Die Armen - Heinrich Mann - E-Book

Die Armen E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

Das Deutsche Kaiserreich, nur wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkrieges: Diederich Hessling, Fabrikbesitzer und Menschenschinder, beutet seine Arbeiter aus, wo und wie er nur kann. Doch im jungen Arbeiter Karl Balrich erwächst ihm ein ernst zu nehmender Gegner, denn dieser behauptet, Anrecht auf einen Teil des Hessling'schen Vermögens zu haben. Um Hessling verklagen zu können, beschließt der einfache Arbeiter Balrich, Jura zu studieren. Null Papier Verlag

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Heinrich Mann

Die Armen

Roman

Heinrich Mann

Die Armen

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1917 2. Auflage, ISBN 978-3-962818-27-2

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

I. Has­sen­de, Lie­ben­de

II. Der Ar­bei­ter und das Bür­sch­lein

III. Mit Euch, Herr Dok­tor, zu spa­zie­ren

IV. Die sitt­li­chen Fak­to­ren

V. Das Richt­fest

VI. Geh’ nicht fort!

VII. Ul­ti­ma ra­tio

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

I. Hassende, Liebende

Die Kin­der schri­en to­send vor dem großen Ar­bei­ter­haus von Gau­sen­feld; hun­der­te von Kin­dern, her­vor­ge­quol­len aus dem über­füll­ten Haus, worin sie alle ge­bo­ren wa­ren, rann­ten, zap­pel­ten, prü­gel­ten sich auf der grau­en Wie­se. Alte Män­ner, die nicht mehr ar­bei­te­ten, stan­den, wenn sie be­sonnt war, an der Mau­er und sa­hen ih­nen zu. Die Kleins­ten fie­len un­auf­hör­lich in den Gra­ben, der die Wie­se von der Land­stra­ße trenn­te, im­mer eil­ten Müt­ter oder Schwes­tern zum Ret­ten her­bei. Die Grö­ße­ren spran­gen hin­über, am liebs­ten auf der Sei­te, wo der Gra­ben ne­ben dem Weg zum Fried­hof lief; und drü­ben war­fen sie ein­an­der ge­gen den wack­li­gen Zaun der Vil­la Klin­ko­rum. Brach ein Brett her­aus, dann rasch hin­ein und Äp­fel ho­len. Der Be­sit­zer hör­te mit Zorn und Ent­set­zen das Knacken der Zwei­ge, die sie mit­ris­sen, aber auf sei­nen stei­fen Bei­nen kam er im­mer zu spät, sie wa­ren schon drau­ßen und zeig­ten ihm aus ei­ni­ger Ent­fer­nung das un­rei­fe Obst, es sei auf der Stra­ße ge­le­gen. Dann hielt er ih­nen eine Rede über das Ei­gen­tum und die Bil­dung, im­mer die­sel­be Rede, denn nie­mals merk­te er, dass er es mit den­sel­ben Jun­gen zu tun hat­te. Klin­ko­rum war Schul­leh­rer ge­we­sen, aber ei­ner für die Rei­chen; und weil ihm schon die Zäh­ne aus­ge­fal­len wa­ren, woll­te er nun hier sich mau­sig ma­chen. Kaum war er fort, pol­ter­ten alle ge­gen sei­nen Zaun, und ir­gend­ei­ner kroch hin­ein und setz­te ihm et­was auf den Gar­ten­weg. Der alte Ma­ler­meis­ter, der un­ten im Haus wohn­te, durf­te es se­hen, er lach­te, wenn er auch schalt. Nur den klei­nen Mäd­chen war es von ih­ren Müt­tern streng ver­bo­ten, ihm zu nahe zu kom­men.

Dies war nicht al­les, was Pro­fes­sor Klin­ko­rum zu er­dul­den hat­te. Kehr­te er aus der Stadt heim, zu­wei­len schon ganz nahe bei sei­nem Grund­stück über­hol­te ihn, wie er auch has­te­te, das Heß­ling­s­che Au­to­mo­bil und be­deck­te ihn mit Staub oder Schmutz. Ge­ne­ral­di­rek­tor Ge­hei­mer Kom­mer­zi­en­rat Dr. Heß­ling in sei­nem Staub­man­tel blick­te un­er­bitt­lich ge­ra­de­aus, und Klin­ko­rum, von au­ßen ge­gen sei­nen ei­ge­nen Zaun ge­drängt, äug­te mit ohn­mäch­ti­gem Hass, bis er, ganz in ei­ner stin­ken­den Wol­ke be­fan­gen, die Au­gen schloss. In­ner­lich hielt er in sol­chen Mi­nu­ten sei­ne zwei­te Rede über das Ei­gen­tum, die Rede da­ge­gen, – wenn es näm­lich schran­ken­los und über­heb­lich war. Die Bil­dung war das Ers­te und muss­te es blei­ben.

Da­mit ging er hin­auf in sein Stu­dier­zim­mer. Von hier über­sah er ganz Gau­sen­feld, hin­ter den Ar­bei­ter­häu­sern das wüs­te Ge­län­de, bis zum Wald, bis zur Fa­brik. Es ward Nacht, an der Fried­hofs­mau­er die Lam­pe leuch­te­te nahe, und weit dort­hin­ten die ge­reih­ten Lich­ter der Fa­brik.

Aus der Fa­brik kehr­ten die Ar­bei­ter heim; ihr Mas­sen­schritt dröhn­te, von fer­ne fühl­bar, bis in das Stu­dier­zim­mer; und Klin­ko­rum dach­te nicht ohne Ach­tung an den Herrn der Mas­sen, ihn, Heß­ling, Be­sit­zer Gau­sen­felds, großen Reich­tums und man­cher Wür­den. Wie hat­te er es da­hin ge­bracht, als Che­mi­ker und Pa­pier­fa­bri­kant? Durch Ma­chen­schaf­ten und Kunst­grif­fe ge­schäft­li­cher wie po­li­ti­scher Art, über die es auch nach sech­zehn Jah­ren in der Stadt noch nicht still war. Der selbst­ge­mach­te Mann frei­lich blieb zu ach­ten. Er wie­der aber ach­te noch hö­he­re Rech­te! Klin­ko­rum hat­te ge­spart, bis er weit drau­ßen an der Land­stra­ße dies ein­sa­me klei­ne Haus er­ste­hen konn­te, die Freu­de sei­nes letz­ten Le­bens­drit­tels. Ge­pflegt und lau­schig, ein Sitz der Muse, ruh­te es im Grü­nen, un­auf­ge­stört von Wei­he­lo­sen; denn nur lang­sa­me Bau­ern­wa­gen zo­gen, mit Och­sen, breit­stir­ni­gen, schweraus­schrei­ten­den be­spannt, vor­über, und Gau­sen­feld, das ein­zi­ge grö­ße­re An­we­sen in der Wei­te, die­se Stät­te der Pa­pier­fa­bri­ka­ti­on lag jen­seits von Fel­dern und Wald, man sah, hör­te und roch sie nicht. Da aber, was ge­sch­ah? Der neue Herr von Gau­sen­feld ver­grö­ßer­te sei­ne Fa­brik­an­la­gen. Er leg­te den Wald so weit nie­der, als er jene un­ed­len Bau­lich­kei­ten dem Blick ent­zo­gen hat­te. Die Ar­bei­ter-Fa­mi­li­en­häu­ser wuch­sen über das Feld her­an, im­mer nach Wes­ten, im­mer auf Klin­ko­rum zu. Auch kam es da­hin, dass gleich hin­ter sei­nem Zaun dies Volk sich be­gra­ben ließ. Und dem Fried­hof, als vor­letz­tem Streich, folg­ten die Ka­ser­nen der Pro­le­ta­ri­er, Un­ge­heu­er von Häu­sern, hin­schat­tend über Klin­ko­rum und sei­nen be­schei­de­nen Ru­he­sitz, ihn mit Gerü­chen be­drän­gend, in Ruß ver­schüt­tend so Gar­ten wie Haus und um es her eine Zone brei­tend des Ge­stamp­fes, Ge­schreis, Tot­schla­ges und der bil­dungs­feind­li­chen Ro­heit!

