf den fragwürdigen Luxus heißer Quellen unterhalb der Stadt, anstatt sich einer unberechenbaren und unterschätzten Gefahr auszusetzen.

Und er brach mit brachialer Gewalt herein, unberechenbar und unterschätzt – der Sturm. Klar, man wusste selbstverständlich um die heftigen Stürme auf der großen Ascheebene, wusste um ihre überwältigende Zerstörungswut, nahm sie sogar insofern ernst, als dass man ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem entwickelte, um die Bewohner rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Bis zu jenem verhängnisvollen Tag hatten die meterhohen, meterdicken wuchtigen Mauern sämtlichen Gefahren zuverlässig getrotzt. Das, auf was Cahal jetzt zurückschaute, trotzte allerdings nichts und niemandem mehr. Die angeblich uneinnehmbare, unzerstörbare Stadt mit ihren protzigen schwarzglimmenden Gebäuden, ihren meterhohen, meterdicken Mauern, war in wenigen Tagen in einen von stinkendem Wüstenstaub bedeckten Trümmerhaufen verwandelt worden.

Immerhin hatte der prunkvolle Palast standgehalten: Eine hochmütige Königin, nun schamlos entblößt, nur noch umsäumt von den verstreuten Fetzen ihrer einstmals prächtigen Gewänder. Es war nicht irgendein Sturm – es war Der Sturm!

2

Cahal schob den unangenehmen Gedanken, dass es womöglich der letzte Blick auf die zerstörte Stadt sein könnte, beiseite und setzte seinen Weg fort. Er musste sich beeilen. Viel zu spät war er aufgebrochen, hatte sich von den endlosen Diskussionen mit dem König bezüglich Sinn und Unsinn seiner Expedition aufhalten lassen, bis Kieran widerstrebend nachgab und ihn ziehen ließ.

Um was es ging? Um einen Trank! Es ging wieder einmal um einen Trank. Ja, liebe Leserinnen und Leser, im Schwarzen Land gab es für jedes Gebrechen, jedes Wehwehchen den passenden Trank: den Trank gegen Traurigkeit, den Trank gegen Schmerzen, den Trank gegen Müdigkeit, den Trank gegen … einige halfen, die meisten halfen nicht, andere waren gefährlich, wie der Trank des Vergessens, der zwar die Schrecken der Vergangenheit hinter sich zu lassen half, die sich jedoch wieder nach dem Erwachen umso mehr in der Gegenwart ausbreiteten.

Die verschiedenen Bestandteile (Flechten, Gesteine, Gewässer und weniger appetitliche Flüssigkeiten) dieser Drogen waren vorwiegend im Ersten Land zu finden. Eine zum grauen Himmel schreiende Ungerechtigkeit, zumal König Kieran penibel darauf achtete, dass diese seinen Wirkungskreis nicht ohne ausdrückliche Genehmigung verließen, zumal sie auch noch exklusiv von den drei Lieblingspriestern Guy, Viviane und Edward produziert wurden.

Aber die wertvollste Droge, der Trank des Lebens, ein Pulver in ein wenig Wasser aufgelöst, das für längere Zeit den quälenden Hunger vertrieb, ungeahnte Energien freisetzte, bekam man im Niemandsland – zwar nur dort – und selbstverständlich nicht umsonst! Deshalb wurden regelmäßig Opfer erwählt, die man vor dem Eisernen Tor absetzte. Unbegabte, etwas beschränkte, aber immerhin bildschöne Geschöpfe, deren Nutzen lediglich im Besitz ihrer weißen, vollkommen unberührten Kehle bestand.

Nun ging bewusstes Pulver in beängstigender Geschwindigkeit zuneige, was zur Folge hatte, dass selbst die kräftigsten Jäger, Wächter, Priester, Arbeiter und sogar der König selbst, geschwächt vom Versuch, in der zertrümmerten Stadt zu retten, was zu retten war, umso mehr auf die dringend benötigte Droge angewiesen waren. Die potentiellen, bildschönen, etwas beschränkten Opfer dienten also demnach jenen Bewohnern, die den Wiederaufbau bewerkstelligten, als eiserne Reserve, was hieß, ihre Kehlen würden in absehbarer Zeit weder weiß noch unberührt bleiben – also kein Opfer für die Dunklen.

Cahal O’Brien alias Guy Macenay, seit einigen Jahren Zweiter Priester des Königs, sah nur einen Weg aus diesem Dilemma. Er selbst musste sich auf den Weg ins Niemandsland begeben und den Dunklen Meister um Hilfe bitten, sie erbetteln, erflehen. Und der Preis dafür sollte er selbst sein. Das jedoch verschwieg er in weiser Voraussicht erst einmal seinem König.

3

Dichte Flocken giftiger Staubpartikel senkten sich mit peinigender Langsamkeit zu Boden, gaben die Sicht auf den grauen Himmel frei, einen Himmel, grau in mannigfaltigen Schattierungen: von hellgrau zu hellmittelgrau, von mittelgrau, mitteldunkelgrau bis hin zu dunkelgrau. Schwefelgelbe Wolkenfetzen, die typischen Vorboten eines Sturms, kreisten noch einen Augenblick über der zertrümmerten Stadt als letzte Warnung an ihre Bewohner: Es war das Land, das Schwarze Land, dem sich auch der hochmütige König mitsamt seinem hochmütigen Volk zu beugen hatte.

Kieran, der selbstherrliche Erste König, Sohn der schönen Lady Guinevere, vierter und jüngster Sohn des Großmagiers Lawrence Duncan alias Erik Gunnarsson. Die unheilvolle Mischung zweier unheilvoller Charaktere mit den smaragdgrünen Augen seiner Mutter, der engelsgleichen Schönheit seines Vaters. Cahal liebte Kieran, liebte ihn so sehr, wie er seine Eltern hasste.

Doch der Erste König war hin und wieder für eine angenehme Überraschung zu haben. Er hatte seinen Thron verlassen, sich unter das gemeine Volk gemischt, um sich verschwitzt, von Asche übersät, mit nacktem Oberkörper an den mühseligen Aufräumarbeiten zu beteiligen.

