Die beiden Ilsen - Else Ury - E-Book

Die beiden Ilsen E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Ilse Groß, genannt Illa, zieht für zwei Jahre zu ihrer Cousine Ilse Klein nach Berlin. Illa stammt aus Ortelsburg (heute Szczytno) in Ostpreußen und die Großstadt ist gar nicht so, wie Illa sie sich vorgestellt hat. Das Mädchen ist eher schüchtern, spricht einen seltsamen Dialekt, ist vierschrötig, albern und auch nicht von schneller Auffassungsgabe im Vergleich zu ihrer Cousine und deren Freundinnen. Obwohl Illa ein Jahr älter ist, wird sie in Ilses Klasse eingestuft und schon bald zur Außenseiterin...-

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Seitenzahl: 80

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Else Ury

Die beiden Ilsen

 

Saga

Die beiden Ilsen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1923, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726884593

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Es ging heute recht lebhaft in der vierten Klasse zu. Still war es nie in der Zwischenpause. Das summte stets wie in einem Bienenstock durcheinander. Aber heute mußte doch wohl noch etwas Besonderes los sein. Der größte Teil der Schülerinnen hatte sich um eine zierliche Blondine geschart und sprach in sichtbarer Aufregung auf sie ein. Die hielt sich lachend die Ohren zu.

»Kinder, nicht mehr als sechse auf einmal! Seid doch bloß mal einen Augenblick ruhig, sonst kann ich euch eure Frage doch unmöglich beantworten. Ja – also sie kommt. Morgen schon. Mein Onkel bringt sie zu uns, weil die Reise von Ostpreußen mächtig weit ist. Sie heißt Ilse, gerade so wie ich, nach einer gemeinsamen Tante. Ein Jahr ist sie älter als wir. Aber Muttchen meint, wer weiß, ob sie die Reife für die dritte Klasse hat, weil sie eine Kleinstadtschule bisher besuchte. Ach, wißt ihr, eigentlich wünsche ich, sie wäre noch nicht weiter als wir und käme in unsere Klasse. Ich freue mich schrecklich auf sie. Immer habe ich mir eine Schwester gewünscht. Und eine Kusine, die zwei Jahre oder noch länger im Hause bleibt, ist beinahe ebenso gut.« Die lebhafte Ilse vollführte vor Freude über die in Aussicht stehende Hausgenossin einen Luftsprung. Dabei trat sie Trude Berg auf den Fuß, was diese zu einem schmerzhaften Quieken veranlaßte, über das die anderen in lautes Lachen ausbrachen.

Keiner vernahm die mißbilligenden Worte des eintretenden Lehrers. »Sind wir denn hier in einer Mädchenschule oder auf einem Jahrmarkt?« Keiner sah, wie ärgerlich Professor Reuter das Katheder bestieg und sich schneuzte. Erst als es von dort oben mit verdoppelter Tonstärke herabklang: »Ilse Klein, wenn du weiter Vortrag halten willst, bin ich wohl hier überflüssig!« stob alles entsetzt auseinander. Hui – man sah im Augenblick nichts weiter als ein Knäuel von durcheinanderstrampelnden Beinen, von drängenden, stoßenden Armen, von fliegenden hellen und dunklen Zöpfen. Und dann war das Mädchenknäuel im Nu entwirrt, alles saß brav und sittsam auf seinem Platz, als ob niemals Jahrmarktstumult in der IV M geherrscht.

Ilse Klein war der Mund vor Schreck offen geblieben. Sie war so erstarrt, daß sie gar nicht daran dachte, ihren Platz einzunehmen.

»Hast du die Absicht, wie Lots Ehefrau die Stunde über als Bildsäule dort stehenzubleiben, Ilse?« Professor Reuter machte schon wieder einen seiner beliebten Späße.

Die Klasse wieherte vor Vergnügen, erfreut, daß der Lehrer wieder guter Laune war.

