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Gefahr aus den Tiefen des Alls
Die Unterdrücker sind geheimnisvolle Maschinenwesen, die seit Milliarden Jahren in der Leere des Alls lauern, um aufkeimendes intelligentes Leben zu vernichten. Nun sind sie auf die Menschheit aufmerksam geworden und bedrohen deren Existenz. Als die Synthetiker trotz ihres langen Krieges gegen die Demarchisten begreifen, in welcher Gefahr sie schweben, beschließen sie zu ihrem Schutz lang verloren geglaubte Waffen aus einem Raumschiff zu bergen, das nahe dem Planeten Resurgam gestrandet ist. Daraus erwächst ein tödlicher Wettlauf gegen die Zeit, denn die Synthetiker sind nicht die einzigen, die in den Besitz der Waffen gelangen wollen.
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Seitenzahl: 1314
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DAS BUCH
Die ferne Zukunft: Die so genannten »Unterdrücker«, eine mächtige Maschinenrasse, hat in der Nähe des von Menschen besiedelten Teils der Galaxis Horchposten aufgestellt, die nach Anzeichen dafür lauschen, ob sich intelligente Zivilisationen entwickeln und im Raum ausbreiten. Die Maschinen sind darauf programmiert, solche Entwicklungen im Keim zu ersticken. Nun sind sie auf die Menschheit aufmerksam geworden und schmieden ihre Waffen, um die Emporkömmlinge auszurotten. Ihr erstes Ziel ist Resurgam, ein von Menschen besiedelter Planet, dessen Regierung sich jedoch beharrlich weigert, irgendwelche Evakuierungspläne auch nur ins Auge zu fassen. Einen möglichen Schutz könnten die Weltraumgeschütze bieten, die sich an Bord des Raumfahrzeugs Sehnsucht nach Unendlichkeit befinden. Aber dieses gewaltige Lichtschiff lebt in fortschreitender Symbiose mit seinem von der geheimnisvollen »Schmelzseuche« befallenen Captain und hat sich inzwischen physisch verändert wie ein wuchernder Organismus …
»Alastair Reynolds’ Bücher sind wahre Glanzstücke moderner Science Fiction.« – Stephen Baxter
»In der Welt der Space Operas gibt es nur wenige ganz große Autoren neben Dan Simmons, Iain Banks und Peter F. Hamilton. Alastair Reynolds hat sich mit seinen Romanen zweifellos einen Platz in diesem Kreis verdient.« – Mike Rowley
DER AUTOR
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt-Agentur ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden.
Das tote Schiff war von einer abartigen Schönheit.
Skade umflog es in einem schraubenförmigen Pseudo-Orbit. Die Steuerdüsen ihrer Corvette gaben einen rasanten Trommelwirbel von Korrekturschüben ab. Hinter dem Schiff drehte sich Schwindel erregend die Sternenlandschaft, bei jedem Umlauf verschwand die Sonne des Systems und tauchte wieder auf. Skade beobachtete sie einen Augenblick zu lange. Schon wurde ihr die Kehle bedrohlich eng. Die Raumkrankheit.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Ärgerlich rief sie ein dreidimensionales, gläsern durchsichtiges Bild ihres eigenen Gehirns in seiner ganzen Komplexität auf, schälte wie von einer Frucht die Schichten des Neokortex und des Kortex ab und schob die Teile ihres Bewusstseins beiseite, die sie im Moment nicht interessierten. Das Silbergeflecht ihres Netzimplantats, das mit ihrem biologischen Synapsennetz topologisch identisch war, flimmerte nur so von Neuralimpulsen. Informationspakete jagten mit einer Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Sekunde, zehn Mal schneller als die schneckenhaft langsamen biologischen Nervensignale, von Neuron zu Neuron. Sie konnte nicht direkt zusehen, wie sich die Signale bewegten – dazu hätte sie ihre Denkprozesse beschleunigen müssen, was die Neuralimpulse noch schneller gemacht hätte –, aber die Abstraktion ließ immerhin erkennen, welche Teile ihres aufgerüsteten Gehirns am aktivsten waren.
Skade vergrößerte eine bestimmte Hirnregion, die so genannte Area postrema, ein uraltes Geflecht von neuralen Verbindungen, das für Konflikte zwischen Sehvermögen und Gleichgewichtssinn zuständig war. Ihr Innenohr spürte nur die gleichmäßige Beschleunigung des Shuttles, aber ihre Augen sahen ein zyklisch wechselndes Bild des Hintergrundes mit rasender Geschwindigkeit hinter dem Schiff vorbeiziehen. Die primitive Hirnregion konnte die Unstimmigkeit nur auflösen, indem sie annahm, dass Skade halluzinierte. Deshalb schickte sie ein Signal an einen anderen Teil des Gehirns, dessen Aufgabe es war, den Körper vor Giften zu schützen, die mit der Nahrung aufgenommen wurden.
Diese Region löste prompt Übelkeit aus, und Skade konnte es ihrem Gehirn nicht einmal verdenken. Die Assoziation von Halluzinationen mit Gift hatte ihren Vorfahren über Jahrmillionen gute Dienste geleistet und es ihnen ermöglicht, mit einem breiteren Spektrum an Nahrungsmitteln zu experimentieren, als es sonst möglich gewesen wäre. Hier und jetzt, am lebensfeindlichen, eisigen Rand eines fremden Sonnensystems, war sie allerdings nicht sinnvoll. Vermutlich wäre es am besten gewesen, die fundamentale Topologie rasch dahingehend zu verändern, dass solche Verbindungen gekappt wurden, aber das war leichter gesagt als getan. Das Gehirn war holografisch angelegt und so unübersichtlich wie ein hoffnungslos überladenes Computerprogramm. Wenn sie den Teil ›abschaltete‹, der die Übelkeit erzeugte, störte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit andere Hirnfunktionen, die mit denselben neuralen Schaltkreisen arbeiteten. Aber damit konnte sie leben; sie hatte dergleichen schon tausend Mal gemacht und nur selten unerwünschte kognitive Nebenwirkungen festgestellt.
So. Die betreffende Region pulsierte rosa und verschwand aus dem Netz. Die Übelkeit war wie weggeblasen; sie fühlte sich sehr viel besser.
Was blieb, war der Ärger über sich selbst. Als sie noch als aktive Agentin häufig in feindlichem Territorium tätig war, hätte sie nie so lange gewartet, um diese kleine neurale Anpassung durchzuführen. Sie war nachlässig geworden, und das war unverzeihlich. Besonders jetzt, nachdem das Schiff zurückgekehrt war, ein Ereignis, das für das Mutternest womöglich von nicht geringerer Tragweite war als alle Kriegseinsätze in jüngster Zeit zusammengenommen.
Sie fühlte sich jetzt hellwach. Die alte Skade war noch nicht tot; man musste sie nur hin und wieder vom Staub befreien und nachschleifen wie ein stumpf gewordenes Messer.
[Skade, du musst sehr vorsichtig sein. Das Schiff hat eine sehr ungewöhnliche Reise hinter sich, das sieht man sofort.]
Die Stimme war leise, weiblich und ausschließlich in ihrem eigenen Kopf zu hören. Skade antwortete stumm.
Ich weiß.
[Hast du es schon identifiziert? Kannst du sagen, welches von den beiden es ist oder war?]
Es ist Galianas Schiff.
Nachdem Skade das Schiff vollends umkreist hatte, bildete sich in ihrem visuellen Kortex ein dreidimensionales Abbild davon, umgeben von einem Gewirr von eidetischen Anmerkungen, die sich mit jeder neuen Information, die dem Rumpf entlockt wurde, veränderten.
[Galiana? Die Galiana? Bist du ganz sicher?]
Ja. Es gab kleine Unterschiede zwischen den drei Schiffen, die gemeinsam starteten, und nach den Übereinstimmungen zwischen diesem Schiff und den beiden, die noch nicht zurückgekehrt sind, muss es das ihre sein.
Die Stimme antwortete nicht sofort, das passierte manchmal. [Auch wir sind zu diesem Schluss gekommen. Aber diesem Schiff muss nach dem Verlassen des Mutternestes etwas zugestoßen sein, meinst du nicht auch?]
Nicht nur einmal, wenn ihr mich fragt.
[Fangen wir vorne an und gehen wir zurück. Es sind Schäden zu registrieren in größerem Umfang: Risse und Schrammen, ganze Teile des Rumpfs scheinen entfernt worden zu sein wie krankes Gewebe. Glaubst du, es ist die Seuche?]