Für Cahal war es an der Zeit, sich auf den Weg zum Tor des Niemandslandes zu machen, inständig zu hoffen, dass sein gewagter Plan am Ende aufgehen würde; der irrsinnige, von vornherein zum Scheitern verurteilte Plan, die zwei Königreiche und die größte unabhängige Kolonie zu einer Einheit zusammenzuführen und damit nach vielen Jahrhunderten das Schwarze Land endgültig vom Zwischenreich unabhängig zu machen. Drei Brüder miteinander zu vereinen, die sich bis jetzt gleichgültig, wenn nicht sogar feindselig gegenüberstanden, war ein kaum zu bewältigender Kraftakt. Und ausgerechnet jetzt kam noch der Sturm dazwischen, machte die Reise ins Niemandsland über die Große Ascheebene notwendig, hin zum Eisernen Tor, zum Palast des Dunklen Meisters – zum Dunklen Meister selbst.

Cahals Hand tastete in die Tiefen seiner Manteltasche, spürte durch den Handschuh hindurch den vertrauten Gegenstand – die kleine Ampulle, deren Inhalt versprach Den ganzen Bockmist hinter sich zu lassen. Nein, er würde noch keinen Gebrauch davon machen – noch nicht, eigentlich gar nicht! Immerhin, er hatte es tatsächlich geschafft, eine beachtliche Weile ohne den Trank des Vergessens auszukommen, und selbstverständlich hatte er vor, weiterhin eine beachtliche Weile darauf zu verzichten. Trotzdem war es beruhigend zu wissen, dass er jederzeit damit anfangen könnte, sollte sich seine Lage unerträglich zuspitzen. Selbst wenn es nur für wenige Stunden war und das Erwachen ihn sowieso wieder in die unerträgliche Lage zurück katapultierte.

Gleich den Wilden Horden, die plötzlich und blitzschnell aus den Tiefen ihrer Löcher hervorkrochen, brach die Schwärze über das graue Firmament herein. Eine spürbare Schwärze, so dicht, dass sie die Luft zum Atmen nahm, die Augäpfel in ihre Höhlen drückte und jeden Versuch voranzukommen zur Qual machte. Er zog vorsichtshalber den schützenden Schal fester um Mund und Nase und deckte die Augen mit einem Gestell, das vage an eine Brille erinnerte, ab. Zuerst musste er den äußersten Stützpunkt des Ersten Landes erreichen, dort bis zur grauen Dämmerung abwarten, bis er seinen Weg fortsetzen konnte. Er beschloss, die Hauptstraße weitgehend zu meiden, wollte niemandem begegnen, der ihm unangenehme Fragen stellte, weil er ohne Begleitung unterwegs war. Es gab einen schmalen Pfad durch die Wüste. Ihn beabsichtigte er zu benutzen in der Hoffnung, dass der Sturm ihn nicht vollständig unter der Asche hatte verschwinden lassen. Dann zurück auf die Hauptstraße stoßen, die geradewegs zum Eisernen Tor führte. Ein guter, ein vernünftiger Plan. Weitere Pläne gab es vorerst nicht, denn nun hing alles von ihm ab, dem Dunklen Meister.

4

Rechtzeitig, bevor sich die Umrisse des Stützpunktes in der zähen Finsternis vollständig aufzulösen begannen, gelangte Cahal an das Tor. Einer der unzähligen gleich aussehenden Diener leuchtete ihm mit dem kümmerlichen Lichtschein seiner Funzel ins Gesicht, nickte und ließ ihn eintreten. Der kleine Stützpunkt, der hauptsächlich die Aufgabe hatte, unerwünschte Besucher rechtzeitig von der Stadt fernzuhalten, wachte noch unversehrt und zuverlässig über die Ascheebene. Offensichtlich hatte sich der Große Sturm so grimmig und ausgiebig über der Stadt ausgetobt, dass er, sei es aus Erschöpfung oder aus Überdruss, dieses unbedeutende Fort wie auch die umliegenden Behausungen verschonte. Hier stand noch immer ein Stein auf dem anderen.

Es war kalt, kalt und widerwärtig feucht. Cahal wunderte sich längst nicht mehr darüber, weshalb er zwischen den Mauern dieser beklemmend winzigen Kammern so viel mehr fror als außerhalb des Forts. Er nahm das brillenartige Gestell von der Nase, rollte den Schal mitsamt den Handschuhen zu einem Knäuel Stoff zusammen und stopfte es in eine seiner Manteltaschen.

„Willkommen, Master Guy!“ Der Wächter nannte ihn bei dem Namen, den er in seinem zweiten Leben getragen hatte: Guy Macenay, Adoptivsohn des Waffenschmieds Dougal Macenay, obwohl er dessen richtigen Namen längst hätte kennen müssen: Cahal O’Brien, leiblicher Sohn des Brian, König eines untergegangenen heidnischen Clans. Wahrscheinlich kannte er selbst nicht einmal seinen eigenen ursprünglichen Namen. Jetzt hieß er Percevale, Percevale de Thouars, Schwager des verfeindeten Richard McDuff, Kierans treuer Mentor, Jäger, Krieger und Wächter des Stützpunkts.

Die Anderen, das bedeutete vornehmlich: eingefallene blutleere Wangen, stetig gierig flackernde Augen, stetig gierig bebende Lippen. Diese Attribute fehlten Percevale. Noch bleich und angegriffen von den berechtigten Sorgen, die der Große Sturm mit sich gebracht hatte, hielt sich dieser hochgewachsene Mann mit dem schwarzen wirren Lockenkopf demonstrativ aufrecht und beherrscht, spendete sogar noch nebenher Trost und Zuversicht. Würdevoll, ja würdevoll, war die passende Bezeichnung für Percevale de Thouars’ Person.

Er hieß Cahal mit einer Herzlichkeit willkommen, die vergessen ließ, dass er früher einer der treuesten Anhänger des damaligen Ersten Königs gewesen war, Richard McDuff, neben Erik Gunnarsson ein gefährlicher, ernst zunehmender Gegner. Ihn hatte Cahal im Leben als Guy Macenay von der ersten Begegnung an verabscheut, ihn mit abfällig spöttischen Bemerkungen provoziert und lächerlich gemacht. Nur, Richard McDuff war keineswegs lächerlich, immerhin gehörte er den Dunklen Herrschern an, und die schmerzenden Narben auf Cahals beziehungsweise Guys zerschlagenem Rücken ließen ihn den Rest des Lebens diesen Tatbestand nicht vergessen.

Doch ich greife schon wieder vor, liebe Leserinnen und Leser.

König Richard McDuff wird noch einen angemessenen Platz in meiner Chronik finden. Übrigens, ich mag ihn nicht und das nicht nur, weil ich Cahal liebe. Nun zurück zum Fort und zum aufrichtigen Percevale de Thouars und seinem Schwarzen Gast.

