Das Haus der Sonnen - Alastair Reynolds - E-Book

Das Haus der Sonnen E-Book

Alastair Reynolds

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Beschreibung

Unendliches Leben zwischen den Sternen

Die Menschheit hat sich im All ausgebreitet - doch ganz anders, als wir uns das vorstellen: Mittels Klontechnik hat man anfangs nur ganz wenige Menschen ins All geschickt – in immer wieder neuen Ausgaben ihrer selbst. Und so sind in Millionen von Jahren sogenannte »Häuser« entstanden, Konglomerate aus Tausenden von Menschen, die eigentlich ein einziges Individuum sind. Jedes Mal, wenn diese »Häuser« zusammenkommen, verändert sich die Richtung, die die Zivilisation nimmt. Wieder einmal steht ein solches Treffen bevor – doch diesmal ist alles anders…

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Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DER AUTOR
Widmung
ERSTER TEIL
Eins
Zwei
Copyright
DAS BUCH
Vor langer Zeit, zu Beginn der interstellaren Raumfahrt, hatten sich Angehörige der menschlichen Elite klonen lassen und Tausende ihrer Ebenbilder hinaus in die Weiten der Galaxis geschickt. So wie Abigail Gentian, deren Nachkommen inzwischen seit Millionen von Jahren das All durchstreifen. Alle 200.000 Jahre treffen sie sich in einem ausgewählten Sonnensystem zur »Reunion«, um zu feiern und Wissen und Erfahrungen auszutauschen. Doch diesmal endet die Versammlung in einer Katastrophe - der Treffpunkt wird mit Waffen angegriffen, die man längst verbannt und beseitigt wähnte. Wer hat diesen Anschlag zu verantworten? Und weshalb galt er nur dem Haus Gentian? Ein erbarmungsloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
»Alastair Reynolds’ Bücher sind wahre Glanzstücke moderner Science Fiction. Sie sollten sie auf keinen Fall verpassen!«
Stephen Baxter
DER AUTOR
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt-Agentur ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden.
Im Wilhelm Heyne Verlag sind von Alastair Reynolds erschienen: Unendlichkeit, Chasm City, Die Arche, Offenbarung, Ewigkeit, Träume von Unendlichkeit, Himmelssturz, Aurora.
Titel der englischen Originalausgabe HOUSE OF SUNS Deutsche Übersetzung von Norbert Stöbe
Für Tracey und Grace, große und kleine Schwester, in Liebe
ERSTER TEIL
Ich wurde geboren in einem Haus mit zahllosen Räumen, errichtet auf einer kleinen, atmosphärelosen Welt am Rande vom Reich des Lichts und des Handels, das die Erwachsenen aus mir unerfindlichen Gründen »Goldene Stunde« nannten.
Damals war ich ein Mädchen, ein Individuum mit Namen Abigail Gentian.
Im Laufe meiner dreißigjährigen Kindheit sah ich nur einen kleinen Teil des unermesslichen, verschachtelten, in unaufhörlicher Verwandlung begriffenen Hauses. Auch als ich älter wurde und über die Berechtigung verfügte, nach Belieben umherzustreifen, erkundete ich wohl kaum ein Hundertstel des Gebäudes. Die langen, abweisenden Gänge aus Spiegeln und Glas und die korkenzieherartig gewundenen Treppen, die aus dunklen Kellern und Gewölben aufstiegen, welche nicht einmal von den Erwachsenen betreten wurden, schüchterten mich ein, in den Räumen und Salons spukte es angeblich - auch wenn die Erwachsenen und Bediensteten in meiner Gegenwart nie davon sprachen -, oder sie waren aus irgendeinem Grund nur für den vorübergehenden Aufenthalt geeignet. Die Aufzüge und das tumbe Personal erschreckten mich, wenn sie sich ohne ersichtlichen Grund aufgrund einer unbegreiflichen Laune der Hauspersönlichkeit in Bewegung setzten. Es war ein Haus der Gespenster und Monster, in dessen Schatten Ghule lauerten und hinter dessen Wandvertäfelung Dämonen ihr Unwesen trieben.
Ich hatte nur einen wahren Freund; seinen Namen habe ich vergessen. Hin und wieder besuchte er mich, aber immer nur kurz. Ich durfte seine Annäherung und das Andocken seines Privatshuttles von einem verglasten Ausguck in der Spitze des höchsten Turms aus mitverfolgen. Ich freute mich immer, wenn Madame Kleinfelter es mir gestattete, den Aussichtsturm zu betreten, und das nicht nur deshalb, weil dieses Ereignis das Eintreffen meines einzigen wahren Gefährten ankündigte. Denn vom Ausguck aus konnte ich das ganze Haus und einen großen Teil der Welt überblicken, auf der es errichtet war. Das Haus bog sich in alle Richtungen von mir weg, bis es an die scharfe Krümmung des zerklüfteten Planetoidenhorizonts stieß, ein schmaler Gesteinsrand, der die Grenze meines Zuhauses markierte.
Es war ein seltsames Gebäude, wenngleich es mir lange an Vergleichsmöglichkeiten fehlte. Es war ohne erkennbaren Plan errichtet worden, es wies keine Spur von Symmetrie oder Harmonie auf - und falls doch, so war sie unter den zahllosen An- und Umbauten verschwunden, die noch immer nicht zum Abschluss gekommen waren. Obwohl der Planetoid keine Atmosphäre besaß und es daher auch kein Wetter gab, war das Haus so gebaut, als gehörte es auf eine Welt, wo es regnete und schneite. Jeder Teil davon, jeder Flügel und jeder Turm, war gekrönt von einem steilen, mit blauen Schindeln gedeckten Dach. Es gab Tausende Dächer, die in willkürlichen, beunruhigenden Winkeln aneinanderstießen. Die chaotische, an Dinosaurierrücken erinnernde Dachlandschaft war mit Schornsteinen, Aussichtsund Uhrentürmen durchsetzt. Manche Teile des Hauses waren nur ein- oder zweistöckig; andere hatten zwanzig oder mehr Etagen, und die höchsten Abschnitte ragten wie Berge aus der Hügellandschaft der umliegenden Bauten hervor. Mit Fenstern versehene Brücken überspannten die Lücken zwischen den Türmen; hin und wieder warf eine ferne Gestalt verstohlen einen Blick durch die hell erleuchteten Fenster. Es war weniger ein Haus als eine Stadt, die man vollständig durchqueren konnte, ohne jemals ins Freie zu gelangen.
In späteren Jahren erfuhr ich, weshalb mein Zuhause so und nicht anders war und weshalb die Arbeiten niemals zum Abschluss kamen, doch als Kind nahm ich es einfach fraglos hin. Mir war bewusst, dass das Haus anders war als die Häuser, die ich in den Büchern und Infowürfeln sah, doch das galt eigentlich für alle bedeutsamen Aspekte meines Lebens. Noch ehe ich lesen konnte, war mir klar, dass wir reich waren, und ich war durchdrungen von dem Wissen, dass es nur eine Handvoll Familien gab, deren Reichtum sich mit dem unseren messen konnte.
»Du bist eine ganz besondere junge Dame, Abigail Gentian«, sagte meine Mutter bei einer der vielen Gelegenheiten, da ihr altersloses Gesicht mich aus einem der vielen Fenster heraus ansprach. »Du wirst in deinem Leben einmal Großes bewirken.«
Sie hatte ja keine Ahnung.
Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass auch der kleine Junge das Kind einer reichen Familie sein musste. Er kam mit seinem eigenen Raumschiff, nicht mit einem der firmeneigenen Linienschiffe, welche die gewöhnlichen Sterblichen zu unserem Planetoiden beförderten und sie wieder abholten. Ich beobachtete, wie er aus der Tiefe des Weltraums heranflog, mit einer kobaltblauen Flamme verzögerte und über einem der Außenflügel des Hauses zum Stillstand kam, beim Landemanöver eine Art Pirouette vollführte, skelettartige Beine ausfuhr und sich mit eleganter Präzision auf das Landefeld absenkte. Unser Familienwappen war eine schwarze Fünfblattrosette; seines zwei ineinander greifende Zahnräder, die auf der Flanke des schlanken, mit Nieten besetzten Raumschiffsrumpfs abgebildet waren.