Skade rief sich ihre letzte Reise nach Chasm City in Erinnerung und schüttelte den Kopf. Ich habe aus der Nähe gesehen, was die Schmelzseuche anrichtet. Das hier kommt mir nicht so vor.
[Du hast Recht. Es ist etwas anderes. Dennoch sollte das Schiff unter strenge Quarantäne gestellt werden: vielleicht ist der Erreger ja noch aktiv. Siehst du dir bitte das Heck genauer an?]
Die Stimme, die immer etwas anders klang als die Stimmen der übrigen Synthetiker, schlug einen spöttischen, schulmeisterlichen Ton an, so als wären ihr die Antworten auf ihre Fragen bereits bekannt. [Was hältst du von den regelmäßigen Einbettungen im Rumpf, Skade?]
An mehreren Stellen waren Gruppen von unterschiedlich großen und unterschiedlich ausgerichteten Würfeln in den Rumpf hineingepresst worden wie in feuchten Lehm, so tief, dass sie zur Hälfte im Rumpfmaterial verschwanden. Von diesen Kernen wölbten sich kleinere Würfel in eleganten fraktalen Bögen strahlenförmig nach allen Seiten.
Ich würde sagen, man hat verschiedentlich versucht, diese Gebilde herauszuschneiden. Aber man war offensichtlich zu langsam, um sie alle zu erwischen.
[Wir pflichten dir bei. Was immer sie sein mögen, man sollte sie mit äußerster Vorsicht behandeln, auch wenn sie vielleicht längst nicht mehr aktiv sind. Vielleicht konnte Galiana verhindern, dass sie sich ausbreiteten. Immerhin hat es das Schiff, wenn auch nur mit Autopilot, bis hierher geschafft. Bist du ganz sicher, dass an Bord niemand mehr lebt, Skade?]
Nein, um das sagen zu können, müssen wir das Schiff öffnen. Aber ich habe wenig Hoffnung. Keine Bewegung im Inneren, keine ausgeprägten Wärmesignaturen. Der Rumpf ist zu kalt für alle lebenserhaltenden Prozesse, es sei denn, das Schiff wäre mit einer kryo-arithmetischen Anlage ausgestattet.
Skade hielt kurz inne, während im Hintergrund ihres Bewusstseins weitere Simulationen abliefen.
[Skade …?]
Zugegeben, eine kleine Zahl von Überlebenden wäre möglich – aber der Löwenanteil der Besatzung kann allenfalls aus Gefrierleichen bestehen. Vielleicht lassen sich ein paar Erinnerungen trawlen, aber selbst das ist wahrscheinlich schon allzu optimistisch.
[Unser Interesse gilt eigentlich nur einer einzigen Leiche, Skade.]
Ich weiß nicht einmal, ob Galiana an Bord ist. Und selbst wenn … selbst wenn wir alles täten, um sie ins Leben zurückzuholen … wir würden es nicht unbedingt schaffen.
[Wir verstehen. Wir leben in unruhigen Zeiten. So ruhmreich ein Erfolg wäre, zu scheitern wäre schlimmer, als hätte man es nie versucht. Zumindest in den Augen des Mutternests.]
Ist das Nachtkonzil zu diesem Schluss nach reiflicher Überlegung gelangt?
[Wir äußern uns immer erst nach reiflicher Überlegung, Skade. Ein offenkundiger Misserfolg wäre nicht tragbar. Das heißt jedoch nicht, dass wir nicht alles versuchen werden. Wenn Galiana an Bord ist, werden wir uns nach Kräften bemühen, sie zurückzuholen. Aber das muss unter absoluter Geheimhaltung geschehen.]
Wie absolut?
[Man wird dem Rest des Mutternestes nicht verheimlichen können, dass das Schiff zurückgekehrt ist. Aber wir können den anderen die Qualen der Hoffnung ersparen, Skade. Man wird verbreiten, sie wäre tot, und es wäre aussichtslos, sie wiederbeleben zu wollen. Lassen wir die Trauer unserer Nestgenossen so rasch und grell aufflammen wie eine Nova. Das wird sie anfeuern, noch energischer gegen den Feind vorzugehen. Indessen werden wir uns mit liebevollem Eifer um Galiana bemühen. Gelingt es uns, sie ins Leben zurückzuholen, so wird man von einem Wunder sprechen. Und man wird uns verzeihen, dass wir die Wahrheit zuvor ein wenig gebeugt hatten.]
Skade musste sich beherrschen, um nicht laut herauszulachen. ›Die Wahrheit gebeugt?‹ Für mich klingt das wie eine faustdicke Lüge. Und wie wollt ihr sicherstellen, dass sich Clavain an eure Geschichte hält?
[Wieso glaubst du, dass Clavain Schwierigkeiten machen könnte, Skade?]
Sie antwortete mit einer Gegenfrage. Soll das heißen, ihr wollt auch ihm nichts davon erzählen?
[Wir befinden uns im Krieg, Skade. Es gibt einen alten Sinnspruch über die Wahrheit als erstes Opfer des Krieges, mit dem wir dich jetzt nicht belästigen wollen, aber du begreifst sicher, worum es geht. Clavain ist ein wichtiger Bestandteil unseres taktischen Arsenals. Er denkt anders als der gewöhnliche Synthetiker, mit ihm sind wir dem Feind immer einen Schritt voraus. Er wird trauern wie alle anderen, sein Schmerz wird jäh und heftig sein. Doch danach, wenn wir ihn am nötigsten brauchen, wird er wieder der Alte sein. Ist das nicht besser, als ihm erst über längere Zeit Hoffnungen zu machen, um ihm dann – höchstwahrscheinlich – eine vernichtende Enttäuschung zu bereiten?]
Die Stimme schlug einen neuen Ton an, vielleicht spürte sie, dass Skade noch nicht vollends überzeugt war. [Clavain ist sehr emotional, Skade – mehr vielleicht als wir anderen. Er war nicht mehr jung, als er zu uns kam, sein neurologisches Alter war höher als bei allen anderen Neulingen, die wir jemals angeworben hatten. Er ist noch fest in alten Denkstrukturen verhaftet. Das dürfen wir niemals vergessen. Er ist so empfindlich wie eine zarte Treibhauspflanze und muss pfleglich behandelt werden.]
Aber ihn anzulügen, wenn es um Galiana geht …
[Dazu muss es nicht unbedingt kommen. Wir greifen den Ereignissen voraus. Zuerst müssen wir das Schiff untersuchen – womöglich ist Galiana ja gar nicht an Bord.]
Skade nickte. Das wäre das Beste, nicht wahr? Dann wüssten wir, dass sie immer noch irgendwo da draußen ist.
[Gewiss. Trotzdem müssen wir herausfinden, was dem dritten Schiff zugestoßen ist.]
In den fünfundneunzig Jahren seit dem Ausbruch der Schmelzseuche hatten die Synthetiker gelernt, mit ansteckenden Krankheiten umzugehen. Als eine der letzten Menschheitsgruppierungen, die noch in nennenswertem Umfang über Technologie aus der Zeit vor der Seuche verfügten, nahmen sie es mit der Quarantäne sehr ernst. In Friedenszeiten wäre es am einfachsten und sichersten gewesen, das Schiff an Ort und Stelle zu untersuchen, also im Weltraum am Rand des Systems. Doch jetzt liefe man Gefahr, dabei die Aufmerksamkeit der Demarchisten zu erregen, deshalb musste man im Verborgenen arbeiten. Das Mutternest hatte die erforderlichen Einrichtungen für die Aufnahme verseuchter Schiffe, deshalb war es das logischste Ziel.
Dennoch galt es, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, und dazu mussten gewisse Arbeiten im All erledigt werden. Zunächst durchtrennten Servomaten mit Laserbrennern die Holme zu beiden Seiten des konisch zulaufenden Lichtschiffrumpfs, an denen die Triebwerke angebracht waren. Eine Triebwerksexplosion könnte das Mutternest zerstören. Auch wenn sie so gut wie ausgeschlossen war, wollte Skade kein Risiko eingehen, solange sie noch nicht wusste, was dem Schiff zugestoßen war. Außerdem ließ sie mit Schleppraketen große Stücke unsublimiertes schwarzes Kometeneis heranschaffen. Die Servomaten klebten das Eis rasch, und ohne jemals mit den Schiffswänden in direkte Berührung zu kommen, auf den Rumpf, bis ein meterdicker Panzer entstanden war. Der ohnehin schon dunkle Schiffskörper war jetzt schwärzer als die Nacht.