Nun wa­ren die Lich­ter aus­ge­löscht in der Fa­brik und ent­zün­det in den Ka­ser­nen, in der Kan­ti­ne an ih­rem Flü­gel. Dor­ther kam Lärm. Der Ar­bei­ter Karl Bal­rich aber, still in sei­nem Zim­mer 101 des Ar­bei­ter­hau­ses B, stand am Fens­ter, sah vor sich das­sel­be wie der Be­sit­zer der Vil­la Klin­ko­rum und dach­te nach, auch er, über die Welt, die ihn um­gab. Frei­lich, die vie­len Geräusche des Hau­ses selbst, von rechts, links, oben, un­ten über­tön­ten bei Wei­tem sei­ne Ge­dan­ken an das Fer­ne­re. Er hör­te um sich her, des Sonn­tags wenn er ruh­te und jetzt am Abend be­vor er schlief, Streit, Küs­se, Ge­sprä­che über Geld und Es­sen, die Prü­gel für die Kin­der, hör­te durch das hal­len­de und zit­tern­de Haus al­les was vor­ging, was das Le­ben der Men­schen war und was es schon nicht mehr war: ihr letz­tes Wim­mern, ihr Ab­schieds­ge­stöhn. Aber öf­ter als Ster­ben hör­te er Ge­bä­ren. Er sag­te sich dann, je nach­dem ihm an dem Abend zu Sinn war: »Wie­der ein Mann für die Ar­bei­ter­ba­tail­lo­ne« oder: »Heß­ling kann la­chen; wie­der ein Dum­mer.«

Denn der Ar­bei­ter Bal­rich sah, wie die Din­ge la­gen, in der Per­son des Ge­ne­ral­di­rek­tors Heß­ling den höchs­ten Zweck und das letz­te Er­geb­nis des ihn um­ge­ben­den Le­bens, al­ler die­ser Mü­hen, Auf­re­gun­gen und Schmer­zen – und nicht nur die­ser hier. Von Gau­sen­feld zu schwei­gen, die Stadt, wie sie war, ar­bei­te­te für den Rei­chen und fris­te­te sich nur durch ihn. Das Land selbst dreh­te sich wahr­schein­lich nur um sei­nes­glei­chen. Ihm zu­lie­be das Mi­li­tär; und der Kö­nig so­gar ei­gent­lich sein Narr. Den hielt er sich aus, er aber ver­dien­te. Auf das Geld kam es an.

»Wenn es auf das Geld an­käme,« sag­te an sei­nem Fens­ter der Pro­fes­sor, »dann wür­de die­ser Heß­ling mit Recht die Um­stän­de mei­nes Le­bens auf jene Stu­fe hin­ab­drücken, wo sei­ne Lohns­kla­ven schmach­ten, – in­des er selbst –.« Hin­ter dem Wald wohn­te er selbst. Über dem von ihm be­bau­ten Tal der Ar­mut und des Un­ra­tes, aber be­wahrt vor sei­nem Duft und An­blick, hin­ter ei­ge­nem Wald auf grü­nem Hü­gel, in sei­ner hel­len und blu­menum­leuch­te­ten »Vil­la Höhe« haus­te leich­ten Her­zens mit den hoch­ge­mu­ten Sei­nen der Ei­gen­tü­mer, An­stif­ter und Nutz­nie­ßer die­ser gan­zen so­zia­len Schmut­ze­rei. Das Wort fiel. Zwei Freun­de tra­ten ein bei Klin­ko­rum, und so­wohl der Arzt Dr. Heu­teu­fel wie der Kon­sis­to­ri­al­rat Zil­lich wie­der­hol­ten das Wort. Je hö­her die Bil­dung, umso ent­wi­ckel­ter der so­zia­le Sinn – und mit ihm das Fein­ge­fühl für die Her­aus­for­de­run­gen des Ka­pi­tals, dies Hin­brei­ten des aus­schwei­fends­ten Lu­xus gleich ne­ben dem Schau­spiel des Elends, die­ses Au­to­ja­gen an den Ent­erb­ten vor­bei, dies Hu­pen­ge­heul.

Die Schwes­ter des Ar­bei­ters Bal­rich be­kam dro­ben von Dinkl, ih­rem Mann, eine Ohr­fei­ge, die bis her schall­te, und sie selbst hieb die Kin­der. Als alle ge­nug ge­schri­en und die Nach­barn ge­nug ge­lacht hat­ten, mach­te sie sich plär­rend an das Nacht­ge­bet. Karl Bal­rich dach­te noch im­mer: »Auf das Geld kommt es an.« Da zog links drun­ten der Her­bes­dör­fer sei­ne Har­mo­ni­ka lang aus, und Bal­rich merk­te es nun, dass er mit dem Den­ken nicht vor­wärts kam. Schwer war es, von dem wirk­li­chen Gang der Welt, ih­ren Zu­sam­men­hän­gen und Ge­set­zen et­was Deut­li­ches zu er­fah­ren. Die Red­ner in den Ver­samm­lun­gen re­de­ten von weit her; um sie an­ders zu ver­ste­hen als bloß mit un­se­rem Hass­ge­fühl, muss­ten wir uns bis da­hin durch­schla­gen, wo sie zu­meist von Ge­burt schon stan­den. Und wie jetzt noch zu so viel Bil­dung kom­men?

