Enigma - Alastair Reynolds - E-Book

Enigma E-Book

Alastair Reynolds

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Beschreibung

Die Sterne halten noch viele Geheimnisse für uns bereit

Die Zukunft: Die Menschheit hat die Grenzen unseres Sonnensystems hinter sich gelassen und auf fremden Planeten neue Kolonien gegründet. Eines Tages erreicht die Kolonie Crucible eine Botschaft aus den Tiefen des bisher unerforschten Universums. Man steht vor einem Rätsel: Was hat die Nachricht zu bedeuten? Wer hat sie geschickt? Und warum? Eine Expedition wird ausgesandt, um diese Fragen zu beantworten. Die Wissenschaftler stehen am Beginn des größten Abenteuers der Menschheit – einer Reise in den Dark Space ...

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Seitenzahl: 1268

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Das Buch

Die Zukunft: Die Menschheit hat die Grenzen unseres Sonnensystems hinter sich gelassen und auf fremden Planeten neue Kolonien gegründet. Eines Tages erreicht die Menschen auf Crucible eine geheimnisvolle Botschaft aus den Tiefen des bisher unerforschten Universums: Schickt Ndege. Man steht vor einem Rätsel: Was hat die Nachricht zu bedeuten? Wer hat sie geschickt? Und warum soll ausgerechnet Ndege Akinya zu einem unbekannten Planeten reisen? Gemeinsam mit einer Gruppe von Wissenschaftlern macht sich Goma, Ndeges Tochter, auf, um diese Fragen zu beantworten. Es ist der Beginn einer atemberaubenden Expedition, an deren Ende vielleicht sogar das Geheimnis des Reisens mit Lichtgeschwindigkeit gelöst werden kann. Ein Geheimnis, dem nicht nur die Bewohner Crucibles auf die Spur kommen wollen …

Enigma ist das packende Finale von Alastair Reynolds großer Trilogie, in der er die Geschichte der Familie Akinya erzählt – eine Geschichte, die Hundertausende von Jahren in die Zukunft und in die Weiten des Universums hineinreicht.

Die Poseidons Kinder-Trilogie:

Erster Roman: Okular

Zweiter Roman: Duplikat

Dritter Roman: Enigma

Der Autor

Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete viele Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt Agentur ESA, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Von Alastair Reynolds sind unter anderem im Heyne Verlag erschienen: Unendlichkeit, Himmelssturz, Aurora, Okular und Duplikat sowie DieMedusa-Chroniken, die er gemeisam mit Stephen Baxter verfasste.

Mehr über Alastair Reynolds und seine Romane erfahren Sie auf:

Alastair Reynolds

Enigma

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Titel der englischen OriginalausgabePOSEIDON’S WAKE

Deutsche Übersetzung von Irene Holicki

Deutsche Erstausgabe 09/2017

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2015 by Alastair Reynolds

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/3000ad

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-18615-9V002

www.diezukunft.de

www.penguin.de

Für Louise Kleba, mit der alles anfing

I have come to the borders of sleep

The unfathomable deep

Forest where all must lose

Their way, however straight

Or winding, soon or late;

They cannot choose.

– Edward Thomas

1

Eines Abends beschloss Mposi Akinya, seine Schwester zu besuchen. Er nahm sich einen Wagen und fuhr vom Parlamentsgebäude im Herzen von Guochang durch das Regierungsviertel und dicht besiedelte Wohngebiete. Als er endlich die bewachte Anlage um ihr Haus erreichte, ging er zu Fuß zum Tor und zeigte seinen Ausweis vor, obwohl ihn die Wachen durchwinken wollten, ohne einen Blick auf seinen Berechtigungsnachweis zu werfen.

Er ging weiter zur Haustür, klopfte an und wartete, bis Ndege ihm öffnete. Die Arme vor der Brust verschränkt, blieb sie zunächst in der Tür stehen und versperrte ihm mit schief gelegtem Kopf den Weg. Ihre abweisende Miene verriet keine Freude über sein Kommen. Sie war immer noch größer als er, obwohl sie inzwischen beide im Greisenalter waren. Mposi hatte ein Leben lang ertragen müssen, dass sie auf ihn herabschaute.

»Ich habe dir Grünbrot mitgebracht.« Er reichte ihr die in Papier gewickelten Laibe. »Es ist noch ganz frisch.«

Sie nahm das Päckchen, schlug das Papier auf und roch misstrauisch an dessen Inhalt. »Ich hatte dich erst gegen Ende der Woche erwartet.«

»Ich weiß, ich komme unangemeldet, aber ich verspreche dir, es dauert nicht lange.«

»Also gut. Ich habe viel zu lesen.«

»Wann wäre das jemals anders gewesen, Schwester?«

Ndege zögerte noch einen Moment, dann lenkte sie ein, ließ ihn ins Haus und führte ihn in die Küche. Sie musste am Tisch gesessen haben, denn ihre schwarzen Notizbücher waren aufgeschlagen, und er sah die eng beschriebenen Spalten mit den sonderbaren Symbolen, die skizzenhaft zueinander in Beziehung gesetzt waren. Bis auf die Bücher und eine kleine Schatulle mit Medikamenten gegen Sauerstofftoxikose war der Tisch leer. Mposi setzte sich an die andere Seite des Tisches.

»Ich hätte dir Bescheid geben sollen, dass ich hierher unterwegs bin, aber ich konnte die Neuigkeit keinen Augenblick länger für mich behalten.«

»Eine Beförderung? Eine neuerliche Erweiterung deiner Befugnisse?«

»Diesmal geht es ausnahmsweise nicht um mich.«

Sie sah ihn kurz an, blieb aber immer noch stehen. »Du erwartest wahrscheinlich, dass ich Chai koche?«

»Nein, heute nicht, vielen Dank. Und das Grünbrot ist ganz allein für dich bestimmt.« Er klopfte sich auf seinen gut gepolsterten Bauch. »Ich habe schon im Amt gegessen.«

Die große, schlanke Ndege nahm die Notizbücher vom Tisch und stellte sie sorgfältig in ihr Bücherregal, bevor sie sich auf dem Stuhl niederließ. Dann sah sie ihn an und wedelte ungeduldig mit den Händen. »Heraus damit, was immer es ist. Schlechte Nachrichten?«

»Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher.«

»Hat es mit Goma zu tun?«

»Nur indirekt.« Mposi legte die Hände auf den Tisch. Er wusste nicht recht, wie er anfangen sollte. »Was ich dir jetzt verraten werde, ist streng geheim. Auf ganz Crucible ist lediglich eine Handvoll Personen eingeweiht, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn das auch so bliebe.«

»Meinen Hunderten von Besuchern werde ich es sicher nicht erzählen.«

»Hin und wieder bekommst du durchaus Besuch. Ein Privileg, das wir nur mit viel Mühe durchsetzen konnten.«

»Und das lässt du mich auch niemals vergessen.«

Ihr Ton war scharf geworden, und vielleicht war ihr das selbst aufgefallen. Sie schluckte und kräuselte mit reuevollem Blick die Lippen. Schweigen trat ein. Mposi ließ den Blick durch die Küche wandern und betrachtete die kahlen, leeren Flächen. Er hatte den Eindruck, dass seine Schwester ihr Leben allmählich zu einem Exponat stilisierte – ein strenges Stillleben, reduziert auf das Wesentliche. Seine eigene Regierung hatte sie zur Gefangenen gemacht, aber Ndege spielte bereitwillig mit und verzichtete gern auch auf die Annehmlichkeiten und Zugeständnisse, die ihr noch verblieben waren.

Irgendwo im Haus tickte eine Uhr.

»Es tut mir leid«, sagte sie endlich. »Ich weiß, du hast dich sehr für mich eingesetzt. Aber allein in diesem Haus zu sitzen und zu wissen, wie die Welt von mir denkt …«

»Wir haben ein Signal aufgefangen.«

Der Satz stand so zusammenhanglos im Raum, dass Ndege die Stirn runzelte. »Ein was?«

»Ein Funksignal – sehr schwach, aber eindeutig nicht natürlich – aus einem Sonnensystem in mehr als zwanzig Lichtjahren Entfernung, das eigentlich niemand aus den besiedelten Systemen bisher erreicht oder erforscht haben kann. Interessanterweise wurde die Stärke des Signals deutlich schwächer, je weiter man sich vom Zentrum des Systems entfernte – das heißt, es wurde nicht in alle Richtungen abgestrahlt, sondern war gezielt auf uns gerichtet. Damit nicht genug – es geht dabei um dich.«

Zum ersten Mal, seit er gekommen war, zeigte sie zumindest einen Funken Interesse, wenn auch nur zögerlich und unter Vorbehalt.

»Um mich?«

»Ganz eindeutig. Dein Vorname wird erwähnt.«

»Es gibt viele Leute, die Ndege heißen.«

»In letzter Zeit nicht mehr. Wir wurden gebeten, dich zu schicken. Schickt Ndege,auf Suaheli. Mehr ist in der Nachricht nicht enthalten. Die Übertragung wurde einige Stunden lang wiederholt und brach dann ab. Diesen Teil des Alls beobachten wir natürlich, aber seither haben wir nichts mehr gehört.«

»Von wo kommt das Signal?«

»Von einem System mit Namen Gliese 163, etwa siebzig Lichtjahre von uns entfernt. Jemand oder etwas hat sich die Mühe gemacht, dort einen Radiosender aufzubauen und uns diese Nachricht zu schicken.«

Ndege nahm die Information so ruhig und konzentriert auf, wie es ihre Art war. Mposi und seine Schwester hatten ihr ganzes Leben zusammen verbracht, und er hatte gelernt, nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede zwischen ihnen zu erkennen. Er redete gern, reagierte auf alles, war ständig in Bewegung und engagierte sich für dieses und jenes. Ndege war die Besonnene, Nachdenkliche, die so gut wie alles hinterfragte.