Anschließend umgab Skade den Rumpf mit Schleppraketen, die sie mit Greifhaken im Eis verankerte. Beim Transport des Schiffs hatte das Eis gewaltige Spannungen auszuhalten, deshalb waren tausend Schlepper erforderlich, um zu verhindern, dass ein Teil des Panzers brach. Es war ein herrlicher Anblick, als sie alle zündeten und tausend winzige, eisig blaue Flammenpünktchen rings um den schmalen schwarzen Schiffsrumpf nach außen schossen. Skade hielt die Beschleunigung niedrig. Ihre Berechnungen waren so exakt gewesen, dass sie beim letzten Anflug auf das Mutternest nur einen einzigen kleinen Korrekturschub benötigte. Solche Schübe wurden zeitlich stets so gelegt, dass sie genau in die Lücken in der Sensorüberwachung fielen, von denen die Demarchisten glaubten, sie seien den Synthetikern nicht bekannt.
Im Innern des Mutternestes wurde der Rumpf in eine fünf Kilometer breite, mit Keramik ausgekleidete Andockbucht geschleppt, die eigens für Seuchenschiffe gebaut und groß genug war, um ein Lichtschiff aufzunehmen, wenn die Triebwerke demontiert waren. Die Keramikwände waren dreißig Meter dick, und alle technischen Geräte innerhalb der Bucht waren gegen die bekannten Seuchenstämme eigens abgeschirmt. Sobald das Schiff festgemacht hatte, wurde der Raum hermetisch abgedichtet. Skades handverlesenes Untersuchungsteam wurde mit eingeschlossen. Da die Bucht nur die allernötigsten Datenverbindungen zum Rest des Mutternestes hatte, musste das Team in der Lage sein, auf den Kontakt zu der Million anderer Synthetiker im Mutternest zu verzichten. Dank dieser Bedingung bekam man nicht immer die psychisch stabilsten Agenten – aber Skade durfte sich darüber nicht beklagen, war sie doch selbst die größte Ausnahme überhaupt: ein Synthetiker, der ganz allein tief in feindlichem Territorium eingesetzt werden konnte.
Nun wurde die Bucht unter Argon mit zwei Atmosphären Druck gesetzt. Das Eis wurde bis auf eine dünne Schicht vorsichtig abgetragen. Der Rest schmolz über einen Zeitraum von sechs Tagen ab. Sensoren umschwärmten das Schiff wie eine Schar Möwen und untersuchten das Argon auf Spuren von Fremdmaterie. Doch bis auf feine Splitter Rumpfmaterial wurde nichts Ungewöhnliches entdeckt.
Skade ließ sich Zeit, traf alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen und wartete, so lange es irgend ging, bis sie das Schiff direkt berührte. Zunächst schwirrte ein ringförmiger Gravitationsscanner am Rumpf entlang, tastete die Innenkonstruktion ab und zeigte die ersten verschwommenen Einzelheiten. Vieles, was Skade auf den Bildern sah, deckte sich mit dem, was sie nach den Plänen erwartet hatte, aber es gab auch seltsame Gebilde, die hier nichts zu suchen hatten: längliche schwarze Massen, die sich vielfach verzweigt durch das Schiffsinnere schraubten und an Schussbahnen auf forensischen Bildern oder an die Muster subatomarer Teilchen auf dem Weg durch die Nebelkammer erinnerten. Wo immer diese schwarzen Gebilde die Außenwände berührten, fand Skade eines der Nester aus tief eingebetteten Würfeln.
Trotz alledem blieb im Schiff genügend Raum, dass Menschen hätten überleben können, auch wenn alles darauf hinwies, dass es kein Leben mehr gab. Mit Neutrino-Radar und Gammastrahlenscannern konnte Skade zwar tiefer ins Innere vordringen, aber die wichtigen Details waren noch immer nicht zu erkennen. So leitete sie zögernd die nächste Phase der Untersuchung ein: den physischen Kontakt. Sie befestigte Dutzende von Presslufthämmern am Rumpf und klebte hunderte von Mikrofonen dazwischen. Dann begannen die Hämmer gegen den Rumpf zu schlagen. Das Argon leitete den Schall, so dass sie die Schläge in ihrem Raumanzug hören konnte. Es klang, als wäre in einer weit entfernten Gießerei ein Heer von Grobschmieden mit Feuereifer an der Arbeit. Die Schallwellen durchdrangen das Schiff, und die Mikrofone fingen die zurückgeworfenen Echos auf. Eines von Skades älteren Neuralprogrammen entschlüsselte die in den Ankunftszeiten verborgene Information und erstellte daraus ein tomographisches Dichteprofil.
Ein Bild in gespenstischem Graugrün entstand, das keine Widerspruche zu den bisherigen Erkenntnissen enthielt, ihr aber verschiedene neue Einsichten vermittelte. Mehr konnte sie nicht mehr in Erfahrung bringen, ohne sich selbst ins Innere zu begeben, aber das erwies sich als nicht so einfach. Alle Luftschleusen waren von innen mit Schweißpunkten aus flüssigem Metall verschlossen worden. Während sie langsam und nervös mit Lasern und Hyperdiamantbohrern diese Punkte durchschnitt, glaubte sie die Angst, die Verzweiflung der Besatzung förmlich zu spüren. Als die erste Schleuse offen war, schickte sie einen Erkundungstrupp aus besonders widerstandsfähigen Servomaten hinein, Krebse mit Keramikpanzern, die gerade so viel Intelligenz besaßen, wie für diesen Auftrag nötig war. Die Servomaten leiteten Bilder in ihren Kopf.
Skade war entsetzt.
Die Besatzung war brutal abgeschlachtet worden. Einen Teil der Leute hatte man auseinander gerissen, zerquetscht, zerschnitten, zertreten und zerfetzt. Andere waren verbrannt, erstickt oder erfroren. Und es war kein schneller Tod gewesen. Skade fügte die Eindrücke zu einem Szenarium zusammen: in verschiedenen Teilen des Schiffs hatten heftige, ja verzweifelte Kämpfe stattgefunden, die Mannschaft hatte sich vor den Eindringlingen hinter notdürftigen Barrikaden verschanzt. Das Schiff selbst hatte sich nach Kräften bemüht, die Menschen in seiner Obhut zu schützen, indem es immer wieder die Innenaufteilung veränderte, um den Feind auf Abstand zu halten. Manche Bereiche hatte es mit Kühlmittel geflutet oder unter Druckluft gesetzt, und dort fand Skade leblose Maschinen, fremdartige, unästhetische Gebilde, zusammengesetzt aus tausenden von schwarzen geometrischen Körpern.
Sie stellte eine Hypothese auf. Das war nicht allzu schwierig. Die Würfel hatten sich an die Außenseite von Galianas Schiff geheftet. Dort hatten sie sich vermehrt und vergrößert und dabei die Schiffshülle absorbiert und umgewandelt. In dieser Hinsicht bestand tatsächlich Ähnlichkeit mit der Schmelzseuche. Doch deren Erreger waren mikroskopisch kleine Sporen, die man mit bloßem Auge nicht erkennen konnte. Diese Krankheit war brutaler, mechanistischer, fast schon faschistisch in der Art ihrer Ausbreitung. Die Seuche ließ der transformierten Materie wenigstens einen Teil ihrer ursprünglichen Eigenschaften, so dass fantastische Chimären aus Maschine und Fleisch entstanden.
Nein, dachte Skade. Hier hatte sie es gewiss nicht mit der Schmelzseuche zu tun, so beruhigend das auch gewesen wäre.
Die Würfel hatten sich in das Schiff hineingebohrt und Angriffsmaschinen gebildet – Maschinensoldaten, die von den Infektionsherden aus langsam vorrückten und die Besatzung masakrierten. Den Überresten nach zu urteilen waren sie schwerfällig und asymmetrisch, eher wie Hornissenschwärme denn wie Individuen. Wahrscheinlich konnten sie sich durch die schmalsten Öffnungen zwängen und sich auf der anderen Seite wieder neu bilden. Dennoch hatte der Kampf lange gedauert. Skade schätzte, dass das Schiff erst nach vielen Tagen, vielleicht sogar Wochen gefallen war.
Die Vorstellung ließ sie erschauern.