Sobald das Schiff gelandet war, rannte ich so schnell los, dass ich auf der engen Wendeltreppe, die sich durch den Turm wand, beinahe gestürzt wäre. Der Kindermädchenklon, der mich an dem betreffenden Tag beaufsichtigte, brachte mich zu einem Aufzug, und dann fuhren wir nach oben, nach unten und seitwärts, bis wir am Landedock angelangt waren. Für gewöhnlich trafen wir in dem Moment dort ein, wenn der kleine Junge gerade in Begleitung von zwei dahingleitenden Robotern mit zögernden Schritten die lange, teppichbelegte Rampe herabgeschritten kam.
Die Robots machten mir Angst. Es waren unförmige Dinger mit einer matten, verwitterten Oberfläche, mit Köpfen, Oberkörpern und Armen, aber nur einem einzelnen großen Rad anstelle der Beine. Die Gesichter bestanden aus einer vertikalen Linie an der Vorderseite des keilförmigen Kopfes, ähnlich den Schießscharten in einer Burgmauer. Sie hatten keine Augen und keinen Mund. Die Arme waren segmentiert und endeten in dreiteiligen Klauen, die allenfalls dazu taugen mochten, Fleisch und Knochen zu zermalmen. In meiner Vorstellung hielten die Roboter den kleinen Jungen gefangen, wenn er nicht bei mir zu Besuch war, und taten ihm schreckliche Dinge an - so grauenhafte Dinge, dass er nicht einmal dann darüber sprechen konnte, wenn wir unter uns waren. Erst als ich älter geworden war, begriff ich, dass sie seine Leibwächter waren und in ihren beschränkten Köpfen so etwas wie Liebe für ihn hegten.
Die Robots kamen nur bis zum Ende des Teppichs und rollten niemals auf den Holzboden des Empfangsbereichs. Der Junge hielt dort kurz inne, dann setzte er seine schwarz polierten Schuhe mit einem lauten Klacken auf die lackierten Holzbohlen. Bis auf die weißen Stulpen und den weißen Spitzenkragen war er schwarz gekleidet. Er hatte einen kleinen Rucksack dabei und sich das schwarze Haar mit einem stark riechenden Festiger aus der Stirn zurückgekämmt. Sein Gesicht war bleich und ein wenig pummelig, mit runden, dunklen Augen von unbestimmter Farbe.
»Du hast seltsame Augen«, pflegte er zu mir zu sagen. »Das eine blau und das andere grün. Weshalb hat man das bei deiner Geburt nicht gerichtet?«
Die Robots drehten sich in der Hüfte und rollten ins Shuttle zurück, wo sie warten würden, bis es für ihn Zeit wurde, wieder zurückzufliegen.
»Das Gehen fällt mir hier schwer«, sagte der Junge immer. Seine Schritte wirkten unsicher. »Alles ist so beschwerlich.«
»Für mich ist das ganz normal«, sagte ich.
Erst viel später wurde mir klar, dass der Junge von der Goldenen Stunde kam, wo nur die halbe Standardschwerkraft herrschte, weshalb er Mühe mit der Fortbewegung hatte, wenn er dem Planetoiden einen Besuch abstattete.
»Vater meint, es ist gefährlich«, sagte der Junge, als wir zum Spielzimmer gingen, zwei Kindermädchen im Schlepptau.
»Was ist gefährlich?«
»Das Ding in deiner Welt. Oder hat dir noch niemand davon erzählt?«
»In der Welt ist nichts als Gestein. Das weiß ich genau - ich hab’s im Würfel nachgeschaut, nachdem du mir erzählt hattest, in den Höhlen unter dem Haus würden Schlangen leben.«
»Der Würfel hat dich angelogen. Das tun die, wenn sie glauben, sie müssten einen vor der Wahrheit schützen.«
»Die Würfel lügen nicht.«
»Dann frag mal deine Eltern nach dem Schwarzen Loch. Das befindet sich genau unter deinem Haus.«
Er musste gewusst haben, dass mein Vater tot war und dass ich nur meine Mutter fragen konnte, wenn ihr Gesicht in einem der Fenster erschien.
»Was ist ein Schwarzes Loch?«
Der Junge überlegte einen Moment. »Das ist eine Art Ungeheuer. So etwas Ähnliches wie eine schwarze Riesenspinne, die in einem unsichtbaren Netz hängt. Alles, was in ihre Nähe kommt, das packt und sticht sie und frisst es bei lebendigem Leib. Und unter deinem Haus lebt eine ganz große Spinne.«
»Und was ist mit den Schlangen passiert?«, fragte ich altklug. »Hat die Spinne sie gefressen?«
»Das mit den Schlangen war gelogen«, sagte der Junge leichthin. »Aber das Schwarze Loch gibt es wirklich - frag den Infowürfel, wenn du mir nicht glaubst. Deine Eltern haben es unter das Haus gepflanzt, damit alles schwerer wird. Wenn es das nicht gäbe, würden wir jetzt schwerelos schweben.«
»Wie stellt die Spinne es denn an, dass alles schwerer wird?«
»Ich habe gesagt, es ist so was Ähnliches wie eine schwarze Spinne und keine richtige Spinne.« Er musterte mich mitleidig. »Ein saugender, gieriger Mund, der nie genug bekommt. Deshalb zieht er alles in seiner Umgebung an und macht, dass wir uns schwerer fühlen. Aber das ist auch der Grund, weshalb er so gefährlich ist.«
»Weil dein Vater das gesagt hat?«
»Nicht nur deswegen. Der Würfel wird dir alles erklären, wenn du ihm die richtigen Fragen stellst. Du darfst nur nicht geradewegs drauf zusteuern - du musst dich an das Thema anschleichen wie eine Katze an eine Maus. Ein Schwarzes Loch hat mal einen ganzen Planetoiden verschluckt - einen größeren als den hier. Mitsamt allem, was darauf gelebt hat. Die sind alle im Abfluss verschwunden, wie das Wasser nach dem Bad. Gluck-gluck-gluck.«
»Hier kann das nicht passieren.«
»Wenn du meinst.«
»Außerdem glaube ich dir eh nicht. Wenn das mit den Schlangen gelogen war, weshalb sollte ich dir jetzt dann glauben?«
Seine Boshaftigkeit verflüchtigte sich auf einmal. Ich hatte das Gefühl, mein Freund sei erst in diesem Moment angekommen - der spöttische, gehässige Kerl, der mich bis jetzt begleitet hatte, war nur ein Doppelgänger gewesen.
»Hast du neue Spielsachen, Abigail?«
»Ich habe immer neue Spielsachen.«
»Ich meine, irgendwas Besonderes.«
»Ja, ich hab was«, sagte ich. »Ich hab mich schon drauf gefreut, es dir zu zeigen. So was Ähnliches wie ein Puppenhaus.«
»Puppenhäuser sind was für Mädchen.«
Ich zuckte die Achseln. »Dann zeig ich’s dir eben nicht.« In seinen eigenen Worte erklärte ich: »Ich habe gesagt, es ist so was Ähnliches wie ein Puppenhaus und kein richtiges Puppenhaus. Es heißt Puppenpalast und ist eine Art Burg, über die man herrscht, und dazu gehört ein ganzes Reich. Schade; ich dachte, es würde dir gefallen. Aber wir können auch etwas anderes spielen. Entweder im Stimmungslabyrinth oder im Flugzimmer.«
Ich konnte ihn ebenso gut manipulieren wie er mich, außerdem wusste ich bereits, wie er tickte - er würde noch eine Weile Gleichgültigkeit vorschützen, während er vor Neugier auf das Puppenhaus förmlich brannte. Und seine Neugier war durchaus berechtigt, denn auf das Puppenhaus war ich besonders stolz.
Mit den Kindermädchen im Schlepptau geleitete ich den kleinen Jungen ins Spielzimmer. In dem schummrig erhellten Raum mit den verdunkelten Fenstern rollte ich Kisten und Truhen hervor und packte ein paar von den Sachen aus, mit denen wir bei seinem letzten Besuch gespielt hatten. Der Junge ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten, öffnete die Deckklappe und packte ein paar seiner Lieblingsspielzeuge aus. Einige kannte ich schon von seinem letzten Besuch her: einen Drachen mit schuppigen Flügeln, der im Zimmer umherflog, rosafarbenes Feuer spuckte und dann auf seinem Arm landete und seinen Schwanz mehrfach darumschlang; einen Soldaten, der sich irgendwo im Zimmer versteckte, während wir die Augen geschlossen hatten - beim letzten Mal hatten wir Stunden gebraucht, um ihn zu finden. Da waren auch Murmeln, kleine Glaskugeln mit Farbschlieren darin, die auf dem Boden umherrollten und nach unseren Anweisungen Muster und Figuren bildeten. Oder sie bildeten von sich aus Figuren, die wir erraten mussten, bevor sie fertig waren. Dann waren da noch ein Puzzlebrett und eine hübsche Automatenballerina, die auf allen Körperteilen tanzen konnte, sogar auf der Fingerspitze.
