Rache - Alastair Reynolds - E-Book

Rache E-Book

Alastair Reynolds

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Beschreibung

Die Galaxis hat riesige Imperien aufsteigen und fallen sehen. Jetzt hat sich die menschliche Zivilisation verstreut, und es gibt überall verborgene Schätze zu finden. Wenn man weiß, wo man suchen muss – wie Captain Rackamore und seine Crew. Der nächste Auftrag jedoch könnte sich für die Raumpiraten nicht nur als höchst lukrativ, sondern auch als äußerst tödlich erweisen …

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Das Buch

Adrana und Arafura Ness haben ihr ganzes Leben auf dem Planeten Mazarile verbracht – bis zu dem Tag, an dem ihr Vater bei einem riskanten Geschäft das gesamte Vermögen der Familie verspekuliert. Die beiden Schwestern sehen nur eine Möglichkeit, die Schulden des Vaters zu begleichen, und heuern auf der Monettas Weh an, dem Raumschiff des berühmt-berüchtigten Captain Rackamore. Gemeinsam mit seiner Crew findet Rackamore die kleinsten Welten und die entlegensten Planeten und mit ihnen Schätze von unvorstellbarem Wert: antike Artefakte und verloren geglaubte Technologien. Aber Rackamore hat sich im Laufe der Zeit mächtige Feinde gemacht, die im Dunkel des Weltalls auf die Crew der Monettas Weh lauern, und plötzlich wird die harmlose Expedition, zu der Adrana und Arafura aufgebrochen sind, zu einer atemlosen Verfolgungsjagd zwischen den Sternen …

Der Autor

Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete viele Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrtagentur ESA, bevor er sich dem Schreiben widmete. Er lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Von Alastair Reynolds sind im Heyne-Verlag erschienen: Unendlichkeit, Himmelsturz, Aurora, die Poseidons Kinder-Trilogie sowie der Roman DieMedusa-Chroniken, den er gemeinsam mit Stephen Baxter geschrieben hat.

Mehr über Alastair Reynolds und seine Romane erfahren Sie auf:

Alastair Reynolds

Rache

Roman

Aus dem Englischen übersetzt

von Irene Holicki

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 02/2018

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2016 by Dendrocopos Limited

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21472-2V002

www.diezukunft.de

www.penguin.de

Erster Teil

RACKAMORE

1

Adrana hatte Doktor Morcenx immer gehasst. Er war schon vor unserer Geburt unser Hausarzt gewesen, seit unsere Eltern auf Mazarile gelandet waren. Er war da gewesen, als Adrana und ich heranwuchsen, und er war da gewesen, als die Seuche unsere Mutter dahinraffte. Die Seuche war der Grund, warum mein Vater etwas gegen Männer wie Kapitän Rackamore hatte, er fand nämlich, sie hantierten mit Dingen, die besser weggesperrt bleiben sollten, aber soweit ich weiß, wurde nie bewiesen, dass die Seuche aus einer Blase kam.

Das alles hielt ihn nicht davon ab, sich eine unüberlegte Investition in genau die Art von Geschäften aufschwatzen zu lassen, die er missbilligte.

So war er eben: wider besseres Wissen leicht zu überreden. Und am Abend eines Formungstags im Frühling 1799 in der Halle der Geschichte war das Desaster perfekt. Vater war hingegangen, um zu erfahren, was ihm seine Anlage eingebracht hatte, und weil er vor all den betuchten Bonzen in der Handelskammer von Mazarile Eindruck machen wollte, hatte er uns beide mitgenommen. Wir sollten uns von unserer besten Seite zeigen. Zwei wohlerzogene, gesittete junge Damen.

Adrana wollte das Theater nicht mitmachen.

»Doktor Morcenx«, rief Vater, als er den Hausarzt ein paar Tische weiter bemerkte. »Setzen Sie sich doch zu uns. Sie haben Adrana und Arafura schon so lange nicht mehr gesehen. Sind sie nicht groß geworden?«

Doktor Morcenx hinkte zu uns herüber. Er hatte eine Figur wie ein Pfefferstreuer und trug stets viel zu viele Schichten schwarzer Kleidung übereinander. »Es ist mir immer ein Vergnügen, Mr. Ness«, säuselte er mit seiner rauen Stimme und fasste sich mit der Hand an die Stirn. Dann fing er an zu summen. Doktor Morcenx summte immer irgendein Liedchen, als wollte er die eigenen Gedanken ausblenden, so wie manchmal ein Schädel ein Signal von einem anderen überlagert. »Sie können sehr stolz auf Ihre Töchter sein«, schmeichelte er in einem Ton, der vor Schleim nur so triefte. »Sie sind Ihnen sicher ein großer Trost, nachdem Kapitän Lars Expedition eine solche Enttäuschung war. Hoffentlich hatten Sie nicht zu viel investiert?«

»Es wird uns nicht umbringen.« Vater machte gute Miene zum bösen Spiel.

»Sie lassen sich nicht unterkriegen, Mr. Ness, und das gereicht Ihnen ebenso zur Ehre wie Ihre Töchter. Zwei prächtige junge Mädchen. Mit großer Freude habe ich sie durch ihre Entwicklung begleitet.« Er begann wieder zu summen und kramte mit seinen fetten Stummelfingern in seiner Tasche. »Möchtet ihr ein …«

»Für Ihre Bonbons sind wir inzwischen doch zu alt«, sagte Adrana. »Ich bin achtzehn, und bei Fura dauert es nicht mehr lange.«

»Schon gut«, sagte ich und sträubte mich nicht, als der Doktor die Tüte mit den Süßigkeiten herauszog und mir ein Ingwerbonbon in die Hand drückte.

»Ich wollte Sie immer wieder einmal besuchen«, wandte sich Doktor Morcenx an unseren Vater. »Um etwas mit Ihnen zu besprechen, das von Interesse sein könnte … besonders, was Arafura angeht. Die Kinderjahre sind so kostbar …«

»Sie ist kein Kind mehr«, unterbrach ihn Adrana. »Und ich weiß genau, was Sie im Sinn haben. Es geht um das Medikament, nicht wahr? Mit dem man die Entwicklung verzögern kann. Aber das können Sie sich …«

»Nicht in diesem Ton«, fiel ihr Vater ins Wort. »Der Doktor hat dich und Fura in all den Jahren sehr gut betreut.«

»Ach ja«, spottete Adrana. »Und es ist ganz normal, dass er sich andauernd in unserem Haus herumdrückt, als ob er hier wohnt. Damit ist jetzt Schluss, Doktor Mondgesicht.« Sie konnte das Wort so beiläufig einfließen lassen, dass es einem kaum auffiel, so als wäre es wirklich sein Name. »Ich bin alt genug, um Bescheid zu wissen, und bei Fura wird es bald so weit sein.«

»Du entschuldigst dich auf der Stelle«, befahl Vater.

»Ich denke nicht daran«, gab Adrana zurück. »Du kannst mich nicht zwingen, und du kannst mich auch nicht zwingen, diesen blöden Abend mit dem blöden Kapitän und all deinen blöden Freunden zu genießen und so zu tun, als hätten sie nicht gerade alle ihr halbes Vermögen verschleudert.«

»Ich kann dich aber von Paladin nach Hause bringen lassen«, drohte Vater.

Unser alter roter Roboter drehte seinen kugelförmigen Glaskopf hin und her und versuchte, dem Gespräch zu folgen. Im Innern der Kugel gingen Lichter an und aus. Paladin wurde oft konfus, wenn sein Name erwähnt wurde, ohne dass er einen einfachen, direkten Befehl erhielt.

»Ich melde mich«, versprach Doktor Morcenx und steckte seine Bonbons wieder ein.

»Ich bitte um Verzeihung für die Ungezogenheit meiner Tochter«, sagte Vater.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Mr. Ness. Die emotionale Labilität junger Menschen ist mir nicht neu.«

Er wandte sich ab und watschelte zu seinem Tisch zurück. Wir sahen ihm nach. Im Nacken hatte er einen Fettwulst, der aussah wie ein aufgeblasener Schlauch. Und er summte immer noch vor sich hin.

»Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte Vater. »Ich habe mich noch nie so …«

»Geschämt?«, vollendete Adrana. »Weißt du, was wirklich beschämend ist? Eine Ness zu sein. Sich an die besseren Kreise von Mazarile ranzuschmeißen und so zu tun, als wären wir mehr, als wir wirklich sind.«

Ich war fast froh, als ein Betrunkener im Publikum zu randalieren anfing. Oben auf dem Podium redete Kapitän Malang Lar einfach weiter. Dann stand jemand von der Handelskammer auf und wollte den Betrunkenen niederbrüllen, doch da war es schon zu spät. Gendarmen in Pagenkappen und mit blitzenden blauen Schulterstücken stürmten von hinten durch die Zuhörer und versuchten den Betrunkenen gewaltsam abzuführen. Doch der gab sich nicht geschlagen, er attackierte die Ordnungshüter, taumelte gegen einen Tisch und stieß ihn um.

Paladin drehte sich um. »Störung erkannt«, sagte er immer wieder. »Störung erkannt.«

Vater krempelte die Ärmel hoch. »Ich sollte wohl …«, begann er und suchte mit großer Geste den Eindruck zu vermitteln, er gedenke sich einzumischen. Dabei fühlte er sich hinter seinem Schreibtisch viel wohler als bei einem Handgemenge mit Betrunkenen.