5

„Bist du dir sicher, dass du es tun willst?“, versuchte Percevale vorsichtig ein Gespräch in Gang zu bringen. Er war allein, und er war einsam auf diesem verlorenen Posten. Er war umgeben von einer Schar Diener, deren Jawohl-sehr-gerne-ist-es-Euch-rechtwas-können-wir-noch-für-Euch-tun-lieber-Master-Percevale keinen scharfsinnigen Unterhaltungswert bot, betraut mit einer Aufgabe, die ihn, geprägt von lähmender Eintönigkeit unterforderte. Denn wer wäre schon so vermessen, sich auf die unberechenbar gefährliche Ascheebene zu wagen und vor allem so blödsinnig, sich von dort aus entlang der Hauptstraße unangemeldet Kierans Stadt zu nähern?

Cahal war müde, steinmüde, und im Gegensatz zu Percevale sehnte er sich nahezu nach Einsamkeit. Seine Sehnsucht konnte allerdings schneller gestillt werden, als er es sich erhoffte – dafür würde höchstwahrscheinlich der Dunkle Meister persönlich sorgen. Er hatte es schon einmal getan, und gegen diese Einsamkeit war Percevales Zustand nichts weiter als eine gepflegte Langeweile.

„Ja, ich bin mir sicher!“, knurrte Cahal widerwillig „ verdammt, ich will schlafen … Wir brauchen dieses Scheißpulver. Wenn du einen besseren Vorschlag hast, bitte schön, überzeuge mich, aber beeile dich damit, bevor ich hier vor Müdigkeit zusammensacke. Nichts lieber würde ich jetzt tun, als mich auf der Stelle zurück in die Stadt zu begeben, ein heißes Bad zu nehmen, mir eine von Kierans biegsamen Mätressen ins Bett zu holen und als Höhepunkt ein paar winzige Tropfen des Vergessens einzuflößen!“

Nein, Percevale hatte natürlich keinen anderen Vorschlag, denn auch er war auf besagtes Scheißpulver angewiesen.

„Habe ich mich soeben verhört? Kann es sein, dass der Palast noch steht?“

„Hast du nicht, er ist zwar mit Aschestaub bedeckt, aber er thront in aller Pracht noch immer über der kaputten Stadt. Diejenigen, die diese ehemalige Festung erbaut haben, haben wirklich hervorragende Arbeit geleistet …. Du weißt, wer sie waren, und ich weiß, dass du es weißt, aber nicht mit der Sprache herausrücken willst … Am härtesten hat es die Mauer getroffen, offensichtlich zusammengeschustert von besoffenen Pfuschern. Es hilft nichts, sie muss sofort wiederhergestellt werden, sonst haben wir womöglich in Kürze ziemlich unangenehme Gäste in der Stadt. Alle Bewohner packen gerade mit an, angefangen von den Sklaven bis hin zu den Priestern, Jägern und Kriegern. Sogar das Engelchen, mein hochnäsiger Neffe, hat sich klaglos in die staubigen Trümmer geworfen. Doch es kostet jeden Einzelnen Kraft, viel Kraft, während sämtliche restliche Aktivitäten hintenanstehen müssen.“

„Ich weiß, was du meinst“, unterbrach ihn Percevale unwirsch, verärgert darüber, dass hier auf diesem verlassenen Stützpunkt seine helfende Kraft widersinnig verschwendet wurde. „Wir sollten uns zusätzlich Hilfe holen.“

„König Roger ist mit seinen Problemen beschäftigt, und über Fürst Lyonels Hilfe brauchen wir bestimmt nicht zu diskutieren, geschweige überhaupt daran zu denken!“

Selbstverständlich dachte Cahal an König Roger und Fürst Lyonel. Er dachte eigentlich an nichts anderes, aber darüber wollte er momentan nicht sprechen, schließlich waren die beiden immerhin Bestandteil seines riskanten Plans. Es hing also nur noch davon ab, was der Dunkle Meister mit ihm nach der Ankunft im Niemandsland zu tun gedachte: der Pranger, das Labyrinth der Ungewissen Wiederkehr, die Minen oder als König der Schatten wieder zurück auf seinen Thron? Kaum Aussicht auf Hoffnung für das Gelingen seines Plans. Er musste ohnehin den Verstand verloren haben, und der Trank des Vergessens hatte ihn offensichtlich vergessen lassen, dass sich die vortrefflichen Söhne des Lawrence Duncan alias Erik Gunnarsson schlichtweg gegenseitig nicht ausstehen konnten. König Kierans Land würde geschwächt und ausgelaugt, weitgehend an Macht und Einfluss verlieren. Dafür könnte das von König Roger, hoch oben in den eisigen Gebirgen mit seiner zähen widerstandsfähigen Bevölkerung, die Oberhand gewinnen. Und auf wessen Seite sich am Ende Fürst Lyonel schlagen würde, war sicherlich nicht schwer zu erraten.

Nachdem man noch ein paar belanglose Höflichkeiten ausgetauscht hatte, ließ Percevale ihn endlich schlafen. Er bemühte sich redlich, seinem undurchschaubaren Gegenüber blind zu vertrauen – wobei auch immer. Er hatte keine andere Wahl.

6

So rasch wie die Nacht mit ihrer erstickenden Schwärze hereinbrach, so ließ sich wiederum die Dämmerung des Tages reichlich Zeit. Während sich das Dunkelgrau stufenweise zum Mittelgrau wandelte, befand sich Cahal bereits ein beachtliches Stück vom Fort entfernt auf dem schmalen Pfad in Richtung Norden. Der Pfad war gut sichtbar, und die wenigen verstreuten Aschehügel, denen er hin und wieder ausweichen musste, stellten kein Problem für sein Weiterkommen dar. Auf der Ebene war es in der Zwischenzeit windstill, nur noch ein Wimmern ließ erahnen, dass der Sturm in den entfernten Gebirgsketten ein neues Betätigungsfeld gefunden hatte.

Cahal hatte Percevales überschwänglichen Dank für die Abwechslung durch seine Gesellschaft mit dem freundlichsten Lächeln, zu dem er imstande war, erwidert.