Damit spielten wir, bis uns die Kindermädchen auf einem schwebenden Servierwagen Limonade und Kekse brachten. Irgendwo im Haus schlug eine Standuhr.
»Jetzt möchte ich das Puppenhaus sehen«, sagte der Junge.
»Ich dachte, das interessiert dich nicht.«
»Doch. Ehrlich.«
Und so zeigte ich ihm den Puppenpalast, führte ihn in das Zimmer-im-Zimmer, in dem ich ihn verwahrte, und obwohl ich ihm nur einen kleinen Teil der Möglichkeiten vorführte, war er ganz fasziniert davon. Ich merkte sogar, dass er neidisch darauf war. Bei seinem nächsten Besuch würde er ihn bestimmt wieder sehen wollen.
Es war das erste Mal, dass ich Macht über ihn hatte. Dieses Gefühl mochte ich sehr.
Eins
Ich hob das Glas, von der Szenerie bereits trunken, bevor auch nur ein Tropfen meine Lippen berührt hatte.
»Auf die zukünftige Sicherheit Ihrer Zivilisation und Ihres Sonnensystems, Herr Nebuly.«
»Auf Ihre Zivilisation«, sagte Portula, die mir gegenüber saß.
»Danke«, sagte Herr Nebuly.
Wir saßen am Strand und genossen den warmen Abend mit einem Glas Wein. Die Nacht auf der Zentaurenwelt war anders als auf anderen Planeten. Da die Welt um einen Stern mit starker UV-Strahlung kreiste, hatten Transformer die Atmosphäre mit einer Schutzhülle umgeben - einem transparenten Schutzschirm, den die Zentauren im Unterschied zu dem Schutzpanzer, der nötig geworden wäre, wenn das Haus der Nachtfalter sein Sonnensystem verlegt hätte, duldeten. Tagsüber filterte der Schutzschirm lediglich die Strahlung und milderte das grelle blaue Leuchten. Nachts aber verstärkte er das Licht selbst der schwächsten Sterne und Gaswolken so weit, dass die Farbrezeptoren des menschlichen Auges darauf ansprachen. Die Milchstraße war ein leuchtendes, knöchernes Rückgrat, das sich von Horizont zu Horizont spannte. Die Überreste einer nahen Supernova waren als rubinroter Fleck zu sehen, der an den ausfasernden Rändern in Schwarz überging. Der Pulsar in seinem Zentrum war ein blitzendes Leuchtfeuer. Eine Gruppe blauer Sterne, die nur ein paar hundert Lichtjahre entfernt war, funkelte wie ein Haufen Edelsteine. Die Zwergsterne im Umkreis von einigen wenigen Lichtjahren leuchteten in warmen Bernstein- und Goldtönen und versprachen Leben und Zuflucht und die zehn Milliarden Jahre währende Stabilität eines langsam ablaufenden Fusionszyklus. Selbst die Absenz konnte man sehen, jenen daumengroßen Fleck sternen- und galaxienfreier Dunkelheit in der Richtung, wo früher einmal Andromeda gelegen hatte.
Der Himmel war wunderschön, so farbenprächtig wie eine Vision unter Drogen, doch ich wollte nicht an die Absenz denken. Sie erinnerte mich an das Versprechen, das ich Doktor Meninx gegeben und nicht eingelöst hatte und dessen Erfüllung jetzt an einem hauchdünnen Faden hing.
Die Zentauren waren meine letzte Hoffnung.
»Und Sie sind sich wirklich sicher, dass uns der Sternendamm in Zukunft keinen Anlass zur Sorge geben wird, Splitterling Campion?«, fragte der Vierbeiner, der bei unserem Tisch stand.
»In dieser Hinsicht können Sie ganz beruhigt sein, Herr Nebuly. Ihre Zivilisation ist wieder sicher.«
»Nicht dass sie jemals in ernster Gefahr gewesen wäre«, sagte Portula und schwenkte den Wein in ihrem Glas. »Das wollen wir doch mal klarstellen.«
Ich lächelte. »Ein Leck im Sternendamm darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen, doch inzwischen ist der Schaden behoben. Wir haben den Damm gebaut; wenn etwas schiefgeht, setzen wir ihn instand. So halten es die Angehörigen der Familie Gentian.«
»Sie können sicherlich nachvollziehen, weshalb wir uns Sorgen gemacht haben. Als man uns die übrigen Überlebensstrategien vorgestellt hat, wurde ausdrücklich betont, die Reparatur des Sternendamms stelle das kleinste Risiko dar.«
»Und so war es auch«, sagte ich.
Vor anderthalb Millionen Jahren war in wenigen Lichtjahren Entfernung von der Heimatwelt der Zentauren ein supermassiver Stern instabil geworden. Die Wiedergeburtshelfer hatten versucht, mit Wurmlöchern Materie aus dem Sterninnern abzusaugen, doch der hohen Dichte und den gewaltigen Temperaturen hatten die Geräte, welche die Wurmlöcher offen hielten, nicht standgehalten. Der Eingriff der Transformer konnte die Biosphäre der Zentauren nicht schützen. Somit gab es, abgesehen von einer kompletten Räumung des Systems, nur noch zwei Alternativen. Die Mellicta-Familie, das Haus der Nachtfalter, war spezialisiert auf die Verlegung von Sternen. Sie schlugen vor, entweder den instabilen Stern oder das ganze System zu verlegen, und erboten sich, dies kostenlos zu bewerkstelligen, wenn die Zentauren ihnen als Gegenleistung exklusive Handelsrechte für die nächsten zwei Millionen Jahre einräumten. Beide Vorhaben waren nicht ohne Risiko. Bei der Verlegung eines Sterns ging es darum, ihn aus dem galaktischen Gefüge zu entfernen, bevor er kritisch wurde, doch es war schon vorgekommen, dass ein solcher Stern vorzeitig explodiert war. Das Sonnensystem der Zentauren ließ sich problemlos verlegen, doch man hätte den Planeten einkapseln müssen, um ihn für die Dauer der Reise vor der Strahlung und den Materietrümmern des interstellaren Raums zu schützen. Das hielten die Zentauren für unannehmbar, denn sie fürchteten sich vor dem Eingeschlossensein.
Um diese Zeit herum hatte die Familie Gentian, das Haus der Blumen, Bekanntschaft mit den Zentauren gemacht. Da wir danach trachteten, unser Ansehen bei der Körperschaft zu mehren, schlugen wir ihnen vor, ihr Sonnensystem an Ort und Stelle zu belassen und sie gleichzeitig vor dem kränkelnden Stern zu schützen. Man könne um den Superriesen einen Sternendamm errichten. Wenn der Stern explodiere, würde die Energie vom Damm absorbiert und auf ewig in einem Schutzschirm aus idealen Spiegeln eingeschlossen werden.
Die Zentauren waren von Natur aus äußerst skeptisch. Die Familie Gentian aber konnte auf einige Erfahrung mit derlei Vorhaben verweisen. Wenn sie sich unter den übrigen Angehörigen der Körperschaft durch besondere Kompetenzen hervortat, dann auf dem Gebiet der Sternendämme. Wir stellten sie schon seit Dutzenden Umläufen her - seit Millionen von Jahren.
Zum Zeitpunkt der Verhandlungen mit den Zentauren war noch kein von der Familie Gentian errichteter Sternendamm jemals zusammengebrochen.
Das war freilich nur zu einem geringen Teil unser eigenes Verdienst. Wir bauten die Dämme, aber das bedeutete lediglich, dass wir die Fertigteile zusammenfügten, welche die Früheren uns hinterlassen hatten. Sie hatten die eigentliche Arbeit geleistet. Sie hatten Millionen von Ringwelten geschmiedet, große und kleine, und sie wie Reifen um die Sterne geworfen. Dann hatten sie sie aufgegeben und waren ausgestorben.
