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Der Dalai Lama sorgt sich um unsere Zukunft und die unseres Planeten. Dem in der Geschichte der Menschheit höchsten Level materiellen Wohlergehens steht - so das geistliche Oberhaupt der Tibeter - das höchste Niveau an Unbehagen und psychischem Stress gegenüber. Wir befinden uns in einer sozialen Krise ohnegleichen, und diese findet ihren Ausdruck auch in einer existenzbedrohenden ökologischen Krise - mit Erderwärmung, Entwaldung, Gletscherschmelze, Bodenerosion, Umweltverschmutzung und steigenden Meerespegeln. In eindringlichen Worten ruft der Dalai Lama zur Umkehr auf. Und er plädiert für das ethische Prinzip einer universellen Verantwortung, die jenseits von Gewinnstreben und Religionen das Wohlergehen anderer, auch der nächsten Generationen, über das eigene stellt. Ein eindringlicher Appell, dem wir uns nicht entziehen dürfen.
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Seitenzahl: 311
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Titel der Originalausgabe: Nouvelle Réalité. L’âge de la responsabilité universelle
© Les Arènes, Paris 2016
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Christian Langohr
Umschlagmotive: © dpa-picture alliance/Sebastian Kahnert © shtanzman123rf
E-Book-Konvertierung: post scriptum, Emmendingen/Hüfingen
ISBN (E-Book) 978-3-451-80781-7
ISBN (Buch) 978-3-451-31154-3
Bei der einzigartigen Lehre des Dalai Lama von der universellen Verantwortung handelt es sich um einen seiner großen Beiträge für unsere Welt. Unsere Aufgabe ist es, dieses Geschenk, das er uns gemacht hat, zum Wohl künftiger Generationen ins Leben umzusetzen.
Samdhong Rinpoche
Manifest der universellen Verantwortung (Auszug)
Vorwort von Sofia Stril-Rever
I. Die neue Wirklichkeit
1. Eine einzige Menschheit, ein einziger Leib
2. Dem Lebenden ist nichts teurer als das Leben
II. DAS ZEITALTER DER UNIVERSELLEN VERANTWORTUNG
1. Das Anthropozän, das Zeitalter der Menschheit
2. Für eine ethische Revolution
3. Das Zeitalter der universellen Verantwortung
III. DAS MANIFEST DER UNIVERSELLEN VERANTWORTUNG
I. Drei Erkenntnisse und elf Lebensverpflichtungen
II. Die Hoffnung wieder aufblühen lassen –Meditation über die universelle Verantwortung
Anmerkungen
Bibliografie
Danksagung
Zum Autor
Ich bin im Schoß des Kosmos als Kind des Lebens auf dieser Erde geboren worden.
Meine genetischen Codes enthalten die Botschaften des Universums. Dank der Tatsache, dass ich am Leben als solchem teilhabe, bin ich mit allen Lebewesen verbunden. Deren Wohlbefinden hängt vom richtigen Ausgleich der Ökosysteme ab; diese wiederum sind abhängig vom Frieden in den Herzen der Menschen und vom Gerechtigkeitssinn in den menschlichen Gesellschaften. Wir sollen niemandem etwas schuldig bleiben und dürfen niemanden durch Hunger, Armut und Entbehrung zugrunde gehen lassen. Deswegen will ich im Geist der ausgleichenden Gerechtigkeit, frei von Parteilichkeit, Abhängigkeit und Hass zum Erhalt und zur Wiederherstellung der Harmonie des Lebens beitragen. Wenn ich mit allen meinen Äußerungen Frieden und inneres Heilsein ausstrahle und auf das Wohl aller existierenden Wesen bedacht bin, sowohl der Menschen als auch aller anderen Lebewesen, ist das zugleich auch ein dringender Appell, wirklich bewusst zu leben, und zwar mit der Freude einer allumfassenden Liebe, die das Leben erst lebenswert macht.
Ich bin im Schoß der Menschheit, meiner Familie, auf dieser Erde geboren.
Einzig der Altruismus motiviert mich, zum Wohl aller Lebewesen zu handeln und dadurch meine universelle Verantwortung wahrzunehmen. Innerer Friede, Nächstenliebe und Mitleid stellen nicht nur ein edles Ideal dar, sondern sind im Schoß der neuen Wirklichkeit auch eine ganz pragmatische Lösung. Diese Werte gewährleisten es, die Auflösung des sozialen Bandes und die Zerrüttung des solidarischen Zusammenhalts zu verhindern und das Allgemeininteresse zu wahren. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit führt mich zur Einsicht, dass die sicherste Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung der Welt auf meiner persönlichen Praxis beruht, zusammen mit anderen im Geist des inneren Friedens, der Liebe und des Mitleids zu leben und zu handeln. Damit bestärke ich in der Schicksalsgemeinschaft der Menschheit die Hoffnung und Zuversicht.
Ich bin als Kind des Lebens im Schoß des großen natürlichen Friedens auf dieser Erde geboren.
