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The Acts of the Apostles is the second part of St Luke=s work and thus needs to be read with the same expectations that are already raised in the prologue, Luke 1.1&4: this is an educated member of a contemporary movement who is writing for an equally educated audience with an interest in the topic. It is about the story of God with Israel, which has entered a critical phase through Jesus of Nazareth, and about the resulting Jesus movement and its spread. The material is intended to make an appeal to readers that is just as existentially significant as it was to the first listeners to the missionary speeches reported in it. It is not a comprehensive historical narrative either temporally or geographically, but the Biblical author wants to go beyond mere hearsay and provide reliable information. Haacker comments on St Luke=s text with philological tact and with informative insights into the way in which the Biblical texts are embedded in history.
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Seitenzahl: 1131
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Theologischer Kommentar zum Neuen Testament
Herausgegeben von
Ekkehard W. Stegemann Angelika Strotmann Klaus Wengst
Band 5
Klaus Haacker
Die Apostelgeschichte
Verlag W. Kohlhammer
Umschlagbild entnommen aus „Nestle-Aland – Novum Testamentum Graece“, S. 345
27. revidierte Auflage
© 1898,1993 Deutsche Bibelgesellschaft
1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-026990-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-026991-0
epub: ISBN 978-3-17-026992-7
mobi: ISBN 978-3-17-056993-4
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Die Apostelgeschichte ist der zweite Teil des Lukanischen Werkes und will darum mit den gleichen Erwartungen gelesen werden, die schon der Prolog Lk 1,1-4 weckt: Hier schreibt ein gebildetes Mitglied einer zeitgenössischen Bewegung für ein ebenfalls gebildetes interessiertes Publikum. Es geht um die Geschichte Gottes mit Israel, die mit Jesus von Nazareth in eine kritische Phase geraten ist, und um die damit entstandene Jesusbewegung und deren Ausbreitung.
Der Stoff soll die Lesenden ebenso existenziell ansprechen wie die ersten Hörer und Hörerinnen der berichteten Missionsreden. Eine zeitlich und räumlich flächendeckende Geschichtsschreibung liegt nicht vor, aber der Autor will über ein bloßes Hörensagen hinausführen und verlässliche Auskunft geben.
Dr. Klaus Haacker, Prof. i. R. für Neues Testament und seine Umwelt an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel.
Meine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Apostelgeschichte begann in meinem dritten Studiensemester mit der Teilnahme an einem Seminar bei Gustav Stählin in Mainz über Probleme der lukanischen Theologie. Abfassung, Abgabe und Rückgabe der Arbeit zogen sich über zwei Jahre hin und führten schließlich zu der Einladung, bei ihm eine Dissertation zu schreiben. Dazu musste ich mich allerdings vom Alten Testament losreißen, das mich bei Claus Westermann in Heidelberg zunehmend zu eigener exegetischer Arbeit verlockt hatte.Als Thema für die Dissertation schlug Stählin vor, das Reden vom Heiligen Geist bei Johannes und Lukas vergleichend zu untersuchen. Nach einem Jahr der Vorarbeiten drängte sich mir aber eine Konzentration auf das Johannesevangelium auf, bei der die Pneumatologie nur noch ein Kapitel beanspruchte. Aus den Vorarbeiten für den lukanischen Teil des ursprünglichen Themas sind jedoch im Laufe der Zeit mehrere Artikel über lukanische Texte und Themen entstanden.
Nach meiner Promotion erhielt ich von Otto Michel eine Stelle am Institutum Judaicum der Universität Tübingen mit dem Auftrag, die dortige Josephus-Forschung weiterzuführen, verbunden mit einem Lehrauftrag über „Frühgeschichte des Judentums im Zusammenhang mit dem Urchristentum“. Das bewirkte eine Rückkehr zur Apostelgeschichte und mündete in ein Forschungsprojekt über den Zusammenhang zwischen Biographie und Theologie des Apostels Paulus im Kontext der jüdischen Zeitgeschichte. Ein Probevortrag über dieses Thema bescherte mir 1974 die Berufung an die Kirchliche Hochschule Wuppertal. Dort habe ich bis zu meiner Emeritierung (2007) wiederholt Vorlesungen über die Apostelgeschichte und andere Lehrveranstaltungen gehalten, bei denen Acta-Texte eine wichtige Rolle spielten. Daraus erwachsene Publikationen trugen dazu bei, dass ich in den 90er Jahren eingeladen wurde, im Rahmen der von Peter von der Osten-Sacken konzipierten Kommentarreihe die Apostelgeschichte zu übernehmen.Zunächst mussten andere Verpflichtungen abgearbeitet werden, z.B. der Kommentar zum Römerbrief (1999) und die Neubearbeitung des Theologischen Begriffslexikons zum Neuen Testament (1997–2002), danach ein ebenfalls schon lange versprochenes Buch über Stephanus (Apg 6–7 und seine Wirkungsgeschichte, 2014). In all diesen Jahren habe ich ständig exegetische Beobachtungen und Lesefrüchte aus antiken Quellen zur Apostelgeschichte notiert sowie Literaturhinweise und Kopien von Sekundärliteratur gesammelt.
Bei der Kommentierung von Texten, die von jüdischen Menschen, ihren Traditionen und Institutionen handeln, schöpfe ich im vorliegenden Kommentar noch immer aus der Einarbeitung ins antike Judentum in den Jahren am Tübinger Institutum Judaicum. Als exegetisch besonders fruchtbar erwies sich die Beschäftigung mit den Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus, die in sprachlicher und sachlicher Hinsicht viel Licht auf das Neue Testament werfen. Die konfliktreichen Beziehungen zwischen christlichen Kirchen und dem jüdischen Volk in Geschichte und Gegenwart waren auch in meiner Lehrtätigkeit an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und in Tagungen und Gremien der Evangelischen Kirche im Rheinland ein wichtiges Thema. Ich hoffe, dass meine Auslegung die Relevanz exegetischer Beobachtungen für diesen Horizont deutlich genug markiert, ohne die Gewichte gegenüber dem eigenen Gefälle des lukanischen Werkes zu verschieben.
Gustav Stählin (1900–1985), Altphilologe und Theologe, leitete zu genauer Wahrnehmung des griechischen Textes an, betonte den Zusammenhang zwischen den beiden Testamenten, würdigte aber auch die vielen Berührungen mit der sonstigen antiken Literatur. Diesen Dreiklang wird man vielleicht auch aus meinem Kommentar heraushören.
Dem für diesen Band zuständigen Herausgeber Klaus Wengst schulde ich heißen Dank für Hinweise auf formale Unregelmäßigkeiten und sachliche oder sprachliche Schwachstellen, trage aber die volle Verantwortung für stehen gebliebene Mängel. Das Manuskript lag im Herbst 2017 druckfertig vor, sprengte aber die für die Kommentarreihe vorgesehene Seitenzahl. Die notwendigen Kürzungen verlangten nicht nur Auslassungen und knappere Formulierungen im Haupttext, sondern leider auch den Wegfall vieler (dankbarer oder kritischer) Hinweise auf Sekundärliteratur. Darum werden manche Probleme jetzt kürzer besprochen, als ich es vorgesehen hatte, und viele Anmerkungen mit Literaturhinweisen mussten wegfallen. Ich bitte Kollegen und Kolleginnen, die sich vernachlässigt fühlen, um Nachsicht im Gedanken an Privatleute, für die der Band bezahlbar bleiben sollte. Hinweise auf eigene Veröffentlichungen dienen als Ersatz für ein weiteres Ausholen im Zuge der Auslegung. Über briefliche oder digitale Feedbacks ([email protected]) würde ich mich freuen, besonders über Fehleranzeigen und Verbesserungsvorschläge für künftige Auflagen. Zu manchen übergreifenden Fragen zum lukanischen Werk könnte ich aufgrund meiner Einzelexegesen die eine oder andere Studie nachliefern – Deo volente (vgl. Apg 18,21).
Klaus Haacker
Vorwort
Einleitung
1. Ein Buch ohnegleichen
2. Zur Überschrift
3. Zur Verfasserschaft
4. Zur Abfassungszeit
5. Literarischer Charakter und anvisiertes Publikum
6. Zur handschriftlichen Überlieferung
7. Übersetzungsfragen
8. Quellen
9. Historische Kritik
10. Erzählzeit und erzählte Zeit
11. Auseinandersetzung mit anderen Auslegungen
12. Formales
I. Der Meister geht – sein Auftrag bleibt
1,1–11: Der Abschied vom „irdischen“ Jesus
1,12–26: Erste Schritte der „Hinterbliebenen“ Jesu
II. Eine neue Zeit im Zeichen des Geistes bricht an
2,1–13: Eine geistliche Überschwemmung
2,14–41: Ein erster öffentlicher Auftritt des Petrus
2,42–47: Alltag in der Urgemeinde
III. Ein Konflikt um die Heilung eines Gelähmten
3,1–11: Heilung statt einer „milden Gabe“
3,12–26: Eine Rede des Petrus: vom Staunen zum Glauben lockend
4,1–22: Die Heilung weckt Argwohn. Wiederholung unerwünscht!
4,23–31: Die Reaktion der Gemeinde auf diesen Konflikt
4,32–34: Vorbildliche Verhältnisse im Zusammenleben
IV. Schwierige Zeiten in Jerusalem
5,1–11: Zwei „schwarze Schafe“ in der vorbildlichen Herde
5,12–16: Auf dem Höhepunkt der Beliebtheit
5,17–32: Der Konflikt mit dem Hohen Rat eskaliert
5,33–42: Ein Fürsprecher verhütet das Schlimmste
6,1–7: Eine Reform des Versorgungswesens
6,8–15: Von Disputation zu Denunziation
7,1–53: Stephanus verteidigt sich – und kontert
7,54 – 8,1a: Tod im Tumult
V. „Wege des Wortes“ von Jerusalem nach Norden
8,1b–13: Ein Abbruch bewirkt einen Aufbruch. Erste Etappe: Samaria
8,14–25: Eine Visitation aus Jerusalem
8,26–40: Afrika (und mehr!) kommt in Sicht
9,1–9: Ein Verfolger wird entwaffnet …
9,10–19a: … und in die Gemeinde aufgenommen
9,19b–25 Eifer unter neuem Vorzeichen
9,26–31: Alte und neue Ängste in Jerusalem
9,32–43: Szenenwechsel: Petrus wirkt außerhalb von Jerusalem
10,1 – 11,18: Ein Bekehrer wird bekehrt
10,1–23a: Vorspiele an zwei Schauplätzen
10,23b–33: Eine bahnbrechende Begegnung
10,34–43: Von Jesus reden – vor ganz neuem Publikum
10,44–48: Geistbegabung – und Geistesgegenwart!