Sie öffnete die Schatulle mit den Medikamenten, holte eines der Injektionssprays heraus und drückte es sich auf den Unterarm.

»Der Sauerstoff macht mir zurzeit zu schaffen.«

»Mir geht es genauso«, gestand er. »In den ersten Jahren war es hart, dann dachte ich lange Zeit, ich hätte mich angepasst – ich könnte ohne Medikamente leben. Aber das Blut hat ein langes Gedächtnis.«

Sie legte das Spray in die Schatulle zurück, schloss den Deckel und schob den Behälter beiseite.

»Wer hat dieses Signal denn nun geschickt?«

»Das wissen wir nicht.«

Die Uhr tickte weiter. Mposi musterte Ndege, stellte Vergleiche zu seinen eigenen Alterserscheinungen an und überlegte, wie viel von ihrer Gebrechlichkeit wohl auf den Zahn der Zeit und den physiologischen Stress bei der Anpassung an einen neuen Planeten und wie viel auf die Folgen ihrer Gefangenschaft und die öffentliche Bloßstellung zurückzuführen sein mochte. Sie hatte ein schmaleres Gesicht als er, und nach einem kleinen Schlaganfall vor dreißig Jahren war eine leichte Asymmetrie zurückgeblieben. Ihr kurzes weißes Haar war dünn – soweit er wusste, schnitt sie es selbst. Ihre Haut mit den vielen alten Narben und Verfärbungen glich einer Landkarte. In seinen Augen war sie uralt, doch an manchen Tagen erkannte auch er sein eigenes Gesicht kaum wieder, wenn er in den Spiegel schaute, und starrte den vermeintlich Fremden erschrocken an.

Und manchmal genügte eine Veränderung im Licht oder in ihrer Mimik, und sie war wieder die Schwester, mit der er in jungen Jahren auf dem Holoschiff den Helden gespielt hatte.

»Du glaubst, es könnte von unserer Mutter kommen.«

Mposi nickte kaum merklich. »Es ist eine Möglichkeit, mehr nicht. Wir wissen nicht, was aus der Dreieinigkeit – Chiku, Eunice, Dakota – geworden ist.«

»Und du meinst, die drei wollen, dass ich hinfliege und mich mit ihnen treffe?«

»Es sieht ganz danach aus.«

»Dann ist es nur schade, dass ihnen niemand gesagt hat, dass ich ein hinfälliges altes Weib bin, das unter unbefristetem Hausarrest steht.«

Mposi lächelte zuckersüß, ohne sich provozieren zu lassen. »Ich war immer der Auffassung, dass jedes Problem auch eine Chance in sich birgt. Du weißt von den beiden Raumschiffen, die wir derzeit bauen?«

»Manchmal lässt man mich zum Himmel aufschauen.«

»Offiziell haben sie – nach ihrer Fertigstellung – die Aufgabe, unseren Einflussbereich zu erweitern und Handelsbeziehungen zu anderen Systemen aufzubauen. Inoffiziell ist nichts in Stein gemeißelt. Man hat die Fühler ausgestreckt, um möglicherweise mit einem der beiden Schiffe eine Expedition zu starten. Da du in dem Signal ausdrücklich erwähnt wirst, hätte es eine gewisse Folgerichtigkeit, dich mit an Bord zu nehmen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Absolut.«

»Dann verstehst du weniger von Politik, als ich dachte. Ich bin eine Ausgestoßene, Mposi – gehasst von Millionen. Bevor man mir erlaubt, Guochang oder gar das System zu verlassen, trägt man lieber meinen Kopf an einer Stange durch die Straßen.«

»Im Moment steht alles noch in den Sternen. Die Expedition wäre erst in vier bis fünf Jahren startbereit, selbst wenn wir die Vorbereitungen beschleunigen würden. Wenn du dich jedoch bereit erklärst, daran teilzunehmen, und ich es so darstelle, als würdest du dich selbstlos aufopfern, um … ich weiß nicht, Crucibles Stellung zu verbessern, dann könnte das dazu führen, dass deine Haftbedingungen sofort erleichtert würden.«

»Meinungsbildung zu betreiben – darauf verstehst du dich.«

»Zu irgendetwas muss ich doch zu gebrauchen sein. Aber was ich sagen will, ist Folgendes: Selbst wenn du dich prinzipiell dazu bereit erklärst, bist du noch nicht automatisch verpflichtet, tatsächlich an der Expedition teilzunehmen. Bis dahin kann alles Mögliche passieren. Es könnte Probleme mit dem Schiff geben, oder wir könnten nicht durchsetzen, dass es einem anderen Zweck zugeführt wird. Vielleicht entdecken wir auch, dass das Signal nur ein Zufallstreffer war. Oder du erfüllst die medizinischen Kriterien für die Auszeit nicht. Du könntest sogar …«

»… sterben.«

»So schonungslos wollte ich es nicht ausdrücken.«

»Ich habe genügend Abenteuer erlebt, Bruder. Genau wie du. Und das ist das Ergebnis – ich bin eingesperrt und werde von allen gehasst.«

»Du hast dich ein einziges Mal verrechnet.«

»Und das hat vierhundertsiebzehntausend Menschen das Leben gekostet. Glaubst du wirklich, dass sich das mit einer einzigen Tat sühnen lässt?«

»Nein. Aber ich glaube, du hast bereits mehr als genug gebüßt. Überlege es dir, Ndege. Du brauchst dich nicht sofort zu entscheiden.«

»Darf ich mit Goma darüber sprechen?«

»Vorerst lieber nicht. Wenn und falls diese Expedition in greifbare Nähe rückt, kann man bestimmte Aspekte an die Öffentlichkeit bringen. Doch bis dahin sollte die Sache unter uns bleiben. Bruder und Schwester teilen sich eine große Verantwortung – so wie es immer war.«

Ihr Blick drückte Verständnis, aber auch etwas Mitleid aus. »Du sehnst dich nach den alten Zeiten zurück.«

»Ich bemühe mich, es nicht zu tun. Das ist die Art alter Männer, und ich bin nicht gern ein alter Mann.«

»Würdest du mitfliegen, wenn du die Chance hättest?«

»Aus medizinischen Gründen würde man es mir niemals gestatten. Ich bin reif dafür, in Konservierungslösung eingelegt und in ein Schauglas gesteckt zu werden.«

»Und ich nicht?«

»Vergiss nicht, Ndege – du wurdest namentlich genannt. Das ist ein großer Unterschied.«

Sie kniff ein Auge zu, wie immer, wenn sie verwirrt war. »Was habe ich, was du nicht hast? Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir haben das Gleiche erlebt.«

Mposi schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Seine Knie knackten, und ein leises Ächzen entfuhr ihm. »Das ließe sich vermutlich nur in Erfahrung bringen, wenn man das Signal beantworten würde.« Er nickte zu dem Päckchen hin, das er mitgebracht hatte. »Iss das Grünbrot, solange es noch frisch ist.«

»Danke, Bruder.«

Sie erhob sich und begleitete ihn zur Tür. Nachdem sie sich umarmt und Wangenküsse getauscht hatten, kehrte sie ins Haus zurück, und er stand alleine draußen.

Er schaute über die Mauer der Anlage. Die Kuppeln und Ellipsoide dieses alten Viertels von Guochang wurden immer grüner, dahinter erhoben sich rechteckig und fahl die späteren Bauten. Der Abendhimmel hatte sich verdunkelt, und allmählich traten die Ringe hervor. Sie waren auch bei Tag vorhanden, aber zu sehen waren sie fast immer nur bei Nacht. Sie stiegen über den Horizont, wölbten sich über den Zenit und sanken auf der anderen Seite wieder zum Horizont hinab – eine funkelnde Lichterprozession aus tausend winzigen Bruchstücken. Jedes folgte seiner eigenen Bahn, dennoch fügten sie sich zu einem gebänderten Strom zusammen. Ein Schauspiel von betörender Schönheit, hätte man nicht gewusst, was es wirklich bedeutete.

Die Ringe waren noch nicht da gewesen, als die ersten Menschen Crucible erreichten. Sie waren eine Wunde – eine bleibende Erinnerung an einen einzigen katastrophalen Fehler. Obwohl in edelster Absicht begangen, blieb er unverzeihlich. In jenen wilden, hitzigen Zeiten, als die Gesetze für die neue Welt noch im Entstehen waren, hatten viele Ndeges Hinrichtung gefordert.

Mposi war es gelungen, seine Schwester vor der Exekution zu bewahren. Gegen den Himmel war er machtlos.

Die Piste befand sich innerhalb des Reservats, war aber gegen die Elefanten abgeschirmt. Nachdem Goma gelandet war und das alte weiße Flugzeug abgestellt hatte, sammelte sie ihre Sachen ein, kletterte hinaus und ging zu einem schweren Tor in einem vier Meter hohen Elektrozaun. Sie sperrte auf und betrat den in sich abgeschlossenen Bereich mit den Forschungsgebäuden und Fahrzeugen. Im Lauf der Jahre hatte sich das Reservat ausgedehnt, aber das Zentrum bildete nach wie vor ein Kleeblatt von dicht beieinanderstehenden und durch Gänge verbundenen Kuppeln. Sie legte die kurze Strecke bis zur ersten Kuppel zurück und stieg über die Metalltreppe zum Eingang hinauf. Die Gitterstufen klirrten unter ihren Schnürstiefeln.