Ich fühle mich im Zeitalter des Internets und der weltweiten Verknüpfungen von der technisch-ökonomischen Kultur manipuliert und instrumentalisiert, und deswegen kommt mir zu Bewusstsein, dass ich die Weisheit einer universellen Verantwortung an den Tag legen muss, die auf jener Kraft der Wahrheit und Liebe beruht, die Mahatma Gandhi als satyagraha bezeichnet hat.
Satyagraha soll meine gewaltfreie Waffe gegen das Unrecht sein. Denn sobald mich die Wahrheit erfasst, um sich durch mich Ausdruck zu verschaffen, bin ich unbesiegbar. Indem ich im Alltag aus dem Geist des satyagraha lebe, werde ich mitten unter anderen und gemeinsam mit ihnen zum Baumeister des Friedens, der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Als eingeborener Bürger der Welt übernehme ich eine neue mitbürgerliche Verantwortung dafür, dass die neue Realität einer brüderlich-schwesterlichen Welt anbricht.
von Sofia Stril-Rever
In der gotischen Anlage von Oxford, wo ich auf die Ankunft des Dalai Lama warte, recken die Bäume ihr üppiges Laubwerk dem Himmel entgegen. Ihre Blätter zittern im leisen Wind wie offene Weisheitsbücher, während ihre Wurzeln ihr Geheimnis unter dem üppigen Rasen des Bodens verbergen.
Das Magdalene College ist ein Meisterwerk aufwändiger Architektur, die Frucht eines großartigen Zusammenspiels von Kunst, Natur und Zeit. Es trägt den Namen Maria Magdalenas, der biblischen Heiligen, die als Erste den auferstandenen Jesus im Garten bei Golgatha wiedersah und die Frohbotschaft von seiner Auferstehung den niedergeschlagenen Aposteln brachte. In der anglikanischen Kirche wird sie als Inkarnation der heiligen Weiblichkeit verehrt; die ersten englischen Universitäten Oxford und Cambridge wurden nach ihr benannt.
»Meine gute alte Freundin!«, ruft der Dalai Lama aus, als er mich sieht. Er drückt mich an sein Herz. Jede unserer Begegnungen – zählen kann ich sie schon gar nicht mehr – ist so neu, wie es alle bisherigen waren. Die erste erlebte ich in Dharamsala am Ostermontag im April 1992. An diesem Tag, an dem die Christen den Übergang ins wahre Leben feiern, war der Dalai Lama, von dem ich damals noch wenig wusste, aus einer großen Menschenmenge heraus, die sich zu einer tibetischen Oper versammelt hatte, auf mich zugekommen. Er hatte mich fest an sich gedrückt. Während dieser kurzen Umarmung war die Zeit für mich stillgestanden. Eine Stimme aus dem Nirgendwo und Überall hatte mir den Befehl gegeben: »Heraus!« Das war eine unbeschreibliche Erfahrung, die mein ganzes Denken und alle seine Vorstellungen herausforderte. Sie verlieh mir die Kraft, über den Geist der Abtrennung hinauszugehen, einen Geist, der abspaltet, absondert und Gegensätze aufstellt. Diese Kraft machte alle meine Grenzen, Ängste, Zweifel und Vorbehalte zunichte und lenkte mein Geschick in eine Richtung, die ich ganz und gar nicht vorausgesehen hatte.
23 Jahre danach, am Dienstag, dem 15. September 2015, vernehme ich wieder diesen Befehl: »Heraus!« Der Anspruch liegt dieses Mal auf einer Ebene, auf der ich ins Wanken komme, zugleich aber spüre ich auch, dass mich eine Woge des Vertrauens erfasst. Da überlasse ich mich ohne jeden Vorbehalt der grundlegenden Güte des Lebens, die mir die Gegenwart des Dalai Lama vermittelt, und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. Zu meiner großen Überraschung erlebe ich in den nachfolgenden Minuten, dass er nicht bloß die Uhrzeit unseres Interviews ändert, sondern sogar das Protokoll! Er wendet sich an den Präsidenten des Magdalene College und dessen Gattin und bittet sie, mich bei ihnen zum Essen einzuladen.
Der hohe, nüchterne Speisesaal ist von strenger Eleganz und hat Gewölbebogen wie ein Kirchenschiff. Erhellt wird er von einer Reihe von gotisch gerippten Maßwerkfenstern. Büsten und Porträts entschieden dreinblickender Würdenträger schmücken den Raum – ernste und eindrucksvolle Vertreter einer Geschichte, die inzwischen weit über sie hinausgegangen ist. Sie sollten die stummen Zeugen dieses Besuchs des im Exil lebenden Souveräns vom Dach der Welt sein.