11,1–18: Ein Missionar an der „Heimatfront“
11,19–26: Grenzmauern bröckeln, die Bewegung weitet sich aus
11,27–30: Eine Kollekte für die Muttergemeinde in Jerusalem
12,1–19: Eine Konfrontation mit dem letzten König von Judäa
12,20–25: Eine Absage an den Herrscherkult
VI. Die „erste Missionsreise“ des Paulus (mit Barnabas)
13,1–3: Aufbruch zu neuen Ufern
13,4–12: Barnabas und Paulus auf Zypern
13,13–25: Ins Innere Kleinasiens: Predigt in einer Diaspora-Synagoge
13,42–47: Offenheit, Aufsehen und Abwehr
13,48–52: Das Wort greift um sich, – die Boten werden verjagt
14,1–7: Erfolge und Widerstände in Ikonion
14,8–20a: Wunder und Religion: ein Lehrstück aus Lystra
14,20b–28: Seelsorgliche „Nacharbeit“ auf der Rückreise
VII. Die erste Missionskonferenz der Kirchengeschichte
15,1–6: Die Streitfrage: Anschluss an Jesus als Konversion zum Judentum?
15,7–12: Ein Votum des Petrus findet Anklang
15,13–21: Ein Antrag des Jakobus
15,22–35: Ein einmütiger Beschluss und seine Bekanntmachung
VIII. Missionsarbeit in Kleinasien, Mazedonien und Griechenland
15,36–41: Fehlstart und Neustart
16,1–5: Ein neuer Mitarbeiter: Timotheus
16,6–10: Auf der Suche nach neuen Ufern für das Evangelium
16,11–15: Die Gründung einer Gemeinde in Philippi
16,16–24: Eine Kollision mit geschäftlichen Interessen
16,25–34: Erschütterungen durch ein Erdbeben
16,35–40: Abreise als moralische Sieger
17,1–9: Thessalonich: eine junge Gemeinde im Kreuzfeuer
17,10–15: Eine aufgeschlossene Synagoge – Störfeuer von auswärts
17,16–34: Ein denkwürdiger Auftritt in Athen
18,1–4: Neustart mit halber Kraft in Korinth
18,5–11: Eine Abspaltung von der Synagoge
18,12–17: Ein vergeblicher Appell an die römische Justiz
18,18–23: Weitere Reisen, kurz notiert
IX. Berichte vom Schauplatz Ephesus
18,24–28: Ein neuer Stern am urchristlichen Himmel: Apollos
19,1–7: Von Johannes dem Täufer zur Gemeinde Jesu
19,8–12: Erfolgreiches Wirken in der Provinz Asien
19,13–20: Siege über die Magie in Ephesus
19,21–22: Neue Reisepläne des Paulus
19,23–40: Ein Konflikt zwischen heimischer Wirtschaft und Missionspredigt
X. Paulus auf dem Weg nach Jerusalem
20,1–6: Summarische Reisenotizen aus längerer Zeit
20,7–12: Glück gehabt!
20,13–17: Reisestationen zwischen Philippi und Milet
20,18–38: Abschiedsworte an Gemeindeleiter aus Ephesus
21,1–6: Eine Zwangspause in Tyrus
21,7–17: Zu Gast bei Philippus in Caesarea
XI. Dramatische Tage in Jerusalem
21,15–26: Gemischte Gefühle beim Empfang in Jerusalem
21,27–36: Befürchtungen werden wahr!
22,1–16: Paulus: Warum ich ein anderer Mensch wurde
22,17–21: Noch einmal umdenken!
22,22–29: Paulus zieht die Notbremse
22,30 – 23,11: Vergebliche Ermittlungen durch das Synhedrium
23,12–35: Ein Attentatsplan gegen Paulus misslingt
XII. Paulus vor römischen Richtern
24,1–21: Vor dem Statthalter Antonius Felix
24,1–9: Das Auftreten der Ankläger
24,10–21: Die Gegenrede des Paulus
24,22–27: Eine fragwürdige Vertagung
25,1–12: Die Wende im Prozessverlauf unter Porcius Festus
25,13–27: Hoher Besuch zeigt sich interessiert
26,1–23: Das Selbstporträt des Paulus vor Agrippa II.
26,24–32: Ein Achtungserfolg
XIII. Auf abenteuerlichen Umwegen nach Rom
27,1–12: Von Caesarea nach Kreta
27,13–44: In Seenot – Paulus als Seelsorger und Ratgeber
28,1–10: Überwinterung auf Malta
28,11–16: Von Malta nach Rom
XIV. Erste Schritte in Rom – Ende offen!
28,17–22: Auch in Rom: Zuerst zu den Juden
28,23–28: Ein Versuch der Verständigung mit jüdischen Honoratioren
28,30–31: Paulus im Wartestand – nicht im Ruhestand!
Literatur
Biblische Schriften
Außerbiblische Quellen
Hilfsmittel
Sekundärliteratur
Register
Die Apg ist die einzige erhaltene Quelle über die Anfänge des Christentums. Die sonstigen Schriften des Neuen Testaments stammen zwar aus der Geschichte des Urchristentums, liefern aber kaum zeitgenössische Berichte über das Urchristentum. Ohne die Apg besäßen wir nur ganz wenige historische Daten über die ersten Jahrzehnte der Kirchengeschichte: einige Ortsnamen aus den Adressen der Briefe, einige Namen aus den Grüßen und Personalnachrichten am Ende der Briefe oder Erwähnungen von Beteiligten im Text, einige Anspielungen auf innerkirchliche Konflikte oder äußere Widerstände – mehr nicht. Wer sich für die Anfänge des Christentums interessiert, muss also die Apg lesen und auswerten. Das gilt besonders für die frühe Entwicklung in Jerusalem und Judäa, aber auch für die Entstehung von Gemeinden in Syrien, Kleinasien und Griechenland. Das liefert wertvolle Hintergrundinformationen zum Verständnis vieler Passagen in der Briefliteratur. Die Apg steht damit für uns literaturgeschichtlich in einer Reihe mit Suetonius und Tacitus (für die frühe römische Kaiserzeit) und mit Flavius Josephus (dem jüdischen Chronisten der Geschichte seines Volkes von 169 v. Chr. bis 74 n. Chr.).
Die Überschrift „Apostelgeschichte“ ist keine genaue Übersetzung des griechischen Titels, und der stammt auch sicher nicht von Lukas. Genauer übersetzt, müsste sie lauten „Taten von Aposteln“. Das klingt nach christlichen Heldenlegenden. Lukas hätte diesem Buchtitel nicht zugestimmt; er legt immer wieder großen Wert darauf, dass er keine menschlichen Großtaten zu berichten hat, sondern ein Handeln Gottes an Menschen und durch Menschen. Wenn Lukas erzählt, dass durch Petrus oder Paulus ein Wunder geschehen ist, dann verwahren sie sich ausdrücklich gegen das Missverständnis, als ob sie die großen Macher und womöglich Magier wären und entsprechend verehrt werden müssten (3,12–16; 14,14f.) Auch die Erfolge der urchristlichen Missionspredigt werden nicht den Aposteln selbst zugeschrieben, sondern dem Wirken Gottes in den Herzen der Menschen (vgl. u. a. 2,41.47; 11,21; 16,14). Das eigentliche „Subjekt“ des Geschehens ist für Lukas das Wort Gottes. Er sagt nicht: „Die Kirche wuchs“, sondern: „Das Wort Gottes breitete sich aus“ (Apg 6,7; 13,49) oder: „Das Wort Gottes wuchs.“ (12,24) Das Urchristentum ist eine „Gotteswort-Bewegung“, seine Geschichte das Umsichgreifen des Wortes Gottes. Darum gebrauche ich das Wort „Kirche“, das heute an große Organisationen und etablierte Institutionen denken lässt, weniger häufig als andere Ausleger und bevorzuge den Ausdruck „Jesusbewegung“.2 Wenn ich stattdessen auch von der „Schule Jesu“ spreche, so ist das nicht nur gelegentlich ein „inklusiver“ Ersatz für den Plural von „Jünger“, sondern Ausdruck einer Überzeugung, die ich mit dem Althistoriker Edgar A. Judge teile: Die urchristlichen Gruppen waren religionssoziologisch keine „Kultvereine“, sondern Lehr- und Lerngemeinschaften nach Art philosophischer Strömungen der Antike, die einem Gründer verpflichtet waren wie v. a. die Epikureer. 3 Dafür spricht der Gebrauch der Vokabel mathētês (Jünger) für Personen, die nicht schon zum vorösterlichen Umfeld Jesu gehörten. Der Glaube an Jesus geht allerdings als lebendige Beziehung zu einem Lebenden über alles bloß Lehrhafte hinaus und beruht auf seiner einzigartigen Gottesbeziehung und dem Handeln Gottes durch ihn und an ihm.
Die Apg ist der zweite Teil eines größeren Werkes; vgl. die Widmung an einen gewissen Theophilus in Lk 1,3 und dessen erneute Anrede in Apg 1,1. Wir sprechen darum vom „lukanischen Werk“, um Lk und Apg zusammenfassend zu bezeichnen. Mit „Lukas“ ist ein zeitweiliger Begleiter des Paulus gemeint, der dreimal im Neuen Testament erwähnt wird (Kol 4,14; Phlm 24; 2 Tim 4,11). Er war von Beruf Arzt, und manche Forscher finden im Wortschatz des lukanischen Werkes Vokabeln, die gut zu einem Arzt passen würden. Dass dieser Lukas das dritte Evangelium und die Apg verfasst habe, ist eine altkirchliche Tradition, die sich vor allem in der Überschrift des dritten Evangeliums niedergeschlagen hat.4 Gegen diese Tradition wurde oft eingewandt, dass seine Denkweise sich zu sehr von der des Paulus unterscheide. Dabei wurde jedoch ein Grad von Übereinstimmung zum Maßstab erhoben, der nicht einmal bei einem Lehrer-Schüler-Verhältnis garantiert wäre. Die Acta-Forschung steht jedoch dieser Verfasserangabe immer noch überwiegend reserviert gegenüber. Sie kann darum bei der Auslegung konkreter Texte nicht als verlässliche Voraussetzung eingebracht werden. Ich verwende im Folgenden den Verfassernamen Lukas als Chiffre für den Verfasser. Ein ständiges „Lukas“ oder Lukas(?) wäre unnötig ablenkend.