Drinnen, wo es weniger heiß und feucht war, lag Tomas auf seiner Lieblingskoje, naschte Grünbrot aus einer Papiertüte und blätterte in aufwendig gedruckten Forschungsunterlagen. Als Goma eintrat, lächelte er ihr über die Seiten hinweg zaghaft zu.

»Heim kehrt der Jäger. Wie ist es gelaufen?«

»So wie erwartet.« Goma nahm ihre Sonnenbrille ab und steckte sie in eine Hüfttasche. »Mein Antrag sei gut formuliert und überzeugend begründet, und die Entscheidung würde mir zu gegebener Zeit mitgeteilt werden.«

Tomas nickte verständnisinnig. »Mit anderen Worten, wieder die gleiche Abfuhr.«

»Wir können es nur immer wieder versuchen. Wie sind die Werte für die Alpha-Herde?«

Er rieb sich die Nasenwurzel und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen eine Zahlenkolonne, die mit Tinte überschrieben war. »In der letzten Saison zwei Stufen niedriger. Messbarer Rückgang bei einer ganzen Batterie von Variablen, alle auf drei Sigma signifikant. Vorsichtshalber lasse ich die Ergebnisse noch einmal durchlaufen, aber ich glaube, wir wissen schon jetzt, wie die Kurven aussehen werden.«

»Ja.« Sie wollte schon sagen, er könne sich die Mühe sparen – das Ergebnis wäre sicher das Gleiche –, aber in einem Winkel ihres Herzens hoffte sie doch, dass irgendwo in den Zahlen ein Fünkchen Hoffnung verborgen sein könnte. »Ich bin gekommen, um mit Ru zu sprechen.«

»Sie ist bei den Elefanten. Beta-Herde, glaube ich, Forschungszone Zwei. Du siehst erschöpft aus – soll ich dich hinfahren?«

»Nein, ich komme schon klar, aber Ru macht mir Sorgen. Pass auf, lass die Analyse noch einmal durchlaufen, ja? Isoliere auch die Untergruppe von Agrippa – wenn ein Signal zu finden ist, möchte ich nicht, dass es im Rauschen untergeht.«

»Wird gemacht. Ach ja, gute Arbeit – auch wenn es nicht geklappt hat.«

»Danke«, sagte Goma skeptisch.

Sie verließ die Kuppel, nahm den zweiten Elektro-Buggy, warf ihre Sachen in die hintere Mulde, schnallte sich in den Fahrersitz und fuhr durch das Automatiktor im inneren Zaun in den Hauptteil des Reservats. Dort beschleunigte sie und folgte einem holprigen, kurvenreichen Pfad, wo sie gründlich durchgeschüttelt wurde. Das Reservat mit seinen Steppen und dichteren Baumbeständen stieg von der Ebene aus sanft an. Auf der Erde hätte eine Elefantenpopulation dieser Größe alles bis auf die Wurzeln kahl gefressen, aber auf Crucible waren die Pflanzen das ganze Jahr über unglaublich wuchsfreudig. Hätten die Elefanten sie nicht in Schach gehalten, die ganze Zone wäre binnen weniger Jahre wieder unter dichtem Urwald verschwunden.

Goma kam an vereinzelten kleinen Gebäuden oder Geräteschuppen vorbei. Hier und dort entdeckte sie Elefanten, manchmal von Büschen und Bäumen verdeckt. Vor Kurzem hatte es geregnet, nun glänzte ihre Haut, und manchmal sahen sie Felsblöcken oder kleinen Bergen – der sichtbaren Geologie einer uralten Welt – zum Verwechseln ähnlich. Meistens hielten sie Abstand, misstrauisch, wenn auch nicht wirklich ängstlich. Sie erspähte einen oder zwei Einzelgänger abseits der größeren Herden und umfuhr sie in weitem Bogen. Bullen strotzten vor Testosteron und konnten unberechenbar werden. Im Laufe von Generationen und mit dem schwindenden Einfluss der Tantoren kam die alte Herdendynamik wieder zum Durchbruch.

Schon bald war sie an der Forschungszone, und da war auch die Beta-Herde – die Tiere wurden mit Früchten und Grünbrot angelockt und dann dazu gebracht, an Kognitionsspielen teilzunehmen. Goma und Ru hatten das Forschungsprogramm zusammen entworfen, aber die Gestaltung der einzelnen Aufgaben blieb weitgehend Ru überlassen. Die Aufgaben waren notgedrungen immer einfacher geworden, denn die durchschnittliche Intelligenz der Tiere ging langsam zurück. Die komplexen Tests – die einen hohen Grad von Abstraktionsvermögen erforderten – waren inzwischen überholt. Nur Agrippa konnte sie einigermaßen regelmäßig bestehen, und für eine zuverlässige Probandin war sie zu alt und zu gewieft.

Ru stand hoch aufgerichtet in ihrem eigenen Buggy, eine Schirmmütze tief über die Stirn gezogen. Ein Notebook ruhte auf ihrem rechten Unterarm, in der anderen Hand hielt sie einen Eingabestift, mit dem sie ihre Beobachtungen festhielt.

Goma fuhr langsamer, um das Experiment nicht zu stören. Sie hielt den Buggy an, schnappte sich ihre Sachen und ging den Rest der Strecke zu Fuß.

Die Herde umfasste etwa dreißig Tiere und wurde von der Matriarchin Bellatrix angeführt. Eine Stufe unter ihr standen ältere Weibchen, männlichen Geschlechts waren nur einige Kälber und Jungtiere.

Ru hatte auf einer Lichtung die kognitiven Spiele für den heutigen Tag aufgebaut, nun wurde ein Elefant nach dem anderen dazu ermuntert, sein Glück zu versuchen. Spiegel sollten die Selbstwahrnehmung testen. Töpfe mit Futter darunter wurden vertauscht, und der richtige musste gefunden werden, Scheuklappen dienten einem ähnlichen Zweck. Stabile aufrechte Bretter waren mit beweglichen Symbolen versehen – einfache Logik-, Assoziations- und Gedächtnisaufgaben, bei denen richtige Lösungen erkennbar belohnt wurden. Werkzeuge und andere Gegenstände mussten miteinander kombiniert werden, um etwa Früchte aus einem Behälter herauszufischen. Mit dem ihr eigenen Fleiß hatte Ru diese Tests den ganzen Tag über in verschiedenen Zusammenstellungen abgearbeitet. Die Elefanten waren im Allgemeinen willig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Goma wusste, wie frustrierend es wurde, wenn die Belohnungen nicht mehr reizvoll genug waren.

»Ich könnte ein paar gute Nachrichten vertragen«, sagte Goma, als sie in Hörweite war.

»Dann fang doch damit an. Hast du diese Idioten ordentlich niedergemacht?«

»Bildlich gesprochen.«

»Heißt das, wir kriegen einen brandneuen Zaun?«

»Das ist noch nicht entschieden, aber ich denke, ich habe eine gute Begründung geliefert.«

»Ich hatte nichts anderes von dir erwartet. Trotzdem, das sind samt und sonders Arschlöcher.«

»Ganz so weit würde ich nicht gehen.«

»Oh, ich schon.« Ru sprang von ihrem Buggy. »Die spielen doch nur mit uns. Sie könnten uns das Zehnfache dessen geben, was wir verlangen, ohne dass in ihrem Förderbudget ein Loch entstehen würde. Aber wir gehen im Rauschen einfach unter.«

Sie gingen aufeinander zu.

»Da wir gerade von Rauschen sprechen«, sagte Goma. »Wie ich von Tomas höre, sehen die Werte nicht gut aus.«

»Eher trostlos. Aber wieso wundert uns das? Vor drei Jahren konnte ich noch ein Damebrett in den Sand zeichnen und mit Bellatrix eine ganz passable Partie Go spielen. Jetzt fährt sie bloß noch mit dem Rüssel über die Quadrate – so als würde sie sich fast an das Spiel erinnern, wüsste aber nicht mehr, worum es dabei geht. Das ist keine generationsübergreifende Verschlechterung – hier können wir praktisch zusehen, wie ein einzelner Elefant seine Intelligenz verliert.«

»Mit einem gewissen kognitiven Abbau aus Altersgründen müssen wir rechnen. Menschen leiden darunter, warum nicht auch Dickhäuter?«

»Aber einen derart radikalen Verfall haben wir noch nie erlebt.«

»Ich weiß – ich versuche nur, die Sache etwas weniger deprimierend darzustellen. Bist du schon den ganzen Tag hier draußen?«

»Nun ja, ich habe mich verrannt. Du weißt ja, wie das geht.«

Sie trafen zusammen, umarmten und küssten sich und hielten sich für ein paar Sekunden fest. Goma rückte Rus Mütze zurecht, dann trat sie zurück, musterte die andere mit prüfendem Blick und registrierte ihre steife Haltung und das leichte Zittern der Hand, die immer noch das Notebook hielt. Ru war größer und kräftiger gebaut als Goma, aber dennoch weniger robust.

»Das reicht für heute. Lass uns einpacken und nach Hause fahren.«

»Diese Testreihe muss ich noch beenden.«

»Nein, jetzt ist Schluss.« Goma legte ihre gesamte Autorität in diese Worte, obwohl sie nur zu gut wusste, dass ihre Frau es nicht gut aufnahm, wenn man sie bedrängte.

»Es war nur ein langer Tag. Wenn ich eine Nacht geschlafen habe, ist alles gut.«

Sie verstauten die Ausrüstung in den hinteren Mulden ihrer Fahrzeuge. Goma programmierte ihrem Buggy ein, Rus Fahrzeug zu folgen, und stieg zu ihr ins Führerhaus. Als sie das Handschuhfach vor dem Beifahrersitz öffnete, sah sie ohne große Überraschung, dass es leer war.