Der Präsident nimmt am oberen Ende eines massiven Eichentischs Platz und fordert das geistliche Oberhaupt der Tibeter auf, sich zu seiner Linken zu setzen, und mich, zu seiner Rechten. Bei dem Gedanken, dass ich zusammen mit dem Dalai Lama und seinem jüngeren Bruder Tenzin Choegyal an einem Tisch speisen soll, bekomme ich regelrechtes Herzklopfen. Seinem Bruder war ich bereits 2008 auf der Tournee mit dem Film »Renaissance«1, der von der Wiedergeburt handelt, begegnet, und er hatte mir Fotos gezeigt, die seine Flucht an der Seite des Dalai Lama verewigten. Die beiden hatten sich im März 1959 als tibetische Soldaten verkleidet, um der Treibjagd der Volksbefreiungsarmee zu entkommen, und waren über das Himalaya-Gebirge entflohen. Ihr Exil in Indien, eigentlich nur als vorübergehend vorgesehen, hatte sich nun bereits über ein halbes Jahrhundert hingezogen. Tenzin Choegyal nimmt an den »Mind & Life«-Dialogen, die der Dalai Lama zusammen mit renommierten internationalen Wissenschaftlern ins Leben gerufen hat, seit ihren Anfängen teil.2
Die Atmosphäre des Essens entspannt sich rasch, als sich der Dalai Lama auf seinem Stuhl umdreht und mit schallendem Lachen sagt: »Ich habe doch gemerkt, dass da jemand ist!« Daraufhin umarmt er den Kopf einer weißen Marmorbüste und tut so, als wolle er ihm den steinernen Bart abziehen. Ich meine, die Züge Shakespeares erkannt zu haben, jenes Dramatikers, der die herzzerreißenden Leidenschaften unserer Menschenseele in Szene gesetzt hat. Die Büste steht auf einem kleinen runden Tisch vor einem Uhrwerk, das die feierliche lateinische Aufschrift trägt: Pereunt et Imputantur, »Sie vergehen und werden angerechnet«. Dieser Spruch des römischen Dichters Martial weist auf das unvermeidliche Vorübergehen der Stunden hin, für die wir verantwortlich sind. Es ist eine Erinnerung an die Unbeständigkeit, diese Grundlehre des Buddha, mit der er uns dazu auffordert, uns nicht an die Phänomene dieser Welt zu haften, da sie innerlich nicht von Bestand sind.
Der Dalai Lama wendet mir sein Gesicht zu, dieses Gesicht mit seinen von der Praxis der Kontemplation fein ziselierten Zügen, die eine konzentrierte Strenge von großer Sanftmut verraten. Liebenswürdig blickt er mich an. Er kommt auf unser Buch Der Appell des Dalai Lama an die Welt3 zu sprechen, das ich anhand seiner jährlichen Ansprachen anlässlich des Gedenktags an den Aufstand von Lhasa am 10. März verfasst habe und das erst vor Kurzem ins Englische übersetzt worden ist.4 Plötzlich sehe ich in seinem Blick ein schelmisches Aufleuchten, und er sagt neckisch zu mir: »Na, wird dann also das dritte Buch wieder genauso dick wie die beiden vorigen? Wird mich dieses Buch wieder viel Zeit kosten? Tatsächlich gibt es ja angesichts aller meiner Verlautbarungen zu den Fragen der Ökologie schon sehr viel Stoff. Das Büro für Umwelt und Entwicklung der tibetischen Zentralverwaltung hat sie übrigens alle in einem Dokument zusammengetragen, das uns helfen wird.5 So bleibt es mir erspart, all das noch einmal zu wiederholen, was ich bereits gesagt habe. Damit gewinnen wir beide viel Zeit. Ich gebe ja meinen Biografen ganz schön Arbeit!«
Und er bricht in schallendes, ansteckendes Gelächter aus.
Ich bedanke mich beim Dalai Lama dafür, dass er mich autorisiert hat, seine spirituelle Autobiografie6 zu schreiben: »Eure Heiligkeit, aus der Redaktion dieses Buches habe ich vor allem gelernt, dass man mit dem Menschwerden nie an ein Ende kommt. Es ist keine Kleinigkeit, dies von einer Persönlichkeit gesagt zu bekommen, die in der Stammlinie des erwachten Mitgefühls in ihrer vierzehnten Inkarnation lebt.«
Der Dalai Lama gibt mir die bescheidene Antwort, es sei nichts Besonderes daran, unermüdlich an seiner eigenen Verbesserung zu arbeiten. Aber es ist eine Botschaft von großer Demut, dazu aufzurufen, sich Tag für Tag zum Guten zu verbessern.