Eine Identifikation mit dem Lukas der Paulusbriefe würde bedeuten, dass es sich bei ihm nach Kol 4,10–11.14 um einen Nichtjuden handeln würde. So die verbreitete Deutung dieser beiden Stellen, die darauf beruht, dass der in V. 14 genannte Lukas zu den „Mitarbeitern“ des Paulus gehörte, von denen nach V. 10–11 nur die dort genannten drei Juden waren. Die Bezeichnung „Mitarbeiter“ könnte aber für eine feste Zusammenarbeit stehen, die auf Lukas nicht zutraf. Eine Lektüre der Apg stößt auf eine Vertrautheit mit den heiligen Schriften und anderen jüdischen Traditionen sowie innerjüdischen Konflikten, die bei einem Nichtjuden kaum vorstellbar ist. Besonders die Einfühlung in jüdische Frömmigkeit und das Einverständnis mit nationalen Hoffnungen des Judentums (besonders in Lk 1–2) würden bei einem „Heidenchristen“ überraschen. Der Verfasser der Apg könnte ein Proselyt gewesen sein, der schon vor dem Anschluss an die Jesusbewegung mit den heiligen Schriften und den Wesenszügen des Judentums vertraut geworden war. Er könnte z.B. zu den „Hellenisten“ gehört haben, die Erfahrungen der Jerusalemer „Urgemeinde“ miterlebt hatten, dann aber flüchten mussten und an der Ausbreitung der Jesusbewegung außerhalb Judäas mitwirkten (vgl. 8,1; 11,19–21). Nach dem ersten Satz des Prologs zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) geht es in ihm um Ereignisse, die sich „unter uns zugetragen haben“. Damit macht sich der Autor nicht nur zum Zeitgenossen vieler Ereignisse, sondern stellt sich als Glied einer Gemeinschaft hin, die das Erzählte erlebt hat oder davon betroffen war. Allerdings nach V. 2 nicht „von Anfang an“, wobei an die vorösterliche Jesusgeschichte gedacht sein dürfte, für die er auf die Berichte von Augenzeugen angewiesen war. Dass diese Augenzeugen zu Dienern des Wortes geworden seien, passt vor allem auf den Zwölferkreis (vgl. Lk 6,12–16), aber auch auf Frauen, die nach Lk 8,1–3 zur Begleitung Jesu gehörten und an seiner Predigttätigkeit mitwirkten. Mit Verwunderung liest man häufig, dass Lukas ein Mann der „dritten Generation“ des Urchristentums sei. Das klingt nach einem Zwischenglied zwischen diesen „Augenzeugen“ (die zu „Dienern des Wortes“ wurden) und dem Schriftsteller. Dafür fehlt jeder Hinweis. In Lk 1,3 ist das Verbum parakoloutheín früher weithin als Hinweis auf gezielte Forschungen verstanden worden; es meint aber eher das Mitverfolgen von Ereignissen aus mehr oder weniger großer Nähe5.
Über die Abfassungszeit der Apg gibt es keinen Konsens, sondern eine seit einiger Zeit sogar wieder gestiegene Bandbreite.6 Während manche Forscher (wie schon Johann Albrecht Bengel im 18. Jh.) auch heute mit einer Abfassung zu Lebzeiten des Paulus rechnen, war eine Datierung im späten 1. Jh. n. Chr. lange Zeit Konsens, allerdings nur auf Grund einer groben Schätzung, weil Lk 19,43f. und 21,20.24 als rückblickende Anspielungen auf die Einnahme Jerusalems verstanden wurden.7 Für die Abfassung der Apg nach dem Evangelium wurde – über den Daumen gepeilt! – ein Jahrzehnt oder mehr angesetzt. Neuere Stimmen, die sie wie Ferdinand Christian Baur (1792–1860) ins 2. Jh. n. Chr. verschieben, ignorieren die zeitgeschichtlichen Kenntnisse, die ein Schriftsteller des 2. Jahrhunderts kaum noch haben konnte.
Den „Terminus a quo“ (das zuletzt erwähnte Ereignis) liefert der Hinweis in Apg 28,16.30 auf die „vollen zwei Jahre“ des Paulus in Rom vor einer Wiederaufnahme seines Prozesses (28,16.30). Aus der Datierung des Wechsels von Antonius Felix auf Porcius Festus als Statthalter von Judäa im Frühsommer des Jahres 58 n. Chr.8 ergibt sich, dass Paulus im Frühjahr 59 n. Chr. nach Rom kam. Anspielungen auf das Blutbad unter den Christen nach dem Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. fehlen völlig. Ob das Martyrium des Paulus selber von Lukas durch Andeutungen vorausgesagt9 und als Faktum und bekannt vorausgesetzt wird, ist umstritten. Offen bleibt seltsamer Weise, ob die für Paulus tröstliche visionäre Weissagung einer Vernehmung durch den Kaiser (27,24: ein Engelwort!) in Erfüllung gegangen ist.
Eine annähernd gesicherte Datierung des Werkes wäre natürlich erwünscht als Basis für eine Einschätzung seines historischen Quellenwertes; aber Wunschdenken gilt hier nicht.10 Die Bandbreite möglicher Datierungen behindert jeden Versuch, die Intentionen des Schriftstellers auf eine bestimmte Phase der Entwicklung des Urchristentums festzulegen. Besonders die früher verbreitete Annahme eines linearen Abnehmens der Naherwartung der Wiederkunft Jesu hat sich als unbegründet erwiesen und eignet sich nicht als Indiz für Datierungen und Intentionen des Verfassers.11 Darum halte ich es für angebracht, bei der Auslegung der Texte von keiner positiven These über die Identität des Verfassers und die Zeit der Abfassung auszugehen. Allerdings notiere ich wiederholt Beobachtungen an Texten, die Denkanstöße zu beiden Fragen liefern.
Auch die Zuordnung der Apg zu literarischen Gattungsbegriffen wie „Geschichtsschreibung“, „Biographie“ bis hin zu „Roman“12 ist seit Jahren derart im Fluss, dass keine strenge Festlegung zur Grundlage der Textauslegung gemacht werden kann.13 Rückschlüsse auf die Intentionen und die Arbeitsweise des Verfassers erlaubt jedoch der schon erwähnte Prolog in Lk 1,1–4, der einzige Buchanfang dieser Art im Neuen Testament. Schon die sprachliche Form dieses Vorwortes meldet einen literarischen Anspruch an. Wenn diese vier Verse einen einzigen komplizierten Satz bilden, so handelt es sich um gehobenen Stil, nicht um anspruchslose Umgangssprache. In der Fortsetzung geht es nicht in diesem Stil weiter – in Treue zu verwendeten Quellen oder nach dem Vorbild biblischer Erzählbücher und/oder einem breiteren Publikum zuliebe. Wenn Lukas trotzdem in der Einleitung „gehobener“ redet, so gibt er damit gewissermaßen seine Visitenkarte ab: Mögen die Erzählungen, die er gesammelt und zusammengestellt hat, auch in schlichter Sprache gehalten sein, – Lukas selbst will sich durch sein Vorwort offenbar einem gebildeten Publikum als gebildeter Autor zu erkennen geben.14 Dieses Vorwort verrät viel über die Zielsetzung des lukanischen Werkes, vor allem die im Neuen Testament singuläre Widmung an eine konkrete Personin V. 3: Mit der Widmung eines Buches ehrt ein heutiger Autor oft einen weniger bekannten ihm wichtigen Mitmenschen. In der Antike war das umgekehrt: Nicht die Schriftsteller ließen vom Glanz ihres Namens einen Schimmer auf die so Geehrten fallen; vielmehr stellte sich der Autor mit seiner Widmung in den Umkreis einer Person des öffentlichen Lebens. Das gilt wohl auch von Lukas: Die Anrede des Theophilus mit krátiste Theóphile deutet auf einen hohen sozialen Status dieses Mannes. An drei weiteren Stellen mit dieser Anrede ist ein römischer Statthalter angesprochen (vgl. 23,26; 24,3; 26,25). Als deutsches Äquivalent kommt die Anrede Exzellenz in Frage. Die Ehrung eines solchen Würdenträgers durch die Widmung eines literarischen Werkes war in der Antike keine bloße Verbeugung, sondern so etwas wie ein Antrag auf öffentliche Förderung. Die angeredete Person sollte sich für die Beachtung und Verbreitung des betreffenden Buches einsetzen.15 Gelegentlich wird bezweifelt, ob mit „Theophilus“ eine konkrete Person gemeint ist. Der Name bedeutet ja „Gottlieb“ oder „Gottesfreund“ und könnte darum als Chiffre für alle religiös aufgeschlossenen Leser und Leserinnen gemeint sein. Aber das Prädikat krátistos spricht für eine konkrete Person. Josephus erwähnt Personen dieses Namens, die dem priesterlichen Hochadel entstammten (Ant 17,78; 18,123). Manche Berichte der Apg könnten implizit an politische Amtsträger adressiert sein, um Verdächtigungen des Christentums zu widerlegen. Dass Lukas sein Werk mit einer solchen Widmung beginnt, spricht dafür, dass er nicht nur für Gemeindeglieder schreibt, sondern sich an ein breiteres Publikum wendet.16 Die Wortwahl der Anspielung auf Vorkenntnisse in V. 4 erinnert uns zwar an Begriffe wie „Katechese“ und „Katechismus“, ist aber im damaligen Griechisch kein Fachwort für gezielte Unterweisung, schon gar nicht mit religiösem Beiklang. Fast nichts in diesen ersten Versen lässt vermuten, dass es sich um ein christliches oder sonstwie religiöses Werk handelt. Wir erfahren nur: Ein Insider verspricht interessierten Kreisen genauere Informationen über die Bewegung, der er angehört.