»Hast du nicht einmal deine Medikamente mitgenommen?«

»Ich wollte noch zurückfahren und sie holen.«

»Bei den Elefanten entgeht dir nicht die geringste Kleinigkeit – warum fällt es dir so schwer, mit dir selbst genauso sorgfältig umzugehen?«

»Mir geht es gut«, beteuerte Ru. Doch nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Können wir noch kurz bei der Alpha-Herde vorbeifahren? Ich möchte einen Blick auf Agrippa werfen.«

»Agrippa kann warten – du brauchst deine Medizin.«

Alle Appelle verhallten ungehört, noch dazu, da Ru am Steuer saß. Sie lenkte den Buggy auf einen schmaleren Pfad, das hintere Fahrzeug folgte, und bald waren sie auf einem kleinen Hügel angelangt und schauten über den bevorzugten Sammelplatz der Alpha-Herde. Unweit davon stand, über und über grün, ein Versorger-Roboter, der an dieser Stelle zur Bewegungslosigkeit erstarrt war, als die Informationswelle nach dem Zusammenbruch des Mechanismus Crucible erreichte.

Sie hielten an. Goma sprang als Erste hinaus, ging um den Buggy herum und half Ru herunter.

»Da ist sie. Hinten liegt ein Fernglas, wenn du es brauchst.«

»Nein, es geht auch so.« Goma beschattete ihre Augen, um nicht vom grellen Platinweiß der Wolken geblendet zu werden. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um Agrippa ausfindig zu machen, die Matriarchin der Herde, aber diesmal wurde die Freude über das Wiedersehen rasch von Besorgnis verdrängt.

Mit Agrippa stimmte etwas nicht.

»Sie bewegt sich sehr langsam.«

»Das ist mir schon vor ein paar Tagen aufgefallen«, sagte Ru. »Sie hat eine Weile gelahmt, aber das ist etwas anderes. Ich weiß, sie ist alt, doch sie hatte immer eine innere Kraft, die sie durch alles hindurchgetragen hat.«

»Wir sollten ihr Blut abnehmen.«

»Einverstanden. Wenn nötig, holen wir sie rein. Vielleicht ist es nur eine Infektion, oder sie hat etwas gefressen, was ihr nicht bekommen ist.«

»Mag sein.«

Keine von beiden wollte aussprechen, was offensichtlich war: Agrippa zeigte eher Symptome von Altersschwäche als von irgendeiner Erkrankung, die sich mit Medikamenten oder Transfusionen behandeln ließ. Sie war einfach eine alte Elefantendame – die älteste in der ganzen Herde.

Den Kognitionswerten nach allerdings auch die intelligenteste. Die Einzige, die noch die meisten Tests erfolgreich absolvieren konnte und damit bewies, dass sie einen inneren Monolog führte, über ein Identitätsbewusstsein verfügte, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erkannte und die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie den Unterschied zwischen Leben und Tod begriff. Agrippa konnte selbst keine Sprachlaute bilden, aber sie verstand einen, wenn man mit ihr sprach und konnte symbolische Antworten formulieren. Sie war der letzte Tantor – der letzte Elefant, in dem das Feuer wahrer Intelligenz glühte.

Doch nun war Agrippa alt geworden, und ihre unmittelbaren Nachkommen waren zwar klüger als die übrige Herde, aber nicht mehr so intelligent wie ihre Mutter. Ihre Kinder hatten ihrerseits Kinder hervorgebracht, in denen ihre Gene noch weiter verwässert waren, und diese Elefanten waren kaum noch von den anderen zu unterscheiden. Das Signal war so schwach, dass man nur mit sorgfältiger statistischer Analyse das Vorhandensein von erweiterten kognitiven Fähigkeiten nachweisen konnte.

»Wir dürfen sie nicht verlieren«, sagte Ru nach einer Weile.

»Wir werden sie verlieren.«

»Dann ist alles aus. Dann sind wir gescheitert.«

»Es gibt auch weiterhin Arbeit für uns. Das wird immer so sein. Schließlich müssen wir uns nach wie vor um alle diese Elefanten kümmern.«

»Sie leiden nicht einmal darunter. Das ist es, was mir wirklich nahegeht. Wir leiden. Es zerreißt uns das Herz, wenn wir zusehen müssen, wie sie Jahr für Jahr mehr von dem verlieren, was sie einst hatten. Aber ihnen ist es egal. Sie vermissen es nicht, Tantoren zu sein – sie haben weite Räume, genügend Futter, ein Schlammloch, um sich darin zu suhlen – was wollen sie mehr?«

»Die Tantoren waren keine normale Phase in der Elefantenentwicklung«, gab Goma zu bedenken. »Wir können es ihnen nicht vorwerfen, wenn ihnen nichts daran liegt. Kümmert es die Hunde, dass sie nicht so klug sind wie die Bonobos? Kümmert es die Ameisen, dass sie nicht so klug sind wie die Hunde?«

»Aber mich kümmert es.«

Goma legte ihr die Hand auf die Schulter und zog sie schweigend an sich. Auch sie spürte Rus wachsende Verzweiflung – sie teilte das Gefühl, dass ihnen etwas Glanzvolles, Kostbares wie Quecksilber durch die Finger glitt. Je mehr sie sich bemühten, es zu messen, zu bewahren, desto schneller verrann es. Aber Goma brauchte Rus Stärke, und Goma musste ihrerseits für Ru stark sein. Sie waren wie zwei Bäume, die sich gegenseitig stützten.

»Lass uns nach Haus fahren«, schlug Goma vor. »Ich muss meine Mutter anrufen – ich habe ihr versprochen, sie morgen zu besuchen, aber Agrippas Blutabnahme geht vor.«

»Das kann ich doch machen«, erbot sich Ru. »Du weißt, wie wichtig die Routine für Ndege ist.«

»Kannst du ihr das verübeln?«

»Sicher nicht. Ich bin die Letzte, die ihr irgendetwas verübeln würde.«

Einige Tage danach betrat Mposi am frühen Abend das Parlamentsgebäude in Guochang und sah, dass ihn im Vorzimmer seines Büros eine Besucherin erwartete.

»Goma«, strahlte er. »Was für eine schöne Überraschung.«

Seine Begeisterung fand keinen Widerhall, seine Nichte ließ sich nicht einmal ein Lächeln entlocken.

»Kann ich mit dir sprechen? Unter vier Augen?«

»Natürlich.«

Zuvorkommend führte er sie in sein Büro und spielte auch weiterhin den perfekten Gastgeber, obwohl nichts in ihrem Verhalten darauf schließen ließ, dass es sich um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Das wäre auch ungewöhnlich gewesen, zumindest in letzter Zeit. Als Goma beruflich wie privat noch nicht so engagiert gewesen war, hatte sie ihn oft zu einem Spaziergang durch den Parlamentspark abgeholt, und sie hatten sich gegenseitig Geschichten erzählt und harmlosen Klatsch ausgetauscht. Mit jäh aufwallender Traurigkeit erkannte er jetzt, wie viel Freude ihm diese Treffen bereitet hatten, die von keiner Seite mit beruflichen Verpflichtungen belastet gewesen waren.

»Chai?«, bot er an und zog die Jalousien zu. Die untergehende Sonne war so dick und rot wie eine reife Tomate.

»Nein. Ich bleibe nicht lang. Sie kann nicht mit.«

Er lächelte. Beide standen noch. »Sie?«

»Meine Mutter. Ndege.« Goma hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sie war klein und zierlich und wurde leicht unterschätzt. »Diese alberne Expedition – ich meine die, von der du glaubst, dass ich nichts darüber weiß.«

Mposi schaute zur Tür, um sich zu vergewissern, dass er sie beim Eintreten geschlossen hatte.

»Du solltest dich setzen.«

»Ich sagte doch, ich bleibe nicht lang.«

»Trotzdem.« Er deutete auf den Besucherstuhl und ließ seinen massigen Körper in den Sessel auf seiner Seite des Schreibtischs sinken. »Ich hatte ihr ausdrücklich untersagt, mit irgendjemandem darüber zu sprechen.«

»Ich bin ihre Tochter. Dachtest du wirklich, sie könnte so etwas lange vor mir verheimlichen?«

»Du solltest informiert werden, sobald die Planungen etwas konkreter geworden waren.«

»Du meinst, wenn es allgemein bekannt gemacht würde.«

»Ich bin kein Dummkopf, Goma, und ich kann dich verstehen. Aber geheim ist nun einmal geheim. Was hat sie noch erzählt?«

»Gibt es denn noch etwas?«

»Bitte, keine Spielchen.«

Goma schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ein Signal irgendwo aus dem interstellaren Raum.«

Mposi rieb sich die Stirn. Er spürte bereits den schmerzhaften Druck, der sich hinter seinen Augen aufbaute. »Mein Gott.«

»Eine mögliche Verbindung zur Dreieinigkeit – Chiku, Eunice und Dakota. Ich kann mir gut vorstellen, dass das für sie von Interesse ist. Sie hat ihre Mutter verloren – musste zusehen, wie sie von einem Alien-Roboter entführt wurde. Aber mir geht es eher um Dakota.«

»Den Elefanten?«

»Die Tantorin. Wenn das Signal von Eunice kommt, ist vielleicht auch Dakota da draußen. Muss ich dir erklären, warum mir das am Herzen liegt?«

»Nein, ich glaube, das liegt auf der Hand.« Für Mposi waren Gomas wissenschaftliche Berichte immer zu theoretisch und für einen Laien schwer verständlich gewesen, aber wenn er die Zusammenfassungen überflog, wusste er ungefähr, wohin ihre Argumentation zielte. »Es war nur ein Signal, und es wurde nicht wiederholt. Wir versuchen seit sechs Monaten, es wiederzufinden.«