Etwa eine Milliarde Jahre später begannen wir sie einzusammeln. Wir durchkämmen den Weltraum nach den Signaturen verwaister, sternenloser Ringwelten. Wir fixieren Schubstationen an ihrer dunklen Seite und bugsieren sie mit einem kläglichen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit durch die Galaxis. Dabei muss man sehr behutsam vorgehen, sonst brechen sie in zahllose funkelnde Fragmente auseinander. Ringwelten sind unglaublich stabil, aber nicht unzerstörbar. Ihre hervorstechende Eigenschaft ist ihr Glanz. Im ganzen bekannten Universum gibt es nichts Glänzenderes. Die verspiegelte Innenfläche reflektiert alles, sogar Neutrinos, die ansonsten mühelos fünfzig Lichtjahre dicke Bleiplatten durchfliegen können.
Um einen Stern einzudämmen, ihn vollständig zu umhüllen, ist eine Konstruktion nach Art einer Dyson-Sphäre erforderlich. Menschen vermögen einen Stern mit einem Schwarm künstlicher Himmelskörper einzuhüllen, einer Dyson-Wolke, aber eine Sphäre können wir nicht errichten. Wir nähern ihr uns an, indem wir einen Stern mit Tausenden Ringwelten umgeben, alle von vergleichbarer Größe, aber mit unterschiedlichen Durchmessern. Wir formen einen Diskus und neigen ihn so lange, bis jede Ringwelt einen bestimmten Winkel zum Stern einnimmt. Während die Ringwelten allmählich ihre endgültige Position einnehmen, bricht das Sternenlicht durch die sich verengenden Lücken. Die flammende, tödliche Laterne verdunkelt sich immer mehr.
Dann auf einmal gibt es keinen Stern mehr, nur noch eine dunkle Sphäre. In der Schale toben die reflektierten Energien des sterbenden Sterns und schwirren so lange zwischen den idealen Spiegeln umher, bis die Photonen mit einer Intensität, die keinen Schaden mehr anrichten kann, nach und nach in den Weltraum entweichen.
Dieser Vorgang erstreckt sich über einen unermesslich großen Zeitraum. Sollte der Sternendamm zusammenbrechen, bevor die aufgestaute Energie sich zerstreut hat, wären die Folgen ebenso katastrophal wie die der Explosion, vor der der Damm eigentlich schützen sollte.
Als ich sagte, wir hätten die lokale Zivilisation gerettet, habe ich übertrieben, doch das soll nicht heißen, dass es mit dem Sternendamm keine Probleme gegeben hätte. Eine der Schubstationen - so nannte man die Geräte, welche die Ringwelten in Position hielten - drohte auszufallen. Im Damm hatte sich eine augenförmige Lücke geöffnet, durch die das Licht hindurchströmte.
Ich wurde mit der Instandsetzung beauftragt. Eine neue Schubstation folgte meinem Schiff Bummelant seit der letzten Reunion wie ein Schoßhündchen. Im Frachtraum befanden sich die miteinander verbundenen Messingkugeln, die als Einmalöffner bezeichnet wurden, ein Gerät, das auf den speziellen Sternendamm zugeschnitten war und eine begrenzte Neujustierung der darin verborgenen Mechanismen ermöglichte. Vor dem Besuch bei den Zentauren hatte ich den Öffner eingesetzt - nach Auslösung des Gravitonen-Impulses war er zu funkelndem Staub zerfallen - und die neue Schubstation installiert. Im Verlauf mehrerer Tage hatte sich das Auge geschlossen und der Damm war wieder versiegelt.
Unsere Arbeit war getan. Portula war der Ansicht, es wäre angebracht gewesen, abzureisen, ohne die Zentauren zu besuchen und damit an ihre Dankbarkeit zu appellieren.
Damit hatte sie zweifellos Recht gehabt.
»Sie haben eine gute Wahl getroffen, als Sie sich für den Sternendamm entschieden haben«, sagte Portula, die sich vermutlich bewusst war, dass sie mit einem fernen Nachkommen jener Wesen sprach, mit denen unsere Familie als Erstes Handel getrieben hatte. »Aber Sie hatten auch Recht damit, Ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass es überhaupt erst zu dem Defekt gekommen ist.«
Herr Nebuly scharrte mit dem Huf. »Es ist ja nichts passiert.«
»Nichtsdestoweniger möchte ich mich im Namen der Familie entschuldigen und Ihnen versichern, dass sich dergleichen nicht mehr wiederholen wird.« Portula machte kein Geheimnis daraus, dass auch sie ein Splitterling der Familie Gentian war. Wenngleich die Familie es missbilligte, wenn wir uns während der Umläufe miteinander einließen, so waren unsere Gastgeber doch aus gutem Grund für ihre Diskretion bekannt. »Wenn die Familie Gentian«, fuhr sie fort, »noch etwas für Ihre Zivilisation tun kann, werde ich das Thema gerne bei unserer nächsten Reunion ansprechen. Sie waren sehr liebenswürdige Gastgeber - so viel Freundlichkeit hatten wir gar nicht verdient. Die Arrangements, die Sie für unseren Gast Dr. Meninx getroffen haben …«
»Wo wir gerade vom Teufel sprechen«, sagte ich und nahm ein antikes Fernglas vom Tisch.
»Ist er das?«, fragte Herr Nebuly.
»Wie er leibt und lebt.«
»Er reist in einem höchst merkwürdigen Apparat. Welche Funktion haben diese kreisförmigen, sich drehenden Dinger an der Seite?«
»Das sind Räder«, antwortete Portula.
»Das ist seine Bademaschine«, sagte ich.
Die Bademaschine war ein verrosteter schwarzer Rhomboid, der auf vier voneinander unabhängige Fahrgestelle montiert war. Er war aus dem Frachtraum meines Schiffes aufgetaucht, die Laderampe heruntergerollt und schwerfällig und qualmend zwischen den flachen, weit verteilten Gebäuden der verschlafenen Küstenstadt hindurch zu der alten Ufermauer aus rissigem Beton gefahren. Über eine abschüssige Helling war er auf den Strand und ins Meer gerollt, bis das Wasser über die Räder reichte. An der Vorderseite des Dachs hatte sich eine Tür aufgefaltet, so dass das Meerwasser ins Innere schwappen konnte.
Das tintige Meer war mitternachtsblau und schimmerte von Mikroorganismen. Die Wellen schäumten rosafarben und kirschrot, wenn sie über den gelbweißen Sand spülten. In der Hoffnung, einen Blick auf den badenden Doktor Meninx zu erhaschen, richtete ich das Fernglas auf das Heck der Bademaschine. Leider sah ich nur eine muschelbesetzte Gestalt von der Maschine fortgleiten. Ehe ich mehr als nur rudimentäre Details hatte wahrnehmen können, war sie auch schon untergetaucht. Die Tür schloss sich, und die Bademaschine rollte zurück an den Strand.
»Dürfte ich fragen, wie Sie die Bekanntschaft dieses ungewöhnlichen Exemplars gemacht haben, Splitterling? Es ist lange her, dass wir jemanden wie Doktor Meninx zu Gesicht bekommen haben - mindestens siebenhunderttausend Jahre.«
»Das ist nicht mein Verdienst. Er wurde mir aufgedrängt.«
»Aus Ihrem Mund klingt das wie eine Strafe.«
»Das war es auch. Meine Familie war der Ansicht, man sollte mir Gelegenheit geben, zu beweisen, dass ich Verantwortung übernehmen könnte. Deshalb hat man mir einen schwierigen Gast mitgegeben.«
»Das war Campions Pech, Herr Nebuly«, sagte Portula. »Gromwell - ein weiterer Splitterling - tauchte bei unserer letzten Reunion in Begleitung von Doktor Meninx auf. Gromwell suchte nur nach einer passenden Gelegenheit, ihn jemand anderem unterzuschieben. Um diese Zeit herum verfolgte Campion ein Vorhaben, das ihn auch zur Vigilanz führte.«
»Sie wissen Bescheid über die Vigilanz«, sagte ich.
Herr Nebuly blickte zum Himmel auf, in die ungefähre Richtung der Absenz. Er trug einen eng sitzenden Nadelstreifenanzug, der bis zu der Stelle reichte, wo sein menschlicher Oberkörper nahtlos in das gestriegelte Walnussbraun seines Pferdeleibes überging. »Es kommt einem so einiges zu Ohren, Splitterling. Was nicht heißen soll, dass wir jemals direkten Kontakt mit ihnen gehabt hätten.«
Portula trank einen Schluck Wein. »Wie sich herausstellte, war die Vigilanz Doktor Meninx’ Reiseziel. Abgesehen davon, dass er ein überzeugter Leugner ist, hält er sich für einen Gelehrten der fernen Geschichte.«
»Und so kam es, dass Campion sich nun mit dem Doktor herumschlagen muss«, sagte Herr Nebuly.