Darüber hinaus greift Lukas weitere Motive antiker Buchanfänge auf. Damit beweist er nicht nur seine literarische Bildung; er gibt dabei auch Hinweise auf die Art von Literatur, die sein Werk den Lesern verspricht. Besonders vier Motive verdienen Beachtung:
1. Der Hinweis auf die vielen, die den gleichen Gegenstand auch schon behandelt haben. Damit verbinden sich häufig kritische Bemerkungen über die Vorgänger.17 Darauf verzichtet Lukas – vielleicht weil er seine Vorgänger (beim Evangelium) nicht diskreditieren will. Denkbar ist bloß, dass der Anspruch der „Genauigkeit“ eine leise Kritik an Vorgängern enthält (z. B. am Markusevangelium). Der Hinweis auf Vorgänger reduziert sich damit zu einem Indiz für die Wichtigkeit seines Gegenstandes.
2. Die Berufung auf Augenzeugen: Das ist seit Thukydides das A und O solider Geschichtsschreibung. Personen der Handlung werden von Lukas z. T. ausdrücklich als Quelle der aufgenommenen Tradition erwähnt (Lk 2,19–20. 51; 24,9.22–23.35). Die Namensnennung bei sonstigen Nebenpersonen kann als stiller Hinweis auf die Herkunft einer Überlieferung gemeint sein (Lk 8,2–3; Lk 24,18 in Verbindung mit Joh 19,25; Apg 7,58; 9,12; 12,13; 17,34; 19,29; 21,8). Die Bedeutung von Augenzeugen der Geschichte Jesu wird von Lukas wiederholt hervorgehoben (1,21–22; 10,39; 13,39).
3. Der Anspruch, alles in einer sachgemäßen Ordnung vorzutragen. Das könnte als chronologisch angeordnete Darstellungung gemeint sein, erlaubt aber auch andere (z. B. geographische) Anordnungsprinzipien. Lukas bietet allerdings deutlich mehr und z.T. genauere chronologische Angaben als alle anderen Autoren des Neuen Testaments.18
4. Besonders wichtig ist die Zielangabe: Lukas verspricht seinem Publikum „gesicherte Erkenntnis“. Das ist eine Vokabel der Gerichtssprache und der Geschichtsforschung: Bloße Gerüchte können trügen. Kritische Prüfung von Berichten ist keine Erfindung der Moderne. Schon antike Geschichtsschreiber wussten um diese Aufgabe (vgl. Thukydides I 20.22), und Lukas reiht sich hier in ihre Zunft ein. Eine Affinität zwischen der Sprache des Lukas zur Rechtsprechung ist auch erkennbar beim Wortfeld mártys (Zeuge)19, das von ihm vor allem für den öffentlichen Protest gegen die Verurteilung und Hinrichtung Jesu verwendet wird. In der Handlung der Apg nimmt dann der Prozess gegen Paulus breiten Raum ein, dessen Ende am Schluss noch offen ist. Schon vorher zitiert Lukas wiederholt Vorwürfe gegen Paulus und sein Team (16,21; 17,7; 18,13; 19,25–27). Eine Kriminalisierung der „Christianer“ durch die Volksmeinung der Römer ist für die 60er Jahre durch Tacitus (Ann. 15,44,3) belegt; sie ermöglichte ihre Denunzierung als angebliche Brandstifter nach dem Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. Es kann darum als sicher angenommen werden, dass Lukas in der Luft liegende Fehlurteile über Jesus und die von ihm ausgelöste Bewegung korrigieren will. Man kann das als seine „apologetische“ Tendenz bezeichnen, muss aber klarstellen, dass es dabei nicht nur darum geht, geduldet und von Pressionen verschont zu werden. Vielmehr soll die Überwindung von Vorurteilen eine Aufgeschlossenheit der Herzen für die Botschaft ermöglichen, die das treibende Motiv der Jesusbewegung ist. Die große Zahl der Reden, die von Juden an jüdische Hörer und Hörerinnen adressiert sind, spricht für ein jüdisches Publikum als mindestens eine Zielgruppe des Werkes.20
Als in der Regel verlässliche Übersetzungsgrundlage betrachte ich den heutigen „Standardtext“ des Neuen Testaments, der auf der Annahme beruht, dass die große Masse der Handschriften, die nach dem Ende der Christenverfolgungen produziert wurden, nicht so viel Gewicht hat wie ältere Handschriften (z.T. auf Papyrus). Entscheidungen zwischen konkurrierenden Lesarten werden primär nach „inneren Kriterien“ getroffen, die auf häufig erkennbaren Fehlerquellen beim Abschreiben beruhen. Handschriften, in denen die typischen Fehlerquellen weniger häufig auftreten, genießen darum besonderes Vertrauen. Diese „inneren Kriterien“ können aber auch gegen diese „guten“ Handschriften den Ausschlag geben, was in Proseminaren oft nicht klar genug vermittelt wird. Zu beachten ist, dass die Zeichensetzung in den Editionen nicht aus den Handschriften stammt, sondern auf Auslegung und modernen Interpunktionsregeln beruht und darum nicht einheitlich erfolgt, worauf im Greek New Testament in Fußnoten hingewiesen wird. Ähnliches gilt auch von der Gliederung des Textes in Absätze (mit oder ohne Zeilenumbruch).
Nach dem Vorbild meines Doktorvaters Gustav Stählin in seinem Kommentar von 1962 teile ich (meistens nur in Fußnoten) auffällige Sonderlesarten des Codex Bezae (in Fußnoten: „D“) mit, die z.T. auf eine bewusste Bearbeitung in (einem?) „Vorfahren“ dieser Handschrift zurückgehen, – ein Sonderfall in der Überlieferung des Neuen Testaments.21 Eine Minderheit von Gelehrten hält diesen Vorgänger des Codex Bezae für das ursprüngliche Exemplar der Apg, das später weitgehend durch eine zweite Auflage verdrängt wurde.22 Überschüsse wie die Erwähnung von Königen und Tyrannen in 5,39 klingen m. E. mehr nach späteren Zusätzen zum Original. Beachtung verdienen die auffälligen Übereinstimmungen zwischen Codex Bezae und dem Papyrus 127.23
Über das in Kommentaren übliche Maß hinaus erwähne ich einen Korrekturbedarf zu den im deutschen Sprachraum einflussreichsten Bibelausgaben – der Lutherbibel (LÜ) und der katholischen Einheitsübersetzung (EÜ). Von anderen neueren Übersetzungen ins Deutsche verdient die Neue Genfer Übersetzung (NGÜ) besondere Beachtung, weil sie am Rande diskutable Alternativen zu der im Haupttext bevorzugten Übersetzung angibt.24
Meine eigene Übersetzung zielt auf die heute gebräuchliche deutsche Allgemeinsprache. Das ist nicht selbstverständlich, weil viele Ausleger sich unreflektiert der kirchlichen Sondersprache bedienen, die Archaismen enthält oder Wörter in einer veralteten Bedeutung benutzt. Darum spare ich bei der Verwendung kirchlicher Sondersprache zugunsten der Alltagssprache, ohne den traditionellen Wortschatz zu verdrängen.25 Der Übergang von einer Generation zur anderen vollzieht sich ja nicht in Sprüngen, sondern in einer gleitenden Verjüngung. Zur sprachlichen Verjüngung gehört auch die allmähliche Gewöhnung an inklusive Ausdrucksweisen, die nicht durch verordnete und sofort konsequent befolgte Sprachregelungen populär gemacht werden können.
Zweitens schicke ich voraus, dass ich wenig Wert darauf lege, den Ausgangstext bei der Übersetzung nach Möglichkeit nachzuahmen, was nach Wilhelm von Humboldt (!) nur für Leser und Leserinnen, die auch den griechischen Text lesen können, von (begrenztem) Nutzen ist. Für die übrigen „wird Anpassung des übersetzten alten Schriftstellers an den modernen Leser, also oft Abweichung von der Treue erfordert“.26 Das Anliegen einer „kommunikativen“ Übersetzung ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern viel älter.
Die gelegentlichen Aussagen in der Wirform in Berichten, in denen Paulus vorkommt (16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1 – 28,16), können vom Verfasser selbst stammen, aber auch aus benutzten Quellen.27 Im Codex Bezae taucht dieses Wir sogar schon in 11,28 auf, womit der Wir-Erzähler in der Gemeinde von Antiochia lokalisiert wird. Danach könnte er zu den „Hellenisten“ gehören, die nach dem Tod des Stephanus Jerusalem verlassen hatten und in Antiochia wirkten (11,19–20). Die Diskussion über das Für und Wider einer zusammenhängenden „Wirquelle“ der Apg kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Gegen die Vermutung, dass Lukas nur fiktional den Eindruck von Erinnerungen eines Augenzeugen erwecken möchte, spricht erstens seine Selbstaussage im Prolog und zweitens die Tatsache, dass in Wir-Stücken Details erwähnt werden, die keinen Nutzwert für das Lesepublikum erkennen lassen. Auch kommt in ihnen wiederholt die emotionale Betroffenheit der Mitreisenden zur Sprache, was natürlich von einem „allwissenden Erzähler“ erfunden sein könnte, aber m. E. eher für Erlebnisechtheit spricht (vgl. 16,10; 21,12.14; 27,27; 28,f.).