»Aber du glaubst, die Nachricht ist echt, und sie ist auch für uns bestimmt. Und du glaubst, sie könnte mit der Dreieinigkeit zu tun haben.«

»Das habe ich deiner Mutter gesagt. Im Vertrauen.«

»Wenn du ihr Vorwürfe machen willst, weil sie dein kleines Geheimnis verraten hat, kriegst du noch viel größere Probleme.«

»Du meine Güte, Goma. Das klingt ja fast wie eine Drohung.«

»Du sollst wissen, dass es mir bitterernst ist.«

»Ich verstehe. Vollkommen.«

»Dann will ich nicht viele Worte machen. Was immer diese Nachricht enthält, Ndege fliegt nicht mit.«

»Ich finde, das sollte eigentlich deine Mutter entscheiden.«

»Das wird sie nicht. Nicht mehr. Ich gehe an ihrer Stelle. Ich bin nur ein Viertel so alt wie sie und viel stärker.«

»Wie dem auch sei, Ndege ist noch am Leben. Und sie hat sich bereit erklärt, an der Expedition teilzunehmen.«

»Weil du sie in die Enge getrieben hast.«

»Ich habe sie lediglich darauf hingewiesen, dass es zeitnah für sie von Vorteil sein könnte, sich freiwillig für eine solche Mission zu melden.«

»Du hast sie mit der Aussicht auf eine Begnadigung geködert. Das hätte ich nicht von dir gedacht.«

»Es war vollkommen aufrichtig gemeint.« Mposi griff nach dem Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch – der Schädel eines Seeotters, blank poliert wie ein Kieselstein. Ein Geschenk seines Halbbruders, das durch den Weltraum zu ihm gekommen war. »Ich finde es ein starkes Stück, Goma, dass du mir Vorhaltungen machst, wie ich Ndege behandle. Frag doch deine Mutter, wenn du mir nicht glaubst.«

Er hatte die Stimme nicht erhoben, doch sein Zorn hatte eine ernüchternde Wirkung auf die Besucherin. Goma sah ihn zerknirscht und traurig an und schien sich zu schämen.

»Ich will nur nicht, dass man ihr falsche Hoffnungen macht.«

»Ich doch auch nicht«, beteuerte Mposi sanft und legte den Schädel zurück. Mit einem satten Geräusch landete er auf der Tischplatte. »Nach allem, was deine Mutter durchmachen musste, hätte ich ihr doch niemals etwas in Aussicht gestellt, was sich nicht erfüllen lässt. Aber ist das dein Ernst – würdest du wirklich an ihrer Stelle mitfliegen? Du liebst diese Welt, du liebst deine Arbeit. Und du hast mit Ru eine wunderbare Lebensgefährtin. Warum willst du das alles aufgeben?«

»Weil ich Ndege die Reise ersparen möchte. Ich habe eure Schiffe gesehen, sie kreisen am Himmel wie zwei neue Monde. Sie sind riesig. Du kannst mir nicht einreden, dass sie nicht Tausenden von Menschen Platz bieten können.«

»In der ursprünglichen Form schon«, räumte Mposi ein. »Aber wenn eines der Schiffe für eine Fernexpedition umgerüstet werden sollte – und das steht noch nicht fest –, müsste vieles umgestaltet werden.«

»Für Ru ließe sich bestimmt noch ein Plätzchen finden.«

Mposi traute seinen Ohren nicht. »Du hast auch mit ihr schon gesprochen?«

»Nein, ich habe dein Geheimnis gewahrt. Außer mit Ndege habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Bist du jetzt zufrieden?«

»Einigermaßen.«

»Aber ich werde Ru fragen. Sie ist sicher ebenso an Dakota interessiert wie ich. Wir haben die Tantoren verloren, Mposi. Wir haben die schönste Überraschung verloren, die wir als Spezies jemals erleben werden. Neue Freunde – neue Gefährten. Und wir lassen sie sterben. Denn Ru und ich haben nie etwas anderes getan, als den Niedergang, das Schwinden ihrer Intelligenz zu dokumentieren. Nun haben wir die Chance, den Kontakt zu einem der ursprünglichen Tantoren oder zumindest einem ihrer Nachkommen wieder aufzunehmen. Selbst wenn dabei nicht mehr herauskäme als frisches Genmaterial, wäre das ein Anfang. Das weiß auch Ru. Ich bin sicher, sie wird mitkommen wollen.«

»Hast du Ndege mitgeteilt, was du vorhast?«

»Ich habe ihr erklärt, dass ich mit dir darüber sprechen würde.«

»Und war ihr das recht? Nein – du brauchst mir nicht zu antworten. Ndege will dich ebenso schützen wie umgekehrt. Sie will sicher nicht, dass du fortgehst.«

»Doch letzten Endes liegt die Entscheidung bei dir, Onkel. Lieferst du deine Schwester einem Abenteuer aus, das sie nicht überleben wird, oder setzt du auf deine Nichte?«

»Wenn du es so ausdrückst, klingt es ganz einfach.«

»Das ist es auch, Onkel. Du brauchst nur zu erlauben, dass ich auf diesem Schiff mitfliege.«

Er stand kurz davor, Ja zu sagen. Aber er würde – durfte – die Entscheidung nicht überstürzen. Zu viel stand auf dem Spiel. Die Sache war weitaus komplexer, als Goma ahnte.

»Ich wollte deiner Mutter etwas Gutes tun.«

»Das kannst du immer noch. Bis das Schiff fertig ist, dauert es doch noch eine Weile.«

Er seufzte, denn er sah, worauf sie hinauswollte. »Nach allem, was ich höre, noch weitere fünf Jahre.«

»In diesen fünf Jahren hast du genügend Zeit, Ndege das Leben zu erleichtern. Wirst du mit dieser Geschichte jemals an die Öffentlichkeit gehen?«

»Wenn erst publik wird, dass die Pläne für eines der Schiffe geändert werden, müssen wir wohl oder übel einige Informationen freigeben. In ein oder zwei Jahren vielleicht.«

»Dann kannst du der Welt verkünden, Ndege hätte sich freiwillig für die Expedition gemeldet. Gönne ihr diesen Moment. Außer uns dreien braucht niemand zu erfahren, dass sie nicht mitfliegen wird.«

»Mit uns dreien wäre es nicht getan. Man müsste beurteilen, ob du aus medizinischer Sicht für eine Auszeit geeignet bist. Dafür gibt es keine Garantien.«

»Diese Belastungen stehe ich wahrscheinlich immer noch besser durch als meine Mutter.«

»Du bringst mich in eine schwierige Situation.«

»Das freut mich. Dann weißt du endlich, wie sich das anfühlt. Nimm mich in die Expedition auf, und reserviere auch einen Platz für Ru. Ich frage nicht noch einmal, Onkel. Und was ich vorhin sagte …«

»Ja?«

»Das war keine leere Drohung. Aber du kannst gerne davon ausgehen, dass ich hart verhandeln werde.«

Sein Lächeln war voller Zuneigung, er war stolz auf sie, doch sie machte ihm auch ein wenig Angst. »Du bist zu schade für die Wissenschaft, Goma. Wir hätten eine großartige Politikerin aus dir machen können.«

2

Auf der nördlichen Hemisphäre des besetzten Mars stand Kanu Akinya an einem Frühlingsabend des Jahres 2640, einen Tag vor seinem Tod, mit dem Rücken zu Swift an einem großen Sprossenfenster. Die Hände hatte er auf den Rücken gelegt, ohne sie zu verschränken. Ein langstieliges Weinglas hing lose zwischen den Fingern mit den feinen Schwimmhäuten. Schon seit vielen Jahren war er kein echter Meermann mehr, aber in seiner Anatomie hatten sich noch Spuren aus dieser Lebensphase erhalten, der mächtige Nacken mit den schwellenden Muskeln etwa oder die überbreiten Schultern des Schwimmers. Kanus Mund war klein, die Nase flach, die großen, ausdrucksvollen Augen waren so optimiert, dass sie auch bei schlechten Sichtbedingungen viel Licht aufnehmen konnten. Sein Haar war grau geworden, aber er trug es, zu einem Zopf geflochten, der ihm über den Rücken hing, immer noch lang.

»Du bist am Zug«, erinnerte ihn Swift.

Kanu hatte den Sonnenuntergang bewundert. Auf der Höhe seiner Augen war der Himmel von einem extrem tiefen Blau, im Zenit war er fast schwarz, und als sein Blick nun zum Horizont hinabwanderte, wandelte sich das Blau über Violett zu einem zarten Lachsrosa. Als Standort für die Botschaft hatte sich der uralte Vulkan geradezu angeboten – möglichst nahe am Weltall und möglichst weit von den Gefahren und Wirren der gesperrten Oberfläche entfernt.

»Entschuldige bitte«, sagte Kanu und wandte sich vom Fenster ab.

Er kehrte an den Tisch zurück, setzte sich Swift gegenüber und stellte sein Weinglas neben das Brett. Sie spielten Schach, das älteste aller afrikanischen Spiele.

»Sorgen?«, fragte Swift.