Die Her­ren im Stu­dier­zim­mer murr­ten: »Den Bau der elek­tri­schen Bahn nach Gau­sen­feld hat er hin­ter­trie­ben. Er scheut den Ver­kehr der Welt mit sei­nem Jam­mer­tal, er wünscht kei­ne Ein­bli­cke und ist ge­gen einen häu­fig wie­der­hol­ten Be­such sei­ner Leu­te in der Stadt, bei ih­ren Ge­nos­sen, auf den Ver­samm­lun­gen. Am Sonn­tag will er sie in sei­ne Kan­ti­ne zwin­gen. Wie in ei­nem Ghet­to sol­len sie sich fort­pflan­zen und nichts von al­lem was sie sind und leis­ten, ihm ver­lo­ren­ge­hen. Die Fol­gen er­mes­se man! Was mich be­trifft, ist es mir be­kannt, dass die Gau­sen­fel­der Kör­per­ver­let­zun­gen um vie­le Pro­zent un­se­re sons­ti­gen über­stei­gen. Nie­mand wun­de­re sich, wenn ich, Klin­ko­rum, ei­nes Mor­gens in ei­ner Blut­la­che auf­ge­fun­den wer­de! Wäre ich nicht der Ord­nungs­mann, der ich bin, ich wüss­te die Stel­le zu fin­den, wo die Öf­fent­lich­keit sich pa­cken lie­ße.« – Ja, die mur­ren­den Ge­bil­de­ten war­fen bei ei­ner neu­en Fla­sche Wein so­gar die Fra­ge auf, ob ein Mann von mitt­le­rem Ein­kom­men, aber ei­ner ge­wis­sen geis­ti­gen Höhe, mit sei­nem Glück und Da­sein denn wirk­lich ge­bun­den sei an den Be­stand der jet­zi­gen Din­ge. Als die Fla­sche leer war, sa­hen sie das Schlimms­te vor­aus, eine Ka­ta­stro­phe, ein Wel­te­nen­de. »Ich sehe es,« rief Klin­ko­rum, vom Geist be­rührt. »Ich sehe, dass ei­ner auf­ste­hen wird und mich rä­chen!« – wo­bei er sich fes­ter in die Ecke setz­te.

Der Ar­bei­ter sag­te, drü­ben im Hof­zim­mer, sei­nen bei­den jun­gen Brü­dern gute Nacht; und be­vor er sein Fens­ter schloss, stand er dann im Wind, quer über die brei­te Stirn lie­fen ihm die zu­sam­men­ge­wach­se­nen Brau­en, er mach­te Fäus­te, stemm­te die Schul­tern hin­auf, als höbe er eine Last, – und dach­te müh­se­lig wei­ter, tas­te­te sich im Dun­keln ein Stück an sei­nem Schick­sal hin, wie es denn aus­se­he, wo­hin es denn ver­lau­fe mit den an­de­ren in der Welt. Ihm schi­en es dun­kel und win­dig, wie das öde Feld, auf das er hin­aus­sah und das en­de­te mit dem Fried­hof. Zwi­schen sich und dem Fried­hof fand er nichts als Un­ge­rech­tig­keit und Hass.

Beim Ab­schied lenk­ten die Stu­dier­ten ein. Die rei­chen Leu­te hat­ten na­tür­lich ihre un­er­mess­li­che so­zia­le Nütz­lich­keit. Und nach au­ßen ver­bürg­ten sie un­ser An­se­hen, un­se­re Schlag­kraft, die Er­wei­te­rung un­se­rer Gren­zen. Üb­ri­gens wa­ren nicht alle rei­chen Leu­te wie Heß­ling, – und selbst Heß­ling, war sei­ne Tüch­tig­keit denn zu ver­ach­ten? Im Ge­gen­teil zog ganz Net­zig Nut­zen aus ihr. Die we­ni­gen Gau­sen­fel­der Ak­ti­en, die er da­mals bei sei­ner großen Ope­ra­ti­on, als er Ge­ne­ral­di­rek­tor wur­de, in frem­den Hän­den ge­las­sen hat­te, wa­ren sel­te­ne Kost­bar­kei­ten ge­wor­den, sie ver­erb­ten sich vom Va­ter auf den Sohn. Je­der der drei Her­ren ver­mu­te­te von den an­de­ren, dass sie wel­che hät­ten, und da sie es nicht ge­stan­den, ge­stand auch er es nicht. Beim Ab­schied frag­te je­der, mit un­be­tei­lig­tem Ge­ha­ben: »Wie ste­hen sie denn jetzt?«

Der Hass! fühl­te der Ar­bei­ter Bal­rich. Mit ihm gehst du schla­fen und stehst wie­der auf mit ihm. Vor sechs, den Rock­kra­gen hin­auf und los, den frös­teln­den grau­en Weg nach der Fa­brik, zu Hun­der­ten schwei­gend und tra­bend, Trab hin­ter sich, vor sich, in sich, Trab wie Ma­schi­nen­lauf. Alle ver­schrie­ben der Un­ge­rech­tig­keit, alle un­ter dem un­abläs­si­gen Druck des Has­ses, ge­wohnt wie schlech­te Luft und Lärm von Ma­schi­nen. Und da­bei, wel­cher war der är­ge­re Feind? Heß­ling, für den man sich krumm ra­cker­te, oder die­ser Si­mon Jau­ner, der es auch tat, – aber seit heu­te stand er bei der Pa­pier­ma­schi­ne am Plat­ze Bal­richs, un­ten, wo die fer­ti­gen Bo­gen an­ka­men und wo man von der Tür her Luft hat­te. Den bes­ten Platz her­ge­ben müs­sen, an einen, der frü­her ein­mal et­was ge­habt hat­te mit der Frau des Ma­schi­nen­meis­ters Pols­ter! Noch dazu war sie die Schwes­ter sei­nes Schwa­gers Dinkl. Bal­rich schwitz­te den gan­zen Mor­gen mehr von Wut als von der Hit­ze. Als aber der In­spek­tor vor­über­kam und ihn frag­te wie­so, biss er die Zäh­ne zu­sam­men. Das war un­se­re Sa­che und nichts für die Her­ren oben! Der In­spek­tor frei­lich wuss­te Be­scheid, denn mit der Frau des Ma­schi­nen­meis­ters hat­te er jetzt selbst et­was. Da­her mel­de­te er sich auch bei dem Herrn Obe­rin­spek­tor, und bei­de gin­gen, als es Mit­tag läu­te­te, so­gar zum Ge­ne­ral­di­rek­tor hin­ein. Dann ward der Ma­schi­nen­meis­ter hin­ein­ge­ru­fen und kam so­gleich wie­der her­aus­ge­flo­gen, der di­cke Hahn­rei, rot bis auf die Glat­ze. Und dann hat­te Bal­rich sei­nen Platz zu­rück, Heß­ling war ge­recht ge­we­sen.