Dass Wunder und Visionen nicht per se als unhistorisch einzustufen sind, dürfte im Zeichen der Postmoderne konsensfähig sein. Leider hat die Aufklärung bei ihrem Befreiungsschlag gegen kirchliche Fremdbestimmung des Denkens alte Dogmen durch neue Dogmen ersetzt, die für die Wahrnehmung der Wirklichkeit schädlich waren. In der Geschichtsforschung kann man das als ein Erbe des Thukydides ansehen, der als erster ein Eingreifen von Göttern in den Lauf der Geschichte ausklammert. Erinnerungen an eigene Erlebnisse, ihre erzählende Weitergabe und deren Verwendung durch Geschichtsschreiber sind natürlich nicht gegen Irrtümer, Verfärbungen, Übertreibungen und Fehldeutungen gefeit. Das gilt auch von narrativen Texten der Bibel. Sie ist nur als ganze „Wort Gottes“ (weil Gott durch sie zu uns spricht) und enthält Gottesworte und Menschenworte nebeneinander oder miteinander verquickt. Auch bei der Lektüre der Apg müssen wir also bereit sein, beim genauen Hinschauen oder Durchdenken von Berichten Probleme zu erkennen, die zum historischen Zweifel nötigen. Das ist in der Bibelwissenschaft seit langem breiter Konsens. Allerdings hat der Protest gegen frühere Denkverbote häufig zu einem Übergewicht der Skepsis geführt. Das „Analogieprinzip“, nach dem ein Bericht nur dann als historisch gelten soll, wenn seine Handlung Analogien in der sonstigen Erfahrungswelt hat28, lässt keinen Raum für Rätselhaftes, Überraschendes oder völlig Neues. Manchmal genügt schon die Seltenheit eines Phänomens als Argument gegen die Historizität einer Angabe. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, die Berichte des Lukas bis auf Weiteres aufgeschlossen anzuhören, gerade weil sie Menschenwort sind und weil unbescholtene Mitmenschen auch über Jahrhunderte hinweg zunächst einmal Vertrauen verdienen. Ich begebe mich auslegend in die Erzählung hinein und frage erst dann kritisch zurück, wenn etwas in sich (narrativ) nicht stimmig ist oder nicht zu den vorausgesetzten Verhältnissen passt.
Eine irritierende Forschungslage betrifft das historische Urteil über die Reden, die etwa ein Drittel vom Umfang der Apg einnehmen. In der deutschsprachigen Exegese dominiert seit Jahrzehnten die Überzeugung, dass die Acta-Reden durchweg freie Schöpfungen des Lukas sind, bestenfalls gespeist von diffusen Erinnerungen an den Predigtstil der frühen Gemeinden. Diese Ansicht geht im Wesentlichen auf den Einfluss von Martin Dibelius (1883–1947) zurück, besonders auf seinen Aufsatz Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung aus dem Jahr 1944, erst 1949 veröffentlicht und ab 1951 in einem Aufsatzband weit verbreitet.29 Diese These bezog ihre Plausibilität aus der Berufung auf Thukydides, der sich in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg angeblich große Freiheiten in der Abfassung von Reden erlaubt hatte und darin das Vorbild späterer Geschichtsschreiber der Antike wurde. Verweise auf Forschungen zu Thukydides und auf Beratung durch Fachleute erweckten bei Neutestamentlern den Eindruck einer gesicherten Basis dieser Argumentation. Hinzu kam das in den 50er Jahren aufblühende „redaktionsgeschichtliche“ Interesse an der Theologie narrativer Schriften des Neuen Testaments, das alle freien „Zutaten“ zu vorgegebenen Traditionen als Belege für persönliches Profil begrüßte.
Im englischen Sprachraum stießen die Thesen von Dibelius frühzeitig auf Widerspruch, vor allem durch den Altphilologen Frederick F. Bruce (1910–1990), der als Bibelwissenschaftler hohes Ansehen genoss und sich auf den Thukydides-Forscher Arnold W. Gomme berufen konnte. Dieser legte Wert auf die Selbstaussage des Thukydides (I 22,1):
„(W)as die einzelnen in Rede sagten, teils im Begriff, Krieg zu führen, teils schon darin befindlich, davon war es kaum möglich, den genauen Wortlaut des Gesprochenen im Gedächtnis zu behalten für mich, wenn ich es selbst gehört hatte, und für die, die mir anderswoher davon Kunde gaben; wie es mir aber schien, daß die einzelnen über die jeweils vorliegenden (Dinge) das Gehörige am ehesten gesagt haben könnten – wobei ich mich so eng wie möglich an den Gesamtsinn des wirklich Gesprochenen hielt –, so ist (bei mir im Geschichtswerk) geredet.“30
Unter dem Einfluss dieses „Methodensatzes“ des Thukydides wurde den Reden der Apostelgeschichte im englischen Sprachraum viel häufiger als im deutschen ein historischer Kern oder wenigstens eine zutreffende Zeichnung des Profils der jeweiligen Sprecher zugestanden.31 In der deutschsprachigen Forschung haben dagegen Hypothesen über die tatsächliche Arbeitsweise dieses Historikers oft dessen Selbstaussage in den Hintergrund treten lassen. Von solchen Forschungsergebnissen konnte Lukas keine Ahnung haben; wenn ihm Thukydides als Vorbild vorschwebte, dann dessen Selbstaussage. Im englischen Sprachraum wurde und wird gegen die These, dass die Reden in antiken Geschichtswerken üblicherweise fiktional gewesen seien, oft darauf hingewiesen, dass z. B. Polybios (Hist II 56,10–12) diese Praxis scharf ablehnte. Vor dem Hintergrund dieses Konflikts zweier Strömungen der Acta-Forschung habe ich mich entschieden, meiner Auslegung der Reden weder die eine noch die andere Hypothese zugrunde zu legen. Allerdings setze ich mich von Fall zu Fall mit dem Argument von Dibelius auseinander, dass die Reden „situationsfremd“ seien32 und keine unterschiedlichen Profile der Redner erkennen ließen.33 Die naive Vorstellung, dass es sich bei den Reden um „Wiedergaben“ der gehaltenen Reden handeln könne, scheitert selbstverständlich schon an deren knappem Umfang.34 Es kann nur darum gehen, ob Lukas die Intention und möglicherweise bestimmte Argumente in der erzählten Situation wiedergibt oder in einer passenden Situation einen Redner so sprechen lässt, wie es für ihn charakteristisch war. Für eine pauschale Herleitung der Reden aus „der Theologie des Lukas“ sind die Reden, aufs Ganze gesehen, viel zu unterschiedlich, z.T. schon im Aufbau, vor allem aber inhaltlich.35
Ein wichtiger Aspekt der Interpretation narrativer Texte ist das Verhältnis zwischen Erzählzeit (= Textumfang) und erzählter Zeit (Dauer der erzählten Handlung). Die Beschreibung eines über längere Zeit gleichbleibenden oder wiederholten Geschehens kann mit wenigen Worten auskommen. Das ist der Fall bei den so genannten Summarien über das Leben der Jerusalemer Urgemeinde in 2,42–47; 4,32–37; 5,12–16, aber auch bei kürzeren Feststellungen am Ende einer Erzählung (z. B. 9,31). Diese „Abstandshalter“ zwischen mehr oder weniger dramatischen Erzählungen lassen erkennen, dass Lukas keine fortlaufende „Geschichte des Urchristentums“ bietet. Für seine Erzählweise hat man den Begriff des „Episodenstils“ geprägt.
Eine Steigerung der Erzählzeit erzielt Lukas durch die Wiederholung einer bereits erzählten Geschichte durch eine Nacherzählung im Munde einer beteiligten Person (11,1–18 als Nacherzählung von Kap. 10; 22,1–21 sowie 26,2–23 als „Neuauflage“ von 9,1–19). Damit hebt Lukas die Bedeutung des betreffenden Ereignisses hervor und setzt für ein bestimmtes (Lese-)Publikum neue Akzente.
Ein anderer Aspekt des Verhältnisses zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ist die Frage der zeitlichen Abfolge. W. Marxsen hatte sich im Streit um die Bibelkritik darüber mokiert, dass Jesus nach Lk 3,20–21 angeblich von Johannes dem Täufer getauft wurde, als dieser bereits von Herodes Antipas verhaftet worden war.36 Hier ignorierte der Exeget, dass Lk 3,20 eine Vorausdeutung auf das weitere Schicksal des Täufers ist, nach der in V. 21 der in 3,1 unterbrochene Erzählfaden wieder aufgenommen wird. Das Nacheinander in der Erzählzeit garantiert kein Nacheinander der erzählten Handlungen.
Auch die Abfolge großer narrativer Einheiten innerhalb des Werkes muss nicht chronologisch gemeint sein. Das Nacheinander der Berichte über das Wirken des Philippus in Samarien (Kap.8), den Besuch des Petrus im in Caesarea (10,1–11,18) und die Bemühung um nichtjüdische Zielgruppen in Antiochia (11,19–26) könnte geographisch und nicht chronologisch gemeint sein (vgl. 1,8).
Eine Verdrängung der Chronologie der Handlung durch thematische Gesichtspunkte könnte die Erklärung dafür liefern, dass Lukas im Vergleich mit Gal 1,18; 2,1 (wenn Gal 2,1–10 eine Parallele zu Apg 15 ist) eine von Paulus scheinbar verschwiegene Jerusalemreise des Paulus erwähnt (vgl. 11,30; 12,25). Diese Reise zur Überbringung von Spenden könnte historisch identisch sein mit der Reise nach Kap. 15, deren Anlass ein Streit um die Aufnahme nichtjüdischer Gemeindeglieder war. Das würde einige Probleme der Forschung zu Apg 15 („Apostelkonzil“) im Vergleich mit Gal 1,17 – 2,10 lösen, aber auch einige neue Fragen aufwerfen. Denkbar ist, dass Lukas zwei thematisch verschiedene Erzählungen von dieser Reise erhalten und aufgenommen hat, ohne zu wissen, dass es sich um dieselbe Reise handelte. Er könnte aber auch den Streit um die „Weltmission“ ohne Konversion zum Judentum (Kap. 15) bewusst hinter die erste Missionsreise (Kap. 13–14) platziert haben, um das Thema der Debatte, zunächst narrativ vor Augen zu stellen. Inhaltlich betrachtet, hat die Handlung der Apg jetzt zwei Hauptteile, die sich in der Buchmitte überlappen:
A. Die innerjüdische Jesusbewegung (Kap. 1–12 und 15,1–35)
B. Unterwegs zu den Enden der Erde (Kap. 13–14 und 15,36 – 28,31)
Auslegungen biblischer Bücher sind keine zeitlosen Werke, sondern erwachsen aus einem Problemhorizont, der den Autoren und ihrem Lesekreis mehr oder weniger gemeinsam ist. Für ein deutsches „Kriegskind“ wie mich gehört dazu die Schuld des deutschen Volkes an den Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk – und die Mitschuld von Kirche und Theologie an deren Ermöglichung und Duldung. Erzählungen der Apg haben das christliche Bild vom Judentum beeinflusst, – und das verbreitete Bild vom Judentum hat die Lektüre der Apg beeinflusst! Dabei haben Beispiele von Konflikt und Kontrast besonderes Interesse gefunden und das Denken und die Gemüter beeinflusst, was in Nacherzählung, Illustrationen und Auslegung zu übertreibender Dramatisierung geführt hat. Auch Kommentare waren und sind davon immer noch beeinflusst und tragen zur Festigung falscher Klischees bei. Darum verwende ich im Rahmen des Raumes, der mir zur Verfügung steht, mehr Worte als üblich auf die Korrektur antijüdischer Traditionen und Fehlurteile. Das sollte nicht als Mangel an Respekt vor sonstigen wissenschaftlichen Leistungen der Betroffenen verstanden werden. Bei allen Konfliktgeschichten verdient Beachtung, dass Lukas den Widerstand gegen die urchristliche Botschaft häufig nicht auf eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern auf unerwünschte Nebenwirkungen dieser Verkündigung zurückführt, mit denen die Gegner zu Recht oder zu Unrecht rechnen.37 Das gibt Denkanstöße für Probleme der späteren und heutigen Ausbreitung des christlichen Glaubens über soziale und kulturelle Grenzen hinweg.