»Abgesehen davon, dass ich den Sternendamm überwachen soll, wurde mir aufgetragen, Doktor Meninx zur Vigilanz zu bringen und mich dafür einzusetzen, dass er einen privilegierten Gelehrtenstatus erhält - das heißt, unbeschränkten Zugang zu den Geheimarchiven und so weiter. Leugner werden dort nicht sehr geschätzt, und besonders unbeliebt sind bei ihnen Aquatiker, doch man ging davon aus, dass es mir gelingen werde, sie zu überreden.«
Herr Nebuly schwenkte den Oberkörper herum und blickte wieder aufs Meer hinaus. Seine Miene nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. »Mir drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass Sie in dieser Beziehung nicht ganz erfolgreich waren. Hab ich Recht, Splitterling?«
»Nein, es läuft alles nach Plan«, sagte ich. »Dies ist die letzte Gelegenheit für den Doktor, vor Erreichen der Vigilanz ein Bad zu nehmen, und die wollte er sich nicht entgehen lassen. Übrigens möchte auch ich Ihnen dafür danken, dass Sie die erforderlichen Vorkehrungen getroffen haben.«
Der Zentaur deutete mit wegwerfender Handbewegung auf die schimmernde Barriere am Horizont, hinter der Portulas in der Luft schwebendes Raumschiff - viel zu groß für das Landefeld - wie ein matter Silbermond am Himmel stand. »Aber ich bitte Sie. Im Meer gibt es zwar keine großen Raubtiere, doch es hat uns keine große Mühe bereitet, zur Beruhigung Ihres Gastes die Bucht abzusperren. Ich hoffe, wir haben den Salzgehalt so weit angepasst, dass er seinem Geschmack entspricht.«
Die Unterhaltung stockte. Herr Nebuly war nicht zum bloßen Zeitvertreib an unseren Tisch gekommen. Er wollte mir mitteilen, wie hoch er den Wert der Handelsgüter einschätzte, die ich zum Verkauf anbot. Von seinem Angebot hing viel ab, wenngleich ich mich nach Kräften bemühte, ihn davon nichts merken zu lassen.
»Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns einen Blick in Ihren Datenspeicher haben werfen lassen«, sagte Herr Nebuly.
Ich nickte ermutigend, während Portula ein angespanntes, diplomatisches Lächeln aufgesetzt hatte. »Ich hoffe, Sie haben etwas gefunden, das für Sie von Interesse ist.«
»Ich habe viel Interessantes entdeckt. Sie sind weit herumgereist, haben Informationen mit anderen Sternenfahrern ausgetauscht und großes, teilweise unschätzbares Wissen erworben. Es war mir eine große Ehre, Ihre Daten durchsehen zu dürfen.«
»Und haben Sie etwas gefunden, das Sie vielleicht erwerben möchten?«
Herr Nebuly verlagerte auf seinen eisenbeschlagenen Hufen die Haltung. »Ich habe mehrere Dinge gefunden, Splitterling, doch ich muss gestehen, dass vieles von dem, was Sie anzubieten haben, für mich, abgesehen von seiner Seltenheit, keinen unmittelbaren Wert besitzt. Wären Sie vor zwanzig Kilojahren eingetroffen, hätte es anders ausgesehen. Doch es ist gerade mal elf Jahre her, dass wir von einem Splitterling der Familie Gentian Besuch erhielten, und vor zwei Jahren war ein Marcellin in unserem Sonnensystem.«
»Die Marcellins sind wirklich überall«, sagte Portula mit zusammengekniffenen Lippen.
»Die Datensätze, die Sie interessieren …«
»Ich habe hier eine Liste«, sagte der Zentaur und zog einen taschentuchgroßen Gegenstand aus einer Tasche seines Geschäftsanzugs hervor. Er klappte ihn auf und vergrößerte ihn auf Tischgröße. Dann ließ er ihn in der Luft schweben, wo er dem leichten Wind trotzte. Es handelte sich um Zeichenkolonnen in der Schriftvariante der Uni-Sprache.
Die Familie Gentian kannte die Zentauren bereits seit über acht Umläufen. In diesem System lebte die dreizehnte Erscheinungsform von Menschen, die aus den postzivilisatorischen Ruinen der vorausgegangenen Kultur hervorgegangen war. Ihnen gehörte dieses System mitsamt einer Handvoll transformierter Welten, doch über den Kometenring waren sie nie hinausgekommen. Ihre Hauptwelt war ein Planet, der von einem Riesenozean bedeckt wurde. Er hatte eine dichte, blaue Atmosphäre aus photo-dissoziiertem Sauerstoff. Die Transformer hatten die Atmosphäre verdünnt und ihre Aggressivität gemindert, schwebende Landmassen auf das weltumspannende Meer herabgesenkt und verschiedene robuste Lebensformen im sterilen Wasser ausgesetzt. Die Gravitation war unverändert geblieben, und das war der Grund für die vierfüßige Gestalt der Zentauren, die einen sicheren Stand gewährleistete. Sie erinnerten sich noch vage an ihre Herkunft, was man nicht von allen postemergenten Zivilisationen sagen konnte. Der statistischen Vorhersage des Universalen Aktuars zufolge standen die Aussichten für sie gut, mindestens weitere ein bis zwei Millionen Jahre zu überleben, vorausgesetzt, dass sich ihr Ehrgeiz in Grenzen hielt. Auf lange Sicht war die beste Strategie für einen langen Fortbestand einer Zivilisation, einfach in seinem Heimatsystem hocken zu bleiben oder dem Beispiel der großen Familien zu folgen, die vom planetarischen Leben vollkommen unabhängig geworden waren. Expansionismus funktionierte eine Zeit lang, war aber letztlich zum Scheitern verurteilt. Obwohl sie auf sechs Millionen Jahre ernüchternde Geschichte zurückblicken konnten, ließen sich manche Schwellenvölker trotzdem nicht davon abhalten, es wenigstens zu versuchen.
Wir bezeichneten das als Wandel: die endlose, knirschende Abfolge der Reiche. Die Zentauren hatten gut daran getan, nicht auf den Zug aufzuspringen.
»Wie Sie sehen«, sagte Herr Nebuly, »sind unsere Angebote nicht unvernünftig.«
»Nein, Ihre Bedingungen sind wirklich großzügig«, sagte ich. »Ich hatte allerdings gehofft, Sie würden ein Angebot für die größeren Objekte des Datenspeichers unterbreiten.«
»Ich wünschte, das wäre möglich. Allerdings würde es wenig Sinn machen, wenn wir auf Daten bieten würden, die wir bereits besitzen.«
»Glauben Sie nicht, wir könnten uns irgendwo in der Mitte treffen?«
»Auch unsere Großzügigkeit hat Grenzen, Splitterling. Wir haben den Eindruck, die Bedingungen sind fair. Es ist bedauerlich, dass Ihr Speicher nicht mehr Dinge enthält, die für uns von Wert sind, doch das sollte Sie nicht davon abhalten, uns wieder zu besuchen, wenn Sie Neuerwerbungen anzubieten haben.« Der Zentaur stockte. Drei seiner Hufe hatten vollen Bodenkontakt, der hintere linke Huf war abgeknickt. »Soll ich Sie einen Moment allein lassen, damit Sie über unser Angebot beraten können?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ich werde in Kürze zurück sein. Möchten Sie noch etwas Wein?«
»Nein, danke«, sagte ich und hob die Hand.
Herr Nebuly wandte sich um und trabte über den geschwungenen Weg davon, der an der Strandbefestigung entlangführte. In der Ferne standen zwei weitere Zentauren in roten Uniformen, in der Hand Stäbe mit den Wimpeln irgendwelcher ziviler Vereinigungen.
Herr Nebuly gesellte sich zu seinen Landsleuten und schaute geduldig zu uns herüber.
»Wir sind erledigt«, sagte ich, und es war mir egal, ob wir eventuell abgehört wurden.