Einen Tag, nachdem ihre Servomaten das Schiff zum ersten Mal betreten hatten, fanden sie menschliche Körper, die fast unversehrt waren. Nur die Köpfe waren unter schwarzen, aus Würfeln bestehenden Helmen verschwunden. Die Alien-Maschinen waren nicht aktiv. Die Servomaten entfernten Teile der Helme und stellten fest, dass die Würfel spitze Ausläufer durch die Augenhöhlen, die Ohren oder die Nasen in die Köpfe der Leichen vorgeschoben hatten. Bei genauerer Untersuchung zeigte sich, dass sich die Wucherungen so oft verzweigten, bis sie mikroskopisch dünn waren. Diese Fäden waren tief in die Gehirne der Toten eingedrungen und hatten die Maschinen mit den dort angesiedelten Synthetiker-Implantaten verbunden.
Doch jetzt waren die Schmarotzer genauso tot wie ihre Wirte.
Die Schiffsunterlagen waren nicht mehr zu entschlüsseln. Skade musste sich selbst zusammenreimen, was geschehen war;. Galiana war einer feindlichen Macht begegnet, so viel war klar, aber warum hatten die Würfel ihr Schiff nicht auf einen Schlag zerstört, anstatt es langsam und systematisch zu unterwandern? Das wäre nur dann sinnvoll gewesen, wenn sie es so lange wie möglich hätten erhalten wollen.
Es hatte noch ein Schiff gegeben: zwei waren weitergeflogen – was mochte aus dem anderen geworden sein?
[Eine Idee, Skade?]
Schon, aber keine, die mir gefällt.
[Du glaubst doch, die Würfel wollten so viel wie möglich in Erfahrung bringen?]
Ich finde keine andere Erklärung. Sie zapfen das Bewusstsein der Besatzung an und greifen auf ihre Neuralimplantate zu. Sie waren hinter Informationen her.
[Richtig. Das sehen wir auch so. Die Würfel haben sicher eine Menge über uns in Erfahrung gebracht. Damit stellen sie eine Bedrohung dar, auch wenn wir noch nicht wissen, wo Galiana war, als sie von ihnen überfallen wurde. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer, nicht wahr?]
Skade sah weit und breit keinen solchen Schimmer. Die Menschen hatten Jahrhunderte lang nach einer eindeutig fremden Intelligenz gesucht. Doch bisher hatten sie nur verlockende Hinweise gefunden – auf die Musterschieber, die Schleierweber und acht oder neun tote Kulturen, von denen nur archäologische Reste geblieben waren. Niemals waren sie auf eine noch existierende, Maschinen verwendende Intelligenz gestoßen, an der sie sich hätten messen können.
Bis jetzt.
Doch diese Maschinen verwendende Intelligenz hatte offenbar nichts anderes im Sinn, als ihnen aufzulauern, sie zu unterwandern, abzuschlachten und in ihre Schädel einzudringen.
Skade musste einräumen, dass der erste Kontakt nicht gerade ein berauschender Erfolg gewesen war.
Hoffnung? Ist das euer Ernst?
[Durchaus, Skade, wir wissen nämlich nicht, ob die Würfel ihr Wissen jemals an die Instanz zurücksenden konnten, von der sie geschickt wurden. Immerhin hat es Galianas Schiff bis nach Hause geschafft. Sie muss es hierher gesteuert haben, und das hätte sie niemals getan, wenn sie hätte befürchten müssen, den Feind damit zu uns zu führen. Clavain wäre stolz auf sie. Sie hatte immer noch an uns gedacht; an das Mutternest.]
Aber sie hat riskiert …
Die Stimme des Nachtkonzils fiel ihr scharf ins Wort. [Das Schiff soll uns warnen, Galiana. Das war Galianas Absicht, und so müssen wir sie verstehen.]
Warnen?
[Wir sollen uns bereithalten. Sie sind noch immer da draußen, und wir werden ihnen wieder begegnen, so oder so.]
Das klingt ja fast so, als stünden sie schon vor der Tür.
Doch darauf antwortete das Nachtkonzil nicht mehr.
Galiana fanden sie erst eine Woche später, denn das Schiff war riesig und ließ sich dank der vielen Veränderungen im Inneren nicht so rasch durchkämmen. Skade war selbst mit den Suchtrupps hineingegangen. Alle trugen dicke Keramikpanzer über den Druckanzügen, Plattenkonstruktionen mit geölten Scharnieren, die so schwerfällig waren, dass man jede Bewegung sorgfältig vorausplanen musste. Nachdem Skade sich in den ersten Minuten mehrfach in Positionen festgefahren hatte, aus denen sie sich nur befreien konnte, wenn sie Aktion für Aktion mühsam zurückverfolgte, schrieb sie rasch ein Korrekturprogramm für den Bereich Körperwahrnehmung/Bewegung und legte es auf eine Gruppe von freien Neuralschaltkreisen. Danach ging es etwas besser, obwohl sie nun das unangenehme Gefühl hatte, von einem schemenhaften Doppelgänger manipuliert zu werden. Sie nahm sich vor, das Skript später noch einmal dahingehend zu überarbeiten, dass alle Routinebewegungen ganz und gar gewollt erschienen, so illusorisch das auch sein mochte.
Inzwischen hatten die Servomaten mehr oder weniger ihre Schuldigkeit getan. Sie hatten große Teile des Schiffes gesichert, indem sie die Reste der Alien-Maschinen mit einer Schicht Diamantfaser-Epoxid besprühten, und von den meisten Leichen in den erforschten Zonen DNA-Proben genommen. Jede Probe des genetischen Materials war mit den Manifesten abgeglichen worden, die seit dem Start der Forschungsflotte im Mutternest aufbewahrt wurden, doch auf der Liste standen immer noch viele Namen, zu denen es keine DNA-Probe gab.
Es würden zwangsläufig Namen übrig bleiben, denen Skade nie eine Probe zuordnen konnte. Als Clavain mit dem ersten Schiff zurückgekehrt war, hatte er dem Mutternest mitgeteilt, man habe Dutzende von Lichtjahren entfernt im All den Entschluss gefasst, die Expedition zu teilen. Eine Gruppe wollte nach Hause zurückkehren, um den Gerüchten über einen Krieg gegen die Demarchisten nachzugehen, und weil es an der Zeit war, die bereits gesammelten Daten abzuliefern – das Material war viel zu umfangreich, als dass man es noch hätte senden können.
Man hätte sich nicht im Bösen getrennt. Wehmut und Trauer seien spürbar gewesen, hätten aber die Eintracht nicht trüben können. Nach den üblichen Debatten, die jedem Entscheidungsprozess bei den Synthetikern vorangingen, sei man schließlich zu der Erkenntnis gekommen, die sinnvollste Lösung sei eine Trennung. Auf diese Weise könnte die Expedition fortgesetzt und gleichzeitig gewährleistet werden, dass das bereits Erreichte auch ans Ziel gelangte. Skade wusste also genau, wer den Flug ins Weltall fortgesetzt hatte, aber sie konnte nicht in Erfahrung bringen, was im Anschluss daran geschehen war. Es war zu vermuten, dass die Besatzungen zwischen den beiden Schiffen hin und her gewechselt hatten. Daraus, dass dies Galianas Schiff war, folgte noch lange nicht, dass auch sie selbst sich auf diesem Schiff befand. Und wenn dies nicht der Fall sein sollte, musste sich Skade zwangsläufig auf eine herbe Enttäuschung gefasst machen.
Und das gesamte Mutternest mit ihr. Schließlich war Galiana so etwas wie das Idol aller Synthetiker, die Frau, die vierhundert Jahre zuvor und elf Lichtjahre entfernt in einem Labyrinth von Laboratorien unter der Marsoberfläche die Synthese begründet hatte. Nun weilte sie schon fast zweihundert Jahre lang in der Ferne, lange genug, um zum Mythos zu werden, was sie stets abgelehnt hatte, solange sie noch im Nest war. Und sie war – vorausgesetzt, sie fuhr wirklich auf diesem Schiff – ausgerechnet zu dem Zeitpunkt zurückgekehrt, als Skade Wache hielt. Dass sie höchstwahrscheinlich wie alle anderen tot war, spielte kaum eine Rolle. Skade wäre auch damit zufrieden gewesen, ihre Überreste nach Hause zu bringen.
Aber sie fand mehr als das.
Galianas letzte Ruhestätte, wenn man es so nennen konnte, lag weit vom Zentrum des Schiffes entfernt. Sie hatte sich abseits von den anderen hinter gepanzerten Barrikaden verschanzt. Eine eingehende forensische Untersuchung ergab, dass alle Datenverbindungen zwischen ihr und dem Rest des Schiffes absichtlich von ihrer Seite her durchtrennt worden waren. Sie hatte es offensichtlich darauf angelegt, sich zu isolieren und ihr Bewusstsein vor den anderen Synthetikern auf dem Schiff zu verschließen.