Dar­über spra­chen alle auf dem Weg zum Es­sen. Kam ein Be­am­ter vor­bei, sag­ten man­che recht laut, Heß­ling sei ge­recht ge­we­sen, – auch Jau­ner sag­te es, denn so war er. Bal­rich, an den sich vie­le von ih­nen her­an­ma­ch­ten heu­te, dach­te den gan­zen Tag über die Sa­che nach, denn Heß­ling war ge­recht ge­we­sen, und das ging nicht. Erst am Abend, vor sei­nem Fens­ter, hat­te er es. Ge­wiss hat­te auch Heß­ling von den Lie­bes­ge­schich­ten der Pols­ter et­was er­fah­ren und ihm lag nur an der Ord­nung, sei­nem ei­ge­nen Vor­teil. Umso schlim­mer, dann konn­te er ge­recht sein, weil es sein Vor­teil war, und die Rei­chen wur­den rei­cher so­gar durch ihre Tu­gend … So stand es, dach­te er gleich am Mor­gen wie­der, denn es war Sonn­tag. Da be­gann aber schon, dro­ben in der Fer­ne, das Ge­bet­plär­ren sei­ner Schwes­ter Mal­li, und kaum dass es aus war, ein großes Ge­keif.

Dies­mal hör­te er auch Leni, sei­ne jün­ge­re Schwes­ter, mit­schrei­en, wes­halb er schnell hin­ging um nach­zu­se­hen. Es gab einen gan­zen Kü­bel voll Dreck. Mal­li woll­te Dinkl er­tappt ha­ben bei Leni hin­ter dem Bret­ter­ver­schlag; und hin­weg über ih­ren großen Bauch, wor­an drei Kin­der sich fest­hiel­ten, schrie sie ihm zu, er sol­le sich nichts ein­bil­den, er sei nicht der ein­zi­ge, – in­des Leni auf­heul­te und Dinkl aus Ver­le­gen­heit sei­ne ko­mi­schen Ge­sich­ter schnitt.

»Schäm’ dich!« sag­te Bal­rich zu der ver­hei­ra­te­ten Schwes­ter. »Ich weiß ganz ge­nau, dass das wie­der nur ein Schwin­del von dir ist.« Und er zog Leni an sei­ne Schul­ter. Denn ob­wohl er gar nichts wuss­te, war es un­mög­lich, dass sie so et­was tat. Er hat­te sie lieb. Er hat­te sie so viel lie­ber als Mal­li, dass er ein schlech­tes Ge­wis­sen fühl­te und nichts mehr sa­gen moch­te. Leni durf­te noch hübsch, leicht und sau­ber sein, Mal­li, die ärms­te, ward es nie wie­der. »Und ich, wenn ich erst ver­hei­ra­tet bin, wer­de aus­se­hen wie Dinkl.« Mal­li hat­te frü­her nicht ge­lo­gen. Jetzt ward nach dem Auf­ste­hen ge­be­tet, und dann so­fort eine Klatsch­ge­schich­te, die das gan­ze Haus durch­ein­an­der brach­te. Alle hier wa­ren gute Leu­te, und han­del­ten in­fol­ge ih­rer Ar­mut als sei­en sie böse Leu­te, – in­des Rei­che, die nicht gut wa­ren, so­gar ge­recht sein durf­ten.

Schön, jetzt trat die Pols­ter auf und be­haup­te­te, Dinkls hät­ten ihr Milch ge­stoh­len. Neu­er Krach, neue Trä­nen, und durch die Auf­re­gung ka­men bei Mal­li die We­hen. Die Pols­ter half ihr so­fort wie eine wah­re Schwes­ter, zog sie aus, bet­te­te sie, ver­sprach ih­rem Bru­der Dinkl sein Es­sen und nahm die drei Kin­der mit sich. Sie selbst hat­te kei­ne, dar­um konn­ten Pols­ters sich zwei schö­ne Zim­mer hal­ten. In dem einen stan­den Plüschmö­bel, Blatt­pflan­zen und ein Fo­no­graf, es kam wohl auch von den Freund­schaf­ten der Frau. Aber wenn man das hät­te ge­nau neh­men wol­len! Dinkl hat­te noch die be­son­de­re Freu­de, dass das Fa­mi­li­e­ner­eig­nis auf den Sonn­tag fiel und Mal­li vor­aus­sicht­lich nicht mehr als zwei Ar­beits­ta­ge ver­lor. Nach­mit­tags, ge­ra­de als Bal­rich wie­der nach­frag­te, kam ho­her Be­such, Frau Ge­ne­ral­di­rek­tor Heß­ling und ihre Schwä­ge­rin Buck. In der Tür blie­ben sie ste­hen, sie mach­ten Ge­sich­ter, als ob es ih­nen an die Gur­gel gin­ge. Wahr­schein­lich wirk­te die Luft hier so, wenn du sie nicht ge­wöhnt warst. Sie aber schie­nen sich des­we­gen zu ge­nie­ren und fin­gen an, auf Mal­li ein­zu­re­den wie auf einen kran­ken Ka­na­ri­en­vo­gel. Mit der Heb­am­me flüs­ter­ten sie und zo­gen die Brau­en hoch. Bal­rich sah sich so lan­ge und ge­nau die Buck an, bis die Heß­ling es merk­te und halb­laut: »Emmi!« rief, wo­bei sie sie streng am Arm pack­te. Da­bei ließ die Buck ihre Ta­sche fal­len und Bal­rich, mit ei­nem Sprung, hob sie auf. Als er sie ihr hin­hielt, zog sie zu­erst die Hand zu­rück, dann erst un­ter dem Blick ih­rer Schwä­ge­rin griff sie zu. In­zwi­schen beroch er sie, denn sie roch nach Veil­chen. Sie war noch hübsch, die Fi­gur war, wie un­se­re Mäd­chen sie nur bis zwan­zig ha­ben. Auch Leni hat­te so gold­blon­des Haar, aber das der Buck war nicht ver­staubt. End­lich, wäh­rend sie die Ta­sche nahm, sah sie ihn so­gar an und lä­chel­te, et­was schüch­tern und so­zu­sa­gen be­sänf­ti­gend. Vor sei­nen zu­sam­men­ge­wach­se­nen Brau­en mach­te ihr Lä­cheln aber so­gleich kehrt. Da­rauf trat Bal­rich hin­ter den Bret­ter­ver­schlag Le­nis.

Dinkl kam zu ihm, stieß ihn in die Sei­te und wis­per­te, warum er sich ver­krie­che. Die eine sei scharf auf ihn, da habe er einen schö­nen Pos­ten in Aus­sicht. Dinkl mach­te Wit­ze, weil es ihn nichts an­ging. Bal­rich, den es an­ging, hat­te ein Ge­fühl in der Brust, wie er es ein­mal ge­habt hat­te, als er ent­las­sen wor­den war. Die Buck hat­te ihn be­han­delt wie ein Tier, – man fürch­tet es und nimmt es doch nicht ernst; nicht aber wie einen Mann.