Portula trank ihren Wein aus. »Es hätte schlimmer kommen können. Er möchte dir ein Angebot unterbreiten.«
»Das ändert nichts.« Im Orbit um die Heimatwelt der Zentauren kreisten verschiedene Gebrauchtraumschiffe, die meisten davon standen zum Verkauf. Wenn Nebuly die Daten in meinem Speicher gefallen hätten, hätte er mir anbieten können, eines dieser Raumfahrzeuge zu erwerben. Mit einem schnelleren Raumschiff hätte ich das Versprechen, das ich Doktor Meninx gegeben hatte, einhalten und mit nur geringfügiger Verspätung zur Reunion eintreffen können. »Ich sollte vielleicht noch eine Weile standhaft bleiben und abwarten, ob er es sich doch noch anders überlegt.«
»Da müsste er schon eine Menge Zugeständnisse machen. Selbst wenn er sein Angebot verdoppeln würde, könntest du nicht mal ein Viertelraumschiff erwerben. Ich glaube, wir sollten Herrn Nebulys Geld annehmen. Die Bummelant kannst du damit nicht ersetzen, aber du kannst einen Teil der Systeme erneuern.«
»Davon wird sie auch nicht schneller.«
»Mit etwas mehr Sicherheit wäre ich an deiner Stelle schon zufrieden. Wenn du sein Angebot ablehnst, hätten wir gar nicht herzufliegen brauchen. Wir hätten gleich die Vigilanz ansteuern und das Fischgesicht loswerden können.«
Es war, als habe Doktor Meninx sie gehört, denn in diesem Moment heulte der Motor seiner Bademaschine auf und rollte wieder ins Meer. Schmutzige Qualmwolken quollen aus den rückwärtigen Schlitzen. Ich beobachtete, wie die Tür aufschwang und Wasser hineinströmte. Ich überlegte, ob ich wieder zum Fernglas greifen sollte, doch meine Neugier hatte sich verflüchtigt. Die muschelbesetzte Gestalt hob sich für einen Moment aus den Wellen und verschwand gleich wieder in der Bademaschine. Die Tür fiel zu, und die Maschine rollte aufs Trockene zurück.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte ich leise.
Portula musterte mich skeptisch. »Damit muss man bei dir immer rechnen.«
»Vor der Landung habe ich mir für den Fall, dass Herr Nebuly nicht so entgegenkommend sein sollte, wie ich mir das erhoffte, einen Blick auf die Sonnensysteme in der Nähe geworfen. Knapp hundert Lichtjahre entfernt und mehr oder weniger auf dem Heimweg liegt ein Sonnensystem mit Namen Nelumbium. Dem Speicher zufolge …«
»›Dem Speicher zufolge.‹ Wo habe ich das schon mal gehört?«
»Lass mich ausreden. Es soll dort ein posthumanes Wesen geben, das Ateshga genannt wird. Angeblich verfügt es über Raumschiffe, viel mehr als Nebuly, und es wird kaum einen so hohen Preis verlangen.«
»Weshalb sind wir nicht gleich dorthin geflogen?«
»Der Eintrag ist nicht so aktuell, wie es mir lieb wäre, daher gibt es einen gewissen Unsicherheitsfaktor.«
»Unsicherheitsfaktor. Das habe ich auch schon mal gehört.«
»Außerdem hätten wir uns noch weiter von der Vigilanz entfernt - hätten wir Nelumbium direkt angesteuert, dann hätte es keine Möglichkeit mehr gegeben, Doktor Meninx abzusetzen.«
»Wenn der Eintrag nicht aktuell ist, woher willst du dann wissen, ob dieser Ateshga überhaupt noch dort ist?«
»Ich habe das Aktuar zu Rate gezogen - die Prognose sieht gut aus.«
Portula lehnte sich im Weidenkorbsessel zurück und musterte mich mit ihren unterschiedlich gefärbten Gentian-Augen. »So sieht also dein Vorschlag aus. Du willst dich zur Vigilanz schleichen, den Doktor abliefern und dann zu Ateshga weiterfliegen.«
»Eigentlich nicht. Ich schlage vor, den Zwischenstopp bei der Vigilanz ganz zu streichen.«
Eine Sorgenfalte grub sich in ihre Stirn. »Und ihn lassen wir hier?«
»Die Entscheidung liegt bei ihm. Wenn er möchte, nehme ich ihn bis zur Reunionswelt mit.«
»Das wird ihm nicht gefallen.«
»Dem gefällt gar nichts - ist dir das schon aufgefallen?«
Eine schmale Gestalt näherte sich von der Bademaschine her. Als sie näher gestapft kam und über die bröcklige Treppe zur Straße hochstieg, stellte sich heraus, dass es sich um eine papierene Ausschneidefigur handelte - einen mit Wasserdiamanten besetzten Harlekin. Die zweidimensionale Gestalt - die dem Wind ebenso wirksam trotzte wie Herr Nebulys Schriftstück - war der humanoide Avatar von Doktor Meninx. Als der Avatar sich näherte, ließ auch Nebuly seine rot gewandeten Zentauren stehen und kam zu uns zurückgetrabt. Er traf als Erster ein, als der Avatar noch gut hundert Meter entfernt war.
»Ich nehme an, Sie sind zu einer Entscheidung gelangt, verehrte Splitterlinge«, sagte er.
»Ich fürchte, ich muss Ihren Vorschlag ablehnen«, sagte ich. »Das soll nicht heißen, dass Ihre Bedingungen nicht großzügig wären, doch ich muss realistisch sein. Ich glaube, anderswo bekomme ich einen besseren Preis für meine Daten.«
»Sollten Sie an Ateshga denken, würde ich Ihnen dringend abraten. Er hat einen sehr schlechten Ruf.«
Ich rieb mir Sandkörner aus den Augen. »Ateshga - wer ist das?«
»Nur eine Warnung, Splitterling - es liegt an Ihnen, ob Sie sie beherzigen wollen.« Er fuhr mit den Händen über das Brustteil seines Nadelstreifenanzugs. »Nun, ich bedaure, dass wir nicht zu einem Abschluss gelangt sind, doch das soll uns nicht davon abhalten, als Freunde auseinanderzugehen. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie unsere Welt wieder besuchen würden, und hoffen, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt.«
»In der Tat«, sagte Portula. »Sie waren ein ausgezeichneter Gastgeber, Herr Nebuly; ich werde der Familie nur Gutes zu berichten haben.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Er wandte sich dem Avatar zu und verneigte sich leicht aus der Verbindungsstelle von Menschen- und Pferdekörper heraus. »Sie haben Ihr Bad aber schnell beendet, Doktor. Ich hoffe, es ist zu Ihrer Zufriedenheit ausgefallen?«
»Nein«, antwortete der Avatar mit Piepsstimme. »Das Bad war alles andere als zufriedenstellend, weshalb ich es baldmöglichst wieder abgebrochen habe. Da sind Lebewesen im Wasser - dunkle, schnell schwimmende Wesen, die mein Sonar nicht gut erkennen konnte -, und die Temperatur und der Salzgehalt entsprachen ganz und gar nicht meinem Geschmack.« Das Papiergesicht drehte sich in meine Richtung. »Ich dachte eigentlich, Sie hätten die zuständigen Behörden über meine Bedürfnisse informiert, Campion.«
Ich rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum. Ich hatte die Zentauren über die Bedürfnisse des Doktors informiert und war mir sicher, dass sie sich nach Kräften bemüht hatten, seinen Vorstellungen gerecht zu werden. Aber Doktor Meninx konnte man es niemals recht machen; was man auch tat, es war nie genug.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin wohl mit den Zahlen durcheinander gekommen. Ich fürchte, es war alles meine Schuld.«
»Die Schuld weise ich zu, wie es mir beliebt«, sagte der Avatar. »Dabei habe ich mich so auf das Bad gefreut. Aber das lässt sich nun nicht mehr ändern; in Kürze werde ich diese trübselige Welt verlassen und meine Odyssee zur Vigilanz fortsetzen. Vielleicht weiß man ja dort, was man einem Gast schuldig ist.«
»Ich bin sicher, Herr Nebuly hat sein Bestes getan«, sagte ich.
»Ja, wahrscheinlich schon«, sagte der Avatar, als wäre unser Gastgeber gar nicht anwesend.
Der Moment, den ich gefürchtet hatte, seit Herr Nebuly sein Urteil über meinen Datenspeicher gesprochen hatte, war gekommen. Ich konnte ihn nicht länger hinausschieben, obschon ich nichts lieber getan hätte, als ins Meer zu gehen und bis zum funkelnden Horizont zu schwimmen, wo die Barriere mich je nach ihrer Beschaffenheit entweder hätte abprallen lassen oder mich betäubt, verwundet oder einfach nur annihiliert hätte.