Nun fiel uns beiden auf, dass Adrana sich vom Tisch weggeschlichen hatte.

Vater wandte sich an Paladin und fauchte: »Geh sie suchen!«

Der Roboter drehte den Kopf, rollte vom Tisch weg und bahnte sich einen Weg durch das Getümmel. Jemand versetzte ihm einen Tritt, nur weil es ihm Spaß machte, eine empfindungsfähige Maschine zu treten. Paladin war dergleichen gewohnt. Er wackelte zwar heftig, konnte sich aber aufrecht halten.

»Er hätte besser auf sie aufpassen müssen«, knirschte Vater wütend und zog seine Ärmel wieder herunter.

»Paladin kann nichts dafür«, protestierte ich. »Er ist eben ein alter Roboter, und er tut sein Bestes. Hör zu, ich sehe mal, ob ich sie finde. Man wollte die Leute nur durch den Nordeingang einlassen, nicht wahr?«

»Nein.« Vater wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. »Man hat beide Eingänge geöffnet, und du kannst davon ausgehen, dass deine Schwester einen davon ansteuert.«

Paladin suchte immer noch den Raum ab, seine Kopfkugel drehte sich, und die Lichter unter dem Glas blinkten hektisch.

»Schön«, sagte ich zu ihm. »Du gehst zurück zur Garderobe, wo wir reingekommen sind. Ich gehe zum Südeingang.«

»Kann ich mich darauf verlassen, dass du zurückkommst?«, fragte Vater.

»Natürlich.«

Ich hatte es tatsächlich vor. Es lag nicht in meiner Absicht, ungehorsam zu sein. Ich wollte, dass wir alle wieder in die Tram stiegen und über die Jauncery-Promenade nach Hause fuhren, weg von dem chaotischen Trinkgelage, das als gesellschaftliches Ereignis begonnen hatte. Ich wollte zurück in mein Zimmer im dritten Stock neben dem Wohnzimmer, wo sich all unsere Bücher, Landkarten und Spiele befanden.

»Beeil dich«, drängte Vater.

Ich stand auf, machte einen Bogen um das Handgemenge – das sich inzwischen beruhigte, weil weitere Gendarmen eintrafen – und wollte mich auf den Weg durch die Halle der Geschichte machen.

Eine feuchtkalte Hand schloss sich um meinen Arm.

»Deine Schwester hat einen schlechten Einfluss auf dich. Je früher sie aus deinem Leben verschwindet, desto besser. Wollen wir gemeinsam nach ihr suchen?«

»Ich komme schon klar, Doktor«, sagte ich und entschlüpfte ihm, als wären seine Finger mit Schleim überzogen. »Behalten Sie diesen Raum im Auge. Der Roboter versucht sie zu finden, aber er hat kein sehr leistungsfähiges Bildverarbeitungssystem.«

»Du bist ein braves Mädchen, Arafura. Wenigstens eine von euch ist wohlgeraten und macht dem Andenken eurer Mutter Ehre.«

»Danke, Doktor Mond … Morcenx.« Die Beleidigung war mir versehentlich herausgerutscht, fast, als wäre Adrana in mich hineingefahren, um mich aufzuhetzen. Ich lächelte verlegen und ließ ihn stehen. Ich wusste ja, dass er mich mit seinem Hinkefuß niemals einholen konnte. Adrana und ich trugen zwar unsere besten Kleider und Schuhe, aber wenn wir den Rock hochrafften, konnten wir notfalls auch rennen.

Die Halle war sehr viel länger als breit. Das musste so sein, denn sie hatte eine ganze Menge Geschichte zu fassen. Früher, bevor ich wusste, worum es eigentlich ging, hatte mir die Halle der Geschichte einfach deshalb gefallen, weil sie mit der langen schwarzen Längswand und den senkrechten bunten Streifen, die wie Zaunpfosten in unregelmäßigen Abständen daran aufleuchteten, so hübsch aussah. Die kräftigen Farben und die Schrift darin konnten einen schon beeindrucken. Damals konzentrierte ich mich nur auf das, was bekannt war.

Erst Jahre später machte ich mir Gedanken über die schwarzen Abstände zwischen den Streifen und ihre Bedeutung.

Bald hatte ich den Südeingang erreicht. Die Tür stand offen, und von draußen drang die warme Abendluft herein. Gendarmen versuchten, für Ordnung zu sorgen und zu verhindern, dass die Leute von draußen wieder hereindrängten. Ein Mann beharrte darauf, er müsse in die Garderobe zurück, wo ihn seine Frau erwartete, und als ihm die Gendarmen befahlen, um das Gebäude herum zum Vordereingang zu gehen, war ihm das zu mühsam. Ein Streit drohte.

Jemand fasste nach meiner Hand.

Ich zog sie weg, weil ich befürchtete, es wäre wieder Doktor Morcenx. Aber es war Adrana.

»Gut«, sagte sie. »Jetzt können wir uns amüsieren.«

Sie wollte mich zur Tür ziehen. »Ich soll dich zu Vater zurückbringen«, sagte ich.

»Ach komm schon, Fura«, sagte sie und sah mich mit großen Augen erwartungsvoll an. Ich wusste zwar, dass sie ein Glas Wein getrunken hatte, als wir kamen, aber ihre Augen waren weder trüb noch gerötet. »Wir sind nur einen Steinwurf von der Neurogasse entfernt. Ich habe ein paar Quorins. Lass uns endlich ein wenig leben.«

»Die Neurogasseinteressiert mich nicht.«

»Woher willst du das wissen, du warst doch noch nie dort.«

»Und du schon?«

Doch da waren wir bereits durch die Tür und standen im Freien unter dem Abendhimmel. Durch den Südeingang würden uns die Gendarmen auf keinen Fall mehr hineinlassen. Als ich zurückschaute, sah ich gerade noch, wie Paladin sich auf der Suche nach uns allmählich zu der offenen Tür vorarbeitete.

»Na los«, sagte Adrana. »Niemand wird dir einen Vorwurf machen. Schließlich bin ich immer diejenige, die als schlechtes Beispiel dient.«

Wir stiegen die Treppe am Eingang hinunter, gingen auf dem von Laternen beleuchteten Weg durch den Museumspark und überquerten dann die Tramschienen an der Jauncery-Promenade. Vor uns ragte ein Neonportal auf, das Drachentor, dahinter schlängelte sich die Neurogassein vielen Windungen, etwa in Richtung des Raumhafens von Hadramaw nach Süden. Ich blieb stehen und staunte das Drachentor an, wie ich es auch bei allen Flimmerkästen und Bildschirmen auf öffentlichen Plätzen machte. Eine solche Explosion von Licht und Farbe hatten wir zu Hause nicht.

»Du warst nicht sehr nett zu Mondgesicht«, sagte ich. Adrana hatte mich am Ärmel gepackt und zog mich auf das Drachentor zu.

»Und du hast keine Ahnung, was für ein Fiesling er ist. Ich weiß, was er mit dir vorhat. Man hat nämlich ein neues Medikament erfunden. Es verlangsamt das biologische Wachstum – Eltern können damit verhindern, dass ihre Kinder jemals erwachsen werden.«

»Und warum sollte das irgendjemand wollen?«

Ungeduldig sah sie sich nach mir um. »Du bist so heillos naiv, Fura.«

»Und du bist kaum älter als ich.«

Wir schlüpften durch das Drachentor hinein in das Lichtermeer und die Schwüle der Neurogasse. Adrana grinste mich an. »Wir sind drin! Stell dir vor, Fura – wir ziehen um die Häuser, aufgetakelt bis zum Gehtnichtmehr! Hier.« Sie zog ihre Geldbörse heraus und reichte mir einen Zwei-Streifen-Quorin. »Das ist die Hälfte von dem, was ich bei mir habe, also mach was draus.«

Ich schaute auf die dicke Metallscheibe hinab und wusste nicht recht, was ich von dem Geschenk halten sollte. »Danke«, sagte ich skeptisch. »Aber ich habe dich doch gefunden? Jetzt sollten wir zurückgehen. Du kannst immer noch sagen, du hast die Neurogasse gesehen.«

Aber Adrana marschierte so zielstrebig weiter, als würde sie sich hier bereits auskennen.

»Nimm dich vor Taschendieben und Grapschern in Acht«, warnte sie mich noch, als hätte sie meine Aufforderung gar nicht gehört. »Wir gehen bis zum Ende und kommen am Katzentor wieder raus.«

»Und dann gehen wir nach Hause?«

»Natürlich.« Sie grinste mich an. »Was denn sonst?«

Ein Wahrsager studierte die Handfläche eines Mannes. Ein Mädchen, barfuß, mit irrem Blick und einer Haut, die von innen heraus leuchtete, stand an einer Ecke und bettelte. Zwei triefäugige Männer in kompletten graubraunen Raumanzügen torkelten – nur die Helme unter dem Arm – an uns vorbei. Hinter ihnen schlurfte ein als Kriechling verkleideter Typ auf zu vielen Gliedmaßen aufrecht daher. Er hatte eine Schärpe in den Farben der Bank von Hadramaw umgebunden und trug eine große Maske mit Glotzaugen vor dem Gesicht. Aus der Nähe sah ich, dass es kein Kostüm war, sondern ein echter Kriechling. Das Alien gehörte zu den Männern in den Raumanzügen.

Ich bestaunte es mit offenem Mund, bis ich mein fassungsloses Gesicht in einem gegenüberliegenden Fenster gespiegelt sah.