Kommentare zu biblischen Büchern sind eine Literaturgattung mit einem hohen Anteil an tradiertem Wissen, das in mehrbändigen Kommentaren oft ausgiebig dokumentiert wird. Leider werden allzu viele Meinungen (und Fehler) von einem Kommentar zum anderen mitgeschleppt. Ich habe darum meine Auslegung immer zunächst nur (als „close reading“) vom Bibeltext her unter Hinzuziehung sprachlicher Hilfsmittel entworfen und erst danach mit Kommentaren und sonstiger Sekundärliteratur verglichen. (Natürlich war ich dabei von jahrelanger Lektüre von Sekundärliteratur für allerlei Fragen sensibilisiert!) Die mir auferlegte Beschränkung auf nur einen Band hat leider zur Folge, dass ich gegen meine Neigung und Gewohnheit38 vorzugsweise auf deutschsprachige Publikationen verweise, die das Verständnis der Apg im deutschen Sprachraum beeinflusst haben und den Benutzern und Benutzerinnen dieses Kommentars womöglich vorliegen oder leichter zugänglich sind.
Griechische und hebräische Wörter werden in Umschrift kursiv wiedergegeben. Wenn in einem Zitat oder im Titel einer Publikation solche Wörter in ihrer Urschrift enthalten sind, ist deren Umschrift in eckige Klammern [kursiv] gefasst. Für griechisch Eta steht ē, aber ê, wenn die Silbe in einem mehrsilbigen Wort betont ist, entsprechend für Omega ō oder ô. Die Umschrift hebräischer Wörter ist gegenüber der Wiedergabe in hebraistischer Fachliteratur vereinfacht.
Verweise auf Kommentare erfolgen durch den Namen mit dem Zusatz „z. St.“ und nur teilweise unter Angabe der Seite in der von mir benutzten Auflage. Werden Publikationen bibliographisch unvollständig angegeben, dann ist Ergänzendes im Literaturverzeichnis zu suchen. Werden antike Schriften zitiert, dann in der Regel nach einer publizierten Übersetzung (im Literaturverzeichnis unter „Zitierte Quellen“ zu finden). Die Titel antiker Schriften gebe ich abweichend von akademischen Gepflogenheiten dann auf Deutsch an, wenn sie m. E. für ein breiteres Publikum mehr Beachtung verdienen.
1 Mein erster Bericht, Theophilus, handelte von all dem, was Jesus zu tun und zu lehren unternommen hatte, 2 bis zu dem Tag, an dem er weggenommen1 wurde. Vorher hat er den Gesandten, die er ausgewählt hatte, durch den heiligen Geist Aufträge erteilt.2
3 Ihnen zeigte er sich nach seinem Leidensweg durch viele Beweise als lebendige Person, indem er in einem Zeitraum von vierzig Tagen ihnen erschien und mit ihnen über das Thema der Gottesherrschaft sprach.
4 Bei einem (solchen) Zusammensein befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern (wörtlich)
„die Erfüllung der Verheißung des Vaters abzuwarten, die ihr von mir gehört habt;
5 denn Johannes taufte (nur) mit Wasser, ihr aber werdet in Kürze mit heiligem Geist getauft werden.“
6 Daraufhin fragten die Versammelten ihn:
„Herr, richtest du vielleicht in dieser Zeit3 das Königtum für Israel wieder auf?“
7 Da sagte er zu ihnen:
„Über Zeiträume und Termine Bescheid zu wissen, die der Vater in eigener Machtvollkommenheit festgesetzt hat, ist nicht eure Sache.
8 Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt4, und werdet meine Zeugen sein – in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und so weit die Erde reicht.“
9 Nach diesen Worten wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke umhüllte ihn und entzog ihn ihren Blicken.
10 Und wie sie noch zum Himmel starrten, während er verschwand, da standen plötzlich zwei Männer in weißem Kleid5 bei ihnen und sagten:
11 „Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und schaut in den Himmel? Dieser Jesus, der von euch weggenommen wurde in den Himmel, der wird so (zurück6) kommen, wie ihr ihn zum Himmel gehen saht.“7
1Die Apg beginnt mit einer Anknüpfung an die Widmung des Werkes für einen gewissen Theophilus in Lk 1,1–4. Die Bedeutung dieses Vorwortes für das Verständnis der Apg ist schon in der Einleitung besprochen worden. Der Rückverweis auf „Bd. 1“ spricht von einem Bericht über Jesu Wirken und Lehren. Das Nebeneinander und mögliche Gegeneinander von Worten und Taten wird in antiken Texten häufig reflektiert. Der Eindruck, den Jesus auf seine Zeitgenossen machte, wird in Lk 24,19 mit dem Ausdruck „kraftvoll im Handeln und Reden“ beschrieben. Wenn Lukas hier – wörtlich übersetzt – von dem spricht, was Jesus „anfing zu tun und zu lehren“, so ist nicht gemeint, dass Jesus in der Apg weiterhin handelt und lehrt.8 An ein weitergehendes Handeln Jesu (durch seinen Geist; vgl. 16,7) könnte Lukas zwar denken, aber von einem Lehren Jesu ist nur noch in V. 3–8 die Rede. Es gibt aber Belege dafür, dass ein „anfangen“ in Verbindung mit „reden“ nur dem Redevorgang Gewicht gibt und nicht temporal einschränkend gemeint ist.9 Das zweite Wörtchen des Verses (men) entspricht einem „einerseits“ oder „zwar“ und ist eigentlich auf eine Fortsetzung mit „aber“ (de) angelegt. Als von Lukas nicht ausformulierte Fortsetzung könnte gemeint sein, dass der zweite Band nun von den Taten und Lehren der Apostel handelt, was dem traditionellen Titel entspräche. Von diesen „Dienern des Wortes“ war ja schon in Lk 1,3 die Rede gewesen. Dass das Evangelium von „allem“ handelt, was Jesus getan und gelehrt hat, wird überfrachtet, wenn es als Abwehr anderer (womöglich apokrypher) Schriften interpretiert wird.10 Gemeint ist wohl eine umfassende Information, die nichts Wichtiges auslässt. Der Erzählstil des Lukas weist eine Häufigkeit der Vokabel pās (alles) auf, die dafür spricht, nicht jede Verwendung auf die Goldwaage zu legen.
2Noch im gleichen Satz wird ein Personenkreis genannt, der in der Apg den Kern der Jesusbewegung bildet: die von Jesus selbst ausgewählten Gesandten. Das für sie gebräuchliche Fremdwort Apostel ist insofern misslich, als es nur an Männer denken lässt, während das griechische apóstolosals zusammengesetztes Nomen trotz maskuliner Endung auch für Frauen gebraucht wurde.11 Nach Lk 6,13 hat Jesus selbst einen engeren Kreis von zwölf Jüngern als „Gesandte“ bezeichnet, womit aber nicht gesagt ist, dass diese Bezeichnung für diese Zwölf reserviert wäre (vgl. Lk 11,49; 1 Kor 15,5–6; Gal 1,19). In Lk 24,10 dient der Begriff zur Wiederaufnahme von „die Elf und alle anderen“ aus V.9, und in Lk 24,13 bezieht sich „zwei von ihnen“ auf die zuletzt genannten Gesandten, wobei es sich aber nicht um Mitglieder des Zwölferkreises handelt (vgl. V. 33). Auch Paulus und Barnabas werden in 14,4.14 als „Gesandte“ bezeichnet, Barnabas allein in 4,36.12 Die Vokabel apóstolos für Gesandte war in ntl. Zeit keineswegs üblich13, sondern wurde erst allmählich in Kreisen bevorzugt, die das für „Boten“ gebräuchliche Wort ángelos auf die Bedeutung „himmlische Boten“ einengten.14 Was den Gehalt von apóstolos betrifft, würde die Übersetzung mit „Bote“ zu kurz greifen, weil es um mehr als die bloße Übermittlung von Nachrichten geht. In der Antike hatten Abgesandte auch ohne Schriftform rechtswirksame Handlungsvollmacht. Mit „Sendung“ ist nicht die bloße Überbrückung räumlicher Distanz gemeint, sondern das stellvertretende Reden oder Handeln im Auftrag und Interesse eines andern, was die Mischna (Ber 5,5) auf die Formel bringt: „Der Abgesandte eines Menschen ist wie dieser selbst.“15
Das „durch den heiligen Geist“ in diesem Satz ist so platziert, dass damit sowohl die Erwählung der Gesandten als auch die Erteilung von Aufträgen gemeint sein kann (grammatisch ein sog. „Zeugma“). Dass Jesus in besonderer Weise geistbegabt war, wird in Lk 4,16–18 mit einem Zitat aus Jes 61,1f. unterstrichen. In Apg 10,38 führt Petrus das ganze Wirken Jesu darauf zurück, dass „Gott Jesus von Nazaret mit heiligem Geist und mit Kraft gesalbt hat“.