»Doktor Meninx«, sagte ich nach einem tiefen, stärkenden Atemzug, »wir möchten etwas mit Ihnen besprechen.«
Zwei
Es wäre falsch gewesen zu behaupten, Campion sei faul, denn Abigail hatte sich alle Mühe gegeben, den Charakterzug der Faulheit aus unseren Persönlichkeiten zu tilgen. Aber Campion war sicherlich ein begabter Tatsachenverdreher. Er verschob Vorhaben nicht nur auf morgen; er verschob sie gleich Dutzende Kilojahre in die Zukunft, bis über seine Ausreden und Ausflüchte auf einmal ein bedeutender Teil eines ganzen Umlaufs verstrichen war. Sein Motto lautete: Was du heute kannst besorgen, lässt sich auch noch in einer Viertelmillion Jahre erledigen.
Einunddreißig Umläufe lang war er damit auch durchgekommen. Jetzt aber sollte die Angelegenheit mit Doktor Meninx dieser erstaunlichen Glückssträhne ein Ende setzen. Campion scherzte über Rüge und Verbannung, als wollte er sich eben dagegen immun machen. Doch seit mehreren Umläufen hatte die Geduld der Familie mit seinen Mätzchen bedenklich abgenommen, was der Hauptgrund dafür war, dass man ihm Doktor Meninx überhaupt aufgehalst hatte. Er hätte sich dieser Verpflichtung so schnell wie möglich entledigen sollen, anstatt mit dem Doktor von Stern zu Stern zu zockeln.
Vom Sonnensystem der Zentauren bis nach Nelumbium war es nur ein Katzensprung - kaum neunzig Lichtjahre Flugzeit nach planetarischem Maßstab -, dennoch war es nötig, eine Art Auszeit zu nehmen. Campion bevorzugte die Stasis; ich zog es zu seinem großen Erstaunen vor, mich einfrieren und wieder auftauen zu lassen. Sobald der Kryophag mich freigab, ließ ich die Informationen anzeigen, welche die Sensoren der Silberschwingen auffingen. Abgesehen vom leisen Rauschen der Restenergien - die auch daher stammen mochten, dass in den vergangenen Jahrhunderten ein Raumschiff vorbeigekommen war -, gab es jedoch keinerlei Hinweis darauf, dass das System bewohnt war.
Kein Ateshga, keine Raumschiffe.
Als ich die Messungen der Silberschwingen verdaut hatte, flitzte ich zur Bummelant hinüber und gleich auf die Brücke, wo Campion und Doktor Meninx mich bereits erwarteten. Campion saß zurückgelehnt auf einer Liege, der Avatar stand dicht bei ihm. Beide schauten auf das riesige, leuchtende Wanddisplay. Obwohl ich keine einzelnen Worte verstehen konnte, bekam ich aufgrund der akustischen Verhältnisse auf der Brücke mit, dass sie eine leise, etwas gereizte Unterhaltung führten, denn die gereizten und abwehrenden Untertöne waren nicht zu überhören.
Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, worüber sie sich stritten.
Den größten Teil des Displays nahm die Milchstraße ein. Die Darstellung beruhte auf den Daten des Speichers. Die Spiralarme bestanden aus zarten Filamenten in Weiß und Gelb, Ocker, Gelbbraun und stumpfem Ziegelrot. Die Sterne waren zu zahlreich, als dass man einzelne Exemplare hätte erkennen können. Unterscheidbar waren lediglich Gruppen, Zusammenballungen und Cluster. Die einzigen erkennbaren Einzelsterne waren auch die hellsten: Superriesen in der Endphase, kurz davor, sich zu Supernovae zu entwickeln, oder Jungsterne in der Tauri-Phase, die in grellem Blau und giftigem Rot aus der Balkenspirale hervorstachen.
Der Durchmesser der Hauptscheibe ohne das Außenband des Monoceros-Rings betrug neunzigtausend Lichtjahre. Die bewohnten Welten erstreckten sich vom Zentrum bis in die äußersten Spitzen der Spiralarme, doch die höchste Besiedlungsdichte wies das dicke Band der Komfortzone auf, jene Region, deren Planeten die geringsten Anpassungen erforderten, um sie bewohnbar zu machen. Vorausgesetzt, es blieb in dieser Zone, konnte ein Raumschiff die Galaxis in zweihundert Kilojahren umkreisen und hatte noch Zeit genug, um unterwegs in hundert Sonnensystemen Station zu machen. Das zweihundert Kilojahre währende Intervall zwischen zwei Reunionen der Familie Gentian bezeichnete man als Umlauf.
Die letzte Reunionswelt war ein Planet am zentrumszugewandten Ende des Norma-Spiralarms gewesen. Seitdem waren wir im Uhrzeigersinn umgelaufen, hatten einen Schlenker nach außen gemacht und den lokalen Arm gekreuzt, waren im Abstand von tausend Lichtjahren am Alten Ort vorbeigekommen und dann durch den Sagittarius-, den Scutum-Crux- und den Perseus-Arm hindurchgetaucht und schließlich zur anderen Seite des Scutum-Crux-Arms zurückgekehrt. Eine unstete rote Linie markierte unsere Flugroute. Die Meereswelt der Zentauren lag im Scutum-Crux-Arm, und die Entfernung, die wir von dort aus zurückgelegt hatten, war im Maßstab der Spirale kaum mehr als ein Katzensprung und hatte noch nicht einmal ausgereicht, um den Arm hinter uns zu lassen. Die Entfernung, die wir bis zum Reunionsplaneten noch zurückzulegen hatten, war grellrot markiert; weniger als tausend Lichtjahre in die Richtung des Sagittarius-Arms.
Nach den Maßstäben des Umlaufs waren wir so gut wie zu Hause. Doch was unsere Pünktlichkeit betraf, hätten es auch zehntausend oder neunzigtausend Lichtjahre sein können.
Wir würden uns sehr, sehr stark verspäten, und so etwas gehörte sich nun mal nicht.
»Ah, da kommt ja die reizende Portula«, sagte Doktor Meninx. In seinem Tonfall schwang Empörung mit. »Sie wird meinen Klagen ihr mitfühlendes Ohr leihen, auch wenn Sie, Campion, mir die kalte Schulter zeigen. Ist es nicht so, Portula?«
»Ich weiß nicht, Doktor Meninx. Worüber beklagen Sie sich denn?«
»Muss ich das erläutern?«, sagte der Avatar und zeigte mit seinem schlaffen Origami-Arm in die Richtung des Displays. »Campion hat mich schon wieder enttäuscht! Nicht nur, dass er mich nicht bei der Vigilanz abgesetzt und versucht hat, mich diesen stinkenden, ungehobelten Pferdemenschen mit ihren abstoßenden Gewohnheiten unterzuschieben, er hat auch tatenlos zugesehen, wie ich beinahe in dieser widerlichen, verseuchten Bucht ertrunken wäre. Und jetzt besitzt er obendrein die Frechheit, mir zu sagen, dass ich nicht einmal mehr rechtzeitig zur Reunion eintreffen werde, um mich der Obhut von jemand anderem anvertrauen zu können.«
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Campion wie ein Mann, der des Streitens überdrüssig ist. »Ich habe lediglich gesagt, dass wir uns möglicherweise ein bisschen verspäten werden.«
»Und was ist mit der Reunion - wird man sie bis zu Ihrem Eintreffen verschieben?« Der Tonfall des Avatars war ätzend. »War es das, was Sie mir sagen wollten?«
»Ich kann keine Garantien abgeben. Wenn Ateshga anwesend ist und sich bereiterklärt, mein Schiff auszutauschen, würde die Verspätung gar nicht so groß ausfallen.«
Ich schritt über den schmalen Grat, der von der Brücke zu der kreisförmigen Plattform hinüberführte, wo Campion und Doktor Meninx mich erwarteten.
»Was glauben Sie, wo er ist?«
»Keine Ahnung. Vielleicht versteckt er sich«, antwortete Campion.
Doktor Meninx stürzte sich auf diese Bemerkung. »Ah, ja, er versteckt sich. Das wohlbekannte Geschäftsmodell, das von gewinnorientierten Händlern in der ganzen Galaxis kopiert wird.«
Ich lächelte. »Wenigstens haben wir hier eine hübsche Aussicht.«
Ateshgas Welt - unter der Karte der Galaxis abgebildet - war ein höchst bemerkenswerter Leckerbissen: ein gestreifter Marshmallow-Riese mit einer Halskette aus Zuckerringen, gekämmt und zu Zöpfen geflochten von den wechselwirkenden Kräften eines Dutzends glasierter und mit Puderzucker bestreuter Monde. Wir querten gerade die Ebene der Ekliptik, weshalb die Ringe nach und nach einen immer steileren Winkel einnahmen und immer mehr von ihrer Schönheit offenbarten. Das war ohne Zweifel die prachtvollste Welt, die ich je gesehen hatte. Und ich hatte schon viele Welten gesehen.