»Ja, die Aliens«, sagte Adrana, als wäre es nichts Besonderes. »Sie kommen oft hierher. Die Gasse liegt so nahe am Hafen, dass sie hier ihre Geschäfte abwickeln können, besonders wenn sie im Bankwesen tätig sind. Da wir gerade von Aliens sprechen, sind diese Kleider nicht wunderschön?«

Ich riss meinen Blick von dem Kriechling los, und er schob sich an mir vorbei. Ich musste mich beherrschen, um nicht die kleinen Schnurrhaare anzustarren, die sich immer wieder aus seinem Rüssel ringelten. Adrana stand unbeeindruckt vor einem Schaufenster. Die Puppen hinter dem Glas trugen Kleider und Röcke aus winzigen schillernden Schuppen. »Das ist Klapperschlangenhaut«, sagte Adrana. »Die Schlangen werfen sie ab. Jedenfalls war das früher so. Man findet die Häute in Blasen, manchmal so viel, dass man ein Kleid daraus machen kann. Auf manchen Welten ist das verboten – man will die Klapperschlangen nicht beleidigen, falls sie jemals zurückkommen sollten.«

»Ich glaube nicht, dass die Klapperschlangennoch einmal wiederkehren«, sagte ich. Ich erinnerte mich an den Streifen in der Halle der Geschichte. Die Klapperschlangenwaren vor etwa neun Millionen Jahren während der Vierten Okkupation aufgetaucht und wieder verschwunden, und seither hatte man nichts mehr von ihnen gehört.

»Wahrscheinlich ist die Haut hier sowieso nicht echt«, sagte Adrana und rümpfte die Nase, als hätte sie auf diesem Gebiet jede Menge Erfahrung. »Weiter jetzt. Wir dürfen nicht trödeln, es gibt noch so viel zu sehen. Da vorn ist eine Gliederhandlung.«

»Eine was?«

Sie lief voraus. »Du wirst schon sehen.«

Im Schaufenster des nächsten Geschäfts waren viele Hände, Arme und Beine auf samtbezogenen Sockeln oder in Glasständern ausgestellt oder schwammen in Behältern mit sprudelnder Flüssigkeit. Einige waren organisch, andere künstliche Nachbildungen aus Metall mit Motoren und integrierten Schaltkreisen.

»Das ist ja grauenvoll«, sagte ich. Eine Blechhand öffnete und schloss sich in Zeitlupe, als wollte sie einen unsichtbaren Ball fangen.

»Wenn du eine neue Hand bräuchtest, würdest du anders reden. Draußen auf den Schiffen kommt es andauernd zu Unfällen. Noch öfter passiert das in den Blasen, wenn sich etwa eine Tür schließt und man den Arm nicht schnell genug zurückzieht. In solchen Fällen kann man sich hier eine neue Hand kaufen – ob aus Metall oder aus Fleisch, spielt keine Rolle. Alles kann angepasst werden.« Adrana sah mich mit unverhohlener Enttäuschung an. »Du bist ganz schön empfindlich.«

»Warum spricht man von einer ›Handlung‹?«

»Weil mit Gliedmaßen gehandelt wird. Du kannst hier auch einen Arm oder ein Bein verkaufen, wenn du schnell ein paar Quorins brauchst. Später kaufst du die Gliedmaße mit Verlust zurück, oder das Geschäft verkauft sie mit Gewinn.« Plötzlich zuckte Adrana zusammen und legte mir die Hand auf den Arm. »Paladin.«

»Was?«

»Paladin ist eben durch das Drachentor gekommen.«

»Gut«, sagte ich. Ich schämte mich meiner Erleichterung. »Wir hatten schließlich unseren Spaß, nicht wahr?«

»Wir haben noch kaum angefangen. Komm, wir verstecken uns in dieser Bude. Dort wird uns der Roboter bestimmt nicht suchen.«

Zwischen zwei Häusern mit Schaufenstern stand ein blau-weißes Zelt. Es hatte kein Ladenschild, und als Eingang diente ein Schlitz in der Plane.

Adrana schob mich hinein und schaute dabei über die Schulter.

»Ist jemand hinter euch her?« fragte eine Frau, die an der Rückseite hinter einem Tisch saß.

»Nur ein Roboter«, sagte ich.

Adrana blieb noch kurz draußen, dann schlüpfte auch sie herein und zog den Schlitz hinter sich zu.

»Oh, die hübsche Dunkelhaarige«, sagte die Frau. »Das Mädchen aus der besseren Gegend. Ich hatte mir schon gedacht, dass du früher oder später wiederkommst. Und wen hast du mitgebracht?«

»Was?«, fragte ich und runzelte die Stirn.

Die Frau erhob sich und schob ihren Stuhl auf dem Steinpflaster zurück. Im Zelt gab es nur schlichte Holzregale, die an die Wände geschoben waren und von kräftigen Leuchtkrautranken angestrahlt wurden. Auf den Borden lagen Knochen in allen erdenklichen Farbtönen – manche so klein wie ein Fingernagel, andere so groß, dass man sie als Keulen verwenden konnte.

Neben jedem Knochen stand ein Kärtchen mit einer Beschreibung und einem Preis.

»Deine Schwester hat dir also nichts davon erzählt«, stellte die Frau fest. »Denn dass ihr Schwestern seid, sieht man auf den ersten Blick.«

»Woher kennen Sie sich?«

»Sie war schon einmal hier«, sagte die Frau. »Nicht wahr, Adrana? Vor ein paar Wochen. Und wenn wir schon dabei sind, wie heißt denn deine Schwester?«

»Das ist Arafura«, sagte Adrana ruhig. »Fura. Sie sollten sie ebenfalls testen, Madame Granity.«

»Was für ein Test?«, fragte ich.

»Ein Eignungstest«, antwortete die Frau. Sie schob sich an mich heran und legte mir einen Finger unter das Kinn. Dann drückte sie mein Gesicht nach oben und schaute mir mit leichtem Stirnrunzeln in die Augen. Auf ihrer Nase saß eine Brille mit riesigen runden Gläsern in einem schweren Messinggestell. Hinter den dicken Linsen wirkten ihre Augen wie zwei aufgeblähte Welten. Über ihrem Kleid trug sie eine Kittelschürze, deren Taschen vollgestopft waren mit einem Sortiment von blitzenden Metallinstrumenten. An allen Fingern und am Daumen steckten Fingerhüte mit feinen Drähten, die in ihre Ärmel führten. »Für die Art von Fähigkeiten, an denen die Schiffe interessiert sind.«

Adrana wagte einen Blick durch die Zeltöffnung. »Paladin ist fast da«, rief sie. »Er durchsucht gerade die anderen Stände.«

Madame Granity hatte immer noch den Finger unter meinem Kinn. Mit der anderen Hand strich sie mir seitlich über das Gesicht bis hinauf zum Wangenknochen und zur Schläfe. Ich spürte nicht bloß die Kälte der Fingerhüte oder die Schärfe ihrer Spitzen.

Ich spürte noch etwas anderes: ein schauriges Kribbeln dicht unter der Haut.

»Wenn er da draußen herumlungert, weiß er, dass ihr in der Nähe seid«, sagte Madame Granity. »Wollt ihr gefunden werden? Alle beide?«

»Nein«, sagte Adrana.

»Dabei habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.«

»Gleich. Pass auf, wir schütteln Paladin erst einmal ab. Dann amüsieren wir uns noch eine Weile, und hinterher gehen wir allein nach Hause. Ich nehme alle Schuld auf mich.«

»Ihr kommt besser mit nach hinten«, sagte Madame Granity. »Dorthin wird euch der Roboter nicht folgen.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.

»Mr. Quindar wird schon dafür sorgen.«

Hinter dem Tisch befand sich ein zweiter Schlitz in der Zeltplane, der von einem Riemen lose zusammengehalten wurde. Madame Granity löste die Schnalle und führte uns in einen zweiten Raum. Dort stand auf einem robusten Gestell ein Polstersessel mit nach hinten geneigter Rückenlehne und hoher Kopfstütze. Ein Mann lag darin, er hatte sich den Hut über das Gesicht gezogen und schnarchte. Auf seiner Brust lag eine aufgeschlagene Zeitung. Madame Granity schnallte den Riemen an der Zeltplane wieder fest, trat an den Sessel und versetzte dem Mann einen Stoß.

»He, he?«, rief der und ließ die Zeitung fallen.

»Wachen Sie auf, und verdienen Sie sich Ihre Provision. Die Ness-Schwestern sind hier, und ein Roboter ist ihnen auf den Fersen, um sie nach Hause zu bringen.«

»Ein Roboter?«

Adrana war zurückgeblieben und lugte mit einem Auge durch den Schlitz in der Plane. »Ja, und er kommt gerade herein.«

Ich brauchte Paladin nicht zu sehen, das Knirschen seiner Räder, sein Summen und das surrende Winseln, wenn er seine Arme bewegte, waren deutlich genug.

»Runter von Ihrem Thron, Mr. Quindar. Und du«, sagte Madame Granity und deutete auf mich, »du steigst hinauf. Ich weiß, dass deine Schwester die Gabe hat, und oft gilt das auch für andere Geschwister, trotzdem möchte ich mich gern selbst überzeugen.«

»Was für eine Gabe?«

»Leg dich einfach auf den Sessel«, sagte Adrana.

Mr. Quindar beugte sich herunter. »Was soll ich mit dem Roboter machen?«, fragte er.