Ilse schoß das Blut in die zarten Wangen und das Wasser in die Blauaugen. Sie war ein etwas empfindliches junges Fräulein. »Das liegt im Alter«, pflegte die Mutter ihr Töchterchen in Schutz zu nehmen, wenn der große Rolf die jüngere Schwester mit ihren »Schleusen« aufzog. Aber Ilse war bei all ihrer Liebenswürdigkeit doch wohl etwas »wässeriger«, als man das sonst zwölfjährigen jungen Damen zubilligen kann. Auf das englische exercise, das gerade durchsprochen wurde, tropfte es feucht. Ilse wischte den klaren Kristalltropfen rasch mit dem Handrücken fort, damit ihre Nachbarinnen nicht erst sehen sollten, daß sie den Scherz des Lehrers und das Lachen der Klasse krummgenommen hatte. O weh – die Tinte verlöschte, ein blauschwarzer Schmierakel zierte die Arbeit. Nun war Ilse von Natur aus ja nicht gerade hervorragend mit Ordnungsliebe gesegnet, aber sie hatte sich besondere Mühe mit der englischen Übersetzung gegeben, da sie maßgebend für das Osterzeugnis sein sollte. Unwillkürlich und ihr selbst kaum bewußt stieg ein weniger freundliches Empfinden gegen die neue Kusine in Ilses Seele auf. Die war doch eigentlich ganz allein an dem Mißgeschick schuld.

Aber nachher auf dem Heimwege, als die Mädel es nicht besser machten als der Schwarm Spatzen, die sie durch ihre Tritte vom Fahrdamm aufscheuchten, und gerade so durcheinander schwirrten und piepsten, da malte Ilse Klein das Zusammenleben mit der neuen Kusine wieder in den herrlichsten Farben aus, so daß sich Anni Rotter, ihre erklärte Beste, doch bewogen fühlte zu äußern: »Na, hoffentlich stört deine geliebte Kusine nicht unsere Freundschaft.«

»Wie kannst du bloß so etwas denken, Anni! Meine Kusine ist sicher furchtbar nett. Und du hast dann eben zwei beste Freundinnen«, entschied Ilse.

»Zwei beste gibt's nicht – da mußt du natürlich zwischen ihr und mir wählen.« Die Anni fühlte sich bereits zurückgesetzt, trotzdem die Nebenbuhlerin noch irgendwo da oben in Ostpreußen saß.

Ilse überlegte nicht lange. Mit ungestümer Herzlichkeit umschlang sie Annis schmales Figürchen: »Du bleibst meine allerbeste Freundin, Anni – denn die Ortelsburger Ilse wird doch meine Schwester.«

Das sah die Anni denn auch ein, und ein Kuß besiegelte das erneute Freundschaftsbündnis, trotz der Autohupe, die störend dazwischen fuhr.

Ilses Amt war es daheim, den Tisch zu decken, denn sie sollte sich schon frühzeitig an haustöchterliche Pflichten gewöhnen. Wie oft hatte die Mutter es ihr gezeigt, wie man einen Tisch ordentlich und zierlich deckt; aber Ilse warf meist genial alle bestehenden Regeln über den Haufen. Die Messerbänkchen galoppierten willkürlich wie durchgegangene Gäule neben den Tellern dahin, die Bestecks zeigten die merkwürdigsten geometrischen Figuren, die Servietten wiesen nach allen Himmelsrichtungen, und das Salzfaß – glänzte meist durch Abwesenheit.

Auch heute blickte der Vater über die Brille hinweg vielsagend auf dem Tische umher. »Ich sehe was, was nicht da ist«, sagte er schließlich scherzhaft, als Ilse munter ihre Suppe weiter löffelte.

»Was nicht da ist, Vater?« Das Töchterchen hielt lachend inne. »Ach, ich weiß schon, was du meinst.« Sie wurde ein bißchen rot, ließ sich aber trotzdem mit Gemütsruhe ihre Suppe weiter schmecken.

»Kann man behaupt nich sehen, wenn's nich da ist«, stellte das vierjährige Nesthäkchen Heini ernsthaft fest.

»Ei, Ilse, vielleicht bequemst du dich dazu, das Vergessene zu holen«, mahnte die Mutter.

»Das Faultier lebt in Afrika,

Doch ist's auch oft woanders da«,

deklamierte Rolf anzüglich, als Ilse sich nun langsam von ihrem Stuhl erhob.