Wir waren jedoch nicht deshalb hergekommen, weil wir einen pittoresken Planeten bewundern wollten, auch wenn es sich um ein besonders spektakuläres Exemplar handelte.
»Ist mir irgendwas entgangen?«, fragte Campion.
Ich küsste ihn, dann ließ ich mich auf einer freien Liege nieder. »Es gibt Hinweise auf technische Aktivität, aber nichts, worauf man eine todsichere Wette abschließen könnte. Vielleicht ist ein Schiff mit einem lauten Antrieb vorbeigekommen, oder ich habe die Streustrahlung des privaten Netzwerks einer anderen Familie gemessen. Wir jedenfalls haben keinen funktionierenden Knoten in diesem System.«
»Ich werde daran denken, einen zurückzulassen, wenn wir aufbrechen. Vielleicht ließe sich Schwingel damit besänftigen.«
»Ich fürchte, das wird kaum reichen.«
»Aber wenn er sich verspätet, geht das in Ordnung.«
Ich spürte einen pochenden Schmerz zwischen den Augen und presste den Zeigefinger gegen die Stirn. »Fang nicht schon wieder mit Schwingel an.«
»Wir mussten alle untätig warten, bis er einzutreffen beliebte. Wie lange war das noch gleich? Sieben, acht Kilojahre bestimmt. Und soviel ich weiß, wurde er nicht gerügt.«
»Das kam daher, dass Schwingel von den Wiedergeburtlern zu einer Zündung eingeladen worden war. Wie du genau weißt, konnte er erst abreisen, als sie fertig waren. Deine Situation lässt sich damit nicht vergleichen.«
»Nur zu, wer am Boden liegt, den soll man treten.«
»Vielleicht sollte ich mich lieber Portula anvertrauen«, sagte Doktor Meninx. »Dann würde ich wenigstens zur Reunion eintreffen, bevor sie zu Ende ist.«
»Das wäre gar keine so schlechte Idee. Wie wär’s, wenn ihr beide jetzt von Bord gehen würdet, und ich komme sobald es geht nach?«
»Als wenn ich so was tun würde«, sagte ich und warf dem Avatar einen um Verzeihung heischenden Blick zu. »Tut mir leid, Doktor Meninx, aber ich kann Campion nicht im Stich lassen.«
»Das wird Folgen haben.«
»Und Sie sind immer noch mein Gast«, sagte Campion.
»Umso schlimmer.«
»In der Tat. Und wäre es nicht tragisch, wenn Ihnen im Verlauf der Reise zur Reunion etwas zustoßen sollte? Etwas Geheimnisvolles, Unerwartetes wie zum Beispiel ein plötzlicher Zusammenbruch der Tankchemie? Wie Sie wissen, kann man gar nicht vorsichtig genug sein: Der Apparat sieht aus, als gehörte er in ein Horrormuseum der Goldenen Stunde. Der schreit geradezu danach, dass etwas schiefgeht.«
Das Gesicht der Papierfigur kräuselte sich vor Ärger. »Wollen Sie mir etwa drohen, Splitterling?«
»Nein, ich habe mich lediglich Wunschdenken hingegeben.«
Das Gespräch hätte eine Wendung zum Schlimmeren nehmen können, hätte sich in diesem Moment nicht die Bummelant mit einer Meldung eingeschaltet. Jemand - oder etwas - funkte unsere beiden Schiffe an. Ein Raumfahrzeug war in der Nähe des prachtvoll gebänderten Äquators aus der Atmosphäre des Riesenplaneten aufgetaucht: ein Fahrzeug, das bis jetzt vollkommen unsichtbar gewesen war, dem nun aber daran gelegen war, auf sich aufmerksam zu machen.
»Und du hast an mir gezweifelt«, sagte Campion.
Das andere Raumfahrzeug wirkte beruhigend veraltet: ein solider, verlässlicher Vertreter des Schiffsbaus der Elften Interzession. Es bestand aus strengen Winkeln und dunklen, glänzenden Facetten, einem berggroßen Klumpen Kohle vergleichbar, dem man Pfeilform verliehen hatte. Seit seinem Auftauchen sendete es einen gleichbleibenden Text in der Uni-Sprache. Anlass für eine Antwort bestand keine; die Funkbotschaft wies uns lediglich an, auf unserer transekliptischen Bahn zu verzögern und weitere Instruktionen abzuwarten.
Das Raumfahrzeug flog am Ringsystem vorbei, ohne es zu durchdringen, und kam im örtlichen Bezugsrahmen zum Stillstand, der von der Bummelant und der Silberschwingen des Morgens gebildet wurde. Die drei Raumschiffe formten nun ein ungefähr gleichseitiges Dreieck mit einem Abstand von lediglich tausend Kilometern zwischen den Eckpunkten. Campions Schiff war ein Art-Deco-Rhomboid; meines ein kopfloser Chromschwan mit geschwungenen Flügeln, die zudem angehoben waren, als sei der Vogel in der Balz.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Wir warten. Ateshga - wer immer das sein mag - hat wahrscheinlich in letzter Zeit nicht viel Besuch gehabt. Ich glaube, es macht ihm nichts aus, uns noch eine Weile schmoren zu lassen.«
Ich tippte mir an die Schläfe. Plötzlich hatte ich eine Gänsehaut bekommen. »Die Silberschwingen wurden soeben von Tiefensensoren gescannt.«
»Sofort angreifen!«, kreischte Doktor Meninx. »Worauf warten Sie noch? Greifen Sie ihn unverzüglich an!«
»Die Bummelant ersucht um die Erlaubnis, ein Imago darzustellen«, sagte Campion.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, erwiderte ich.
Eine Kapuzengestalt tauchte vor uns auf, gerade so durchscheinend und flackernd, dass deutlich wurde, es handelte sich um eine Projektion und kein körperliches Objekt. Die Stimme - bedächtig, tief und sonor - war so moduliert, dass man meinte, sie käme aus einem primitiven Übertragungsapparat.
»Nennen Sie Ihr Anliegen, Bummelant und Silberschwingen des Morgens.« Der Sprecher bediente sich einer Variante der Uni-Sprache, die einer universellen Sprache der Sternenreisenden recht nahekam.
»Ich suche nach einem gewissen Ateshga«, antwortete Campion in Trans, der Privatsprache der Körperschaft der Familien, im Vertrauen darauf, dass die Bummelant die ausgehende Nachricht in die Uni-Sprache übersetzen würde. Er sprach Uni ebenso gut wie ich, zog es aber vor, dem Schiff die Arbeit zu überlassen.
»Ich wiederhole: Was ist Ihr Anliegen? Weshalb haben Sie dieses Sonnensystem angeflogen?«
»Ich brauche ein neues Schiff«, antwortete Campion. »Man hat mir gesagt, ich könnte hier eines finden.«
Die vor uns in der Luft schwebende Gestalt trug einen Kapuzenkittel aus dunkelrotem Material, gemustert mit dünnen Chromdrähten, die sich zu Schaltkreisen verzweigten, wie man sie früher benutzt hatte. Die Hände hatte sie verschränkt, die Arme waren in den weiten Ärmeln verborgen. Das Gesicht war unter der dunklen, weit herabhängenden Kapuze nicht zu erkennen.
»Ein Raumschiff?«, fragte der Fremde, als wäre dies der letzte Wunsch, den er von Campion erwartet hätte. »Weshalb wollen Sie ein Raumschiff, Reisender?«
»Mein Schiff ist ein bisschen in die Tage gekommen.«
»Sehen Sie hier viele Schiffe, Reisender?«
»Sie springen mir nicht gerade ins Auge.«
»Legt das nicht den Schluss nahe, Sie könnten sich am falschen Ort befinden?«
»Mein Datenspeicher behauptet etwas Anderes«, sagte Campion. »Wären Sie nicht vom Jupiter gekommen, hätte ich vielleicht angenommen, ich sei falschen Daten aufgesessen, aber Ihr Erscheinen kann kein Zufall sein. Ich spreche doch mit Ateshga, hab ich Recht?«
»Was hat Ihr Speicher denn über diesen Ateshga zu vermelden?«
Deutsche Erstausgabe 08/2009 Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 2008 by Alastair Reynolds Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
eISBN: 978-3-641-03297-5
www.heyne-magische-bestseller.de
Leseprobe

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