»Angesichts unseres zweiten Buchs Appel au monde habe ich den gewaltfreien Kampfesmut ermessen, den Sie seit mehr als einem halben Jahrhundert aufbringen. Wie Sie von den Anfängen Ihres Exils in Indien an unermüdlich gesagt haben, Ihre einzigen Waffen seien die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die feste Entschlossenheit. Manche Staatschefs haben Kriege gewonnen, Sie dagegen den Frieden.«
Der Friede ist für den Dalai Lama der Triumph der Wahrheit, wie das die Verleihung der Goldmedaille durch den amerikanischen Kongress am 17. Oktober 2007 in Washington zeigte. Das Oberhaupt der tibetischen Exilregierung, dem die offizielle Anerkennung als Staatsoberhaupt verweigert bleibt, legte eine eindrucksvolle Vornehmheit und Würde an den Tag, denn er stand ganz zu seinem Menschsein. Neben ihm war George W. Bush nur der Präsident der Vereinigten Staaten. Angesichts der stillen Kraft dieses Menschen, der sich im Namen von sieben Milliarden zu Wort meldete, geriet Präsident Bush mit seiner bedeutenden Funktion spürbar auf den zweiten Platz. Würden sich alle Staatschefs weltweit vor Augen halten, dass wir alle Menschen sind, könnte unser Planet dadurch verwandelt werden. Indem der Dalai Lama sich zu seinem Menschsein bekennt, spricht er zudem auch uns allen das unsrige zu:
»Eure Heiligkeit, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie den Friedensnobelpreis und die Goldmedaille des Kongresses dafür erhalten haben, dass Sie wirklich Mensch sind, denn damit haben Sie mit Ihrem Friedenswerk alle diejenigen verbunden, die sich in der Wahrheit und denjenigen menschlichen Werten wiederfinden, die Sie verkörpern. Ich habe deswegen in aller Eile das Buch der Freude gelesen, das Sie zusammen mit Bischof Desmond Tutu geschrieben haben und in dem Sie betonen, dass wir Sie damit beglücken, im selben Zeitalter wie Sie zu leben. Dieselbe Freude empfinden auch all die vielen Zuhörer bei jeder Ihrer Unterweisungen, und auch für mich ist es ein Glück und eine Ehre, dass Sie mir aufs Neue Ihr Vertrauen schenken, dass ich Ihre Botschaft ein drittes Mal an die Menschheit vermittle.«
Scherzhaft sagt der Dalai Lama, er werde das Buch von mir an seiner Stelle schreiben lassen. Er erinnert sich an die Audienz, die er mir 2010 in Dharamsala gewährt hatte. Am 29. September dieses Jahres hatten mir Mönche seines Privatklosters Namgyal einen ihrer zeremoniellen Präsentierteller aus kostbarem Holz geschenkt. Wir hatten damals die ausländischen Übersetzungen der Spirituellen Autobiographie – in rund zwanzig Sprachen – zusammengesucht. Ein Stapel, der so schwer war, dass mir einer der Mönche geholfen hatte, ihn bis vor die Schwelle des Audienzsaales zu tragen, damit ich sie dem Dalai Lama vorstellen konnte. Er hatte die verschiedenen Exemplare durchgeblättert und dann gefragt, wo die chinesischen und vietnamesischen Übersetzungen seien – also genau diejenigen, die fehlten. Und er hatte betont, wie wichtig es sei, dass sein Buch so bald wie möglich in diesen Sprachen erscheine.
Im Lauf unseres Gesprächs vom 29. September 2010 hatte ich den Dalai Lama gefragt, ob es ihm recht sei, ein Manifest der universellen Verantwortung für unsere Zeit zu verfassen. Er schlug daraufhin vor, einen Text zu schreiben, der sich anhand einer Reflexion über die tieferen Ursachen des derzeitigen Zusammenbruchs der Biosphäre entwickle – also der dem Menschengeist innewohnenden Ursachen, die zu erkennen die Übung der Meditation lehre:
»Die Umweltkatastrophen und die Art und Weise, wie wir von ihnen betroffen werden, sind der Widerschein unserer konfliktreichen und destruktiven Denkweisen, die auf einem egoistischen Trachten nach Wohlstand und Profit beruhen. Das Manifest sollte sich an das Beste in uns richten und zu einer Meditation über unsere wechselseitige Abhängigkeit mit den anderen menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen einladen.
Allein das wache Bewusstsein, dass die Welt eine Einheit ist, ermöglicht es, eine Haltung des Wohlwollens und der Verantwortung zu gewinnen, die dazu beiträgt, die Umweltschädigung auf der Erde und die sich daraus ergebenden Leiden einzuschränken.«
Das lässt den Dalai Lama aufhorchen und er stellt mir fünf Jahre danach die Frage, ob ich ihm sagen könne, warum ich so sehr auf die Abfassung eines Manifests der universellen Verantwortung dränge.