Nun gin­gen sie, Dinkl, schar­wen­zelnd, brach­te sie hin­aus, da ge­sch­ah ein Un­glück. Aus sei­nem tie­fen Bück­ling war Dinkl noch nicht wie­der auf­ge­kom­men, als sie es schon hat­ten und auf der Trep­pe la­gen, die Heß­ling ver­lor den Hut samt der Hälf­te ih­rer wei­ßen Haa­re. Über dem Ge­län­der hoch dro­ben wälz­ten die Dinklschen Kin­der sich vor La­chen, – wor­auf der Va­ter zu be­grei­fen an­fing. Mit ge­schwun­ge­ner Faust ver­jag­te er die Kin­der und half dann den Da­men. Zum Glück nah­te von un­ten der Her­bes­dör­fer, so brach­te man sie bald wie­der auf die Füße. »Mein Gott, was war denn das!« rie­fen sie, auf ein­mal mit un­ge­zwun­ge­nen Stim­men. »Ist hier auf den Stu­fen nicht Sei­fe?« Dinkl woll­te es leug­nen oder un­be­greif­lich fin­den, Her­bes­dör­fer er­hob sei­ne ein­ge­ros­te­te Stim­me nur zu ei­nem »Ach­tung!« und brei­te­te die star­ken Arme aus, für alle Fäl­le. Sie aber ba­ten die bei­den Ar­bei­ter, nach­zu­se­hen, wie es rück­wärts um sie ste­he, und als Dinkl durch­aus kei­ne Sei­fe an ih­nen fand, fan­den sie selbst sie.

»Was jetzt! Wir müs­sen doch zum Tee in die Stadt. Noch ein­mal nach Hau­se und uns um­klei­den?«

Dinkl riet hier­zu, sie wie­der mein­ten: »Das kos­tet eine hal­be Stun­de, und was sagt die Ge­ne­ra­lin!«

An­ge­le­gent­lich wand­ten sie sich an Her­bes­dör­fer, um auch sei­ne An­sicht zu er­fah­ren, frei­lich ohne Er­folg, er mach­te ein bar­sches Ge­sicht. Die Pols­ter kam her­zu, schlug die Hän­de zu­sam­men und er­bot sich, von den Klei­dern al­les ab­zu­wa­schen, – wor­auf eine tech­ni­sche Ver­hand­lung folg­te. Sie blieb ohne Er­geb­nis; so drang Dinkl durch, mit sei­nem Hin­weis auf die be­son­de­re Leis­tungs­fä­hig­keit des Heß­ling­s­chen Au­tos.

»Das muss wahr sein,« sag­te Frau Ge­ne­ral­di­rek­tor Heß­ling, »es ist ein Char­ron.«

Dinkl gab zu be­den­ken, ob nicht die deut­sche In­dus­trie den Vor­zug ver­die­ne, selbst wenn sie nicht ganz so leis­tungs­fä­hig sein soll­te. Erns­te Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten er­wuch­sen hieraus nicht, un­ter dem Ent­ge­gen­kom­men bei­der Tei­le setz­te die Un­ter­hal­tung sich fort bis vor das Haus. Erst beim An­blick ih­res Chauf­feurs ging durch die Da­men ein sicht­ba­rer Ruck, und als sie gar im Auto sa­ßen, er­wi­der­ten sie den Gruß der Ar­bei­ter nur noch aus den Au­gen­win­keln, ohne den Kopf zu rüh­ren.

Dinkl fand sich da­mit ab, er stand, als das Auto fort war, und lach­te, dass sein Gerüst wa­ckel­te. Die Kin­der, die nach­ge­schli­chen wa­ren, be­ka­men vom Va­ter ihre Ohr­fei­gen, aber er lach­te da­bei, und alle mit, die Pols­ter samt den Nach­ba­rin­nen.

Als die Ban­de wie­der hin­auf­stürm­te, wür­de sie den Karl Bal­rich über­rannt ha­ben. Er stand auf dem Trep­pen­ab­satz und schi­en ver­tieft in den Sei­fen­fleck. Er mach­te ih­nen Platz, lach­te aber nicht wie sie, son­dern fal­te­te die Brau­en … Sein Schwa­ger klopf­te ihn auf die Schul­ter und nahm ihn mit in die Kan­ti­ne; der Mal­li sei­en sie doch bloß läs­tig in ih­rem Be­trieb.

Die Kan­ti­ne war voll, von al­len Ti­schen wur­den Fra­gen ge­schri­en we­gen des ho­hen Be­su­ches und der Sei­fe. Der Vor­fall mit der Sei­fe be­schäf­tig­te alle. Sei­fe war das Stich­wort für Wit­ze, die sich alle ähn­lich sa­hen, und je­der er­reg­te das glei­che Ge­brüll.

Zu Bal­rich, Dinkl und Her­bes­dör­fer setz­te sich stumm der alte Ma­ler­meis­ter, der seit kur­z­em im Kel­ler bei Klin­ko­rum wohn­te. Er war um­her­ge­zo­gen und hat­te sich eben durch­ge­schla­gen, ein un­ru­hi­ger Tau­ge­nichts, bis er es gut fand, sei­ne alt­ge­wor­de­nen Kno­chen an den Ort zu tra­gen, wo er Hei­mats­recht und Ver­wand­te hat­te. Er und Bal­rich sag­ten nichts, – bis Her­bes­dör­fer sie et­was frag­te. Er hat­te eine Auss­pra­che wie ein Wil­der und äu­ßer­te sich so an­ge­strengt, als ver­lern­te er das Spre­chen von Tag zu Tag. Er frag­te: was den rei­chen Wei­bern denn ein­fal­le, dass sie un­ge­be­ten eine Ar­bei­te­rin in den We­hen zu be­gaf­fen kämen, wie eine Kuh. Dinkl stieß ihn heim­lich an, und un­ter dem Tisch zeig­te er ihm das Zwan­zig­mark­stück, das die Be­su­che­rin­nen da­ge­las­sen hat­ten. Laut sag­te er: »Sie ha­ben Lan­ge­wei­le ge­habt. Das Tee­was­ser bei der Ge­ne­ra­lin hat noch nicht ge­kocht.«

Bal­rich in­zwi­schen at­me­te schnel­ler. Er war im Be­griff, sich auf­zu­rich­ten und zu be­ken­nen, dass auch die Rei­chen ein Herz ha­ben könn­ten! Denn vor sich hat­te er das schüch­ter­ne Lä­cheln der Emmi Buck, und mit­ten in dem Qualm hier be­rühr­te ihn ihr Veil­chen­ge­ruch. Da sah der alte Ma­ler ihn an mit sei­nem Grin­sen im Bocks­bart und nahm ihm das Wort weg.