»Eigentlich habe ich an meinen Bruder gedacht und mir überlegt, ob es das Universum erschüttern würde, wenn wir nur für ein oder zwei Jahre die Plätze tauschen.«

»Dein Bruder ist neunundzwanzig Lichtjahre weit weg. Außerdem ist er genau genommen nicht dein Bruder.«

»Dann eben mein Halbbruder.«

»Nicht einmal das. Deine Mutter ist auf der Erde gestorben. Mposis Mutter ist vielleicht tot, vielleicht auch nicht, wobei die erste Möglichkeit die wahrscheinlichere ist. Ich bedauere, dich auf diese unerfreulichen Tatsachen hinweisen zu müssen, Kanu, aber es fällt mir schwer genug, die Verhältnisse der Menschen zu verstehen, auch ohne dass du alles noch komplizierter machst.«

»Und ich bedauere, dass sie für dein Maschinengehirn nicht einfach genug sind. Für künftige Fälle werde ich es mir notieren.«

»In Anbetracht deines schwachen Gedächtnisses bitte ich darum.«

Swift hatte sich große Mühe gegeben, bei diplomatischen Auftritten in Anatomie und Kleidung wie ein Mensch zu erscheinen. Gesichtszüge, Garderobe und Verhalten imitierten einen jungen Gelehrten aus dem späten achtzehnten Jahrhundert. Er trug einen Frack, eine weiße Halsbinde und einen Kneifer, durch den er gern mit gebieterisch vorgerecktem Kinn auf seine Umwelt herabschaute. Sein knabenhafter Lockenschopf war sorgfältig gekämmt und mit Öl halbwegs gebändigt.

Kanu starrte immer noch auf das Brett, und nach einer Pause fügte Swift hinzu: »Jetzt aber im Ernst – würdest du wirklich mit Mposi tauschen, wenn das möglich wäre?«

»Warum nicht? Eine Provinzkolonie, eine bescheidene, aber wachsende Wirtschaft, entspannte Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen … keine Konföderation, die mir im Nacken sitzt, keine großen Sorgen wegen der Wächter. Ich wette, dass Mposi sogar ein Zimmer mit Aussicht hat.«

»Ich sehe mich genötigt, darauf hinzuweisen, dass freundschaftliche Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen unschwer zu unterhalten sind, wenn es kaum Maschinen gibt. Hast du übrigens vor, diesen Zug irgendwann zu machen, oder möchtest du noch ein paar Monate darüber nachdenken?«

Kanu hatte seine zunehmend begrenzteren Möglichkeiten gegeneinander abgewogen und wollte gerade nach einer Figur greifen. Doch als er die Hand zum Brett hob, ertönte von der anderen Seite des Zimmers ein Klingelzeichen.

»Da sollte ich rangehen.«

»Lass dich nicht aufhalten, wenn es dir hilft, das Unvermeidliche hinauszuschieben.«

Kanu stand auf, ging zur Konsole und drehte den Bildschirm so, dass er ihn im Stehen gut sehen konnte. Vor ihm erschien das Gesicht von Garudi Dalal, einer seiner drei menschlichen Kollegen auf dem Olympus Mons.

»Garudi. Ich weiß, ich komme zu spät zum Dinner. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

»Es geht nicht um das Dinner, Kanu. Du hast also die Neuigkeit noch nicht gehört?«

»Dass Swift ein schrecklicher Schachpartner ist?«

Die sonst so liebenswürdige Dalal – Kanus beste Freundin unter den anderen Menschen – ging auf den Scherz nicht ein. Ihr Gesicht blieb ernst. »In den letzten Minuten hat es eine Entwicklung gegeben.«

»Das hört sich bedrohlich an.«

»Das könnte es durchaus sein. Etwas ist hereingekommen. Einfach durch die Verbotszone geschlüpft.«

Kanu schaute zu Swift hinüber. An sich war diese Information vertraulich und sollte auf die Botschafter beschränkt bleiben. Aber wenn um oder auf dem Mars etwas geschehen war, würde es Swift nicht lange verborgen bleiben.

»Normalerweise machen wir uns Gedanken, wenn etwas den Mars verlässt.«

»Diesmal nicht. Es ist ein Versorgungsshuttle auf dem Weg vom Jupiter ins Zentrum. Halbautonom. Manchmal setzt man eine Besatzung hinein, auf diesem Flug nicht. Normalerweise wäre es nicht einmal in unsere Nähe gekommen, aber es sollte an einer der Festungen andocken. Die Anfluggenehmigung war in Ordnung. Doch dann hat es in letzter Minute abgedreht und ist in die Atmosphäre eingetreten.«

»In diesem Fall ist nicht mehr viel davon übrig. Haben wir schon eine Aufschlagstelle?«

»Ich fürchte …« Swift war aufgestanden und hinter Kanu getreten. »… ihr habt sehr viel mehr als nur eine Aufschlagstelle.«

Kanu drehte sich zu seinem Freund um. »Was weißt du?«

»Die Nachricht hat mich eben erst erreicht – natürlich auf anderen Wegen –, das Schiff hat es bis nach unten geschafft.« Swift wandte sich seinerseits dem Bildschirm zu. »Übrigens, guten Abend, Botschafterin Dalal.«

Dalal nickte ihm zu, ohne den Gruß mit Worten zu erwidern.

»Swift hat recht. Es ist sogar weitgehend intakt geblieben. Die Kanonen haben einen Teil getroffen, und die atmosphärische Reibung hat weitere Schäden angerichtet, doch am Ende wurde es wirklich sonderbar.«

»Sonderbar? In welcher Hinsicht?«, fragte Kanu.

»Das Shuttle hat abgebremst. Hat Schub gegeben, nachdem es in der Atmosphäre war. Als es auf der Oberfläche aufkam, bewegte es sich kaum noch.«

»Das klingt nach einem gezielten Landeversuch.«

»Das nehmen wir an«, bestätigte Dalal. »Sabotage durch Rückeroberer vielleicht. Sie könnten es irgendwo zwischen hier und dem Jupiter abgefangen haben und an Bord gegangen sein …«

»Du glaubst, es waren Rückeroberer an Bord?«

Dalal zuckte müde die Achseln. »Wer weiß? Ich kann dir nicht mehr sagen, als dass jemand nachsehen muss, auch wenn derjenige letztlich nur Leichen findet. Ich rufe die anderen zusammen, damit wir besprechen, wie wir damit umgehen.«

Kanu nickte – die Sache war auch ihm nicht geheuer. »Gib Korsakow und Lucien Bescheid, dass ich unterwegs bin. Wo ist das Shuttle denn runtergekommen? Bitte sag mir jetzt, es war auf der anderen Seite des Mars und es ist deshalb nicht unser Problem.«

»Leider liegt es gerade noch in Reichweite eines Fliegers.«

Kanu schaltete den Bildschirm aus und kehrte an das Schachbrett zurück. Er nahm seine Figur und stellte sie mit entschlossenem Klack ab.

»Wie kann man nur so dumm sein.«

Swift sah ihn verwirrt an. »Inwiefern?«

»Ich wollte mehr Dramatik in meinem Leben. Das hat man nun davon.«

Auf dem Landedeck war es immer kalt. Die Kuppel über dem Botschaftsgebäude war luftdicht abgeschlossen, und der Druck wurde auf atembare Werte gebracht, aber es wurde nie so warm, dass man sich wohlfühlte. Hier war im wahrsten Sinne des Wortes der Gipfel der menschlichen Präsenz auf dem Mars – die Botschaft überragte die gewaltigen Höhen des Olympus Mons wie eine eigene kleine Fiale.

Bei dieser Kälte konnte man sich leicht vorstellen, dass das Weltall nur einen Katzensprung entfernt war.

»Garudi hat mir erzählt, Sie hätten Swift gestern erlaubt, Ihr Gespräch mit anzuhören«, sagte Korsakow. Er stand neben Kanu, und beide hatten ihre Helme unter den Arm geklemmt.

»Swift wusste schon vor uns Bescheid.«

»Trotz alledem, Kanu. Das entspricht wohl kaum den protokollarischen Gepflogenheiten.« Korsakow sprach langsam, als müsste er sich jedes Wort überlegen und erwarte von seinen Zuhörern, dass sie die nötige Geduld aufbrachten. »Was finden Sie eigentlich an ihm? Was hat diese Maschine, was die anderen nicht haben?«

»Ich bin gern mit Swift zusammen. Und überhaupt, warum muss ich mich dafür rechtfertigen? Sind wir nicht gerade deshalb hier? Um mit ihnen zu kommunizieren?«

»Gegen Kommunikation ist nichts einzuwenden.« Korsakow sah Kanu durchdringend an. Er hatte schöne graue Augen unter einer gebieterischen Stirn. »Aber es darf nicht darüber hinausgehen. Diese Maschinen haben uns den Mars gestohlen. Er war unsere Welt, unser Erbe, und sie haben es uns aus den Händen gerissen.«

Der Flieger war hochgefahren und startbereit und wendete auf der Plattform, wo man ihn gewartet hatte.

»In groben Zügen bin ich mit der jüngeren Geschichte vertraut, Jewgeni.«

Korsakow, hochgewachsen und etwas gebückt, holte tief Luft. »Ich kann nicht für die Vereinigten Wasser-Nationen sprechen …«

»Dann tun Sie es bitte auch nicht.«

»Aber Ihre Leute haben gewisse Erwartungen, Kanu. Sie gehen stillschweigend davon aus, dass Ihre Sympathien, wenn es hart auf hart kommt, immer auf der menschlichen Seite der Gleichung liegen werden.«

»Und wer sagt, dass dem nicht so ist?«

»Der Roboter benutzt Sie, Kanu. Maschinen kennen keine Freundschaft. Er setzt Sie schlicht und einfach unter Druck.«

Kanu war froh, als die beiden anderen Botschafter auf dem Landedeck eintrafen. Alle trugen Schutzanzüge, die allerdings erkennen ließen, dass sie unterschiedliche Parteien innerhalb des Sonnensystems vertraten. Kanus Anzug war blau-grün mit einem Muster aus Seesternen, die ihre Arme zu einem neuronalen Netz verbunden hatten. Korsakow, Botschafter der Vereinigten Orbital-Nationen, trug Regolithgrau mit eingeprägten stilisierten Kratern. Bei Dalal, die die Vereinigten Land-Nationen repräsentierte, zeigte der Anzug das Motiv eines einzelnen Baumes mit Vögeln und Früchten auf und an den Ästen.