»Zunächst sollen Sie ihn aufhalten, damit er nicht hier hereinkommt«, sagte Madame Granity.

Seit der Mann sich aufgerichtet hatte, sah man, dass er sehr groß und dünn war. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der ihm bis zu den Füßen hätte reichen müssen, aber seine Beine ragten so weit hervor, als ginge er auf schwarzen Stelzen. Wie bei einer schlecht geführten Marionette schienen die Füße ein wenig über dem Boden zu schweben. Nun griff er mit der rechten Hand in seinen Mantel, zog einen kurzen schwarzen Stock hervor und schnickte ihn einmal durch die Luft. Dadurch wurde er auf das Sechsfache seiner ursprünglichen Länge ausgefahren.

»›Aufhalten‹, sagt sie. Vidin wird ihn aufhalten. Vidin ist Experte im Aufhalten, er tut die meiste Zeit nichts anderes.«

Ohne große Hektik ging der Mann zur anderen Seite des Raumes, hob den Stock und hieb damit auf die Trennwand ein. Nach ein paar Schlägen beschleunigte er das Tempo und löste mit der anderen Hand die Schnalle. Der Vorhang ging auf, und davor stand Paladin in voller Lebensgröße.

»Komm schon. Zeig dem alten Vidin, was du kannst, du Teufel auf Rädern.«

Der Roboter rollte schwirrend vorwärts, jedenfalls versuchte er es. Mr. Quindar – wenn er denn so hieß – blockierte eines der Vorderräder mit einem Fuß, sodass er nicht mehr weiter kam, und prügelte weiter auf das Gehäuse ein. Paladin versuchte die Schläge mit den Armen abzuwehren, aber seine Tiefenprogrammierung hinderte ihn an allen Gegenmaßnahmen, mit denen er Mr. Quindar hätte verletzen können.

»Weiter!« Adrana feuerte den Angreifer noch an. »Auf die Kopfkugel. Schlagen Sie die blöde Kiste in Stücke!«

»Nein«, rief ich. Ich hatte mir einen Rest von Zuneigung zu der Maschine bewahrt. »Er tut doch nur seine Pflicht.«

»Steig endlich hinauf, Fura«, fauchte Adrana. »Ich habe das Talent, ich bin geeignet. Das habe ich schon vor Wochen herausgefunden. Möchtest du nicht wissen, ob du es ebenfalls hast?«

Ich zögerte. Einerseits war ich neugierig, andererseits erfüllte mich das Schicksal des Roboters mit blankem Entsetzen. Doch die Neugier war stärker, also kletterte ich auf den Sessel. Ich wusste zwar, dass ich bereuen würde, worauf ich mich da gerade einließ, trotzdem machte ich weiter. So geht es eben manchmal.

»Was heißt ›vor Wochen‹?«

»Ich habe mich allein hierher geschlichen, als ich mir neue Stiefel anmessen lassen sollte. Das habe ich zwar auch getan, aber danach blieb mir noch genug Zeit, um in die Neurogasse zu laufen. Ich musste es wissen, denn ich hatte so eine Ahnung …«

Am Fußende des Throns befand sich eine Platte, auf die ich meine Stiefel setzte. Meine Arme legte ich auf die gepolsterten Seitenlehnen, und die Nackenstütze umschloss meinen Kopf. Je tiefer ich mich hineinsinken ließ, desto fester schien sie sich um meinen Schädel zu legen.

»Was für eine Ahnung?«

»Dass ich fähig sein könnte, die Knochen zu lesen.«

Madame Granity trat an ein anderes Gerät, eine Apparatur, die wie ein Lampenschirm mit biegsamem Hals über dem Sessel hing. Die Frau bückte sich und betätigte einige Schalter. Das Ding verströmte einen Geruch wie nach verbranntem Toast.

Um den Rand der Lampe flackerten Lichter auf, und das Ding senkte sich über mich.

»Ich habe den Auftrag, Arafura und Adrana Ness ausfindig zu machen«, dröhnte Paladins Stimme. »Wenn Sie Kenntnis von ihrem Aufenthalt haben, so teilen Sie mir das bitte mit.«

»Ich teile dir nur eines mit«, sagte Mr. Quindar, »dass ich dir nämlich deinen Blechkopf einschlage, wenn du dich noch weiter in diesen Raum wagst.«

»Er soll aufhören!« rief ich.

»Halt still«, mahnte Adrana. »Dein Gehirn wird gerade vermessen, um herauszufinden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass du zu einem Knochen in Kontakt treten kannst.«

»Knochen zu lesen ist erlernbar«, sagte Madame Granity. Trotz des Aufruhrs hinter der Trennwand klang ihre Stimme völlig ruhig. »Aber nur, solange das Gehirn noch Verbindungen aufbaut und wieder unterbricht. Mit anderen Worten, solange es noch lernt, ein Gehirn zu werden. Kinder haben diese Fähigkeit, aber es fehlt ihnen an Verstand, um zu begreifen, was ihnen die Knochen zuflüstern, deshalb sind sie für einen Kapitän nicht zu gebrauchen. Erwachsene sind untauglich, sobald sich die Verknüpfungen im Gehirn verfestigt haben. Jungen und Mädchen im Teenageralter sind am besten geeignet. Sie können bis hoch in die Zwanzigerjahre weitermachen, aber die Fähigkeit lässt stetig nach.« Sie brummte nachdenklich vor sich hin. »Das ist gut. Das ist sehr gut.«

Der Scanner senkte sich so tief über meinen Kopf, wie er ausfahren konnte. Wieder spürte ich dieses Kribbeln, nur kam es diesmal von der Maschine und nicht von Madame Granitys Fingerhüten. Und jetzt spürte ich es unter meiner Kopfhaut, als würde ein kleines Insekt über die Innenseite meines Schädels kriechen.

»Ist sie geeignet?«, wollte Adrana wissen.

»Sie ist auf dem Weg«, antwortete Madame Granity. »Vielleicht nicht so empfänglich wie du, aber ist sie nicht ein wenig jünger? Ihr habt beide das Talent, und dadurch, dass ihr als Paar auftretet, seid ihr sehr gut zu vermarkten.«

»Sie beschädigen mich«, protestierte Paladin. »Ich muss Sie bitten, von mir abzulassen, bevor Ausfälle entstehen, die nicht mehr zu beheben sind.«

Ich drehte mich um und stieß dabei den Lampenschirm beiseite. Durch die Lücke in der Trennwand sah ich Mr. Quindar, der das Stockende mit beiden Händen umfasst hielt, weit ausholte und die Waffe mit aller Kraft auf Paladin niedersausen ließ.

»Lassen Sie ab«, wiederholte Paladin. Durch einen Fehler in der Steuerung hatte wieder einmal sein Hinterrad blockiert, und nun konnte sich der Roboter nur noch um sich selbst drehen, ein Rückzug war unmöglich, selbst wenn der Mann es zugelassen hätte. Aber der dachte gar nicht daran, jetzt nachzugeben.

Er warf den Stock beiseite, griff nach einem der größeren Schädel auf Madame Granitys Regalen und schmetterte ihn mit aller Kraft gegen Paladins Kopfkugel.

»Halt!«, rief ich. »Lassen Sie ihn in Ruhe!«

»Ihn?«, fragte Madame Granity. Die Augen hinter ihren Brillengläsern wirkten riesig. »Es ist doch bloß ein Roboter – und eben wolltest du ihm noch unbedingt entkommen.«

Paladin rotierte hektisch um die eigene Achse. Er ruderte wild mit den Armen und krachte dabei gegen die Regale, dass die Knochen durch die Gegend geschleudert wurden. Vidin prügelte weiter auf ihn ein. Die Kopfkugel bekam die ersten Sprünge. Endlich, es war wie eine Erlösung, stieß Paladins Hinterrad gegen den Sockel eines Regals. Der Roboter kippte um und fiel mit lautem Krach zu Boden. Die beiden Vorderräder drehten sich noch ein paar Sekunden lang, und Paladins dünne Seitenärmchen hämmerten auf die Steine.

Die Mechanik im Inneren der Kopfkugel surrte und klickte. Die Lichter gingen aus.

Paladin regte sich nicht mehr.

Vidin warf den Knochen beiseite, hob den Stock vom Boden auf, schob ihn auf seine frühere Länge zusammen und verstaute ihn wieder in seinem Mantel.

»Ich hasse Roboter. Eingebildete Maschinen, die länger leben als wir Menschen und sich aufführen, als wären sie die Herren der Welt.« Er klopfte sich die Hände ab. »Konnten Sie das Mädchen auslesen, Madame G?«

»Ein Teilergebnis, bevor Sie sie mit dem Getöse abgelenkt haben. Potenzial ist vorhanden, so viel steht fest. Glauben Sie, Sie können für die beiden eine Anstellung finden?«

Er kratzte sich den haarlosen Schädel. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Von einem Auge bis hinunter zum Mundwinkel zog sich eine helle Narbe. »Aus der Zeitung, in der ich so aufmerksam las, bevor Sie mich gestört haben, weiß ich, dass Rack seit ein paar Tagen in Hadramaw angedockt hat.«

»Rack?«, fragte ich.