Selbstmord oder Selbsterhaltung?, überlegte Skade.
Galiana lag im Kälteschlaf. Sie war so weit heruntergekühlt, dass alle metabolischen Prozesse zum Stillstand gekommen waren. Aber das hatte die schwarzen Maschinen nicht abhalten können. Sie hatten die Panzerung des Kälteschlaftanks durchschlagen und sich zwischen die Frau und die Innenwände gezwängt. Skade und ihr Team bauten den Tank ab. Nun sahen sie, dass sich die schwarzen Maschinen um Galiana gelegt hatten wie die Bandagen einer Mumie. Dass sie es war, stand außer Zweifel: als man mit Diagnose-Scannern durch den Kokon spähte, stellte man fest, dass das Knochengerüst mit Galianas Skelett vollkommen übereinstimmte. Der Körper hatte während des Fluges offenbar keinen Schaden genommen und zeigte auch keine Verwesungserscheinungen. Die Sensoren fingen sogar schwache Signale von Galianas Netzimplantat auf. Sie waren nicht stark genug, um eine Verständigung von Bewusstsein zu Bewusstsein zu ermöglichen, aber sie bewiesen doch, dass etwas in diesem Kokon noch denken konnte und Kontakt suchte.
Nun richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Kokon selbst. Eine chemische Analyse der Würfel blieb ohne Ergebnis: sie schienen aus nichts zu ›bestehen‹ und auch keine Atomstruktur zu besitzen. Die Außenflächen waren glatte Wände aus purer Energie, die für bestimmte Formen von Strahlung durchlässig waren. Sie waren sehr kalt – und in einer Weise aktiv wie bisher keine von den anderen Maschinen. Einzelne Elemente ließen sich ohne weiteres aus der großen Masse herauslösen, schrumpften aber dann rasch zusammen und wurden mikroskopisch klein. Skades Team richtete seine Scanner auch auf diese Würfelchen, um herauszufinden, ob sich unter den Facetten noch etwas verbarg, aber man war nicht schnell genug und fand nur einige Mikrogramm schwelender Asche, wo eben noch ein Körper gewesen war. Vermutlich gab es im Innern einen Mechanismus, der darauf programmiert war, die Maschine unter gewissen Bedingungen zu zerstören.
Nachdem Skades Leute die Schutzschicht zum großen Teil abgetragen hatten, verlegten sie Galiana in einen Spezialraum, der in eine Wand der Quarantänebucht eingelassen war. Dort gingen sie bei extrem tiefen Temperaturen, um möglichst nicht noch mehr Schaden anzurichten, mit äußerster Vorsicht und mit viel Geduld daran, die letzte Würfelschicht abzulösen.
Seit der schwarze Panzer nicht mehr so dick war, konnte man etwas besser erkennen, was mit Galiana geschehen war. Die schwarzen Maschinen waren tatsächlich auch in ihren Kopf eingedrungen, aber sie waren offenbar behutsamer vorgegangen als bei den Mitgliedern ihrer Besatzung. Teilweise waren Implantate abgebaut worden, um den fremden Maschinen Platz zu machen, aber es gab keine Anzeichen dafür, dass wichtige Hirnstrukturen beschädigt worden wären. Man bekam fast den Eindruck, als hätten die Würfel bis dahin nur geübt, in Menschenschädel einzudringen, und bei Galiana wäre es ihnen endlich gelungen, ihren Wirt dabei nicht zu verletzen.
Mit einem Mal wurde Skade von überschäumendem Optimismus erfasst. Die schwarzen Gebilde waren an einem Ort konzentriert und inaktiv. Mit den richtigen Nanomaschinen müsste es möglich – sogar kinderleicht – sein, sie Würfel für Würfel auseinander zu nehmen und aus Galianas Schädel auszuschwemmen.
Wir schaffen es. Wir holen sie zurück, sie wird wieder so, wie sie einst war.
[Immer mit der Ruhe, Skade. Noch sind wir nicht am Ziel.]
Wie sich zeigte, hatte das Nachtkonzil mit seiner Warnung Recht. Skades Team begann mit der Entfernung der letzten Schicht an Galianas Füßen und stellte erfreut fest, dass das Gewebe darunter größtenteils unversehrt war. Langsam arbeitete man sich weiter nach oben vor und erreichte schließlich den Hals. Alle waren zuversichtlich, dass man sie wieder auf Körpertemperatur bringen könnte, auch wenn es schwieriger sein würde als bei einer normalen Kälteschlaf-Reanimation. Doch als man begann, ihr Gesicht freizulegen, zeigte sich, dass die Arbeit noch längst nicht beendet war.
Die Würfel setzten sich unerwartet in Bewegung. Sie türmten sich übereinander, purzelten wieder herunter und schoben sich, ein abscheulicher Anblick, wellenförmig weiter. Wie ein lebender Ölteppich ergoss sich der letzte Teil des Kokons in Galianas Inneres. Die schwarze Flut rann ihr in den Mund, in die Nase, in die Ohren und sogar um die Augäpfel herum in die Augenhöhlen.
Sie sah so aus, wie Skade gehofft hatte: strahlend wie eine Königin, die in ihr Reich zurückkehrte. Selbst das lange Haar war noch vorhanden, gefroren und brüchig zwar, aber genauso schwarz wie damals, als sie fortgegangen war. Doch nun hatten sich die schwarzen Maschinen erneut in ihrem Kopf eingenistet und lagerten sich an die bereits vorhandene Formation an. Die Scans zeigten, dass ihr eigenes Hirngewebe immer noch kaum angegriffen war, aber große Teile des Implantatgewebes waren abgebaut worden, um Platz für den Eindringling zu schaffen. Der schwarze Parasit sah aus wie ein Krebs, der klauenbewehrte Tentakel in verschiedene Teile ihres Gehirns ausschickte.
Im Lauf von etlichen Tagen erwärmten Skade und ihr Team Galiana auf etwas unter normale Körpertemperatur. Dabei beobachteten sie den Eindringling ununterbrochen, aber er blieb auch dann unverändert, als Galianas noch verbliebene Implantate auftauten und die Verbindung zu ihrem Hirngewebe wiederherstellten.
Skade schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht hatten sie doch noch Erfolg?
Sie hätte beinahe Recht behalten.
Sie hörte eine Stimme. Es war eine menschliche Stimme, die Stimme einer Frau, ohne das Timbre – jenen gottähnlich anmutenden Nicht-Klang –, an dem sie gewöhnlich erkannte, dass die Stimme aus ihrem eigenen Kopf kam. Diese Stimme war in einem menschlichen Kehlkopf geformt und auf dem Weg durch etliche Meter Luft mehrfach kaum merklich verzerrt worden, bevor sie von einem menschlichen Gehör entschlüsselt wurde. Stimmen wie diese hatte sie schon sehr lange nicht mehr gehört.
Die Stimme sagte: »Hallo, Galiana.«
Wo bin ich?
Sie erhielt keine Antwort. Wenig später sagte die Stimme freundlich: »Auch du wirst sprechen müssen, wenn du kannst. Du brauchst es nur zu versuchen; der Trawl übernimmt den Rest, er fängt die Absicht auf und übermittelt sie in Form von elektrischen Signalen an deinen Kehlkopf. Aber es genügt leider nicht, die Antwort nur zu denken – zwischen deinem und meinem Bewusstsein besteht keine direkte Verbindung.«
Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Worte bei ihr eintrafen. Gesprochene Sprache war nach Jahrhunderten der Neuralverbindung so entsetzlich langsam und linear, auch wenn Syntax und Grammatik vertraut waren.
Sie machte den ersten Sprechversuch und hörte mechanisch verstärkt ihre eigene Stimme: »Warum nicht?«
»Dazu kommen wir noch.«
»Wo bin ich? Wer bist du?«
»Du bist gesund und munter. Du bist zu Hause; im Mutternest. Wir haben dein Schiff geborgen und dich reanimiert. Mein Name ist Skade.«
Galiana hatte bisher um sich herum nur schemenhafte Umrisse wahrgenommen, doch jetzt wurde es heller. Sie lag, nicht ganz flach, auf dem Rücken in einem Behälter, der an einen Kälteschlaftank erinnerte, aber keinen Deckel hatte, so dass sie der Luft ausgesetzt war. Aus dem Augenwinkel nahm sie Bewegungen wahr, aber sie selbst konnte keinen Teil ihres Körpers bewegen, nicht einmal die Augen. Eine verschwommene Gestalt erschien vor ihr, beugte sich über den offenen Tank und wurde scharf.