»Ich weiß Be­scheid, – seit ich ein rei­ches Lu­der habe lau­fen ge­se­hen, weil eine Ar­bei­te­rin mit dem Arm in der Ma­schi­ne hing. Sie hat­te vor­ge­sorgt, dass ihr so et­was gleich ge­mel­det wer­de.«

»Das hast du selbst ge­se­hen, On­kel Gel­lert?« frag­te Bal­rich dro­hend. Denn er dach­te an die klei­nen Mäd­chen, die der Alte an sich lock­te.

»Ich selbst, – und die Ar­bei­te­rin war spä­ter mei­ne Frau, dei­ne Groß­tan­te.«

»Ja, dann,« mur­mel­te Bal­rich und sah den Tisch an. »Nicht hin­se­hen wo Geld ist, das ist das bes­te.« Und in­ner­lich bat er es sei­ner Schwes­ter Leni ab, dass er ihr, fast eine Stun­de lang, die Rei­che vor­ge­zo­gen hat­te.

Si­mon Jau­ner schlich her­bei; was Bal­rich ganz lei­se sprach, hat­te er doch ge­hört; und er schlug auf den Tisch, als habe er Wut. An­se­hen das Geld, sei zweck­los. Aber so! Und mit krum­men Fin­gern graps­te er über den Tisch hin. Bal­rich, der ihn kann­te, sag­te ge­las­sen: »Ich esse lie­ber mein selbst­ver­dien­tes Brot,« – und schnitt aus sei­nem Brot einen Wür­fel. Da ließ Jau­ner sich in die Bank glei­ten, gra­de ne­ben Bal­rich. Nun er Bal­rich von sei­nem Platz an der Ma­schi­ne nicht hat­te ver­drän­gen kön­nen, fand er es wohl ge­ra­ten, sich an­zunä­hern. Er fass­te so­gar treu­her­zig den Arm des an­de­ren und sag­te ein­dring­lich:

»Dein Brot? Heß­ling­s­ches Brot, willst du sa­gen! Denn in sei­ner Fa­brik ver­dienst du nur ge­ra­de so viel, dass du in sei­ner Ka­ser­ne woh­nen und in sei­ner Kan­ti­ne es­sen kannst. Was dar­über ist, ist vom Übel,« schloss er hä­misch, und zeig­te zu­erst Bal­rich, dann den an­de­ren sei­ne gel­ben Zäh­ne und sei­ne gel­ben Au­gen. Sie wuss­ten wohl, sie wür­den kein Wort spre­chen, das der In­spek­tor nicht er­füh­re; denn er hat­te dem Jau­ner ge­scha­det, wer muss­te also be­flis­se­ner ge­gen ihn sein als Jau­ner. Den­noch hiel­ten sie nicht an sich. Kan­ti­ne und Ka­ser­ne, zu wahr, brach­ten dem Heß­ling mit Zins wie­der zu­rück, was er ih­nen zahl­te. Der Strom des Gel­des roll­te end­los un­wei­ger­lich in die eine Ta­sche, sie aber mit ih­ren Schwie­len stan­den lech­zend da­ne­ben, sie, ihre Frau­en, ihre Kin­der. Sie mach­ten ihre Kin­der für Heß­ling, wie sie für Heß­ling die Ware mach­ten, wie sie für Heß­ling aßen und tran­ken. »Prost Hass­ling!« rief Dinkl, und an al­len Ti­schen rie­fen sie mit; denn gut war es, den Hass in ein Wort zu fas­sen, den Hass ein­mal deut­lich aus den Zäh­nen zu las­sen und bit­ter im Glas zu schme­cken. Man ging mit ihm schla­fen und stand auf mit ihm, – nur Ge­stalt fehl­te ihm, Fäus­te hat­te er nicht. Wir ha­ben je­den Au­gen­blick, je­den von al­len, die wir er­le­ben, al­les im Be­wusst­sein: die un­ge­rech­te Ge­walt, un­ter der wir ste­hen, be­nach­tei­ligt auf Schritt und Tritt, beim Einat­men und beim Au­sat­men, miss­braucht, ver­ach­tet, hin­ter das Licht ge­führt. Ihr bil­det euch ein, wir ver­gä­ßen? Ja­wohl, ihr denkt, wir rie­chen un­se­re schlech­te Luft nicht mehr, in den über­füll­ten Stu­ben der Ka­ser­nen, die ihr uns baut. Ar­bei­ter­häu­ser A und B, das heißt nicht ar­bei­te und bete, wie der Kon­sis­to­ri­al­rat Zil­lich bei der Ein­wei­hung er­zählt hat­te; es heißt Af­fen­bu­de oder al­les be–. Wir rie­chen, und wir ver­ges­sen nicht. Sehr be­greif­lich, be­merk­te Bal­rich, dass den Da­men Heß­ling und Buck, wie sie ein­tra­ten, der Ge­stank an die Gur­gel ging, und ko­misch bloß, dass sie sich des­halb zu ge­nie­ren schie­nen. »Hät­ten wir sie in der Ge­walt, wie sie uns ha­ben, wir wür­den nicht so vie­le Um­stän­de ma­chen!« Dinkl und Jau­ner er­klär­ten auf das deut­lichs­te, was sie mit den rei­chen Wei­bern heu­te ge­macht ha­ben wür­den, trotz den wei­ßen Haa­ren der einen. Ei­nen Laut aber, der Schlim­me­res ver­hieß, stieß Her­bes­dör­fer aus. In sei­nem ge­röte­ten Kopf war die Kar­tof­fel­na­se weiß wie der nack­te plum­pe Hals, und die Au­gen hin­ter den run­den Bril­lenglä­sern starr­ten blind, als hät­te er Ge­sich­te.

Dinkl in­zwi­schen war in die Mit­te ge­tre­ten, schob die Dau­men in die Ach­sellö­cher sei­nes gelb­ka­rier­ten Röck­chens und mach­te vor, wie er spa­zie­ren­ge­he. Ein fei­ner Fatz­ke be­geg­ne­te ihm. Den fei­nen Fatz­ke muss­te Jau­ner ma­chen; er nahm sein stei­fes Hüt­chen vom Re­chen und drück­te die Beu­len her­aus. Bei ihm an­ge­langt, schleu­der­te Dinkl ihm die Faust bis nahe un­ter das Kinn, wo­bei Jau­ner über­mä­ßig er­schrak. Dinkl aber tat, als habe er nur die Zi­ga­ret­te an den Mund füh­ren wol­len. Alle lärm­ten Bei­fall. So war es! Je­den Rei­chen konn­te man mit ei­nem Fin­ger er­schre­cken, dass er in Ohn­macht fiel, denn sie schlie­fen im­mer. Sie gin­gen in den Stra­ßen und merk­ten nicht, wie sie un­ter uns Ar­bei­tern ver­ein­samt wa­ren – bloß noch die Po­li­zei war da –, und wie ihre Pelz­män­tel sich ver­lo­ren zwi­schen den vie­len ge­flick­ten Som­mer­ja­cken. Sie mer­ken nichts, sie schla­fen. Nie, den­ken sie, kommt es an­ders. Denn sie sind es ge­wöhnt, sie hat­ten es leich­ter als wir, sich zu ge­wöh­nen.