Mr. Quindar zog einen Stuhl hinter einem der Regale hervor und ließ seinen schlaksigen Körper darauf nieder. Die Mantelschöße hingen steif und zerschlissen an beiden Seiten herab, als hätte ein Riesenvogel seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet. »Mit vollem Namen heißt er Rackamore. Ein Kapitän. Nicht der Beste, aber auch nicht der Schlechteste, der euch über den Weg laufen kann. Es heißt, Rack sei auf der Suche nach einem neuen Sympathen. Für dich und mich ist das ein Knochenleser. Eine von euch würde er sofort anheuern. Und alle zwei sogar noch schneller.«

»Anheuern wofür?«, fragte ich.

»Bist du ein wenig schwach in den Grauen, Kindchen? Für seine Besatzung. Für sein Schiff. Für Expeditionen und so weiter. Alles ganz legal. Ihr reist für einen vereinbarten Zeitraum mit ihm. Sechs Monate, vielleicht auch weniger. Besucht ein paar Welten. Schaut euch die Sehenswürdigkeiten an. Ich war auf hundert Welten und habe kaum angekratzt, was da draußen alles unterwegs ist. Nicht bloß Sphärenwelten wie die unsere hier. Räderwelten, Spindelwelten, Bruchwelten, Gitterwelten … Welten, für die wir gar keinen Namen haben. Wollt ihr euch ein paar davon zu Gemüte führen? Wenn ihr unterwegs die eine oder andere Blase knackt, seid ihr hinterher vergoldet.« Er ballte die Faust und schüttelte sie, als hätte er einen Stapel Quorins in den Fingern. »Das bringt euch mehr ein, als ihr auf diesem Misthaufen hier jemals verdienen werdet. Wenn ihr euch ein wenig länger verpflichtet, könnt ihr euch zur Ruhe setzen.«

»Wir könnten das nicht«, sagte ich.

»Vater hat fast unser ganzes Vermögen durchgebracht«, erklärte Adrana. »Deshalb hat er sich diese blöde Investition aufschwatzen lassen, er dachte, damit könnte er das Ruder herumreißen. Jetzt sind wir noch schlechter dran als zuvor.« Sie legte mir beide Hände auf die Schultern und schaute mir fest in die Augen. »Aber wir können das ändern. Lass uns losziehen, nur für eine gewisse Zeit. Ein paar Monate. Dann kommen wir wieder nach Hause und teilen mit Vater, was wir verdient haben. Lass uns zur Abwechslung mal etwas für ihn tun. Oh, er wäre nicht einverstanden – das ist mir klar. Aber die Leute wissen nicht immer, was gut für sie ist.«

»Wahrere Worte wurden nie gesprochen«, bemerkte Mr. Quindar.

»Wissen Sie, wo Rack zu finden ist?«, erkundigte sich Madame Granity.

»In etwa.«

»Dann bringen Sie die beiden dorthin. Sie können es sich doch immer noch anders überlegen? Aber machen Sie Rack klar, dass er uns beiden einen Finderlohn schuldet, wenn sie die Prüfungen bestehen.«

»Und das werden sie«, erklärte Mr. Quindar. »Für so was habe ich einen Riecher. Und diese zwei Schwestern werden mir nicht durch die Finger schlüpfen.«

Ich trat in den vorderen Teil des Zelts, wo Paladin noch immer stumm und reglos auf dem Boden lag. Adrana, Madame Granity und Mr. Quindar folgten mir.

Ich kniete neben dem zerstörten Roboter nieder, berührte vorsichtig das gesprungene Glas und schaute dann zu Quindar auf.

»Es war nicht nötig, so heftig zuzuschlagen.«

»Wenn er es nicht getan hätte«, sagte Madame Granity, »würde euch der Roboter jetzt nach Hause schleppen.«

»Es war nicht Paladins Schuld. Er hat nur getan, was man ihm befohlen hat.«

»Das ist auch alles, was er kann«, sagte Adrana. »Er hat nichts anderes im Kopf als Listen von Befehlen. Wir sind anders, Fura. Wir haben etwas, was Paladin niemals hatte und niemals haben wird – einen freien Willen. Wenn du jetzt nach Hause gehst, dauert es nicht lange, dann holt Vater Mondgesicht, und er gibt dir diese Medizin, die verhindert, dass du älter wirst. Danach bekommst du eine solche Gelegenheit für viele Jahre nicht wieder. Es passiert hier und jetzt. Dies ist unsere einzige Chance, wirklich etwas zu tun.«

Ich sah erst meine Schwester, dann Madame Granity und schließlich Vidin Quindar an.

»Wir werden mit diesem Kapitän Rackamore nur reden«, sagte ich endlich. »Nichts weiter. Und wenn er erklärt, dass wir nicht geeignet sind, und das wird er, dann gehen wir nach Hause und erwähnen die ganze Sache nie wieder. Abgemacht?«

»Abgemacht«, sagte Adrana.

2

Rackamore hatte an einer Seite des Raumhafens von Hadramaw ein Büro angemietet. Es lag so weit oben, dass der Fahrstuhl mehrere Minuten brauchte, um hinaufzukriechen. Der kleine Raum war mit grauem Blech ausgekleidet und hatte ein großes Fenster, aus dem man über Mazarile schauen konnte. Doch da wir uns über der Himmelsdecke befanden, gab es vor dem Fenster nur Vakuum zu sehen. Für mich war es unbegreiflich, wie jemand sich hier wohlfühlen konnte. Ein Schreibtisch war von drei Personen umringt. Zwei saßen an einer Seite mit dem Rücken zum Fenster und sahen uns entgegen, die dritte stand auf unserer Seite und beugte sich über einige Papiere. Die drei führten ein leises Gespräch.

Vidin Quindar, der uns aus der Neurogasse hierher gebracht hatte, war an der Tür stehen geblieben und räusperte sich.

»Ach, Quindar«, sagte der ältere der beiden sitzenden Männer. »Das sind also die Mädchen?«

»Das sind die beiden Hübschen, Käpt’n Rack.«

»Herein mit ihnen. Überlassen Sie alles Weitere mir. Sie können draußen warten.«

Vidin Quindar rieb demütig, fast unterwürfig Daumen und Zeigefinger aneinander. »Prozente und Konditionen wie üblich?«

»Mr. Quindar ist und bleibt ein Halsabschneider. Seien Sie beruhigt, wenn die Mädchen geeignet sind – und das beurteilt Cazaray, nicht ich –, dann kriegen Sie Ihre Quorins.«

Wir stellten uns neben den Mann, der vor dem Schreibtisch stand. Hier ging es eindeutig um irgendeinen Geschäftsabschluss. Der Mann sammelte die Papiere ein und rollte sie fest zusammen. Ich konnte es nicht lassen, einen kurzen Blick darauf zu werfen. Es waren Zeichnungen, weiße Tinte auf blauem Grund; komplizierte Diagramme voller krakeliger Linien und geometrischer Formen. »Kann ich bis morgen mit einem Bescheid rechnen, Kapitän? Ein besseres Angebot kann ich Ihnen nicht machen.«

»Vielen Dank, Mr. Gar«, antwortete der Ältere. »Sie hören von uns.«

Als der Mann mit den Papieren gegangen war, schaute uns der ältere der beiden Verbliebenen an und erklärte: »Draußen vor Trevenza Reach haben wir mehr als vierzig Hektar Segel verloren. Habt ihr eine Vorstellung, was Segel kosten? Sie werden heutzutage nicht mehr hergestellt, auch wenn man euch vielleicht etwas anderes erzählt hat. Die Großhändler – Männer wie Gar – sammeln die Überreste ein, messen die angeforderten Formen aus und nähen alles zu passenden Flächen zusammen. Dann verkaufen sie das Zeug an uns – die armen Teufel, denen das Material zuvor gehörte – für etwa das Zehnfache dessen zurück, was wir bei dem Geschäft ursprünglich verdient haben.« Seine Stimme bekam einen mahnenden Unterton. »Aber ohne Segel können wir nicht arbeiten, und ein schlechtes Segel ist schlimmer als gar kein Segel, weil es einen in falscher Sicherheit wiegt. Gar hat einen guten Ruf.«

»Seine Preise leider auch«, bemerkte der zweite Mann.

»Sind Sie vor Trevenza Reach in Schwierigkeiten geraten?«, fragte ich.

Kapitän Rackamore sah mich mit wohlwollendem Interesse an. »Hast du von der Welt gehört?«

»Gelesen. Sie kreist in einem der höchsten Orbits, und der ist sehr exzentrisch. Sie muss schon vor langer Zeit aus der Kongregation ausgebrochen sein – vielleicht wurde sie durch eine Kollision in die Leere hinausgestoßen.«

»Soweit richtig«, bestätigte Rackamore. »Nein, Schwierigkeiten gab es nicht – jedenfalls nicht von der Art, die du meinst. Wir sind lediglich in eine Schrottwolke hineingeflogen, und dabei wurde unser Focksegel übel durchlöchert. Mussten mit Ionenantrieb zurückhumpeln. Kein Beschuss, keine Piraten. Bist du jetzt enttäuscht?«

»Raumschrott hört sich auch gefährlich an«, sagte Adrana.