Er vermied grundsätzlich, an seine menschlichen Leben zurückzudenken, ganz besonders an das zweite. Aber an Percevale de Thouars’ Gastfreundschaft erinnerte er sich gern. Der hatte ihm damals ohne Vorbehalte auf seiner Burg in der schlimmsten Not Zuflucht gewährt, ihm gestattet, auf einem seiner Schiffe nach Palästina zu segeln, wo er am Ende in den Armen des orientalischen Freundes, erlöst von der Schwindsucht, verstarb und in das Schwarze Land überwechselte. In einer Vision irgendwo an der Westküste Irlands hatte er dieses Ende im ersten Leben längst vorausgesehen. Jedoch der lebenshungrige zwölfjährige Knabe wollte sich damals beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mit dem, an der Reling eines unbekannten Schiffes lehnenden, bluthustenden Vagabunden identisch war.

Zu spät wurde ihm bewusst, dass er gerade einen Fehler begangen hatte. In jenem Augenblick, in dem er an die bedauernswerte Vergangenheit dachte, spürte er, wie sich plötzlich sein Brustkorb zusammenzog, ein eiserner Ring ihn zu ersticken drohte. Er bekam keine Luft mehr, sank keuchend auf die Knie. Er musste sich konzentrieren, konzentrieren, konzentrieren und vor allem Ruhe bewahren – er wollte nicht sterben, er konnte nicht sterben, denn er war unsterblich! Nur die Aussicht darauf, was mit ihm andererseits geschehen würde, wenn er mitten auf dem einsam gelegenen Pfad liegenblieb, war weitaus grausamer. Irgendwann tauchten sie von irgendwo her auf, die Wilden Horden. Geschöpfe, ausgezehrt, verwahrlost, ausgehungert, gierig, immer auf der Suche nach Beute, und Cahal hatte genügend Blut in sich, um mindestens zehn von ihnen satt zu bekommen. Er rappelte sich hoch, atmete ein paar Mal tief ein und aus und setzte seinen Weg fort.

An einem der verfallenen Tempel, die überall im Schwarzen Land verteilt waren, machte er eine Weile Rast. Niemand wusste, wer sie erbaut hatte, und niemand fragte danach. Sie waren einfach da. Irgendwie hatte sich im Laufe der Zeit der Begriff Tempel eingebürgert. Höchstwahrscheinlich vermittelten die schwarz-blauen Säulen den Eindruck, dass zwischen ihnen vor unendlichen Zeiten unbekannte Wesenheiten ihren unbekannten Göttern gehuldigt haben mussten.

Als er die Konturen der Berge, die das Tal der Ruhe umschlossen, erkannte, wechselte er auf die breite Hauptstraße, ging noch ein Stück geradeaus und bog schließlich nach rechts ab. Er ignorierte den schwachen Duft frisch gemähter Gräser, der ihm jedes Mal genau an dieser Kurve in die Nase stieg, und beschloss zugleich jedes Mal, den Konsum der Scheißdroge auf ein absolutes Minimum herunterzufahren.

Mein Geliebter, mein König. Wie nahe wart Ihr einmal wieder an meiner Festung. Meine Festung, meine grüne Oase in Eurer schwarzen Wüste. Nur, wie hättet Ihr sie sehen sollen, wo sie mitten in einem der zahllosen Seen, von dichtem Nebel verhüllt, Euren Augen verborgen blieb – Euren Augen als auch Eurem Herzen? Unsere gemeinsame Zeit war noch nicht gekommen, denn zuerst musstet Ihr dorthin, worauf Euer Blick gerade gerichtet war – zum Eisernen Tor des Niemandslandes.

Draußen 1959 - 2019

Der Palast des Dunklen Meisters I

1

Das Niemandsland: Einst Wohnstatt der Dunklen Herrscher, wo sie regelmäßig mithilfe eines magischen Amuletts ihre Macht, die sie auf der Erde ausübten, erneuerten. Zurzeit ihr Gefängnis beziehungsweise ihr sicherer Rückzugsort, denn mit dem Verlust des wertvollen Schmuckstücks fehlt ihnen die Kraft, zwischen den Welten hin- und herzuwechseln. Dieses Amulett, in Gold und Silber eingefasst, in dessen Mitte sich ein Diamant, umrandet von Smaragden und Rubinen, befindet, trug der Meister der Dunklen ständig bei sich. Es verlieh ihm und seinen acht Priestern die Möglichkeit, ungehindert zwischen der Welt der Menschen und den verschiedenen Anderswelten zu verkehren bis zu der Nacht, als acht Gefährten die menschlichen Körper der Dunklen in einem Akt der Verzweiflung zerstörten und sie hinter das Tor des Niemandslandes verbannten.

Das Amulett selbst wurde von dieser unheilvollen Stunde an nie wieder gesehen. Die wildesten Gerüchte machen seit hunderten von Jahren die Runde: Es versank zusammen mit dem leblosen Körper des Meisters im Ozean, es wurde von den acht Gefährten an einen geheimen Ort gebracht, es löste sich in seine eigenen Bestandteile auf, und angeblich hätte ich mich seiner bemächtigt, als der Anführer der acht Gefährten nach dem scheinbaren Sieg über die Dunklen Herrscher erschöpft in meinen Armen eingeschlafen war.

Gewiss wird er mich abermals danach fragen, ob es sich wirklich in meinem Besitz befindet, Cahal, Sohn des König Brian und Bezwinger des Dunklen Meisters. Und falls ihr, liebe Leserinnen und Leser, ihr mich jetzt das Gleiche fragt, werde ich euch, so wie auch ihm, keine Antwort darauf geben. Stattdessen wollen wir nun zusammen zum Eisernen Tor zurückkehren, wo Cahal seine flache Hand auf die glatte schwarze Oberfläche legte, nachdem er einen Moment gezögert und darüber nachgedacht hatte, ob er nicht doch umdrehen und die Flucht ergreifen sollte. Ehrfurcht gebietend, ohne das geringste Geräusch von sich zu geben, glitt das Tor auseinander, gab den Blick frei auf das gefürchtete Niemandsland, auf die ausladende gepflasterte Straße hin zum Palast des Dunklen Meisters.