»Dazu hat mich der Ehrwürdige Samdhong Rinpoche7 angeregt. Er stellt die Lehre von der universellen Verantwortung als Ihren wichtigsten Beitrag zum Frieden in der Welt vor.«
Das räumt der Dalai Lama ein und erwidert lachend: »Dass ich einen Beitrag geleistet haben soll, kann man ja ruhig sagen, aber passen Sie auf, nicht von einem Vermächtnis zu sprechen!Ich erinnere mich an ein Interview mit der Leitartikelschreiberin einer großen amerikanischen Tageszeitung. Sie stellte mir die Frage, was ich der Menschheit als Wichtigstes vermachen wolle. Zunächst einmal erwiderte ich, dass ich nichts vermachen könne, da ich Mönch sei und folglich nichts besitze. Mir gehört nichts, und ich kann nichts vermachen. Aber sie kam mehrmals auf diese Frage zurück. Ich mochte noch so sehr dagegen Einspruch erheben, sie konnte einfach nicht aufhören, von einem Vermächtnis zu sprechen!«
Mit seinem heiteren und schalkhaften Wesen strahlt das geistliche Oberhaupt der Tibeter eine zeitlose Jugendlichkeit aus, als gäbe es für ihn kein Älterwerden. Man könnte sagen, die Jahre entledigen sich für ihn ihres Gewichts und machen sich so leicht wie nur möglich. Sie berühren kaum die Schultern dieser von der ganzen Welt hochgeschätzten Persönlichkeit, die sich weder etwas aus ihrer Bekanntheit macht noch aus ihrem fortgeschrittenen Alter, noch aus dem Heimweh nach dem verlorenen Heimatland. Wenn der Dalai Lama ein ehrwürdiger Weiser und zugleich ein junggebliebener Mensch ist, dann zweifellos, weil er das große, liebevolle Mitleiden ohne Grenzen oder Vorurteile verkörpert, wie es einst der heilige Inder und Dichter Shantideva feierte. Das Oberhaupt der Tibeter zitiert immer wieder gern die entsprechende Strophe aus dessen großem kontemplativen Werk Die Lebensführung im Geist der Erleuchtung, wie er das zum Beispiel in Oslo zum Schluss seiner Ansprache beim Empfang des Friedensnobelpreises 1989 getan hatte und fünfundzwanzig Jahre später wieder in Washington vor dem US-Senat:
So lange, wie der Raum dauern wird,So lange auch, wie die Lebeweisen bleiben werden,Möchte auch ich bleiben,Um die Leiden der Welt zu lindern.8
Als man dem Dalai Lama von Tibet, der zum Dalai Lama der ganzen Welt geworden ist, die Vorspeise aufträgt, entzückt er seine Gastgeber mit einer heiteren Erklärung:
»Heute bin ich der Dalai Lama von Oxford. Die Königin von England ist rund zehn Jahre länger als ich im Amt, und folglich schulde ich ihr Respekt. Aber ich fühle mich ihr und ihrer Familie sehr nahe. Denn in meiner frühen Jugend, als ich noch im Potala lebte, habe ich in Zeitschriften Fotos von ihr und ihrer Schwester, Prinzessin Margaret, gesehen. Seit der Intervention von Britisch-Indien 1904 in Tibet ist ein starkes emotionales Band zwischen unseren beiden Ländern geblieben. Und Prinz Charles bleibt ein großer Freund Tibets und der Tibeter, auch wenn wir ihn dieses Mal nicht treffen werden. Zusammen mit anderen wirkt er auf China ein, damit Präsident Xi im Dezember aufgeschlossen zur Klimakonferenz nach Paris kommt.«
Und er fügt scherzhaft hinzu:
»Hat es Prinz Charles denn nicht mir zu verdanken, wenn er auch in der chinesischen Presse große Aufmerksamkeit findet? Ich entsinne mich, wie er sich 1997 bei der Übergabe Hongkongs an China nicht scheute, die Führer des Kommunistischen Partei als ›windelweiche Vogelscheuchen‹ zu bezeichnen. Das hat damals einen denkwürdigen diplomatischen Sturm ausgelöst!«
Seine Heiterkeit steckt alle rings um den Tisch an. Ich frage ihn, ob er demnächst auch noch der Dalai Lama von Frankreich sein werde, denn dort würden wir in großer Runde zur Feier seines achtzigsten Geburtstags zusammenkommen. Er hatte erklärt, das schönste Geschenk, das man ihm zur Vollendung seines achtzigsten Lebensjahrs bereiten könne, sei das, im eigenen Herzen Mitgefühl zu entwickeln. Seit dem tibetischen Neujahrstag 2015 hatte er immer wieder die Kerzen seines Geburtstagsfests ausgeblasen, das man quer durch die Großstädte der Welt veranstaltet hatte und das zur triumphalen Feier des Mitgefühls geworden war. Das hatte in Delhi begonnen, wo ihn der indische Premierminister als »Geschenk für die Menschheit« begrüßt hatte, und es war weitergegangen bis hin zum Rockfestival von Glastonbury und den grandiosen Feierlichkeiten von Los Angeles, New York, Dallas, Tokio, Mailand, London und Frankfurt.