»Manchmal schon.« Rackamore nickte meiner Schwester zu. »Schnelligkeit ist unser wichtigster Verbündeter, und wenn wir eine dickere Panzerung hätten, wären wir zu langsam, um noch wirtschaftlich arbeiten zu können. Also gehen wir das Risiko ein. Aber ich würde die Gefahr nicht überbewerten: man verliert viel eher ein Segel, als dass man einen Rumpftreffer abbekommt.«

Er sah etwas zu auffallend gut aus, wie ein Prinz in einem Bilderbuch. Kantiges Kinn, durchdringender Blick, charakteristische Nase. Wohlgeformte Wangenknochen. Hochgewölbte, aristokratische Augenbrauen. Ein grausamer Zug um den Mund. Das lange Haar war ordentlich zurückgebunden. Selbst im Sitzen wirkte er hochgewachsen, mindestens so groß und dünn wie Vidin Quindar, aber so kultiviert, dass er sich überall auf Mazarile hätte sehen lassen können. Sein weißes Hemd war fleckenlos, die spiegelblank gewienerte Lederweste knarrte, wenn er sich vorbeugte.

In einer Hand hielt er einen Mehrstreifen-Quorin. Mit dem klopfte er nun auf den Tisch.

»Seht selbst«, sagte er, schob einige der Papiere beiseite und legte ein handbeschriebenes Blatt frei. »Das ist eine Aufstellung meiner Verluste über die letzten zehn Jahre – Besatzungsmitglieder, die ums Leben kamen, verwundet wurden oder nicht zurückkehrten; dagegengestellt die Kapitalgewinne. Cazaray verbürgt sich für die Richtigkeit.«

Der jüngere Mann neben ihm nickte.

»Ich habe zwei Revisoren, drei Aufschließer, einen Taxator und einen Integrator verloren«, fuhr Rackamore fort. »Damit liegt die Verlustrate bei den Objekten, die wir im Visier haben, im üblichen Rahmen. Im gleichen Zeitraum haben wir siebzehn Blasen angesteuert und dreizehn davon geknackt. Den Integrator habe ich verloren, als ein technisches Gerät aus der Fünften Okkupation zum Angriff überging.«

Ich schluckte.

»Aber das kommt selten vor«, fuhr er fort. »Integratoren bleiben gewöhnlich auf dem Schiff, wenn sich meine Teams eine Blase vornehmen, und auf dem Schiff ist man immer am sichersten. Für einen Sympathen – einen Knochenleser – besteht kein Anlass, das Schiff zu verlassen.« Mit einem sauber manikürten Fingernagel fuhr Rackamore eine der Spalten auf dem Blatt nach. »Seht selbst. Hier ist kein einziger Knochenleser verzeichnet.«

»Warum brauchen Sie dann einen neuen?«, wollte Adrana wissen.

Rackamore sah sie überrascht an. »Hat euch Mr. Quindar auf dem Weg zum Raumhafen nicht gesagt, in welcher Situation wir sind?«

»Dieser Grinsespinne ein ehrliches Wort zu entlocken war die Anstrengung nicht wert«, erklärte Adrana.

»Hm.« Rackamore machte ein betretenes Gesicht. »Erklär es ihnen, Cazaray.«

Der jüngere Mann war ebenso gut gekleidet wie Rackamore. Seine Stimme war zwar höher, aber man hörte auch ihm an, dass er eine gute Bildung genossen hatte. Sein rosiges Gesicht war sauber gewaschen, das blonde Haar verwegen zerzaust. »Selbst die Besten von uns können sich nicht ewig auf diesem Posten halten, Miss …«

»Adrana«, antwortete sie ruhig und sah ihm in die Augen.

»Und ich bin Arafura«, warf ich ein.

Cazaray nickte und schaute eine Spur verlegen zwischen uns hin und her, bevor er den Blick auf Adrana ruhen ließ. »Wir fangen früh an – je jünger, desto besser, ganz allgemein gesprochen. Je mehr sich die Verknüpfungen im Gehirn verfestigen, desto mühsamer wird es, die Kohärenz mit dem Schädel aufrechtzuerhalten oder sich auf Veränderungen innerhalb des Schädels einzustellen. Und sich an einen vollkommen neuen Schädel zu gewöhnen ist nahezu unmöglich.« Er lehnte sich zurück. »Das ist nicht weiter tragisch. Ich hatte eine gute Zeit, und ich gebe gerne zu, dass ich als Knochenleser nicht schlecht gefahren bin.«

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte ich.

»Zuerst bilde ich meinen Nachfolger aus – das ist keine Kleinigkeit. Danach würde ich mich gern zur Ruhe setzen. Verdient habe ich genug.« Jetzt bemerkte ich die Entrücktheit in seinem Blick, die andere Leute angeblich auch bei uns feststellten. »Wenn man unter jemandem wie Kapitän Rackamore auf einem guten Schiff wie der Monettas Weh fährt, reichen zehn Jahre, um sein Auskommen zu haben. Solange man keine übertriebenen Ansprüche stellt.«

»Wir haben nicht vor, für zehn Jahre anzuheuern.«

Rackamore verzog die schmalen Lippen zu einem Lächeln. »Ich hatte auch nicht vor, zwei Unbekannte ohne jede Erfahrung für zehn Jahre unter Vertrag zu nehmen. Hat Quindar nicht von sechs Monaten gesprochen? Darunter lohnt es sich nicht, dass Cazaray euch ausbildet. In sechs Monaten habt ihr Zeit, zu zeigen, was in euch steckt, und könnt feststellen, ob euch das Leben an Bord zusagt. Es geht nicht bloß darum, dass ihr für das Flüstern empfänglich seid. Ein guter Knochenleser braucht auch eine leserliche Handschrift, um schnell saubere Niederschriften anzufertigen, außerdem muss er nicht nur aufnehmen, sondern auch senden können. Die Frage ist, wollt ihr überhaupt euer Glück im Weltall versuchen?«

»Wir haben keine Angst«, versicherte ihm Adrana.

»Wenn Quindar nicht der Meinung wäre, dass Potenzial vorhanden ist, hätte er euch nicht hergebracht. Was meinst du, Cazaray? Könntest du mit ihnen arbeiten?«

»Die Auswahl an Kandidaten ist nicht gerade überwältigend groß«, sagte Cazaray. »Und besser als Garval sind sie allemal …« Doch dann verstummte er und presste die Lippen zusammen.

»Ich habe von anderen Schiffen gehört, wo Geschwister an den Knochen arbeiten.« Rackamore betrachtete uns nachdenklich und strich dabei über den Quorin. »Wenn die beiden gemeinsam imstande wären, dem Schädel etwas Sinnvolles zu entlocken, könnte das ein Vorteil für uns sein.«

Ich zog die Liste näher zu uns heran. »Die Zahlen hier«, sagte ich und tippte auf eine der Spalten. »Sind das die Löhne, die Sie Ihren Besatzungsmitgliedern zahlen würden?«

»Pro Jahr und unter der Voraussetzung, dass wir bei den Blasen halbwegs erfolgreich sind, richtig.«

»Das ist eine Menge Geld.«

Adrana zog die Liste auf ihre Seite. »Sie halbieren diese Zahl, denn es sind nur sechs Monate, und dann verdoppeln Sie sie wieder, schließlich sind wir zu zweit. Nur weil wir Schwestern sind, gibt es keinen Nachlass. Damit kommen wir bereits auf Quorins im Wert von achtzig Streifen. Ich will nicht sagen, dass damit alle unsere Verluste ausgeglichen wären, aber …«

»Verluste?«, erkundigte Rackamore sich neugierig.

»Unser Vater hat sich verspekuliert«, erklärte ich. »Er hatte Geld in Malang Lars Expedition gesteckt.«

Rackamores Blick drückte verhaltenes Mitgefühl aus. »Ja, die Sache war für alle Seiten bedauerlich. Wir sind vorsichtig – das will ich nicht bestreiten. Aber Lar hat die Vorsicht übertrieben und sich auf die flachen sonnenwärtigen Prozessionen und auf Blasen beschränkt, die bereits gut erforscht waren. Leider ist bei diesen Blasen die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie auch ihre Schätze schon preisgegeben haben.« Gleichmütig zuckte er mit den Achseln. »Und so war es auch. Hat es eure Familie sehr schlimm getroffen?«

»Unsere Eltern kamen vor unserer Geburt nach Mazarile«, sagte ich. »Sie waren vor einer Wirtschaftskrise geflüchtet und hofften, auf Mazarile bessere Chancen zu haben.«

»Doch genau zu diesem Zeitpunkt rutschte Mazarile seinerseits in eine Krise«, fuhr Adrana fort. »Den Crash von 1781.«

»Gutes Timing war nicht ihre Stärke«, sagte ich. »Aber sie haben sich redlich bemüht. Sie kamen nur mit ein paar Habseligkeiten, etwas Kapital und einem alten Roboter hier an. Nach der Rezession mussten sie uns aus der Schule nehmen. Das Schulgeld war zu hoch. Seither lernen wir zu Hause mit dem Roboter. Vater hoffte, die Lar-Expedition könnte uns aus der Misere herausholen.«

»Wir sollten Malang Lars Leistung nicht kleinreden«, bemerkte Rackamore, doch seine Großmut klang nicht ganz echt. »Jedes Fitzelchen Geschichte, das wir bergen können, verringert unsere Unwissenheit. Ein Leuchtfeuer im Dunkeln.«

»Aber das bringt nichts ein«, sagte Adrana. »Und wenn Sie eine Blase öffnen und Relikte, handfeste Relikte herausholen, die auch tatsächlich einen Wert haben, ist doch gewöhnlich auch ein Stück Geschichte dabei.«

»Bisweilen schon«, räumte Rackamore ein.