»Skade? Ich kann mich nicht an dich erinnern.«
»Natürlich nicht«, antwortete die Fremde. »Ich wurde erst nach deiner Abreise in die Synthese aufgenommen.«
Sie hatte viele – tausende – von Fragen auf dem Herzen. Aber sie konnte sie nicht alle auf einmal stellen, schon gar nicht, wenn sie sich auf diese veraltete und so unglaublich schwerfällige Art verständigen sollte. Aber irgendwo musste sie anfangen. »Wie lange war ich fort?«
»Fast auf den Monat genau einhundertneunzig Jahre. Abgereist bist du im Jahr …«
»2415«, ergänzte Galiana prompt.
»… Richtig. Und jetzt haben wir 2605.«
Galiana konnte sich an vieles nicht genau erinnern, und manches wollte sie wohl auch lieber vergessen. Aber das Wesentliche war klar. Unter ihrer Führung hatten drei Schiffe das Mutternest verlassen und waren ins Weltall geflogen. Es sollte eine Forschungsreise werden. Man wollte bis dahin unbekannte Welten jenseits der Grenzen des von Menschen besiedelten Weltraums ansteuern, um nach höheren fremden Lebensformen zu suchen. Als Gerüchte von einem Krieg die drei Schiffe erreichten, war eines von ihnen nach Hause zurückgekehrt. Die beiden anderen waren weitergeflogen und hatten noch viele Sonnensysteme besucht.
So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht genau sagen, was aus dem zweiten Schiff geworden war, das die Mission fortgesetzt hatte. Sie spürte nur Trauer, tiefe Erschütterung, eine schreiende Leere in ihrem Kopf, wo eigentlich viele Stimmen hätten sein sollen.
»Meine Besatzung?«
»Dazu kommen wir noch«, sagte Skade wieder.
»Und Clavain und Felka? Haben sie es geschafft? Wir hatten uns im All von ihnen verabschiedet; sie sollten ins Mutternest zurückkehren.«
Skade ließ eine erschreckend lange Pause eintreten, bevor sie endlich antwortete: »Sie sind zurückgekehrt.«
Galiana hätte gern geseufzt, aber das war ihr nicht möglich. Überrascht spürte sie, wie erleichtert sie war; erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Lieben sie belastet hatte.
Nun folgten ein paar Atemzüge seliger Stille. Galiana sah sich diese Skade genauer an. Manches war noch genau so wie bei den Synthetikern ihrer eigenen Epoche. Die schlichten schwarzen Schlafanzughosen etwa und die schwarze, lose gegürtete Jacke aus seidig glänzendem Stoff, ohne jeden Zierat und ohne Rangabzeichen. Eine blasse, asketisch wirkende Frau, so mager, dass sie fast ausgehungert wirkte. Das Gesicht war glatt wie eine Wachsmaske – nicht unattraktiv, aber ohne die kleinen Fältchen, die eine lebhafte Mimik verraten hätten. Kopf und Gesicht waren völlig unbehaart, was ihr das Aussehen einer unfertigen Puppe verlieh. So weit war sie wie tausend andere Synthetiker: ohne Bewusstseinsverbindung und ohne die übliche Wolke von projizierten Fantasien, die ihnen Individualität verliehen, waren sie manchmal schwer auseinander zu halten.
Dennoch hatte Galiana noch nie einen Synthetiker wie Skade gesehen. Denn Skade hatte einen Mähnenkamm – ein steifes, schmales Gebilde, das ihr zwei Zentimeter über der Nase aus der Stirn wuchs und sich genau auf der Scheitellinie über den Kopf nach hinten wölbte. Die Oberkante war hart und verknöchert, aber die Seiten waren von wunderbar feinen senkrechten Rillen durchzogen, die in allen Farben spielten: die kleinste Kopfbewegung ließ Wellen von Stahlblau oder grellem Orange oder einen Wasserfall von Regenbogentönen entstehen. Lichtbeugung war freilich nicht die einzige Erklärung, denn Galiana sah auch dann verschiedene Farben durch den Kamm pulsieren, wenn sich der Einfallswinkel nicht veränderte.
»Warst du immer schon so, Skade?«, fragte sie.
Skade strich sich sanft über den Kamm. »Nein. Dies ist eine Synthetikerprothese, Galiana. In deiner Abwesenheit ist manches anders geworden. Die Besten von uns denken schneller, als du es dir jemals hättest träumen lassen.«
»Die Besten von euch?«
»Das war nicht so gemeint. Aber bei einigen von uns stößt der normale Körperbau an seine Grenzen. Die Implantate in unseren Köpfen erhöhen die Denkgeschwindigkeit auf das Zehn- bis Fünfzehnfache, aber dabei entsteht zusätzliche Wärme, die der Körper nicht mehr ableiten kann. Mein Blut wird zuerst in den Kamm und dann in das Rillennetz gedrückt, wo es die überschüssige Wärme abgibt. Durch die Rillen wird die Oberfläche weitestmöglich vergrößert, außerdem können sie durch leichte Bewegungen Luftströmungen erzeugen. Man sagt mir, sie seien auch optisch ansprechend, aber das spielt keine Rolle. Eigentlich haben wir uns das Prinzip bei den Dinosauriern abgeschaut. Sie waren nicht so dumm, wie man oft glaubt.« Wieder strich sie sich über den Kamm. »Aber keine Sorge, Galiana. Nicht alles ist anders geworden.«
»Wir hörten, es hätte einen Krieg gegeben«, sagte Galiana. »Wir waren fünfzehn Lichtjahre entfernt, als wir die Berichte erhielten. Zuerst natürlich die Seuche … und dann dieser Krieg. Wir wurden nicht klug daraus. Die Berichte behaupteten, wir wollten gegen die Demarchisten, unsere alten Verbündeten, zu Felde ziehen.«
»Das hatte schon seine Richtigkeit«, sagte Skade mit leisem Bedauern.
»Aber warum in Gottes Namen?«
»Es war die Seuche. Sie hat die demarchistische Gesellschaft zerstört, so dass im Raum um Yellowstone ein ausgedehntes Machtvakuum entstand. Daraufhin wurden wir von der Demarchie aufgefordert, eine Interimsregierung aufzubauen und Chasm City und die Satellitengemeinden zu verwalten. Wir dachten, besser wir, als eine von den anderen Parteien. Kannst du dir vorstellen, welches Chaos die Ultras oder die Raumpiraten angerichtet hätten? Nun, ein paar Jahre lang ging alles gut, doch dann verlangten die Demarchisten Teile ihrer alten Macht zurück. Es gefiel ihnen nicht, dass wir das ganze System unter Kontrolle hatten, und sie waren nicht bereit, über eine friedliche Übernahme der Regierung zu verhandeln. Also kam es zum Krieg. Sie haben ihn vom Zaun gebrochen; darüber sind sich alle einig.«
Galiana spürte, wie ihr der Jubel zwischen den Fingern zerrann. Sie hatte gehofft, die Gerüchte würden sich als übertrieben herausstellen. »Aber wir haben offenbar gesiegt«, sagte sie endlich.
»… Nein. Nicht unbedingt. Der Krieg ist nämlich immer noch im Gange.«
»Aber seither sind doch …«
»Vierundfünfzig Jahre vergangen.« Skade nickte. »Ja, ich weiß. Natürlich hat es immer wieder Unterbrechungen gegeben, Waffenstillstände und kurze Phasen der Entspannung. Aber sie waren nicht von Dauer. Die alten ideologischen Gräben sind wieder aufgerissen wie nicht verheilte Wunden. Die Demarchisten haben uns nie voll vertraut, und wir haben sie immer als reaktionäre Maschinenstürmer betrachtet, die nicht akzeptieren wollten, dass die Entwicklung der Menschheit in eine neue Phase getreten war.«
Zum ersten Mal, seit Galiana erwacht war, spürte sie hinter den Augen einen seltsamen Druck wie vor einer Migräne. Und plötzlich schoss aus dem ältesten Teil ihres Säugetiergehirns ein Schwall von Urängsten nach oben, die Panik eines Verfolgten, der weiß, dass ihm eine Horde von schwarzen Räubern dicht auf den Fersen ist.