Mit einem Lächeln und ernsten Blick zugleich erwidert das geistliche Oberhaupt, mit achtzig sei er immer noch »ohne Vaterland«. Und er erinnert an ein tibetisches Sprichwort, das er besonders gern mag: »Überall, wo du glücklich bist, da bist du daheim. Alle Menschen, die gut zu dir sind, sind deine Familie.«
»Ich betrachte mich lieber als Menschenwesen, das sieben Milliarden anderer Menschen gleicht, statt als Tibeter oder Buddhist. Man muss in erster Linie sorgfältig darauf achten, dass man zu anderen keine Distanz schafft. Ich habe nicht die übernatürlichen Kräfte, die man mir allzu schnell angesichts meiner Stellung und meines Titels zuschreibt. Ich habe es eingeübt, jeden Menschen, dem ich begegne, als Bruder oder Schwester anzusehen.«
Zu Beginn seiner Vorträge und Lehren spricht der Dalai Lama im Übrigen die Zuhörerschaft mit einem herzlichen »Meine lieben Brüder und Schwestern« an. Das ist für ihn keine bloße Höflichkeitsfloskel, sondern Ausdruck seines echten Empfindens, ihr Mitmensch zu sein. Es schafft eine starke brüderliche Nähe, die das Publikum unwillkürlich spürt. Krishnamurti ging in dieser Hinsicht sehr weit und betonte, wenn man sich als Inder, Muslim, Christ oder Europäer bezeichne, sei das an sich bereits ein gewalttätiger Akt: »Und wisst ihr, warum?«, fragte er seine Anhänger: »Weil ihr euch damit vom Rest der Menschheit abtrennt, und diese Abtrennung, die ihr anhand eures Glaubensbekenntnisses, eurer Nationalität oder eurer Traditionen vornehmt, erzeugt die Gewalttätigkeit. Wer die Gewalttätigkeit ganz vermeiden will, gehört keinem Land, keiner Religion, keiner politischen Partei und keinem bestimmten System an. Ihm kommt es nur darauf an, ganz und gar zur Menschheit insgesamt zu gehören.«
Der Dalai Lama spricht mich auf den Zustrom von Syrern9 an, die ein verheerender Krieg vertreibt und die in Europa Asyl suchen:
»Ich selbst bin ja einer der ältesten Flüchtlinge auf der Welt! Mit sechzehn Jahren habe ich meine Freiheit verloren, mit 24 mein Land. Seit 56 Jahren lebe ich als Heimatloser. Aber ich hoffe immer noch und bleibe Optimist. Der Exodus von Tausenden von Menschen ist ein Problem, das sich heute stellt, dessen komplexe Gründe man jedoch in der Geschichte der Religionen, Kulturen und Politik des Nahen Ostens und deren Beziehungen mit den abendländischen Großmächten suchen muss. Die Aufnahme der Flüchtlinge kann nur eine vorübergehende Lösung sein. Sie wird sehr schnell zu neuen mehr oder weniger schweren Spannungen führen. Wie alle Flüchtlinge und wie auch wir haben die Syrer nur den einen Wunsch, in ihr Heimatland zurückzukehren und alles wieder aufzubauen, was darin zerstört worden ist. Das kann ich verstehen. Unbegreiflich an diesem Drama bleibt mir aber, dass der Glaube zum Vorwand für derart schlimme Massaker werden kann.
Wie kann man im Namen Gottes töten? Das ist doch undenkbar! Undenkbar! Wenn ich als Buddhist mit dem Gläubigen einer anderen Religion zu streiten anfinge, bekäme ich Angst, dass der Buddha mir zürnte, und das ließe mich unverzüglich verstummen!«
Angesichts der Zunahme der Fundamentalismen und des Wiederauflebens eines fanatischen Barbarentums legt der Dalai Lama ein nüchternes Urteil an den Tag. Da doch alle Religionen Mitleid, Liebe, Vergebung und Toleranz predigen, findet er es unbegreiflich, dass deren jeweilige Verantwortliche ihre Anhänger in angebliche »heilige Kriege« führen können:
»Die Religionen sind in sich nicht schlecht. Das Problem ist, dass die Gläubigen ihren Gott als den allerhöchsten ansehen. Sie stellen ihn sich als den einzig wahren Gott vor, den einzigen Gott, der den Menschen das Heil bringt. Diese Glaubensvorstellung ist schon seit mehreren Jahrhunderten veraltet, hält sich aber bis heute zäh. Richtig daran ist ja, dass der Einzelne seine Religion für sich als die allerbeste erachten kann, in dem Sinn, dass sie ihm am besten liegt. Wenn man davon überzeugt ist, hilft einem das, dank all der guten Eigenschaften der eigenen religiösen Praxis fruchtbar zu leben. Aber auf der Ebene der Menschheit insgesamt ist das überhaupt nicht sinnvoll. Es ist völlig unrealistisch, alle Gläubigen um eine einzige Wahrheit, einen einzigen Glauben scharen zu wollen. Einräumen muss man, dass es in mehreren Glaubenssystemen mehrere Wahrheiten gibt, die alle für die größtmögliche Zahl fruchtbar sind. Heute zählen wir rund eine Milliarde Muslime und etwas mehr als eine Milliarde Christen. Hindus gibt es nahezu 600 Millionen und Buddhisten zwischen 800 und 900 Millionen.