»Bei Lar war das nicht so«, sagte Adrana. »Deshalb müssen Arafura und ich uns Ihrer Crew anschließen. Wir heuern an, Cazaray wird uns ausbilden. Und dann werden wir uns unseren Lohn verdienen.«

»Und nach sechs Monaten verlasst ihr uns wieder?«

»In sechs Monaten kann viel passieren, Kapitän«, sagte Adrana. »Vielleicht sind Sie dann froh, uns los zu sein. Oder wir kommen auf den Geschmack …«

»Cazaray?«

Der junge Mann neigte sich zu ihm, ohne den Blick von uns zu wenden, und flüsterte ihm zu: »Ich denke, wir nehmen sie, Kapitän. Standardprobezeit sechs Monate. Die üblichen Konditionen.«

Rackamore klopfte mit dem Quorin auf die Tischplatte wie ein Richter vor der Urteilsverkündung. »Schön, wir fertigen die Papiere aus. Immer vorausgesetzt, mein Geschäft mit dem Segelmacher kommt zum Abschluss, verlassen wir in einem Tag den Orbit. Habt ihr beiden noch irgendetwas zu erledigen?«

Es klopfte an der Tür, und ein langes, blasses Gesicht erschien in der Spalte.

»Quindar«, rief Rackamore gereizt. »Ich hatte Sie doch gebeten, draußen zu warten. Wir sind hier noch nicht fertig.«

»Bitte um Verzeihung, Käpt’n, aber ich dachte mir, Sie würden gern ein Schwätzchen mit dem Typen halten, der eben gekommen ist. Nennt sich Mr. Ness und sagt, er ist der Vater der beiden Hübschen, und er ist ganz und gar nicht begeistert von dem, was da gelaufen ist. Ach ja, Gendarmen hat er auch dabei.«

Rackamore seufzte. »Führen Sie den Mann herein.«

Vater drängte sich an Vidin Quindar vorbei, die beiden Gendarmen mit ihren blitzenden Schulterstücken bauten sich hinter ihm auf. Vater hatte seinen Kragen geöffnet, und die Haare standen ihm zu Berge, als wäre er in seiner Besorgnis zu oft mit der Hand hindurchgefahren. Er war grau im Gesicht.

»Ihr seid weggelaufen.« Vater schüttelte den Kopf, als hätten die Worte kein Recht, über seine Lippen zu kommen. »Ihr seid vor mir weggelaufen. Alle beide. Die Gendarmen haben Paladins Überreste gefunden! Der Roboter war halb so viel wert wie unser Haus, und nun ist er ein Haufen Schrott. Ihr habt Schande über mich gebracht und das Andenken eurer Mutter …«

»Mr. Ness«, unterbrach ihn Rackamore in beschwichtigendem Ton. »Wir finden sicher eine Lösung. Ich bin von Ihren Töchtern beeindruckt und möchte sie gern auf meinem Schiff mitnehmen. Wir werden uns gut um sie kümmern, und in sechs Monaten können sie nach Hause zurückkehren, wenn sie das wollen.«

»Sie sind noch nicht volljährig.«

»Ich schon«, widersprach Adrana. Dann sah sie mich an und fuhr fort: »Und wenn sich Arafura meiner Vormundschaft unterstellen möchte, kann sie das jederzeit tun. Das ist vollkommen legal. Du kannst sie nicht daran hindern.«

Vater fasste sich mit der Hand an die Brust. Er hatte ein schwaches Herz, das wussten wir beide, irgendein Fehler, an den sich die Ärzte auf Mazarile nicht heranwagten. Aber er hatte sich auch angewöhnt, in Augenblicken wie diesem seine Schwäche auszuspielen.

»Das tust du nicht«, sagte er.

»Kapitän«, sagte Adrana. »Kann ich mir diesen Quorin genauer ansehen?«

Rackamore reichte Adrana die dicke Metallscheibe. Sie drehte sie in der Hand hin und her und starrte auf die ständig wechselnden Muster, die über ihre Oberfläche flimmerten, als wäre die Scheibe eine Öffnung in eine höhere, multidimensionale Realität.

»Sie haben diesen Quorin als Briefbeschwerer verwendet, Kapitän«, stellte Adrana fest.

»Richtig.«

»Er ist viel wert, nicht wahr?«

»Hundert Streifen.«

Adrana sah Vater an. »Das ist fast so viel, wie du in die Lar-Expedition investiert hast. Fura und ich könnten in sechs Monaten achtzig Streifen verdienen – oder mit etwas Glück noch mehr. Nicht wahr, Kapitän?«

Rackamore nahm Adrana den Quorin wieder ab und schob ihn in eine Tasche seiner Weste, wo er sich als kreisförmige Wölbung abzeichnete. »Ich sehe, dass Ihnen Ihre Töchter am Herzen liegen, Mr. Ness«, wandte er sich an Vater. »Außerdem habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie in bedrängten Verhältnissen leben. Lassen Sie mich die Bedingungen klarstellen. Sobald Ihre Töchter sich verpflichtet haben, sich meiner Besatzung anzuschließen, hinterlege ich auf der Bank von Hadramaw eine Summe von zwanzig Streifen ausschließlich zugunsten der Familie Ness. In sechs Monaten kann über dieses Guthaben verfügt werden – ohne Rücksicht darauf, wie sich Ihre Töchter bewähren oder wie viele Prisen wir machen.«

»Und währenddessen verschwinden Sie mit meinen Töchtern ins All.« Vater zerrte mit einem Finger an seinem schweißfeuchten Kragen.

»Damit wir uns richtig verstehen.« Rackamore beugte sich gerade so weit vor, dass ein Eindruck von Autorität, ja, sogar von Bedrohung entstand, den ich bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte. »Ich bin Pol Rackamore, Kapitän des Sonnenseglers Monettas Weh. Ich führe ein strenges Regiment und erwarte von meiner Crew hervorragende Leistungen und unbedingte Loyalität. Ich verspreche den Leuten keine Reichtümer. Das kann kein Kapitän, wenn er bei der Wahrheit bleiben will. Aber eines kann ich Ihnen sagen: solange in meinen Adern Blut fließt, solange meine Knochen noch Mark enthalten und solange in meinen Grauen noch Feuer brennt, können Sie mir Ihre Töchter getrost anvertrauen. Ich habe Besatzungsmitglieder verloren, ich habe sogar ein Schiff verloren. Aber ich habe noch nie einen Knochenleser verloren, und ich habe nicht vor, meine Gewohnheiten zu ändern.«

»Es sind doch nur sechs Monate«, sagte Adrana.

Der Kapitän sah jetzt mich an. »Angenommen, das Gesetz – das Gesetz von Mazarile – lässt zu, dass du dich unter die Vormundschaft deiner Schwester begibst, und das werden wir herausfinden, bevor wir den Hafen verlassen, bist du dann immer noch dazu bereit?«

Ich sah erst Adrana an, dann Vater, den Quorin, der sich auf Rackamores Tasche abzeichnete, und noch einmal Vater. Er sah aus, als wolle er gleich in Ohnmacht fallen oder noch Schlimmeres. Jetzt war er nicht mehr nur grau im Gesicht, sondern wirkte so durchsichtig wie ein Blatt Papier, das man im Regen liegen gelassen hatte. Wahrscheinlich hoffte er immer noch, er würde aufwachen und feststellen, dass das alles nur eine Folge von zu viel Alkohol und zu schwerem Essen war.

»Ja«, sagte ich.

»Sie scheint sich entschieden zu haben«, erklärte Rackamore meinem Vater.

Der trat einen Schritt zurück, als wollte er gleich zusammenbrechen. Einer der Gendarmen fasste ihn am Arm, und Vater warf ihm einen Blick zu, in dem sich Dankbarkeit und Groll mischten.

Seine Stimme klang gepresst. »Wohin fliegen Sie mit Ihrem Schiff, Kapitän?«

Rackamore verzog bedauernd das Gesicht. »Das kann ich Ihnen leider nicht verraten, Mr. Ness. Natürlich haben wir eine Vorstellung von unserer Route. Aber welche Blasen wir uns ausgesucht haben, ist Geschäftsgeheimnis. Da draußen sind andere Schiffe und andere Besatzungen unterwegs, und so mancher würde vor nichts haltmachen, um uns zuvorzukommen. Ich fürchte, Ihre Töchter werden sich auch nicht oft bei Ihnen melden können, bis wir wieder zurück sind.«

»Wie lange?«, fragte Vater. Die Verzweiflung grub tiefe Falten in sein Gesicht.

»Ein paar Monate. Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen.« Rackamore war die Situation sichtlich peinlich. »Ich kann nichts garantieren. Aber je nach Verlauf besteht die Chance, dass wir auf Trevenza Reach Zwischenstation machen, bevor wir nach Mazarile zurückkehren. Sollte das der Fall sein, dann hätten Ihre Töchter reichlich Gelegenheit, eine Nachricht nach Hause zu schicken.«

»Arafura«, sagte Vater. »Ich flehe dich an. Deine Schwester kann ich nicht umstimmen. Aber tu du mir das nicht an. Komm nach Hause zurück.«

Vor mir lag eine Zukunft, die so sicher und berechenbar, so vertraut und bequem war wie ein alter Sessel, und in diesem Moment war ich nahe daran, die ganze Sache aufzugeben und mich damit zufriedenzugeben. Doch dann dachte ich an unser Haus, an die Kuppel oben auf dem Dach, an die Nächte, in denen ich ins All hinausgeschaut und die Welten gesehen hatte, und an die Wunschträume, die ich damit verbunden hatte. Ich dachte an die geheimnisvolle Magie ihrer Namen, von Vispero über Dargaunt bis Trevenza Reach. Und an die zahllosen Welten jenseits davon, die Zehntausende von Himmelskörpern, auf denen Menschen lebten, an die Sonnensegler, die zwischen ihren Umlaufbahnen den Photonenwinden nachjagten, und an all den Reichtum und den Ruhm, die auf ihre Crews warteten.