2

Er zitterte am ganzen Leib und das nicht vor Aufregung oder, weil er nackt war und fror. Er zitterte vor Angst. Aber er durfte keine Angst haben, aber er hatte Angst, entsetzliche Angst. Und wovor er am meisten Angst hatte, war, dass man sie ihm ansah, die entsetzliche Angst vor den vielen Augenpaaren, die auf ihn, seinen bleichen entblößten Körper gerichtet waren. Sein künftiges Volk, darunter die Eltern, die Königin und der König, erwarteten jetzt mit der unerschütterlichen Selbstverständlichkeit, dass er angesichts einer bedeutsamen Zeremonie Haltung bewahrte. Er war acht Jahre alt und gehörte zu den zehn Erwählten, die in dieser Nacht in die magische Gilde der Dunklen Herrscher aufgenommen werden sollten. Er versuchte verzweifelt, sich nur noch auf den Rhythmus der Trommeln und den monotonen Singsang der Krieger zu konzentrieren. Es gelang ihm bis zu dem Augenblick, als sich die übermächtige Gestalt plötzlich vor ihm neben dem steinernen Altar erhob. Der Herr des Waldes mit seinem ausladenden Geweih. Jedoch handelte es sich hierbei nicht um ihn, sondern um den Dunklen Meister, versehen mit den Insignien der verehrten Naturgottheit. Diese trug niemals ein Amulett um den Hals, schon gar nicht das Amulett, dessen Juwelen die Dunkelheit um den Altar herum mit ihrem gespenstisch phosphoreszierenden Glanz erhellten.

Hände ergriffen Cahal, erstaunlich sanft und vorsichtig, legten ihn bäuchlings auf den Altar. Die Trommeln und die Gesänge verstummten. Dann in der angespannten Stille die Schreie, seine Schreie, als der Schmerz von ihm Besitz ergriff, währenddessen seine Eingeweide zerrissen wurden.

In jener Nacht der Wintersonnenwende verlor er, der Sohn des Königs, seine Seele und zweiundzwanzig Jahre später sollte er, der König, an der gleichen Stelle sein Leben verlieren.

3

Cahal wagte nicht, sich umzudrehen. Er wollte keinesfalls zusehen, wenn sich hinter ihm das Eiserne Tor wieder schloss. Ins Niemandsland kam er hinein – jederzeit! Jedoch, ob er auch herauskam, lag nicht in seiner Macht. Noch nicht! Und vor wenigen Jahren war es ausschließlich der Wille der Dunklen gewesen, dass er völlig ahnungslos durch das geöffnete Tor in die Arme seines Todfeindes Erik Gunnarsson gerannt war.

Die Straße zum Palast. Als er sie das erste Mal betrat, war er kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten, geschweige sich die endlose beschwerliche Treppe hinauf zum Eingang des Palastes zu schleppen so ausgehungert, so ausgelaugt er damals war, hinkend auf einem Stock gestützt, um sein verletztes Bein zu schonen. Er war sich darüber im Klaren, welch erbärmlichen Anblick er in seinen verdreckten Lumpen dem Dunklen Meister bot. Trotzdem, mit erhobenem Haupt, wollte er ihm auf Augenhöhe gegenübertreten, selbst wenn er den Rest seiner Existenz nur noch auf Knien zu ihm aufschauen musste.

Heute bereitete ihm die Treppe keine Schwierigkeiten, genauso wenig wie die Begegnung mit dem Meister – hoffte er zumindest! War der Himmel über dem Niemandsland einige Nuancen dunkler als im übrigen Draußen? Seltsam, dass er sich das ausgerechnet in dem Augenblick fragte, während er, vor dem Palast angelangt, bedächtig seine Schuhe auszuziehen begann. Barfuß, als Zeichen der Demut und der Reue für sein ungeheuerliches Vergehen an den Dunklen – seinen Göttern, – durften nur seine bloßen Füße den Boden des Thronsaales berühren. Er schauderte, schaute nochmals nach oben. Die gezackten Türme jener unheiligen Karikatur einer heiligen Kathedrale durchbohrten gleich Dolchen ohne Gnade die schwefelgelben Wolken in dem grauschwarzen Himmel. Ja, hier war er in der Tat dunkler, viel dunkler – nur war das überhaupt noch von Bedeutung?

„Willkommen, Master Cahal!“ Donagh, im letzten Leben Hohepriester und Sohn des Hüters der Heiligen Pferde, hatte sich so gut wie nicht verändert. Sein feines aristokratisches Gesicht täuschte nicht darüber hinweg, wie stahlhart und unnachgiebig er seinen Willen durchsetzte, ohne Kompromisse, ohne Milde, ohne Mitgefühl. Mit der Andeutung einer Verbeugung hieß er Cahal in den Thronsaal eintreten. „Du warst lange fort …“, er musterte missbilligend Cahals schlampigen Aufzug „… mal wieder!“, ergänzte er kaum hörbar, doch sehr bestimmt. Besser er verkniff sich weitere Vorwürfe. Er hatte es nicht vergessen, der Schlampige-Aufzug,-der-solange-fort-war,-malwieder war immerhin einst sein König gewesen, selbst wenn der in seinem zottigen, von Aschestaub und Schlamm besudelten Mantel und den nackten Füßen alles andere als eine königliche Erscheinung abgab. Cahal O’Brien war ein König, zwar ein König ohne Volk, jedoch ein König. Ein König der Schatten, dem am Ende des Saales nur ein verlassener Thron geblieben war. Darauf lag die eiserne Krone, von der er hoffte, sie nie mehr tragen zu müssen.

„Ich muss den Meister sprechen!“ Cahal räusperte sich. Um das Anliegen zu unterstreichen, gab er seiner Stimme mehr Festigkeit. „Es ist wichtig!“

Er schlüpfte aus dem Mantel, schleuderte ihn zu Boden, registrierte Donaghs Gedanken „Du führst dich auf, als ob …“ Donagh wiederum registrierte zu seinem Glück rechtzeitig Cahals Gedanken „Irgendwann werde ich deine edle Fresse …“. Er nahm den Mantel auf. „Nichts für ungut, Master Cahal“, fuhr er laut fort. „Darf ich erfahren, weshalb du gekommen bist, und darf ich erfahren, wo die versprochenen Opfer für unseren Meister sind?“

„Es gibt keine versprochenen Opfer. Er hat keine mitgebracht. Er wagt es, ohne Opfer hier zu erscheinen. Er wagt es, hier zu erscheinen, wagt es zu betteln. Er sieht aus wie ein Bettler!“ Die sanfte geschmeidige Stimme des Meisters. Wie aus dem Nichts folgte dieser Stimme er selbst, materialisierte sich vor den Augen seiner beiden Erwählten.