Man kann nicht die eine Million zugunsten der anderen eliminieren, das wäre unrealistisch; im Gegenteil: Man sollte sich freuen, dass es auch andere Religionen gibt, man sollte sie genauer kennenlernen und wertschätzen. Es ist unzulässig, sich einer Religion zu bedienen, um damit das Massaker an den Gläubigen einer anderen Religion zu rechtfertigen … Das ist schrecklich … wirklich schrecklich.«
Ein Schleier der Traurigkeit überzieht den Blick des Dalai Lama. Der derzeitige Krieg im Nahen Osten setzt ihm schwer zu. Er hat unaufhörlich geäußert, dass das 20. Jahrhundert mit seinen insgesamt 231 Millionen Kriegstoten das Jahrhundert des Blutbads war. Das geistliche Oberhaupt der Tibeter hat die entsetzliche Lektion daraus gelernt und seine Gesprächspartner – Staatschefs und einfache Bürger gleichermaßen – immer aufgefordert, sich mittels Dialog als Bauleute des Friedens zu betätigen. Aber angesichts der starken Zunahme des religiösen Fundamentalismus ist er zu der Überzeugung gekommen, dass die Religion um der Zukunft der Menschheit willen an die zweite Stelle rücken müsse – zugunsten der Menschenrechte. Der Titel seines letzten Buches Ethik ist wichtiger als Religion10 sagt das ganz deutlich. Hier konstatiert er, dass die Religion allein nicht in der Lage ist, eine den Realitäten der heutigen Welt angemessene Ethik zu begründen, weil inzwischen mehr als ein Drittel der Menschen Agnostiker sind. Deswegen müsse man ein moralisches Wertesystem schaffen, das zu keiner Religion im Widerspruch stehen, aber auch von keiner abhängig sein dürfe. Das ist die Grundlage seiner Ethik für eine geeinte Welt.
Ich beobachte Tenzin Choegyal. Mit seinem lebhaften Gesicht und den hohen, hervorstehenden Wangenknochen gleicht er seinem großen Bruder. Und ich bin immer gespannt auf einen Kommentar oder eine Bemerkung von seiner Seite, denn er ist für seine vernichtenden Sprüche bekannt und scheut sich nicht vor aufsehenerregenden Aussagen über die Starrheiten des religiösen Systems, ohne dabei die Institution der Dalai Lamas zu verschonen, dieses »Vatikan im Himalaya, dessen Verfallsdatum abgelaufen ist«. So die Formulierung, die er einmal dem indischen Autor Pankaj Mishra mit auf den Weg gab, damit er sie dem Dalai Lama ausrichte. Der widersprach dieser Formulierung seines Bruders keineswegs, sondern griff sie freudig auf:
»Alle religiösen Einrichtungen, die meine eingeschlossen, haben sich in einem feudalen Kontext entwickelt. Durch ihre Hierarchie wurden sie verdorben und begannen zwischen Männern und Frauen Unterschiede zu machen. Sodann ließ man sich auf Kompromisse mit der Macht ein und etablierte Missbräuche wie die Scharia oder das Kastensystem. Aber die Zeiten haben sich geändert. Folglich müssen sich auch die Institutionen ändern. Darum habe ich die Institution der Dalai Lamas energisch und freiwillig beendet. Ich stimme der Überzeugung zu, dass sie überholt ist.«11
Vier Jahre später, 2015, bekräftigte der Dalai Lama den tieferen Grund seines Rückzugs aus dem politischen Leben, den er am 10. März 2011 in Dharamsala angekündigt hatte. Es war tatsächlich höchste Zeit, die Demokratisierung der tibetischen Exilregierung zu vollenden, die seit 1960 zunehmend verfallen war, und damit nach 369 Jahren die Theokratie zu beenden.12
Ohne Übergang schließt der Dalai Lama ein tiefgründiges Thema ab, um sich etwas Prosaischerem zuzuwenden: Er mischt seinen Reis auf dem Teller mit der frischen Soße, die ihm zusammen mit grünem Gemüse serviert worden ist. Ganz offensichtlich lässt er sich dieses Gericht schmecken, das tibetisch gewürzt ist, wie er sagt, und lädt alle anderen dazu ein, es ihm nachzutun. Die Gattin des Präsidenten des Magdalene College folgt ihm höflich und scheint das Schälchen zu schätzen, das er ihr rasch zubereitet hat.
Wieder ernst werdend, äußert der Dalai Lama, dass hinter jedem Reiskorn die Anstrengungen einer großen, gar nicht genau bekannten Anzahl von Menschen steckten. Dazu gehörten diejenigen, die die Triebe eingepflanzt und dann zum Reifwerden gepflegt hätten, stundenlang tief gebeugt, mit nackten Füßen in der Hitze der Reisfelder; sodann die vielen, die den Reis geerntet, ausgedroschen, verpackt und die Körner auf den Weg gebracht hätten. Nachdem mein vietnamesischer Tischnachbar seinen Teller sorgfältig geleert hat, lehnt er sich zufrieden zurück und erzählt, als Kind hätten ihn seine Eltern zur Achtsamkeit ermahnt: Würde er Nahrungsmitteln vergeuden, würde er in die Hölle kommen und dort jedes weggeworfene Reiskorn in Form eines Regenwurms essen müssen.
Ich fühle mich sicher genug, um die Erlaubnis einzuholen, ein Foto machen zu dürfen. Ungeschickt hantiere ich an meinem Mobiltelefon herum und sehe zwischendurch den Dalai Lama eine Pause machen, vor sich einen Teller mit Broccoli und grünen Bohnen. Er amüsiert sich über mein Staunen, scherzt und verstummt dann jäh. Sein Gesichtsausdruck hat sich verändert. Seine Jovialität ist großem Ernst gewichen, und schweren Herzens vertraut er mir an:
»So viele Kinder auf der Welt leiden unter Hunger. Ach, wenn man doch durch Meditation ihre Leiden beheben könnte! Das scheint eine übermenschliche Aufgabe zu sein, denn bekanntlich stirbt alle vier Sekunden ein Kind am Hunger … Wie soll man sich vorstellen können, dass man ihnen mit Meditation zu Hilfe kommen könnte?