»Es tut mir leid, Vater«, sagte ich. »Ich habe dich sehr lieb, das weißt du. Aber ich muss mit Adrana gehen.«

»Ich werde nicht ruhen«, erklärte Vater, und mir war nicht klar, ob diese Warnung an uns oder an Rackamore gerichtet war. »Ich bin weder reich, noch habe ich viel Einfluss. Aber ich werde alle Welten in Bewegung setzen, um meine Töchter nach Hause zu holen. Darauf können Sie sich verlassen.« Und er drohte ihm mit dem Zeigefinger, doch dabei zitterte seine Hand mehr, als ihm lieb sein konnte.

»Warte auf eine Nachricht von Trevenza Reach«, sagte ich. »Und sollte sie ausbleiben, dann melden wir uns, wenn wir nach Mazarile zurückkehren.«

Damit nahm ich Adranas Hand und wandte mich von ihm ab, denn ich ertrug es nicht, ihn weiter anzusehen.

Mit leisem Grollen sprangen die Raketen an, mit einem Ruck öffneten sich die Halteriegel, und dann schwebten wir frei und entfernten uns von Mazarile.

Die Fähre hatte vier Sitzreihen mit je einem Sitz auf jeder Seite und einem Gang dazwischen. Jeder Sitz hatte ein eigenes Fenster. Ganz vorne, wo der Rumpf in das kugelförmige Ende überging, thronte Kapitän Rackamore auf einem einzelnen Pilotensessel vor einem Halbkreis aus runden Fenstern. Er hantierte mit Hebeln und Steuerknüppeln, während auf der gewölbten Konsole vor ihm Zeiger hin- und herhüpften und Anzeigen flimmerten.

Im Raumhafen von Hadramaw waren wir noch leichter gewesen, doch nun stieg das Gewicht rasch wieder an.

Rackamore drehte sich zu uns um. »Auf dem Weg zur Monettas Weh beschleunigen wir bis auf drei GE«, sagte er. »Das ist mehr, als ihr gewöhnt seid, aber wenn ihr gut in Form und gesund seid, dürfte euch das nicht zu sehr belasten.« Ein Blick in unsere ratlosen Gesichter hatte ihn wohl nachdenklich gemacht. »Ihr wisst doch, was ich mit einer GE meine?«

»Gehen Sie mal lieber nicht davon aus«, sagte ich.

Er lächelte nachsichtig. »Erklär es ihnen, Cazaray. Ich muss den Vektor programmieren.«

»Eine GE ist die Standardeinheit für die Beschleunigung in der Kongregation«, sagte Cazaray. Adrana und ich saßen zu beiden Seiten des Ganges nebeneinander, Cazaray eine Reihe weiter vorne unmittelbar hinter Rackamore. »Sie entspricht der Schwerkraft, die man spürte, wenn man vor dem Zertrümmerungstag auf der Erde stand – falls man den Berichten glauben kann. Auch die Schwerkraft auf Mazarile in den Straßen von Hadramaw beträgt ziemlich genau eine GE. Aber das liegt nur daran, dass man im Zentrum von Mazarile einen Verschlinger mit einer bestimmten Masse platziert hat, damit sich das Gewicht an der Oberfläche natürlich anfühlt. Hätte man den Verschlinger größer – oder Mazarile kleiner – gemacht, ihr hättet euch viel schwerer gefühlt. So ist es auf vielen Welten, ob mit oder ohne Verschlinger. Auch auf den Welten, die sich drehen – Räderwelten, Schalenwelten und so weiter – beträgt die Schwerkraft oft etwa eine GE. Aber nicht, weil wir sie erst vor Kurzem so geschaffen hätten. Sie sind schon seit ewigen Zeiten so, weil es den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Manchmal veränderten die Bewohner die Welten nach ihrem Gutdünken, beschleunigten oder verlangsamten sie, setzten Verschlinger ein oder entfernten sie, aber die meisten blieben, wie sie waren.«

»Von was für einer Welt kommen Sie, Mr. Cazaray?«, fragte ich höflich wie ein wohlerzogenes Mädchen.

Er grinste mich an. »Schon gut, Cazaray reicht. Mit Vornamen heiße ich Perro, aber das hat mir noch nie gefallen – es ist kein besonderer Name. Und ich komme von Esperity. Hast du davon gehört?«

Vielleicht hatte ich den Namen im Buch der Welten gelesen, aber ganz sicher war ich mir nicht.

»Ich glaube nicht.«

»Sie ist nicht sehr bekannt. Esperity ist keine schlechte Welt, ganz und gar nicht. Es ist eine Röhrenwelt, eine lange Tonne, mit Atmosphäre gefüllt. Ähnlich wie ein Lungengastank, mit Fenstern nach draußen, um die Alte Sonne reinzulassen. Röhrenwelten gehören angeblich zu den ältesten Welten in der Kongregation, aber sie sind nicht sehr robust, deshalb haben sich nicht viele erhalten. Die Historiker glauben, dass zwischen der Zweiten und der Dritten Okkupation ein Krieg stattgefunden hat, ein schlimmer Krieg. Wie auch immer, Esperity war nicht schlecht, aber wenn man nicht gerade Bankier oder Börsenmakler werden will, hat man dort wenig Möglichkeiten. Ich dachte, ich hätte vielleicht die Gabe, aber auf Esperity gibt es niemanden wie Madame Granity. Um auch nur den einfachsten Eignungstest ablegen zu können, musste ich bis nach Zarathrast.«

Er wandte sich nach vorne, denn das Gewicht stieg an, und selbst Cazaray empfand es wohl als Belastung. Als ich mich in meinen Sessel gesetzt hatte, war er noch bequem gewesen, doch jetzt fühlte er sich an, als bestünde er aus lauter Messern. Ich war nicht in Gefahr, das Bewusstsein zu verlieren, aber selbst das Atmen wurde allmählich mühsam, und wenn ich versuchte, meine Hand von der Armlehne zu heben, zitterten alle Muskeln. An Sprechen war nicht zu denken.

Aber das störte mich nicht weiter, denn es gab eine Unmenge von neuen Eindrücken aufzunehmen.

Das kleine Fenster zu meiner Linken war nicht ganz so groß wie ein Essteller, aber ich konnte schon jetzt so viel von Mazarile sehen wie noch nie zuvor in meinem Leben. Wenn Adrana rechts aus dem Fenster schaute, war es ebenso. Ihr schlaffes Gesicht mit dem herabhängenden Unterkiefer verriet mir, dass sie die Aussicht umwerfend fand.

Ich konnte das gut nachfühlen.

Mazarile war unsere Heimat gewesen, unser Universum, wir hatten nie etwas anderes gekannt. Im Buch der Welten hatten wir von anderen Welten gelesen, wir hatten sie in der Nacht aufblitzen sehen, Paladin hatte uns Bilder und Filmszenen an die Wand projiziert, und Vater hatte ihre Namen gemurmelt, wenn er den Wirtschaftsteil in der Zeitung las. Aber auf diesen Anblick hatte uns das alles nicht vorbereitet.

Mazarile war winzig.

Wir hatten den gekrümmten Horizont vom Raumhafen Hadramaw aus gesehen, doch jetzt war aus dem Bogen fast ein Kreis geworden. Die Lichter von Hadramaw lagen wie eine glimmende Wunde unter dem feinen Narbengewebe des Himmelsgewölbes. Ich entdeckte auch Bacramal, Kasper, Amlis – kleinere Städte, jede unter ihrem eigenen Flickenteppich. Die Krümmung wurde steiler, und alsbald kam die Tagseite in Sicht – mit Städten wie Incer, Jauncery und Mavarasp. Ich entdeckte den Tesseler, ein Krater, von dem es hieß, er habe einmal eine Stadt enthalten, die doppelt so groß war wie Hadramaw. Zwischen diesen Siedlungen befanden sich kleinere Ortschaften und Häusergruppen, die man ohne den Schutz der Himmelsdecke auf die Oberfläche gesetzt hatte. Mit Namen kannte ich keine davon.

All das auf einer Welt mit einem Durchmesser von etwas mehr als acht Leugen oder fünfundvierzig Kilometern, und keiner dieser Orte bedeckte mehr als eine einzige Leuge der Oberfläche.

Jetzt wurde mir erstmals wirklich klar, dass die Raumhäfen – der eine bei Hadramaw und der andere auf der Gegenseite bei Incer – wie zwei Hörner aus unserer Welt herausragten. Sie waren noch einmal so lang wie der Radius von Mazarile, sodass die Entfernung vom Verschlinger bis zur Spitze jedes Raumhafens mehr als sechzehn Leugen betrug.

»Beeindruckt?«, fragte Rackamore.

»Ich weiß nicht«, sagte ich, und das war die reine Wahrheit. Es war eindrucksvoll, unsere ganze Welt mit einem Blick erfassen zu können, aber ich fühlte mich auch klein und unbedeutend und fand es fast ein wenig dumm, Mazarile jemals für etwas Besonderes gehalten zu haben.

Denn das war es nicht.

»Für eine Welt von der Größe Mazariles wäre ein