Ein Puff war die Antwort. »Als ob Jungs nich auch Salzfässer holen könnten!« Ilse war unzufrieden mit der Weltordnung, die den Frauen den hauswirtschaftlichen Anteil überlassen hatte. »Na, von morgen an ist ja die andere Ilse da, Gott sei's getrommelt und gepfiffen! Dann brauche ich mir wenigstens nicht allein mehr ein Bein auszureißen«, frohlockte sie.

Mehrstimmiges Gelächter folgte.

»So sieht jemand aus, der sich ein Bein ausreißt!« Rolf schüttelte sich vor Lachen. »Du nimmst es dir ja nett vor, die Ilse Große als deinen Pudel abzurichten. Die wird sich bedanken.«

»Wird sie gar nicht. Schwestern helfen sich gegenseitig, nur Brüder sind eklig«, gab Ilse prompt zurück.

»Ist mich auch eklig, Ilse?« erkundigte sich Klein-Heini mit treuherzigen Kinderaugen. Aller Ärger bei Ilse verrauchte und sie schloß den Kleinen so ungestüm in die Arme, daß er wie eine Maus zu pfeifen begann.

»Nich so eklig doll lieb haben!« Heini angelte mit Armen und Beinen aus der ihm unbequemen schwesterlichen Umarmung heraus. Die Suppe schwippte dabei aus dem Teller, zum Glück nur auf die Wachstuchdecke, die Klein-Heinis Platz auszeichnete.

Aber die Mutter schüttelte doch den Kopf über ihr ungestümes Töchterchen. »Ilse, setz' dich auf deinen Platz. Du weißt, der Vater liebt bei Tisch Ruhe und Harmonie. Hoffentlich wird die große Ilse einen günstigen Einfluß auf dich, Wildfang, ausüben.«

»Auch in puncto Ordnung recht wünschenswert«, mischte sich Rolf ganz unnötigerweise ein.

Als Quittung stieß Ilse heimlich unter dem Tisch mit dem Fuß nach ihm, um die Harmonie des Mittagtisches so wenig wie möglich zu beeinträchtigen.

Rolf war der beste Boxer in der Obertertia. Er begann denn auch sogleich seinen kunstgerechten Angriff. Der Vater mußte ganz energisch dazwischenfahren. Die Harmonie des Familienkreises war gestört.

»Schämt ihr euch denn gar nicht, eurem Vater die Mittagsstunde, seine einzige Erholungszeit am Tage, derart zu verderben«, rügte die Mutter ärgerlich.

Ilses Tränen flossen. »Na, wenn der dumme Rolf immer anfängt!«

»Wer hat zuerst mit dem Bein gestoßen, liebes Kind?« Rolf sprach in salbungsvollem Richterton, der »das liebe Kind« aufs neue reizte. Sicher wäre es wieder zu Handgreiflichkeiten gekommen, wenn die Mutter nicht »gesegnete Mahlzeit« gewünscht hätte. »Ilse, bringe Heini ins Bettchen und räume dann deinen Schrank für die große Ilse aus.« So – die feindlichen Parteien waren getrennt.

»Rolf, du mußt die Ilse nicht immer aufziehen. Sie kann das nun mal nicht vertragen. Das liegt so in ihren Jahren«, stellte der Vater seinem Ältesten vor.

»Müssen wir ihr abgewöhnen, die Empfindsamkeit«, entschied der weise Sprößling.

Inzwischen hatte Ilse schon wieder gegen diesen Fehler zu kämpfen. Klein-Heini und sie waren die besten Freunde. Heini hing voll Zärtlichkeit an der großen Schwester, und diese war lieb und sorgsam mit ihm wie ein Mütterchen. Jeden Mittag, wenn Heini ins Bett marschierte, zog sie ihn aus, tollte wohl noch ein bißchen mit ihm und erweckte ihn nach zweistündigem Schlaf wieder mit Scherz und Kuß zu neuem Leben. Die Sorge für das Nesthäkchen nahm sie der Mutter schon seit geraumer Zeit ab, wenn auch die Sachen des Kleinen von ihr wie Kraut und Rüben durcheinander geworfen wurden. Heute äußerte der undankbare kleine Schlingel: »Nu will mich nie mehr von dir ausgezieht werden. Morgen und alle Tage muß mich die neue Ilse ausziehen.«