4

„Er sieht aus wie ein Bettler!“ Das waren auch seine ersten Worte gewesen, als Cahal nach der Niederlage gegen Erik/ Lawrence beschlossen hatte, sich endlich dem Gericht der Dunklen zu stellen. Zu lange hatte er damit gezögert, hatte stattdessen versucht, den Schaden, den er bei seinem Volk angeblich angerichtet hatte, zu bereinigen. Vergebens, es gelang ihm nicht, Erik das neue Oberhaupt der magischen Gilde, zu stürzen. Am Ende stürzte er selbst. Er verlor in einem schottischen Verlies den größten Teil seiner magischen Kraft und vor allen Dingen seine Würde, bis einer seiner Neffen ihn daraus befreite. Geoffrey Durham, Lady Guineveres Erstgeborener, der ihn mehr oder weniger zwang, sein Berater zu werden. Cahal/Guy sträubte sich nicht gegen sein Amt. Immerhin stand er von nun an unter der Schirmherrschaft des Zweiten Königs von Draußen. Aber auch den ereilte irgendwann ein grausames Schicksal, das er allerdings selbst verschuldete, aber sein Onkel und Berater verlor damit den einzigen Gönner und Beschützer. Vogelfrei, gejagt von den Schergen des Großmagiers, von Banden, die sich für sein Ergreifen eine fette Belohnung erhofften, trat er schließlich zermürbt die Reise ins Niemandsland an.

Mir schwirrt gerade der Kopf! Viel, sehr viel war gesehen – meine lieben Leserinnen und Leser, ihr werdet ganz bestimmt noch alles erfahren. Nach und nach.

5

Nicht vergessen hatte der Dunkle Meister auf der anderen Seite, dass es gerade dieser Bettler war, der ihm mit einem Pfeil ins Auge schoss, ihn damit zu Fall brachte und anschließend den toten menschlichen Körper mit einem gezielten Fußtritt in den Atlantischen Ozean beförderte. Jedoch hatte dieser Bettler mitsamt seinen acht Kumpanen, die fest an ihren Sieg glaubten, nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass sie mit dieser verwegenen Tat gleichzeitig auch ihre schmählichste Niederlage einleiteten. Denn ihrer Bestimmung, als Erwählte im Schwarzen Land den Dunklen Herrschen zu dienen, sollten sie niemals entkommen.

Liebe Leserinnen und Leser, unterbrechen wir an dieser Stelle. Ich bin euch zu eurem Verständnis meiner Chronik eine Erklärung schuldig. Wer sind die Dunklen Herrscher? Wer sind die Erwählten?

Beginnen wir bei den Dunklen Herrschern: Handelt es sich bei ihnen um Wesenheiten aus einer sogenannten Anderswelt von den unendlichen Weiten des Universums, die hin und wieder menschliche Gestalt annehmen? Oder sind sie womöglich doch diejenigen Menschen, die in einer weit zurückliegenden Vergangenheit von den Eroberern ihrer Insel in eine Anderswelt vertrieben wurden, und sich erst dort in Die Anderen verwandelten? Ehrlich, ich weiß es nicht! Was ich weiß, ist, dass einige von ihnen auf die Erde zurückkehrten, ihre Macht festigten, indem sie eine magische Gilde gründeten. Sie erhoben sich zu Göttern über einen heidnischen Clan, irgendwo an der Nordwestküste Irlands. Seit vielen Generationen sorgten sie für Wohlstand, Macht und Wissen. Doch als Gegenleistung für ihre großzügigen Zuwendungen forderten sie einen unerbittlichen Tribut, nämlich vor allem die Seelen magisch begabter männlicher Kinder.

Zwischen den jeweiligen Zeiträumen variierte die Anzahl der erwählten Kinder, die für die Magische Gilde infrage kamen. In den meisten Fällen handelte es sich um Kinder, die die Dunklen Herrscher entweder mit den Frauen des Clans gezeugt hatten oder deren Vorfahren mit ihnen in irgendeiner Weise verwandt waren.

Zehn Knaben wurden zuletzt erwählt, darunter der Sohn des Königs. In einem abstoßenden Ritual nahmen die Dunklen von den Seelen der Unglücklichen Besitz. Aber, falls die Dunklen Herrscher jemals in der Lage waren, so etwas wie Reue zu empfinden, dann spätestens in der Nacht, als ihre Erwählten sich gegen sie erhoben, so verblendet, so zornig, so vermessen und so verzweifelt, dass sie dabei das Risiko nicht scheuten, selbst mit in den Abgrund zu stürzen.

6

Wenn es etwas gibt, was den Meister mit grenzenloser Abscheu erfüllt, dann sind es Schmutz, Chaos und Lasterhaftigkeit. Drei Ingredienzien, die es ihm gerade nicht möglich machten, den Anblick des bedauernswerten Bittstellers in seinen verschlissenen, verdreckten Kleidern zu ertragen, zumal dieser mit dem strengen Geruch nach Schweiß und Elend noch zusätzlich die empfindliche Nase strapazierte.

„Wasch diese Kreatur! Dann werde ich darüber nachdenken, ob ich bereit bin, mir ihr Gewinsel anzuhören. Ich ahne ja, mit welchem Anliegen sie hier wieder angekrochen ist!“ Der Befehl war an Donagh gerichtet.

Somit fand sich diese Kreatur kurz darauf, begleitet von einem knurrigen Hohepriester in ihrem spartanisch eingerichteten Schlafgemach wieder. Von Kopf bis Fuß von Staub, Schweiß und sonstigen üblen Ausdünstungen gereinigt, durfte sich Cahal zwischen einer beachtlichen Anzahl an grauschwarzen, blauschwarzen, nachtschwarzen, schwarzschwarzen Gewändern entscheiden. Seine Wahl fiel schließlich auf eine blauschwarze knöchellange Tunika aus einem robust gewebten Material.

„Lass das gefälligst liegen!“

Erschrocken ließ Donagh Cahals verschmutzte Kleider, die er angeekelt mit zwei Fingern hochgehoben hatte, wieder zu Boden gleiten.