Die Hauptaussage von V. 2 ist die, dass das irdische Wirken Jesu mit dem Tag seiner „Wegnahme“ (oder: „Aufnahme“) endete.16 Das hier gebraucht Verbum analambánein hat eine breit gestreute Bedeutung (annehmen, aufnehmen, mitnehmen etc.).17 Auch in Lk 9,51 ist von einer bestimmten Zeit der „Wegnahme“ oder „Aufnahme“ Jesu (análēmpsis) die Rede.
3 Die Übergangszeit zwischen „Dasein“ und „Weggang“, in der Jesus sich „nach seinem Leiden“ den Gesandten als lebend zeigte, dauerte nach Lukas 40 Tage18. In 13,31 heißt es nur: „Er ist viele Tage hindurch denen erschienen, die mit ihm zusammen von Galiläa nach Jerusalem hinaufgezogen waren … .“ Gegen nahe liegende Zweifel an dieser Auskunft verweist Lukas mit einem Begriff der Gerichtssprache auf „viele Indizien“. Damit dürfte vor allem auf die Wundmale an Händen und Füßen angespielt sein, die nach Lk 24,39f. und Joh 20,20.25–27 zum Erscheinungsbild des Auferstandenen gehörten und die Identität der Person verbürgten. Hinzu kommt ein Wortgeschehen, das zu allen „Osterberichten“ gehört.
Die Inhalte dieses Wortgeschehens umschreibt Lukas mit dem Ausdruck „was mit dem Reich (oder: der Königsherrschaft) Gottes zusammenhängt“. Dieses Thema der Lehrtätigkeit Jesu setzt Lukas bei seinem Publikum nach der Lektüre des Evangeliums als bekannt voraus.19 Jesus seinerseits konnte es bei seinem Publikum als festen Begriff voraussetzen, wenn er nach Mt 4,23 par. Mk 1,15 mit der Botschaft auftrat: „Das Reich Gottes hat sich genähert“ (im Sinne von: „steht kurz bevor“). Der Begriff ist ein Generalnenner für Hoffnungen Israels auf ein für Israel rettendes, aber zugleich die ganze Welt erfassendes Eingreifen Gottes und die damit beginnende Heilszeit. Dass diese noch der Zukunft angehört, geht aus einer Zeile des Mustergebets hervor, das Jesus seinen Jüngern vorgegeben hat (dem Vater-unser): „Dein Reich komme!“ oder „Deine Königsherrschaft komme!“ (Mt 6,10 par. Lk 11,2). Vom „Kommen“ einer Königsherrschaft sprach man für die Machtergreifung oder Thronbesteigung eines Anwärters auf diese Rolle.20 Die Wahl dieses Ausdrucks als Metapher für eine Gotteserfahrung überrascht. Die Hoffnung auf eine globale Durchsetzung der Gerechtigkeit und Güte Gottes setzt die Überzeugung voraus, dass die Welt so, wie sie ist, nicht in Ordnung ist, weil sie nicht seinem Willen entspricht. (Das „Dein Wille geschehe“ interpretiert das „Dein Reich komme!“) Damit wird Berufung eingelegt gegen die verbreitete Neigung, Gott für alles Unrecht dieser Welt verantwortlich zu machen. Gott, der Schöpfer, ist der legitime Herr der Welt21, aber nicht die Ursache für alles, was in dieser Welt geschieht. Erst am Ende der Weltgeschichte soll nach Paulus (1 Kor 15,28) alle Wirklichkeit von Gott durchdrungen sein.
Voraussetzung dieser Metaphorik ist das Idealbild eines Königs, der die Seinen aus Bedrohungen rettet und für Frieden und Gerechtigkeit sorgt. Dass die Erfahrungen Israels mit Königen hinter diesem Ideal zurückblieben, hat dem Gefühlswert dieser Metapher offenbar nicht geschadet. Als Ausdruck heutiger Frömmigkeit hat sie im deutschen Sprachraum gelitten, und die Hoffnung auf ein kommendes neues „Reich“ ist durch ihren Missbrauch im Nationalsozialismus emotional belastet. Ein Ausweichen auf Umschreibungen wie „die neue Welt Gottes“ ist verständlich, darf aber nicht von der Erwartung einer neuen „Ära“ der Welt ablenken. Diese prophetische Vision wird vielleicht auf neue Resonanz stoßen, wenn sich der gegenwärtige Trend düsterer Zukunftsprognosen als realistisch erweist.
4Der Auftrag, Jerusalem vorläufig nicht zu verlassen, entfaltet die knappe Erwähnung einer Anweisung in V. 2. Er richtet sich an Leute, die mit Jesus aus Galiläa nach Jerusalem gezogen waren (vgl. V. 11 und 21f. sowie Lk 8,1–3; 9,51). Dort sollen sie bleiben, bis ein von Jesus mitgeteiltes Versprechen Gottes in Erfüllung geht. Das absolute „der Vater“ für Gott (ohne Zusätze) kehrt in V. 7 wieder und findet sich auch in Lk 9,26 im Munde Jesu, ist aber ansonsten charakteristisch für das Johannesevangelium. Bei Lukas beginnt das Vaterunser mit einem schlichten „Vater“ ohne „in den Himmeln“ (Lk 11,2), so dass er diese knappe Gottesanrede der Christen wohl als bekannt voraussetzt.
5Der Inhalt des Versprechens wird als wörtliche Rede Jesu zitiert22: eine „Taufe“ mit heiligem Geist, die hier der Taufe mit Wasser durch Johannes den Täufer gegenübergestellt wird. Das ist wohl nicht als bloße Analogie gemeint, sondern als Überbietung. Was hier als Jesuswort überliefert wird, erscheint in den Evangelien ähnlich formuliert als Wort des Täufers selbst in Verbindung mit der Ankündigung eines „Stärkeren“, der nach ihm kommen und „mit heiligem Geist und Feuer“ taufen werde (so Mt 3,11 par. Lk 3,16; in Mk 1,11 ohne die Erwähnung des Feuers). Das Reden von einer „Taufe“ mit heiligem Geist ist eine Variante zur älteren Redeweise von einer „Ausgießung“ heiligen Geistes (vgl. Jes 32,15; Ez 39,29; Joel 3,1; Sach 12,10). Diese Redeform tritt auch in 2,33 und 10,45 an die Stelle der Metapher „Taufe“ für die Erfahrung der Urkirche, um die es hier geht. Vom „Ausgießen“ in übertragener Bedeutung spricht die Bibel auch in Verbindung mit anderen Größen, unter deren machtvollen „Ein-fluss“ Menschen kommen (vgl. Ps 1,9; 69,25; Jes 19,14; 29,10). Darum kann Jesus auch vom Leidenmüssen als einer Taufe sprechen (Mt 20,22 par. Mk 10,38f.).
6Die Ankündigung dieser „Taufe“ veranlasst die Anwesenden zu einer für uns überraschenden Rückfrage. Was hat eine „Wiederherstellung des Königtums für Israel“ mit dem heiligen Geist zu tun? Gemeint ist zweifellos eine politische Restauration.23 Vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Verhältnisse ist mit „Königtum“ sicher eine Unabhängigkeit gegenüber Rom gemeint – das angebliche Ziel Jesu und offizielle Begründung für seine Kreuzigung (vgl. Lk 23,2; Mk 15,26 parr.; Joh 19,19). Dass die Fragesteller von Jesus selbst die Wiederherstellung dieses Königtums erwarten, klingt nach einem Wiederaufleben der Hoffnung, von der nach Lk 24,21 zwei Jünger nach dem Tod Jesu resignierend gesprochen hatten: „Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen würde.“ Nach Mk 11,10 hatten Zuschauer beim Einzug Jesu nach Jerusalem gerufen: „Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt!“ Damit meinten sie wohl eine Wiederkehr des davidischen Großreiches. Manchmal wurde Jesus auch als „Sohn Davids“ angesprochen (vgl. Mk 10,47f. parr.; Mt 9,27; 15,22), als ob er ein neuer Salomo wäre, dem in der Bibel eine segensreiche Regierungszeit nachgesagt wird.
Zu fragen ist, wie sich diese Erwartung zu dem Oberbegriff „Reich Gottes“ aus V. 3 verhält, der doch einen die ganze Welt betreffenden Horizont mit sich führt. Der schließt aber nicht aus, dass Gottes Königsherrschaft als „zionistisch zentriert“ erwartet wurde: „Der Herr wird König sein über sie auf dem Berg Zion von nun an bis in Ewigkeit. … Zu dir wird sie gelangen und kommen, die frühere Herrschaft, die Königsherrschaft für die Tochter Jerusalem“ (Mi 4,7–8). In Jes 24 schließt eine apokalyptische Vision von einer Zukunft der ganzen Erde mit den Worten: „Denn König geworden ist der HERR der Heerscharen auf dem Berg Zion und in Jerusalem …“ (Jes 24,23).24 Nach Lk 22,29 soll Jesus zu den Gesandten gesagt haben: „Ich vermache euch eine Königsherrschaft, wie sie mein Vater mir vermacht hat, so daß ihr in meinem Königtum mit mir an meinem Tisch essen und trinken werdet und auf zwölf Thronen den zwölf Stämmen Israels Recht sprechen werdet.“25 Steht diese Aussicht etwa hinter der Aufforderung aus V. 4, in Jerusalem auszuharren?
7Die Antwort Jesu beschränkt sich zunächst auf dieses Interesse an der Zeitfrage und erklärt sie zu einer Geheimsache Gottes.26 Lukas nimmt hier eine Auskunft Jesu über das Weltende auf, die sich in Mt 24,36 und Mk 13,32 findet, an der Vergleichsstelle im Lukasevangelium (nach Lk 21,33) aber fehlt. Sie ist dort noch dahingehend zugespitzt, dass auch die Engel im Himmel und sogar der Sohn (Jesus!) „Tag und Stunde“ nicht kennen, sondern nur der Vater. Was Jesus von der geäußerten Erwartung hält, bleibt unausgesprochen. Vielleicht will Lukas im Blick auf Außenstehende, die dem Christentum mit einer Mischung von Sympathie und Skepsis gegenüberstehen, von politischen Dimensionen der Jesusbewegung ablenken. Er ist aber ehrlich und als Geschichtsschreiber gewissenhaft genug, um in einer Rede des Petrus einem bekehrten Israel eine messianische „Restauration“ (apokatástasis!) als Erfüllung biblischer Prophetien in Aussicht zu stellen (vgl. 3,19–21).