Maschinen, sagte eine Erinnerung. Maschinen wie Wölfe. Sie kamen aus dem interstellaren Raum und peilten deine Abgasflamme an.
Du hast sie Wölfe genannt, Galiana.
Sie.
Uns.
Dann war es vorüber.
»Aber wir hatten so lange gut zusammengearbeitet«, sagte Galiana. »Sicherlich lässt sich wieder eine gemeinsame Basis finden: Wir haben dringendere Probleme, als einen kleinlichen Machtkampf um die Herrschaft über ein einzelnes System zu führen.«
Skade schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dafür ist es zu spät. Zu viele Tote, zu viele gebrochene Versprechungen, zu viele Gräueltaten. Der Konflikt hat sich ausgeweitet und alle Systeme erfasst, in denen Synthetiker und Demarchisten leben.« Sie lächelte, aber das Lächeln wirkte so gekünstelt, als würde ihr Gesicht sofort zu seiner nichtssagenden Neutralität zurückkehren, wenn sie die Muskeln entspannte. »Aber die Lage ist nicht ganz so verzweifelt, wie du vielleicht glaubst. Wir steuern langsam aber sicher auf einen Sieg zu. Clavain ist vor zweiundzwanzig Jahren zurückgekehrt und hat sofort sein Gewicht in die Waagschale geworfen. Bis dahin waren wir in der Defensive gewesen, wir hatten den Fehler gemacht, uns wie ein echtes Kollektivbewusstsein zu verhalten. Dadurch waren wir für den Feind sehr berechenbar geworden. Clavain hat uns aus dieser Falle herausgeholt.«
Galiana bemühte sich, die Erinnerung an die Wölfe zu verdrängen und versetzte sich zurück in die Zeit, als sie Clavain kennen gelernt hatte. Es war auf dem Mars gewesen. Er hatte als Soldat in der Koalition für Neurale Reinheit gegen sie gekämpft. Die Koalition hatte ihre Experimente zur Bewusstseinserweiterung abgelehnt und die völlige Vernichtung der Synthetiker für den einzig akzeptablen Ausgang jenes Krieges gehalten.
Doch Clavain hatte mehr Weitblick besessen. Als ihr Gefangener hatte er ihr zunächst begreiflich gemacht, wie beängstigend ihre Experimente für den Rest des Systems gewesen sein mussten. Sie hatte das nie so recht einsehen wollen, doch Clavain hatte es ihr in diesen langen Monaten immer wieder geduldig erklärt. Später, nach seiner Befreiung, als man über die Bedingungen für einen Waffenstillstand verhandelte, hatte er die Demarchisten als neutralen Dritten ins Spiel gebracht. Sie hatten den Waffenstillstandsvertrag aufgesetzt, und Clavain hatte Galiana so lange bedrängt, bis sie ihn unterzeichnete. Es war ein Meisterstück gewesen, das Fundament für ein Bündnis zwischen Demarchisten und Synthetikern, das Jahrhunderte überdauerte, bis die Koalition für Neurale Reinheit kaum noch eine Fußnote der Geschichte war. Die Synthetiker konnten ihre neurologischen Experimente fortsetzen, und sie wurden geduldet und sogar gefördert, solange kein Versuch unternommen wurde, andere Kulturen zu integrieren. Die Demarchisten nützten die Synthetiker-Technologie und vermarkteten sie an andere Menschheitsparteien.
Alle waren zufrieden.
Doch im Grunde hatte Skade Recht: das Bündnis war nie frei von Spannungen gewesen. Früher oder später lief fast alles auf einen Krieg zu – besonders, wenn eine Katastrophe wie die Schmelzseuche dazwischen kam.
Aber volle vierundfünfzig Jahre? Das hätte Clavain niemals zugelassen, dachte sie. Er hätte nicht tatenlos zugesehen, während alles, was sich die Menschen aufgebaut hatten, sinnlos zerstört wurde. Entweder hätte er einen Weg gefunden, den Streit ein für alle Mal zu beenden, oder er hätte sich zumindest um einen dauerhaften Waffenstillstand bemüht.
Der migräneähnliche Druck war nicht verschwunden, sondern sogar ein wenig stärker geworden. Galiana spürte verwirrt, wie irgendetwas durch ihre Augen schaute, so als wäre sie im Inneren ihres Schädels nicht mehr allein.
Wir verringerten den Abstand zu euren beiden Schiffen im gemächlichen Trott von Raubtieren aus uralter Zeit, in deren Rassengedächtnis es so etwas wie Misserfolge nicht gab. Du hast unser Bewusstsein gespürt: grimmig und scharf, gefährlich dicht an der Schwelle zur Intelligenz, uralt und kalt wie der Staub zwischen den Sternen.
Du hast unseren Hunger gespürt.
»Aber Clavain …«, sagte sie.
»Was ist mit Clavain?«
»Er hätte sicher einen Weg gefunden, dem Morden ein Ende zu machen, Skade. Irgendwie. Warum hat er nicht eingegriffen?«
Skade wandte den Kopf ab. Von vorne gesehen war ihr Mähnenkamm nur ein schmaler Grat. Als sie Galiana wieder ansah, stand ein merkwürdiger Ausdruck in ihrem Gesicht.
Du hast mit angesehen, wie wir euer erstes Schiff überfielen und in einem Panzer aus wissbegierigen schwarzen Maschinen erstickten. Die Maschinen zernagten das Schiff. Du hast auch die Explosion gesehen; sie zeichnete einen rosa Schwan auf deine Retina, und du hast gespürt, wie ein Netz aus tausend Bewusstseinen gleich einer Schar von Kindern in den Tod gerissen wurde.
Du wolltest Abstand gewinnen, aber es war schon zu spät.
Als wir euer Schiff erreichten, gingen wir vorsichtiger zu Werke.
»Das fällt mir nicht leicht, Galiana.«
»Was?«
»Es geht um Clavain.«
»Du sagtest doch, er sei zurückgekehrt.«
»Das ist richtig. Auch Felka. Aber ich muss dir zu meinem Bedauern mitteilen, dass sie beide tot sind.« Die Worte kamen stockend, so langsam wie Atemzüge. »Es war vor elf Jahren. Bei einem Angriff der Demarchisten. Das Mutternest wurde versehentlich getroffen, und sie kamen beide um.«
Es gab nur eine sinnvolle Reaktion: Verweigerung. »Nein!«
»Es tut mir Leid. Ich wünschte, ich könnte es dir anders …« Skades Mähnenkamm flimmerte ultramarinblau. »Ich wünschte, es wäre nie geschehen. Sie waren wertvolles Kapital für uns …«
»›Wertvolles Kapital‹?«
Skade musste ihre Empörung gespürt haben. »Ich wollte sagen, sie wurden geliebt. Wir haben um sie getrauert, Galiana. Wir alle.«
»Dann zeige mir diese Trauer. Öffne deinen Geist. Lass die Barrikaden fallen. Ich will hineinsehen.«
Skade blieb neben dem Tank stehen. »Wozu, Galiana?«
»Weil ich erst weiß, ob du die Wahrheit sagst, wenn ich in dich hineinsehen kann.«
»Ich lüge nicht«, sagte Skade leise. »Aber ich kann nicht von Bewusstsein zu Bewusstsein mit dir sprechen. Du hast nämlich etwas in deinem Kopf. Wir wissen noch nicht, was es ist, aber es ist wahrscheinlich fremd und wahrscheinlich auch feindselig.«
»Ich glaube nicht …«
In diesem Augenblick wurde der Druck hinter ihren Augen zu einem stechenden Schmerz. Galiana hatte das hässliche Gefühl, beiseite gestoßen, verdrängt, in den letzten Winkel ihres eigenen Schädels verbannt zu werden. Etwas unaussprechlich Böses und Uraltes hatte nun die Oberhand und hockte unmittelbar hinter ihren Augen.
Sie hörte sich selbst sprechen.
»Meinst du etwa mich?«
Skade wirkte nur mäßig betroffen. Galiana bewunderte die Nervenstärke der Synthetikerin.
»Mag sein. Wer bist du denn?«
»Ich habe keinen Namen außer dem, den sie mir gab.«
»›Sie‹?«, fragte Skade belustigt. Ihre Stimme klang ruhig, nur die fahlgrünen Wellen, die über ihren Mähnenkamm flackerten, verrieten ihr Entsetzen.