„Tut mir leid, dass ich so unleidig bin! Ich bin nervös. Nein schlimmer, ich fürchte mich. Ich fürchte mich davor, was mit mir geschieht, wenn ich ihm meine Bitte vortrage.“

„Du hast allen Grund dazu, dich zu fürchten, Master Cahal! Selbst wenn die Dunklen angeblich das Tor offengelassen hatten, hieß das noch lange nicht, dass du davonlaufen durftest. Und du warst lange verschwunden, sehr lange und hast nichts mehr von dir hören lassen. Aber jeder hier im Palast wusste, wo du untergeschlüpft warst. Nämlich bei Erik Gunnarssons kleinem Bastard, der sich als Erster König bezeichnet. Man munkelt sogar, dass du ihm deine Seele angeboten hättest – bist du eigentlich von Sinnen?“

„Zum Ersten haben mich die Dunklen absichtlich nicht daran gehindert das Niemandsland zu verlassen, weil sie wussten, dass ich eines Tages zurückkehren würde, was nur eine Frage der Zeit war. Zum Zweiten: König Kieran ist kein Bastard, denn Erik alias Lawrence war mit seiner Mutter offiziell verheiratet, die im Übrigen meine Schwester ist. Bitte etwas mehr Respekt vor Lady Guinevere!“

„Verzeih, ich werde mich künftig in meinen Äußerungen mäßigen. Jedoch ist Lady Guinevere noch immer die Gemahlin unseres Dunklen Meisters. Und wenn ich mir erlauben darf zu erwähnen, war sie es, die Schande über unser Volk gebracht hat. Sie hat mit einem der verstoßenen Priester des Meisters Unzucht getrieben, hat sich mit unserem Todfeind, diesem verräterischen Normannen eingelassen und sie hat …“ Donagh stockte der Atem, er wagte nicht weiterzusprechen.

„… sich mit ihrem eigenen Bruder vergnügt“, ergänzte Cahal. „Lass es raus, lass es einfach raus! Tu dir keinen Zwang an. Ja, sie hat sich mit mir, ihrem eigenen Bruder, vergnügt. Ja, sie hat Schande über unser Volk gebracht, weil nämlich zu dieser Zeit von unserem Volk keine einzige Seele mehr am Leben war. Immerhin kann nun irgendwann unsere gemeinsame Tochter einen Neubeginn wagen. Scheiße, ich muss ihr nur noch verklickern, dass nicht Erik ihr leiblicher Vater ist, sondern dass ich es bin. Lass uns nicht mehr streiten und uns gegenseitig Vorwürfe an den Kopf werfen. Was geschehen ist, ist geschehen und wer weiß, was noch so alles geschieht. Gib mir bitte die kleine Ampulle aus meiner Manteltasche. Ich muss ausgeruht sein, bevor ich dem Meister gegenübertrete. Nur ein paar winzige Tropfen für einen unbeschwerten Schlaf ohne die quälenden Träume von den Schatten unseres ermordeten Volkes.“

Cahal ließ sich auf die ausladende Lagerstatt fallen, während Donagh ihm die Ampulle reichte.

„Du kannst gehen. Ich brauche dich nicht mehr!“

„Mag sein, dass du mich nicht mehr brauchst. Doch werde ich mitnichten gehen. Meine Aufgabe ist, falls du es nicht vergessen hast, über deinen Schlaf zu wachen. Du weißt von welchem Schlaf ich spreche?“

„Tu, was du nicht lassen kannst! Ich habe mich bis jetzt noch nie beim Trank des Vergessens in der Dosierung verschätzt!“

Egal wie Donagh zu Cahal stand oder jemals gestanden hatte, der Schmerz kroch unaufhaltsam in sein Gemüt, als er sah, wie sich sein einst so unerschrockener, stolzer König, nachdem er die Ampulle fast leer getrunken hatte, unaufhaltsam in einen totenähnlichen Schlaf röchelte. Er brauchte nicht zu zählen, wie viele Stunden er bereits in diesem Schlafgemach als unfreiwilliger Zeuge zugebracht hatte, währenddessen sich Cahal, den Kopf auf dem Schoß seiner Schwester gebettet, dem Rausch dieser verdammten Droge hingab. Er seufzte, erhob sich von der Bettkante, nahm einen Schluck aus der Ampulle, hoffte, dass der kümmerliche Rest ausreichte, um ihn in die Zeit zurückzubringen, in der er sorglos auf seinem rotbraunen Hengst die geliebte grüne Insel erkundete.

7

Die Ankunft des Königs der Schatten hatte sich im gesamten Niemandsland wie ein Lauffeuer herumgesprochen. In Windeseile füllte sich der vormals leere Thronsaal mit dem diskreten Wispern der Palastbewohner, magere, kreidebleiche, blutarme Geschöpfe, Sklaven, Arbeiter, Priester, Jäger, Krieger und unter ihnen die Erwählten.

Liebe Leserinnen und Leser, es ist an der Zeit, dass ich sie euch endlich vorstelle – die letzten der Erwählten. Ursprünglich waren es zehn Knaben gewesen, die im Jahre 878 irgendwo an der Nordwestküste Irlands zur Wintersonnenwende in die Magische Gilde der Dunklen Herrscher aufgenommen wurden, wofür ihr Volk sie Zeit ihres Lebens als Lieblinge der Götter in hohen Ehren hielt. Auf der anderen Seite waren sie dazu verdammt, nach ihrem Tod, verwandelt in die Anderen, den Dunklen im Schwarzen Land zu dienen. Einer der ihren verstarb bereits vor der Einweihungszeremonie auf dem Altar des Lichts. Sein kleines furchtsames Herz war zu schwach gewesen. So blieben neun verschreckte Kinder, diese sollten sich eines Tages jedoch als wehrhafte Jugendliche gegen ihre Peiniger erheben.

Jeweils ihrem Temperament nach, hießen sie Cahal entweder überschwänglich oder verhalten willkommen – sieben geisterhafte Wesen, gekleidet in silbergraue Gewänder, verneigten sich ehrerbietig vor ihrem König.

Master Donagh, den Hohepriester und Sohn des Hüters der Heiligen Pferde, durftet ihr ja bereits kennen lernen.

Ihm folgte Master Faol. Er hatte ebenfalls die Funktion eines Priesters inne. Er, als Sohn eines Kaufmanns, war der Einzige der Erwählten, der hin und wieder seine Insel verließ und sich auf die Schiffe der verbündeten Nordmänner gewagt hatte. Trotz der wächsernen Blässe machte er einen erstaunlich gesunden Eindruck von angenehmem Äußeren – ich schätze, dass sich darin sein angenehmer Charakter widerspiegelte. Er begrüßte Cahal freundlich respektvoll mit einem verhaltenen Lächeln.

Master Ceard, Sohn des Waffenschmieds. Einst der Traum aller Mädchen und Frauen seines Clans und gleichzeitig Albtraum ihrer Verehrer und Ehemänner. Er dient weiterhin hier im Schwarzen Land in seiner Funktion als Waffenschmied. Für seine gnadenlos kampferprobten Dolche, Lanzen, Speere und Schwerter würde jeder gestandene Krieger nicht nur sein Vermögen, sondern sogar höchstwahrscheinlich noch einmal seine Seele lassen.