8Eine indirekte Antwort auf die Zeitfrage steckt allerdings in der Ankündigung einer weltweiten Resonanz auf sein Auftreten. In neutestamentlicher Zeit meinte man mit den Enden der Erde Indien im Osten, Äthiopien im Süden, Britannien im Norden und im Westen die Antlantikküste jenseits der Straße von Gibraltar. Schon Jesaja fasste den Rand der Erde in einigen gewichtigen Aussagen in den Blick:
„Verkündet es unter Jubelrufen, lasst es hören bis ans Ende der Erde, tragt es hinaus, sagt: Der HERR hat seinen Diener Jakob erlöst!“ (Jes 48,20: NZÜ)„Wendet euch zu mir und lasst euch retten, alle Enden der Erde.“ (Jes 45,22a NZÜ)„Seht, bis ans Ende der Erde lässt der HERR es hören: Sagt der Tochter Zion: Sieh, dein Heil kommt!“ (Jes 62,11 NZÜ) „Zu wenig ist es, dass du mein Diener bist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die von Israel zurückzubringen, die bewahrt worden sind27: Zum Licht der Nationen werde ich dich machen, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.“ (Jes 49,6 NZÜ)
In 13,47 zitiert Paulus den Schluss von Jes 49,6 nach der Septuaginta mit: „Ich habe dich zum Licht der Völker bestimmt, damit du zum Heil (beiträgst) bis ans Ende der Erde.“ Er bezieht diesen Satz auf seinen eigenen Auftrag zur Mission unter Nichtjuden (vgl. Röm 1,5; Gal 1,16; Apg 22,21). Das Urchristentum hat also die universale Weite seines Auftrags (= „missio“) nicht als „Überwindung“ eines jüdischen „Partikularismus“28, sondern als Erfüllung alter Prophetien verstanden, die dem Volk Israel weiterhin große Bedeutung beimaßen.29
Manche Ausleger vermuten, Lukas habe das Wirken des Paulus in Rom (vgl. 28,30f.) als symbolische Erfüllung dieser Voraussage verstanden, weil die Römer ihr Reich gern als die oikouménē (bewohnte Erde) bezeichneten (vgl. Lk 2,1; Apg 17,6). Als „Grenze“ der bewohnten Welt kann die Hauptstadt deshalb gerade nicht gelten.30 Eine andere räumliche „Minimierung“ der Aussage von Apg 1,8 vertritt D. R. Schwartz31, indem er sie nicht auf „die Erde“, sondern „das Land“ (Israels) bezieht. Man muss nicht erst (wie Schwartz a. a. O. 670) an eine zugrunde liegende hebräische Quelle denken, die an dieser Stelle erets las, sondern kann für diese Möglichkeit auf Mt 27,45 par. Mk 15,33 und Lk 4,25 verweisen. Mit Recht zitiert Schwartz Mt 10,23 als Beleg für einen auf das Land Israels begrenzten Auftrag Jesu, so dass Apg 1,8 auf ein echtes Jesuswort zurückgehen könnte. Aber das „und“ vor „bis an das Ende“ signalisiert eine Ausweitung des Horizonts.32 Beachtung verdient, dass hier nicht wie in Lk 24,47 von „allen Völkern“ als Zielgruppen des Zeugnisses gesprochen wird.
Das Hauptanliegen von 1,8 ist zweifellos die inhaltliche Füllung der Wartezeit bis zum Ziel der Zeiten als eine Zeit zum Handeln: „Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Geist auf euch kommt.“ Während in der Philosophiegeschichte und in der Umgangssprache die Vokabel „Geist“ v.a. mit Denken, Vernunft oder Einstellung assoziiert wird, dient hebräisch ruach und das griechische pneúma als dessen Wiedergabe mehr der Deutung dynamischer Handlungen oder Erfahrungen. Gewagte und überraschend erfolgreiche Taten von Kriegern in Israels Frühzeit werden einer göttlichen Be-geisterung zugeschrieben (vgl. Ri 3,10; 6,34; 11,29; 1 Sam 11,6). Was dort auf zeitlich begrenzte Leistungen bezogen wurde, wird im Falle David als ständige Begabung beschrieben (vgl. 1 Sam 16,13) und von einem künftigen Herrscher aus Davids Nachkommenschaft erwartet (vgl. Jes 11,1f.). Auch kunsthandwerkliche Begabungen wurden auf den Geist Gottes zurückgeführt. Im Laufe der Zeit wurden jedoch zunehmend sprachliche Handlungen dem Geist Gottes zugeschrieben: mündliche Auftritte von Propheten (vgl. Jes 42,1; 61,1; Ez 11,5; Mi 3,8; Sach 7,12; 2 Chr 24,20: Neh 9,30), später alle als Prophetie verstandenen biblischen Texte (vgl. z. B. Mt 22,43; Apg 4,25). In der rabbinischen Literatur wird der heilige Geist regelmäßig als „Geist der Prophetie“ verstanden.
Im vorliegenden Fall ist das be-geisterte Sprachhandeln keine Prophetie, sondern wird mit „Zeuge sein“ beschrieben. Dieser Begriff hat seinen primären „Sitz im Leben“ im Rechtsstreit. „Meine Zeugen sein“ bedeutet: für mich, den Umstrittenen, Angeklagten eintreten. Nach dem ausführlichen Bericht über die Verurteilung und Hinrichtung Jesu in „Bd. 1“ (EvLk) muss dieser Auftrag auf diese Vorgeschichte bezogen werden. Andere Dimensionen des Redens von Jesus in der Apg (und im übrigen Neuen Testament) bleiben vorläufig unerwähnt. Die Jesusbewegung soll kraft des heiligen Geistes weitergehen als Partei Jesu, die sich für seine Rehabilitierung und Anerkennung einsetzt. Lukas kündigt damit begrifflich an, was er in mehreren Episoden der Apostelgeschichte anschaulich ausmalt: Der Prozess gegen Jesus geht (informell) in die Revision, teils öffentlich (vgl. Apg 2,22–36; 3,13–26), teils in der Konfrontation mit seinen Anklägern (4,8–12; 5,29–32).
Für Situationen, in denen seine Anhänger selbst vor Gericht gestellt werden, soll Jesus ihnen den Beistand des heiligen Geistes versprochen haben: „Nicht ihr werdet dann reden, sondern der heilige Geist.“ (Mk 13,11 EÜ). „Der heilige Geist wird euch in der gleichen Stunde (d. h. erst in der Situation) lehren, was ihr sagen sollt.“ (Mt 10,20) In 4,8 heißt es dann, dass Petrus vor dem Hohen Rat ein mutiges Bekenntnis zu Jesus ablegt, nachdem er vom heiligen Geist „erfüllt“ wurde. 1,8 generalisiert das und macht es zu einem wesentlichen Merkmal dessen, was Lukas in der Fortsetzung zu berichten gedenkt. Damit macht er mindestens eine, womöglich die wichtigste Intention seines Werkes öffentlich. Man kann das als „apologetisch“ bezeichnen33, riskiert dabei aber den Beiklang ängstlicher Selbstbehauptung. Das Unternehmen einer Rehabilitierung des Gekreuzigten war im Unterschied dazu eine unerhörte Offensive, mit der sich die Beteiligten zum Teil selbst in Gefahr brachten. Eben deshalb bedurfte es dazu einer übermenschlichen Motivation, auf die Lukas hier und auch später noch verweist (vgl. Apg 4,8.31; 7,5; 13,9.52). Lukas trug schon mit seiner Darstellung der Leidensgeschichte Jesu zu diesem Unternehmen bei, indem er z.B. in Lk 23,2 eine Anklage gegen Jesus zitiert (Aufruf zum Steuerboykott), die durch Lk 20,20–26 als Verleumdung erwiesen ist.
Diese Betonung des „geistlichen“ Charakters der Jesusbewegung ist häufig mit einem antijüdischen Akzent versehen worden. V. 8 wurde dabei über V. 7 hinweg als Kritik an dem Anliegen der Frage aus V. 6 gedeutet. In einer Predigt zum Fest der Himmelfahrt Christi sagt Martin Luther:34
„Sie verstehen nicht, was er saget. Er redet vom Reich Gottes, So fragen sie vom Reich Israel. Das Reich Israel heisst der Juden Konigreich und Priesterthum, Welches Herodes zu sich gerissen hatte. Gottes Reich aber heisst, das Johannes, wie er spricht, getaufft hat mit Wasser, Sie aber sollen mit dem heiligen Geist getaufft werden, Und wie er Lucae 24 sagt, das er predigen lasse in seinem Namen Busse und Vergebung der Sünde, unter allen Volckern und anheben zu Jerusalem. Das sind andere wort, welche nit sagen von auffrichtung des Reichs Israel, wie man krieg und harnisch füren solle, Heuser und Schlosser bawen auff Erden, Sondern sagen vom Reich Gottes, wie die Menschen sich sollen zu Gott bekeren, Vergebung der Sunde erlangen, gerecht und selig werden und ewig leben bey Got.“
Nicht anders urteilte Johannes Calvin:35
„Noch eine zweite Zurechtweisung enthält aber Christi Wort. Es will den Jüngern die falsche Einbildung von einem irdischen Reich austreiben, indem es ganz kurz sagt, dass das Reich in der Predigt des Evangeliums besteht. Darum sollen sie nicht von Reichtum, Genuß, äußerer Macht oder anderen irdischen Dingen träumen; sie hören ja, dass Christus seine Herrschaft ausübt, wo er durch die Lehre des Evangeliums sich die Welt untertänig macht. Daraus ergibt sich, dass er in geistlicher, nicht weltlicher Weise herrscht …“36
Widerspruch gegen diese Auslegung meldete am deutlichsten de Boor (z. St.) an. Er rechtfertigt die Frage der Jünger als „biblisch folgerichtig“ und fährt fort:
„Nicht einmal die Betonung ‚für Israel‘ ist falscher Nationalismus. Die Verheißungen für Israel in der prophetischen Verkündigung sind klar genug, und ‚unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes‘ …“.