Hier war Her­bes­dör­fer fer­tig mit sei­nen Vor­be­rei­tun­gen, aus­zu­spre­chen, was er sah. Er zeig­te sei­ne rie­si­gen Hän­de her, ein Fin­ger war weiß ver­bun­den, – öff­ne­te und schloss sie, dass sie knack­ten, und sag­te müh­sam vor Kraft:

»Das Gan­ze kommt an­ders!«

Bal­rich, ge­gen­über, hör­te ihm ach­tungs­voll zu. Da­durch ent­ging es ihm fast, dass der alte Gel­lert ihn lei­se in die Sei­te stieß und ihm et­was an­ver­trau­te. Er schi­en es lan­ge in sich un­ter­drückt zu ha­ben, und nur die ge­stei­ger­te Stim­mung der Um­ge­bung be­wirk­te es, dass sein letz­ter al­ter Zahn sich auf­hob und et­was her­ausließ.

»Längst schon könn­te es an­ders sein,« wis­per­te er. »Auch um­ge­kehrt wär’ ein Schuh ge­wor­den. Hab’ ich Heß­ling mit ge­grün­det, was fehlt dann viel, und ich wäre, was er ist.«

Sein Groß­nef­fe sah ihn an; der Alte kniff die Lip­pen und mach­te sich klein, als habe er nichts ge­sagt. Bal­rich stutz­te kurz; schon zuck­te er die Ach­seln, Ge­schwätz ohne Kraft war nicht acht­bar.

Auch ka­men eben jetzt die Ge­nos­sen auf die Par­tei zu spre­chen. Die Par­tei war mit nich­ten ein­wand­frei, sie ent­hielt Ele­men­te, die mehr an sich dach­ten, als an die ar­bei­ten­de Klas­se. Jau­ner, als der Miss­ver­gnüg­tes­te, kenn­zeich­ne­te den Ge­nos­sen Na­po­le­on Fi­scher, un­se­ren Ab­ge­ord­ne­ten, der Ge­schäf­te ge­macht hat­te, aber bes­se­re für sich als für uns. Er stand gut mit Heß­ling und wuss­te auch der Re­gie­rung nichts mehr ab­zu­schla­gen. Was be­kam er für die Un­men­ge Mi­li­tär, die er be­wil­lig­te? Wie­der eine Ver­si­che­rung, wie­der eine Für­sor­ge. Und hat­te doch ge­ar­bei­tet, so­gar bei Heß­ling. Was hof­fen von den an­de­ren, mit den wei­chen Hän­den.

Dies war wohl rich­tig; den­noch wag­te sich der Bei­fall viel we­ni­ger ent­schie­den her­aus, als vor­hin, ge­gen Ar­beit­ge­ber und be­sit­zen­de Klas­se. Hier­mit war nicht zu spa­ßen, und was Jau­ner dem Par­tei­be­am­ten wie­der er­zähl­te, konn­te dir schlech­ter be­kom­men als sein Be­richt an den Heß­ling­s­chen Herrn Obe­rin­spek­tor. So viel ließ sich wohl sa­gen, dass die Ver­si­che­run­gen und Für­sor­gen ihre zwei gu­ten Sei­ten hat­ten, eine für uns und eine für die Rei­chen, de­nen sie zu ei­nem bes­se­ren Schlaf ver­hal­fen. Dinkl, als der Un­vor­sich­tigs­te, ging wei­ter und be­haup­te­te, das zwei­te sei die Haupt­sa­che, und der alte Ar­bei­ter, der von dem Pen­si­ons­plun­der le­ben kön­ne, sei noch nicht ge­bo­ren.

»Mein ei­ge­ner Va­ter, wie oft ich ihm ins Ge­wis­sen rede, vor Mit­tag, wenn wir Män­ner noch nicht aus der Fa­brik zu­rück sind, geht er mit sei­ner Ess­schüs­sel bei den Nach­ba­rin­nen um­her.«

Hier­zu war der Alte ge­nö­tigt, weil sei­ne Kin­der ihm das Geld sei­ner Al­ters­ver­sor­gung ab­nah­men und ihm nicht satt da­für zu es­sen ga­ben. Dies wuss­te man; aber wel­cher Vor­wurf traf einen Ka­me­ra­den, der Frau und vier Kin­der hin­durch­brach­te. Bes­ser, es hun­ger­te ein Al­ter.

Her­bes­dör­fer, längst nicht mehr wild, hat­te ein von der Furcht zu­sam­men­ge­zo­ge­nes Ge­sicht und jam­mer­te in rau­en Lau­ten vor sich hin. Er be­klag­te sich über den Kas­sen­arzt, der ihn schon wie­der zur Ar­beit schick­te, ob­wohl er im Knie seit sei­nem Un­fall noch im­mer eine Schwä­che hat­te. Er hat­te die Schwä­che nicht, wenn er drau­ßen um­her­ging; aber kaum in der Fa­brik, hat­te er sie; und die Furcht, hin­ein­zu­fal­len zwi­schen die Mühl­rä­der und zer­mah­len zu wer­den mit dem Holz­stoff, mach­te ihm Schwin­del.

»Das ken­ne ich,« sag­ten sie an den an­de­ren Ti­schen. Denn sie kann­ten es.

»Man hat doch nur sei­ne Glied­ma­ßen. Frau und Kin­der ha­ben nur mei­ne Glied­ma­ßen. So ein Dok­tor tut im­mer, als wach­sen sie nach.«

»Der wächst nicht nach!« schnaub­te dort hin­ten ei­ner, und reck­te in den Schein der Lam­pe sei­ne Hand, der ein Fin­ger fehl­te. Da hob auch Her­bes­dör­fer, rau win­selnd, sei­nen ver­bun­de­nen Fin­ger zum Licht hin­auf; und über zwei Ti­sche, und dann ne­ben­an, und dann an je­dem ka­men Fin­ger ans Licht, dick um­wi­ckelt und weiß in­mit­ten ei­ner Hand, die dun­kel be­fleckt war von den un­ver­gäng­li­chen Spu­ren der Ar­beit. Wie alle die­se ver­bun­de­nen Wun­den durch die Luft ge­schwenkt wur­den, roch man auf ein­mal deut­lich den dün­nen schar­fen Ge­ruch, der un­ter den Aus­düns­tun­gen der Kör­per und dem Ta­baks­qualm, halb­ver­ges­sen im­mer da war, den Ge­ruch des Kar­bols.