Master Chadh, Sohn eines Kriegers und Züchter der wertvollen Wolfshunde (er vermisste sie so sehr, seine geliebten Schätzchen), war von den Höhen der naheliegenden Gebirgskette herbeigeeilt, wo er zuverlässig, wie zu Lebzeiten seine Wolfshunde, die Festung seines Königs, einen weiteren Eingang ins Niemandsland bewachte.

Master Ailain, das jüngste Kind in der zahlreichen Nachkommenschaft des reichen Bauern Brainain. Anstatt die Schweine, Kühe und Schafe seines Vaters zu hüten, erlernte er allen Widerständen zum Trotz das Handwerk eines Kriegers und gehörte von da an zu den besten Kämpfern seines Königs.

Master Amalach, sein Vater, genannt der Unbesiegbare Trahern, war der unbestrittene Favorit des alten Königs Brian, und er, Amalach, wurde nach dessen Ableben der unbestrittene Favorit des jungen Königs Cahal. In ihrer Kindheit und Jugend erbitterte Gegner, wurden die beiden als Erwachsene zu unzertrennlichen Verbündeten.

Master Branan, schon in seinem menschlichen Körper hauchzart wie ein Tropfen Morgentau, nun beinahe durchsichtig, umarmte spontan seinen König, versuchte, ihn leidenschaftlich an die zerbrechliche Brust zu drücken. Ausgerechnet er, der Sohn eines Goldschmieds, von seinen Gefährten mit mildem Spott als Hasenherzchen bezeichnet, entpuppte sich in einer ausweglosen Lage als der Mutigste von ihnen. (Ja, davon später!)

Doch einer fehlte, fehlte schon so lange. Er, der einzige Überlebende eines grauenvollen Massakers, verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in der Ruine, die mir für eine Weile als Behausung gedient hatte. Dort verfasste er eine Chronik über den Aufstieg und den Untergang seines Königs und seines Volkes. Sie verschwand allerdings, nachdem er das letzte Mal auf dem Weg hinauf zu den Klippen gesehen wurde. So viel ich mitbekommen habe, wurde die verschollene Chronik in der Zwischenzeit gefunden und demjenigen ausgehändigt, für den sie bestimmt war. Verschollen blieb noch immer er – Master Finian, Cahals Vetter. Seine Mutter war die Schwester der Königin und sein unbekannter Vater einer der Dunklen Herrscher. Er wird in meiner Chronik noch eine wichtige Rolle spielen, wenn nicht sogar die wichtigste Rolle überhaupt!

8

„Du gehörst mir, Master Cahal. Ich sehe deine Begierde, ich sehe deine Wut, ich sehe deine Furcht, aber noch immer fürchtest du mich nicht genug!“

Diesen Satz hatte sich Cahal schon mehr als einmal anhören müssen. Er passte so gar nicht zu der freundlich einschmeichelnden Stimme, und keineswegs war er freundlich gemeint. Im Gegenteil, es handelte sich dabei lediglich um den Auftakt, der eine weitere Variante der gesammelten Gemeinheiten des Dunklen Meisters einleitete.

Wie sollte Cahal dem überwältigend schönen Geschöpf mit den blauschwarzen gepflegten langen Haaren, den funkelnden Smaragdaugen, den blutroten fein geschwungenen Lippen jetzt entgegentreten? Mit Wut? Das hatte er ja bereits getan, als er den tödlichen Pfeil auf ihn abschoss. Mit Furcht, als er Jahrhunderte später vor ihm kniete und mit Bangen die Verkündigung seiner Strafe erwartete? Er fürchtete ihn also noch immer genug. Andererseits fürchtete er das Misslingen seiner Mission, die den Zusammenschluss der beiden Reiche und der Großen Kolonie des Schwarzen Landes beinhaltete. Um das zu bewerkstelligen, musste König Kierans Stadt in den ursprünglichen Zustand vor der Katastrophe zurückversetzt werden. Dazu wurde nicht nur die gesamte Energie seiner und zusätzlich die der Untertanen seiner beiden Brüder gebraucht – dazu wurde vor allen Dingen der Trank des Lebens gebraucht. Und diesen Trank erlaubte sich Cahal, nun von dem Meister zu fordern. Er hatte Furcht, sogar große Furcht, doch gepaart mit der nötigen Wut war es ihm möglich.

„Hoher Meister der Dunklen Herrscher! Ich gebe Euren Worten Recht. Ja, ich hege unverhohlene Wut gegen Euch – wozu sollte ich sie vor Euch versuchen zu verbergen, wo Ihr längst jeden Winkel meiner Gedanken bloßgelegt habt. Ja, ich fürchte Euch auch, Hoher Meister. Aber ich fürchte Euch nicht genug! Denn in diesem Augenblick wage ich es in Gegenwart aller hier Anwesenden, Euch meine Begierde kundzutun.

Ich ahne, weshalb Ihr vor etlichen Jahren das Eiserne Tor offengelassen habt, als meine Schwester, Eure Gemahlin, mich für ihre vermeintliche Freiheit an meinen geliebten Feind Erik Gunnarsson, Lawrence Duncan, Rodrigo de Alpojar oder wie er sich sonst noch im Laufe seiner Reinkarnationen genannt hat, verriet. War es also doch in Eurem Sinne, Hoher Meister, dass ich abermals zum Lehrer seines Herzenssöhnchen Edward Raphael-Efrén auserkoren wurde? Nun, das Herzchen war zwar ein fleißiger, jedoch genauso ein miserabler Schüler, denn er fiel zum zweiten Mal. Sein Vater wusste um dieses Risiko, opferte ihn ohne Skrupel, nur um mir abermals das Genick zu brechen. Edward befindet sich inzwischen im Schwarzen Land, aber sein Vater hat noch immer die Position des Großmagiers inne – er herrscht über das Zwischenreich, und sein Einfluss auf das Schwarze Land ist leider weiterhin sehr groß. Ich vermute, diese Tatsache wird Euch, Hoher Meister, genauso wenig behagen wie mir. Schließlich geht es niemals um meine Ehre, sondern vielmehr um Eure Ehre, denn letztlich ist diese Position nur für jemanden der Euren vorgesehen. Und es verlangt meine Ehre, zu Eurer Ehre, diesen Emporkömmling auf den Platz zu verweisen, wo er hingehört.