Lucien, der erst kürzlich bestellte Botschafter der Konföderation – sie umfasste außer der Erde, dem Mond und dem Mars alles bis hinaus zur Oort’schen Wolke –, trug einen Anzug mit einem Wellenmuster aus vielfältig verschlungenen Umlaufbahnen.

»Kommt Swift auch mit?«, wandte sich Dalal an Kanu.

»Ja. Er müsste jeden Moment hier sein.«

»Mir gefällt die Zusammensetzung nicht«, gestand Lucien. »Wir sollten die Inspektion auch durchführen dürfen, ohne einen Roboter mitnehmen zu müssen.«

»So lautet aber die Vereinbarung«, entgegnete Kanu. In diesem Augenblick trat Swift aus einer Tür, die auf das Deck führte. »Transparenz. Kooperation. Das muss doch eine Hilfe sein.«

»Für sie oder für uns?«, murrte Korsakow und bückte sich, um sich nicht den Kopf an der Unterseite der Maschine zu stoßen.

Sobald sich die Türen des Fliegers geschlossen hatten, wurde die Luft aus dem Deck gepumpt, und die Kuppel öffnete sich zum Himmel hin. Die Passagiere ließen sich auf Liegesitze sinken und stellten die Helme zwischen ihre Füße. Mit Zustimmung aller Beteiligten übernahm Garudi Dalal das Steuer. Sie flog nach Osten und hielt die vereinbarte Höhe ein. In der Kabine verkündete eine weiche Automatenstimme die Werte für Fluggeschwindigkeit, Temperatur und Druck. Kanu drehte sich auf seinem Liegesitz um und sah dem Türmchen der Botschaft nach. Nachdem sie gestartet waren, klappte die Kuppel wie eine Muschelschale wieder zu.

Die Botschaft, eine schwarze, kannelierte Fiale mit breiten Fundamenten, die an Wurzeln erinnerten, schraubte sich vom Gipfel des Olympus Mons eineinhalb Kilometer in die Höhe. Es sah aus, als hätte man das Horn eines Einhorns in den Mars gerammt. Da jetzt alle vier Botschafter im Flieger saßen, war das Gebäude menschenleer. Seit die Botschafter über den Himmel flogen, war die Menschheit nicht mehr auf der Marsoberfläche vertreten.

Nach einer Stunde erhob Dalal die Stimme und meldete ohne große Aufregung: »Etwas kommt auf uns zu. Drei Abgesandte in Standardformation.«

Korsakow schaute ihr über die Schulter und musterte die Anzeigen auf der Konsole. »Bewaffnung?«

»Minimal«, antwortete Dalal.

Der Flieger hatte selbst keine Waffen an Bord – das wäre ein gravierender Verstoß gegen die Bedingungen des Botschaftsvertrags gewesen –, aber sie wurden von den Orbitalfestungen aus ständig überwacht und geschützt. Kanu hatte die Eskorte jedoch erwartet. Sie war ein normaler Bestandteil ihrer gelegentlichen Inspektionsflüge.

»Sie werden uns kein Haar krümmen«, sagte er. »Schließlich haben wir Swift als Geisel.«

Swift machte ein gekränktes Gesicht. »Ich hoffe, das soll ein Scherz sein.«

»Nach allem, was du mir immer über dein massiv verteiltes Wesen erzählst, wärst du als Geisel wenig geeignet.«

Swift fasste sich mit einer Hand an seine Frackbrust. »Ich hänge sehr an diesem Körper und fände es lästig, mir einen neuen fertigen zu müssen.«

Korsakow runzelte gereizt die Stirn.

Die drei Flugkörper waren kleiner als der Flieger der Botschaft, Bronze-Ellipsoide, die von innen heraus blau und rot leuchteten. Wie sie flogen, konnte man nur vermuten. Früher einmal hätten die Menschen diese ausgeklügelte Technologie eingeheimst, um sie gewinnbringend zu vermarkten, doch diese Zeiten waren längst vorbei. Die drei Maschinen schlossen den Flieger in einer Dreiecksformation ein.

»Sie können tiefer gehen«, sagte Swift.

Dalal ließ die Maschine auf nur noch zwei Kilometer über der mittleren Oberflächenhöhe absinken, sodass die Anlagen der Roboter gut zu erkennen waren. Die Maschinen hatten auf dem Mars in regelmäßigen Abständen turmhohe bonbonfarbene Zitadellen mit geometrisch strukturierten Fassaden errichtet, die wie riesige Ameisenhügel, Bienenstöcke oder Eistüten über die Oberfläche verteilt waren. Wozu sie dienten, war unbekannt. Ein Netz von Röhren, die Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Kilometern lang waren, verband sie miteinander. Durch diese Röhren rasten leuchtende Teilchen, die gelegentlich auch zwischen den Zitadellen durch die Luft schwebten.

Unter der Kruste des Planeten, wo die Orbitalsensoren nicht so leicht hinreichten, herrschte sicherlich noch viel lebhaftere Aktivität.

»Wir nähern uns der Aufschlagstelle«, verkündete Dalal. »Genau vor uns in zwanzig Kilometern. Wird jetzt optisch erfasst. Gehen auf Minimalgeschwindigkeit. Swift, würdest du deine Freunde bitte an unsere Vereinbarung erinnern?«

»Alles unter Kontrolle«, beteuerte Swift.

Immer noch in Begleitung der Maschinen näherten sich die Botschafter langsam dem Gegenstand ihres Interesses. Der war größer, als Kanu erwartet hatte. Das hässliche, kantige Gebilde hatte die Ausmaße eines Wolkenkratzers und glich einem grauen Aktenschrank aus Metall. Es war niemals zum Fliegen bestimmt gewesen, nun steckte es in einer Sanddüne wie ein surrealistisches Kunstwerk. Kanu musste an die Skulpturen seiner Großmutter denken, war aber nicht sicher, ob Sunday den Vergleich als schmeichelhaft empfunden hätte.

»Eine Stunde ist eine Unverschämtheit«, ereiferte sich Korsakow, während er Anweisungen zur Lebenserhaltung in die Manschette seines Anzugs tippte.

»Wir werden das Beste daraus machen«, gab Kanu zurück.

»Sie sind ein unverbesserlicher Optimist, Meermann.«

»Man tut, was man kann, Jewgeni. Es gibt schlechtere Einstellungen.«

Auf dem schief stehenden Wrack konnten sie weder landen noch daran andocken, die Orbitalüberwachung hatte jedoch einen möglichen Zugang genau über der Stelle ausfindig gemacht, wo das Schiff auf dem Boden aufgekommen war. Es war nur eine winzige Luftschleuse, aber damit mussten sie sich begnügen. Sie drehten eine Runde um das Wrack, um sich zu vergewissern, dass die Schleuse genauso war, wie sie vom All aus aussah, dann landeten sie etwa fünfzig Meter davon entfernt.

Alles unter Kontrolle, hatte Swift gesagt.

Als der Flieger stand, pumpte Dalal die Luft aus dem Cockpit und fuhr die Ausstiegsrampe aus. Korsakow und Lucien gingen als Erste hinaus, dann folgte Kanu, nach ihm kam Swift – der natürlich keinen Raumanzug brauchte – und schließlich Dalal, nachdem sie den Flieger gesichert hatte. Die Rampe glitt hinter ihr wieder hoch, aber das kleine Flugzeug blieb startbereit und wartete nur auf ihre Rückkehr.

»Sechzig Minuten ab jetzt«, sagte Lucien. Xier war mit einem Abstand von mehreren Jahrzehnten das jüngste Mitglied des Diplomatenteams und vertrat die Konföderation – einen Zusammenschluss von politischen und wirtschaftlichen Interessen, der mehr oder weniger alles im Sonnensystem umfasste, was nicht zu den alten Machtstrukturen von Erde und Mond gehörte.

»Sechsundfünfzig Minuten«, verbesserte Swift. Es klang beinahe entschuldigend. »Bedauerlicherweise muss ich auf einer diplomatischen Regel bestehen. Die vereinbarte Frist läuft seit dem Moment, als die Kufen unseren Boden berührten.«

Sie gingen auf kürzestem Weg zu einer Seite des Wracks – die Wand lag im Schatten und war dicht mit Maschinen besetzt. Die Stelle, an der man den Zugang ausfindig gemacht hatte, hing schräg über ihnen. Kanu hatte das schwindelerregende Gefühl, das Ganze würde langsam kippen und könnte die Botschafter jeden Moment unter sich begraben.

»Diese Schleuse ist winzig!«, stellte Dalal fest.

»Nur ein Notausstieg«, sagte Lucien. »Die Frachtschleusen sind im Sand vergraben oder so weit oben, dass wir sie in der verbleibenden Zeit nicht erreichen können.«

Auch die Notschleuse befand sich ein Stück weit über ihnen, und sie mussten sich nacheinander an Rohren und Handgriffen hochziehen, die aus dem Wrack herausragten. Unter der Schleuse befand sich ein schmales Sims, das an einer Seite weiterführte. Korsakow erreichte es als Erster, es war gerade breit genug für seine Füße. Er schob sich seitwärts daran entlang, mit einer Hand tastete er sich nach links weiter, mit der anderen hielt er sich an einer Schiene über dem Kopf fest.

Dalal und Lucien waren die Nächsten, dann kam Kanu. Mit affenartiger Geschicklichkeit hangelte sich Swift neben ihnen empor und hielt nur inne, um sich den Staub vom Kragen seines Fracks abzuklopfen.