»Galiana«, antwortete das Wesen. »Bevor ich sie besetzte. Sie nannte uns – mein Bewusstsein – die Wölfe. Wir erreichten und enterten ihr Schiff, nachdem wir das andere zerstört hatten. Anfangs wussten wir nicht so recht, mit wem wir es zu tun hatten. Erst als wir ihnen die Schädel öffneten und ihr Zentralnervensystem in uns aufnahmen, erfuhren wir mehr über sie. Wie sie dachten; wie sie sich verständigten; was sie mit ihrem Geist angestellt hatten.«
Galiana versuchte sich zu bewegen, aber Skade hatte sie längst paralysiert. Sie konnte nicht einmal schreien, denn der Wolf – denn so hatte sie ihn tatsächlich genannt – hatte sich ihrer Stimme vollkommen bemächtigt.
Jetzt war alles wieder da.
»Warum hast du sie nicht getötet?«, fragte Skade.
»Darum ging es doch nicht«, schalt der Wolf. »Die Frage müsste anders lauten: Warum hat sie sich nicht selbst getötet, als sie es noch konnte? Die Möglichkeit hatte sie; es stand in ihrer Macht, das Schiff mit allen seinen Insassen zu zerstören, sie brauchte es nur zu wollen.«
»Und warum hat sie es nicht getan?«
»Nachdem wir ihre Besatzung getötet hatten und sie allein zurückgeblieben war, trafen wir eine Absprache. Sie war bereit, sich nicht zu töten, wenn wir ihr gestatteten, nach Hause zurückzukehren. Sie wusste, was das bedeutete. Sie wusste, dass ich in ihren Schädel eindringen und ihre Erinnerungen durchwühlen würde.«
»Warum gerade sie?«
»Sie war eure Königin, Skade. Nachdem wir die Gedanken ihrer Besatzung gelesen hatten, war uns klar, dass sie diejenige war, die wir wirklich brauchten.«
Skade schwieg. Aquamarinblaue und jadegrüne Wellen rollten langsam von der Stirn bis in den Nacken. »Sie wäre niemals das Risiko eingegangen, dich zu uns zu führen.«
»O doch, vorausgesetzt, sie hätte eine frühzeitige Warnung für so wichtig gehalten, dass das Risiko dadurch aufgewogen wurde. Sie ist uns entgegengekommen. Sie gab uns Zeit zu lernen, und sie gab uns die Hoffnung, noch mehr zu erfahren. Die Hoffnung hat sich erfüllt, Skade.«
Skade legte den Finger an die Oberlippe und hielt ihn dann in die Höhe, wie um zu prüfen, woher der Wind wehte. »Wenn ihr wirklich eine Fremdintelligenz von solcher Überlegenheit wärt, die wusste, wo wir zu finden waren, dann hättet ihr uns doch schon längst heimgesucht.«
»Sehr gut, Skade. Und in gewissem Sinne hast du sogar Recht. Wir wissen nämlich nicht genau, wohin Galiana uns geführt hat. Ich weiß es zwar, aber ich kann das Wissen nicht an meinesgleichen weitergeben. Doch das spielt keine Rolle. Ihr seid eine raumfahrende Zivilisation – in verschiedene Gruppierungen zerfallen, gewiss, aber das ist für uns ohne Belang. Aus den Erinnerungen, die wir getrunken haben, und aus anderen, in denen wir noch schwimmen, wissen wir in etwa, welchen Raumabschnitt ihr bewohnt. Ihr seid dabei, euch auszubreiten, die Oberfläche eurer Expansionssphäre wächst geometrisch, und damit wird auch die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung mit uns ständig größer. Zu einem Zusammentreffen ist es bereits gekommen, und an anderen Punkten der Kugeloberfläche könnten ähnliche Berührungen stattgefunden haben.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragte Skade.
»Um dich zu erschrecken. Warum sonst?«
Doch damit gab sich Skade nicht zufrieden. »Nein. Es muss einen anderen Grund geben. Du willst mich glauben machen, du könntest mir nützlich sein, nicht wahr?«
»Wieso?«, schnurrte die Wolfsstimme belustigt.
»Weil ich dich auf der Stelle töten könnte. Die Warnung haben wir ja nun erhalten.«
Hätte Galiana sich bewegen oder wenigstens mit den Augen zwinkern können, sie hätte ein nachdrückliches ›Ja‹ signalisiert. Sie wollte sterben. Was hatte sie denn noch, was das Leben lebenswert machte? Clavain war tot. Felka war tot. Das stand für sie fest, ebenso fest wie ihre Überzeugung, dass aller Erfindungsreichtum der Synthetiker nicht ausreichen würde, um sie von dem Ding in ihrem Kopf zu befreien.
Skade hatte Recht. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt, hatte dem Mutternest einen letzten Dienst erwiesen. Jetzt wusste das Nest, dass die Wölfe im Weltall lauerten, dass sie menschliches Blut gewittert hatten und wahrscheinlich schon dabei waren, sich anzupirschen.
Nichts sprach dagegen, ihr Leben sofort zu beenden. Der Wolf würde immer wieder versuchen, aus ihrem Kopf zu entkommen, so wachsam Skade auch sein mochte. Vielleicht könnte das Mutternest sogar etwas von ihm erfahren, könnte ihm einen Hinweis auf ein Motiv oder eine Schwäche entlocken, aber die Folgen seiner Flucht stünden in keinem Verhältnis zu diesen etwaigen Erkenntnissen.
Galiana wusste so manches. So wie der Wolf Zugriff auf ihre Erinnerungen hatte, so ahnte sie durch eine schwache, vielleicht gewollte Rückkopplung auch etwas von seiner Geschichte. Nichts Konkretes; so gut wie nichts, was sie hätte in Worte fassen können. Nur eine schemenhafte Aneinanderreihung von chirurgisch sauberen Xenoziden, die zurückreichte bis in die fernste Vergangenheit; ein grauenvoller Säuberungsfeldzug gegen aufstrebende intelligente Spezies. Man hatte über hunderte von Jahrmillionen mit pedantischer Genauigkeit Buch geführt. Jeder neue Rassenmord war einen weiteren Eintrag im großen Hauptbuch wert gewesen. Sie ahnte auch, dass es hin und wieder zu panischen Aktionen gekommen war – dass eine Rasse später ausgemerzt wurde, als es wünschenswert gewesen wäre. Ganz selten hatte man auch einmal brutal durchgegriffen, weil man beim ersten Mal nicht gründlich genug gearbeitet hatte.
Doch was sie vermisste, war ein völliges Scheitern.
Auf einmal, es war wie ein Schock, wich der Wolf zurück. Er ließ sie sprechen.
»Skade«, sagte Galiana.
»Was ist?«
»Ich bitte dich, töte mich. Töte mich auf der Stelle.
Antoinette Bax wartete, bis die Polizeidrohne die Luftschleuse verlassen hatte. Die Maschine bestand nur aus glatten schwarzen Panzerplatten und scharfen Insektengliedern und erinnerte entfernt an eine abstrakte, aus Scherenteilen zusammengesetzte Skulptur. Sie war eisig kalt, denn sie hatte an der Außenseite eines der drei Polizeikutter gesessen, die Antoinettes Schiff eingekreist hatten. Und sie war mit einer uringelben Schicht aus gefrorenem Treibmittel überzogen, das nun allmählich auftaute und in hübschen kleinen Kringeln und Spiralen an ihr herunterrann.
»Bitte zurücktreten«, sagte die Polizeidrohne. »Vor körperlichem Kontakt wird gewarnt.«
Das Treibmittel verbreitete einen stechenden Geruch. Antoinette klappte ihr Helmvisier herunter, als die Drohne an ihr vorbeitrippelte.
»Ich weiß nicht, was du hier zu finden hoffst«, sagte sie und folgte ihr in diskretem Abstand.
»Das kann ich erst sagen, wenn ich es gefunden habe«, antwortete die Drohne. Sie hatte die Frequenz von Antoinettes Anzugradio bereits identifiziert.
»He, hör mal. Ich habe nichts mit dem Schwarzmarkt zu tun. Dafür lebe ich viel zu gerne.«
»Das sagen sie alle.«
»Was könnte man ins Hospiz Idlewild denn schon groß schmuggeln? Das ist doch nur ein Haufen von asketischen religiösen Spinnern. Wer sollte sich dort für Schmuggelware interessieren?«
»Sie verstehen also doch etwas von Schmuggelware?«
»Das habe ich nie …«
»Schon gut. Aber bedenken Sie, Miss Bax, wir befinden uns im Krieg. Da muss man mit allem rechnen.«
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