Auch Karl Bal­rich sah einen sei­ner Fin­ger in Lei­nen ge­wi­ckelt, er prüf­te ihn, die Brau­en ge­fal­tet, un­ter dem Tisch. Je­der in die­sem Au­gen­blick hat­te ein Ge­sicht, das den al­ler­tiefs­ten Ernst des Le­bens trug. Da, in ei­ner Stil­le, sag­te Bal­rich:

»Das hat sei­ne Zeit, und dann kommt die Ge­rech­tig­keit.«

»So ist es!« sag­ten sie, und ein Ge­schwirr ent­stand, aus lei­sen Zu­stim­mun­gen, den hal­b­en Lau­ten der Gläu­big­keit. Auf dem Wege sind wir, zur Ge­rech­tig­keit, – und sä­hest du täg­lich mehr, dass er lang ist, ge­zählt sind die Tage der Rei­chen. Wir wer­den, mit dem was jetzt sie uns kos­ten, selbst reich sein, alle; wer­den in ge­lüf­te­ten Sä­len ge­mein­sam un­ser gu­tes Es­sen ha­ben, und Ma­schi­nen, die uns ge­hö­ren, ar­bei­ten für uns. Mit je­nen aber wird es aus sein. Wäre dem an­ders, warum säuft man nicht, oder bricht ein.

Das tun wir nicht, weil wir ver­nünf­ti­ger sind als sie. Wir kön­nen frei auf­at­men, so, ganz frei, mit­ten in un­se­rer Stick­luft, denn bei uns sind Ver­nunft und Zu­kunft. Ihr dort seid er­blin­det durch den Be­sitz, ihr wisst nicht ein­mal mehr, was ihr in Hän­den habt. Wer un­ter euch schätzt das Wis­sen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn ver­ges­sen, in eu­rem Fett. Wir, wir be­grei­fen, dass er es ist, der die Welt er­obert, und dass er auch wie­der ihr Ziel ist. Jede Biblio­thek, die wir zu­sam­men­brin­gen oder ab­rin­gen eu­rem Geiz, ist ein Weg­mal für un­se­re Her­auf­kunft und eu­ren Un­ter­gang.

Dinkl, mit ei­nem Luft­sprung von sei­nem Sitz auf, rief aus:

»Nichts freut mich, wie die hun­dert­tau­send Mark, die ihn die Biblio­thek kos­tet!«

Und alle frohlock­ten über die­se Nie­der­la­ge des Ge­ne­ral­di­rek­tors. Kämp­fe frei­lich kos­te­te noch die Ver­wal­tung der Biblio­thek, denn sat­zungs­ge­mäß stimm­ten auch Be­am­te beim An­kauf der Bü­cher, und ver­hin­der­ten, so viel sie konn­ten, die Auf­nah­me der Par­tei­sch­rif­ten. Her­bes­dör­fer schmun­zel­te, tief be­frie­digt. Seit ges­tern hat­te er, si­cher ver­schlos­sen in sei­nem Zim­mer, »das Ka­pi­tal«.

Da be­trach­te­te Bal­rich ihn, sein ar­mes gro­bes Ge­sicht, das ver­rie­gelt aus­sah und hin­ter sei­ner großen Bril­le im­mer in An­stren­gung und Angst schi­en, ob es nicht end­lich sich öff­nen, klar­se­hen und be­grei­fen wer­de, sein tap­fe­res, ver­geb­lich rin­gen­des Ge­sicht.

»So steht es um uns,« fühl­te Bal­rich. »Wir sind zu schwach, ob­wohl wir die Stär­ke­ren schei­nen. Die Bü­cher, mit de­nen Aus­beu­tung und Elend zu be­sie­gen wä­ren, lie­gen in un­se­rer Lade, wir aber sit­zen hier, ver­braucht vom Knecht­stum der gan­zen Wo­che und ohne Hand­ha­be, um un­se­re Waf­fen nut­zen zu ler­nen. Kommt den­noch ei­ner von uns da­hin, die wis­sen­schaft­li­chen Wer­ke zu er­fas­sen, sei­nen Kin­dern kann er es dar­um nicht leich­ter ma­chen. Wir blei­ben, wo wir sind. Trach­ten wir das Glück zu ge­nie­ßen, das Ar­mut uns er­laubt!«

Hier er­in­ner­te er sich, dass ein Mäd­chen auf ihn war­te­te – sein Mäd­chen, wenn er woll­te. Aber woll­te er, und muss­te es die­se sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drü­ben, hät­te sich fast dar­an nie­der­ge­las­sen, – und als er dann hin­aus­ge­lang­te, stand dort hin­ten un­ter der Fried­hof­mau­er schon das Mäd­chen. Sie stand in ih­rem brau­nen Tuch ein we­nig ge­beugt, als war­te­te sie seit ei­ni­ger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war.

»Thil­de!« rief er auf­mun­ternd, wor­auf sie ihm ein Ge­sicht zeig­te, das voll Gram war. Er kam aber so mu­tig her­bei, breit, spann­kräf­tig und fest, mit dem dun­keln Schopf un­ter der Müt­ze her­vor, so wohl­ge­ra­ten kam er, dass sie ihm den­noch ent­ge­gen­lä­chel­te.

»Warst du schon drin­nen?« frag­te er ge­dämpft und wies nach der Fried­hof­pfor­te.

Sie nick­te. »Mein Klei­nes hat al­les was es braucht. Wenn auch wir das hät­ten.«

»Das sollst du nicht sa­gen,« ver­lang­te er; und zar­ter: »Ge­hen wir noch ein­mal hin­ein?«

Da sie den Kopf schüt­tel­te, be­stand er nicht dar­auf. Es mach­te nur trau­rig, und hat­ten sie nicht bei­de mehr vor als hin­ter sich? »Komm fort!« sag­te er be­stimmt, nahm ih­ren Arm und ging schnel­ler. Im Schat­ten der Mau­er, von der Bü­sche hin­gen, dräng­te sie sich an ihn mit den Hüf­ten. Sie wa­ren breit, die Brust voll, und dazu das ma­ge­re Ge­sicht, aus dem sie ban­ge zu ihm auf­sah.

Am Ende der Mau­er pfiff so­gleich der Wind. Bal­rich wi­ckel­te Thil­de fes­ter ein. Erst März; kahl däm­mern­des Feld; und sie stapf­ten durch Re­gen­la­chen. Rechts zwi­schen dür­ren Bäum­chen die Vil­len, ge­nannt Ar­bei­ter­vil­len; aber fast nur noch Be­am­te wohn­ten dar­in. Als Ar­bei­ter muss­te man sehr wohl ge­lit­ten sein. »Der Jau­ner wird her­ein­kom­men, wir nicht.«