»Die Schleuse hat noch Energie«, verkündete Korsakow. »Ich versuche sie zu öffnen.« Er stützte sich weiterhin mit der rechten Hand ab und klappte eine gepanzerte Platte beiseite, hinter der sich eine Reihe von Schaltelementen befand.

»Und?«, fragte Lucien.

»Sie ist aktiviert«, antwortete Korsakow. »Aber wie Dalal schon sagte, es ist eine sehr kleine Schleuse. Sie wird kaum mehr als einen von uns auf einmal fassen.«

»Wir sehen uns auf der anderen Seite«, sagte Kanu. »Es dürfte nicht mehr als ein paar Minuten dauern.«

»Unsere Vereinbarung sieht vor«, bemerkte Swift, »dass ich nicht als Letzter eintreten darf.«

»Wir hätten dich schon nicht vergessen«, brummte Lucien.

Korsakow war bereits in der Schleuse, die äußere Tür hatte sich geschlossen, und die Kammer wurde belüftet. Seine Stimme war noch deutlich zu hören. »Die Schleuse erreicht normalen Druck. Natürlich bin ich nicht so leichtsinnig, meinen Helm abzunehmen, und ich rate allen anderen, meinem Beispiel zu folgen.«

»Geben Sie uns Bescheid, wenn die Innentür aufgeht«, bat Dalal.

»Genau das tut sie gerade, Garudi. Ich betrete das Schiff. Wärme und Energie und eine Notbeleuchtung sind vorhanden, aber im Moment kann ich keine Spur von Leben erkennen.«

»Als Nächste kommt Garudi, dann Lucien«, sagte Kanu. »Swift werde ich den Vortritt lassen. Sind alle Beteiligten mit dieser Reihenfolge einverstanden?«

Niemand erhob Einwände, und so ging Dalal als Zweite durch die Schleuse. Sie traf auf der anderen Seite mit Korsakow zusammen und bestätigte seine Beobachtungen. »Viel weniger Schäden an der Maschine, als ich erwartet hätte. Alles sieht ordentlich aus, und wie Jewgeni bereits sagte, funktioniert auch die Energieversorgung noch. Die unteren Bereiche müssen den Aufprall weitgehend abgefangen haben.«

»Pech für alle, die da unten waren«, bemerkte Lucien.

Kanu wartete, bis der Botschafter der Konföderation die Schleuse passiert hatte. Bis auf Kanu selbst befanden sich jetzt alle atmenden Mitglieder des Trupps im Inneren des Wracks. Er und der Roboter standen allein unter dem Marshimmel.

»Jetzt bist du an der Reihe«, sagte Kanu zu Swift.

»Danke, Kanu. Ich finde es lästig, dass ich überhaupt eine Schleuse passieren muss, aber es lässt sich nun mal nicht vermeiden.«

»Wenn Roboter Schiffe bauen, kannst du uns zeigen, wie man das macht.«

»Wir bauen keine Schiffe, Kanu. Wir werden selbst zu Schiffen.«

Kanu wartete auf dem Sims, bis Swift auf der anderen Seite war, dann zählte er die Sekunden, bis sich die Schleuse für ihn öffnete. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er vergessen hatte, die Uhr in seinem Anzug im Augenblick der Landung auf null zu stellen.

»Wie lange sind wir schon hier?«, fragte er Dalal, als er endlich bei den anderen angekommen war.

»Dreizehn Minuten nur bis hierher. Und genauso lange müssen wir für den Rückweg einkalkulieren.«

Kanu nickte unter seinem Helm. Noch leuchteten Paneele und Anzeigen, und eine matte Servicebeleuchtung gestattete einen Blick in angrenzende Gänge und Abteile.

»Wir werden nie alles absuchen können«, sagte er, »deshalb werden wir es gar nicht erst versuchen. Ich denke, wir können von vornherein ausschließen, dass auf den unteren Ebenen jemand überlebt hat. Aber das Kontrollzentrum müssten wir relativ leicht erreichen können.«

»Es wäre unklug, sich Hoffnungen zu machen«, warnte Lucien.

»Das tue ich nicht.«

»Wie auch immer, Kanu hat recht«, sagte Dalal. »Wir müssen zumindest den Schein wahren, um unsere Regierungen gut aussehen zu lassen.«

»Vorsicht mit solchen Bemerkungen«, mahnte Kanu. »Für so viel Aufrichtigkeit kannst du gehängt werden.«

Dalal grinste ihn durch ihr Helmvisier an. »Ein Todesurteil ist im Moment meine geringste Sorge.«

Die Neigung des Bodens erschwerte das Gehen, aber sie erreichten den zentralen Aufzug, ohne sich allzu sehr anstrengen zu müssen.

Korsakow fand die Schalttafel und drückte auf den großen Knopf, um die Kabine zu holen. Ächzend und mit protestierendem Quietschen ratterte sie durch den Schacht. Vermutlich konnten sie von Glück reden, dachte Kanu, dass der Aufzug nach dem harten Aufprall überhaupt noch funktionierte. Dabei hätte er jeden Vorwand begrüßt, um die Suche abzubrechen und zum Flieger zurückzukehren.

Die Botschafter stiegen, gefolgt von Swift, in die Kabine, und der Aufzug fuhr ruckelnd und über Hindernisse stolpernd nach oben.

»Man kann sich nur schwer vorstellen, was diese Rückeroberer damit erreichen wollten«, bemerkte Swift, als fühlte er sich verpflichtet, Konversation zu machen.

»Es könnte eine symbolische Geste sein«, sagte Kanu. »Vielleicht wollten sie, wenn auch nur für ein paar Tage, ein Stück des Mars wieder in ihren Besitz bringen.«

»Als Leichen?«, fragte Swift.

»Sie hofften möglicherweise, lange genug zu überleben, um irgendeine Verlautbarung abzugeben, eine Souveränitätserklärung oder etwas dergleichen.«

»Der Sinn des Ganzen ist mir immer noch nicht klar. Was wollt ihr denn mit dieser trockenen, luftlosen Welt?«

»Wir haben keinerlei praktische Verwendung dafür«, räumte Kanu ein, als der Aufzug anhielt und die Türen aufgingen. »Aber der Gedanke, dass jemand anderer sie hat, ist uns unerträglich.«

Das Kommandodeck war ein halbkreisförmiger Raum, von dem mehrere Gänge abzweigten. Einen Teil der gewölbten Wand nahm ein breites, gepanzertes Fenster ein. Einige Displays an der Konsole waren noch aktiv, und Korsakow wagte sogar, die schweren Schalter für die manuelle Steuerung zu betätigen. Klirrend und winselnd gingen die gepanzerten Jalousien hoch.

Sie waren gut zwanzig Stockwerke weiter über dem Mars als bei der Landung. Als Kanu nun von hier aus über die verwirrend schiefe Landschaft schaute, konnte er die in Pastellfarben schillernden Ameisenhügel dreier ferner Roboterstädte erkennen. Davor wölbte sich eine der beleuchteten Verbindungsröhren wie der Rücken eines halb vergrabenen Seeungeheuers. Er beobachtete gebannt, wie die Lichter so schnell wie Sternschnuppen durch diese Röhre rasten.

»Haben diese Städte Namen, Swift?«

»Ich weiß nicht, ob man von ›Städten‹ sprechen kann, Kanu. ›Knotenpunkte‹ oder ›Drehkreuze‹ wäre zutreffender. Es sind Funktionsmodule ähnlich den Bereichen in euren Gehirnen. Aber ja, sie haben unterschiedliche Bezeichnungen. Auch wenn wiederum ›Name‹ vielleicht etwas übertrieben wäre …«

»Wenn ihr mit eurem Geplauder fertig seid«, murrte Korsakow, »könnten wir vielleicht anfangen, das Schiff mit diesen internen Sensoren abzusuchen.« Er beugte sich über eine Konsole und drückte auf verschiedene Tasten. Displays leuchteten auf und zeigten Blaupausen und Querschnitte. Er deutete auf einige davon. »Diese Bereiche haben offenbar Luft, und das sind die Teile, in denen das Schiff den Druck verloren hat.«

»In Anbetracht der knappen Zeit«, sagte Dalal, »können wir nur eine sehr oberflächliche Suche durchführen. Aber wenn wir nach Hause kommen, können wir zumindest erklären, wir hätten unser Bestes getan.«

»Sollten meine Artgenossen organisches Material finden«, versprach Swift, »so werden wir es mit größtem Respekt behandeln.«

»Vielen Dank, Swift«, sagte Kanu, »aber zerkleinert und in eure neuronal-logischen Netzwerke integriert zu werden, ist nicht unbedingt das, was wir unseren Lieben wünschen würden. Auch wenn es mit Respekt geschieht.«

»Dennoch kann ich euch bei der Suche behilflich sein.«

Die Botschafter sahen sich an. Korsakow setzte zum Sprechen an, aber Kanu hob die Hand.

»Nein, es ist nur vernünftig. Einer wie er kann in einem Tausendstel der Zeit so viel schaffen wie wir alle vier.«

»Ganz so weit würde ich nicht gehen«, schränkte Swift ein, »aber in Anbetracht der Zeit, die euch noch bleibt, kann ich sicher einiges bewirken.«

»Jewgeni«, sagte Dalal, »können Sie die Sensorsuche auf verschiedene Displays legen?«

»Schon geschehen. Fünf Konsolen – vier für uns und eine für die Maschine. Eine Suche im visuellen und im Infrarotbereich läuft bereits auf Deck zwölf bis achtzehn – das brauchen Sie nicht noch einmal zu veranlassen.«

»Das werden wir nicht«, versprach Kanu.