Manche großen Heiligen und außergewöhnlichen Yogis verfügen über diese Fähigkeit, den Schmerz anderer zu stillen. Die Gedanken, die ein wohlwollender Geist aussendet, haben eine unglaubliche Kraft. Ein vom Hunger gepeinigtes Kind spürt ja das Leiden in seinem Geist. Aber weil der Geist des Kindes es ist, der das Leiden verspürt, kann unser Geist ihm Liebe und Mitleid senden, wodurch es getröstet wird. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie sehr wir alle miteinander verbunden sind, uns nahestehen und untereinander verknüpft sind. Die feste Entschlossenheit, das Leiden anderer zu beenden und uns ihrer anzunehmen, beeinflusst unseren Geist positiv. Diese Absicht verstärkt dann den Willen, auf die Ebene zu kommen, auf der man fähig wird, den anderen wirklich zu helfen.«
Allen in der Tischrunde ist die Lust am Essen vergangen. Wir hören schweigend dem Dalai Lama zu, der fortfährt und dabei zärtlich die Hand der Gattin des Präsidenten des Magdalene College fasst:
»Gewiss, Meditation und Gebet allein genügen nicht. Der Hunger auf der Welt ist kein blindes Schicksal. Es handelt sich um ein von den Menschen geschaffenes Problem, und folglich sind sie dafür verantwortlich, es zu lösen. Es wäre zu einfach, wenn wir den Buddha oder Gott bitten würden, unsere Fehler zu bereinigen. Könnten wir sie hören, würden wir von ihnen bestimmt die Aufforderung vernehmen: ›Strengt euch gefälligst an! Findet die Lösung, ihr habt dieses Problem ja auch geschaffen!‹
Die Menschen verhalten sich derart unlogisch. Sie sind auf das Glück aus, ohne zu begreifen, dass sie, um es zu erreichen, entsprechende Ursachen und Umstände schaffen müssen. Aber statt Ursachen des Glücks sammelt der Großteil von ihnen unablässig Ursachen des Leidens an!«
Der Dalai Lama hat diese letzten Sätze ziemlich leicht und geradezu spielerisch dahingesagt. Wieder einmal bin ich von seiner Fähigkeit fasziniert, von Momenten sichtlicher Heiterkeit jäh in solche abgründiger Traurigkeit zu wechseln. Er kann den Kopf zurückneigen und die Kehle recken, sich langen und tiefen Lachanfällen hingeben, um dann binnen weniger Augenblicke wieder auf ein ganz ernstes Thema zu kommen, das ihn zu Tränen rührt. Ich kann mir gut vorstellen, wie ratlos es manche seiner Gesprächspartner macht, wenn sie sich mit einer Abfolge solcher völlig gegensätzlicher Stimmungslagen konfrontiert sehen.
Unwillkürlich mag einem der Gedanke kommen, dass dieses Verhalten das Resultat seiner Praxis des Nichtanhaftens an Emotionen ist, weder an angenehmen noch an unangenehmen. Das heißt nicht, dass er alle Abneigung ausgeschaltet hätte, er hat sich vielmehr dazu entschlossen, sich nicht dabei aufzuhalten, er will sich also nicht an Impressionen klammern, die wie ein Film vorüberziehen, der unablässig etwas in unseren Geist projiziert. Das Ziel der Meditation ist es, uns immer wieder in die offenen und geräumigen Freiräume unseres Bewusstseins zurückzulenken und uns dabei nicht von Konditionierungen und Automatismen überschwemmen zu lassen, die den Fluss des Geistes einschränken. Außerhalb der aufdringlich sich ständig wiederholenden fixen Denkmuster, so heißt es, ist der Geist wie ein Vogel, dessen Flugbahn über den Himmel keinerlei Spur hinterlässt.
Mir kommt die Erklärung des sechzehnten Karmapa in den Sinn, des Oberhaupts der Linie der »bewussten Wiedergeburten« und zweiten Hierarchen des tibetischen Buddhismus. Nachdem er die Schrecken der Besetzung durch die Chinesen und das Exil durchgemacht hatte, international bekannt worden war und schließlich mehrere Krebserkrankungen durchgestanden hatte, behauptete er am Ende seines Lebens, es sei darin »überhaupt nichts passiert«.
Nichts war darin passiert, weil alles darin passiert war. Die Abfolge aller Ereignisse während seiner Existenz hatte sich abgespielt, ohne dass sie in seinem Bewusstsein irgendeine Spur hinterlassen hätten, denn dieses war frei und offen gewesen für den grenzenlosen Raum der wachen Gegenwart.
Der Dalai Lama kommt auf unser Buch zurück, das er bald erschienen wissen will. Es ist ihm so dringlich, dass er den Termin unseres Treffens, das eigentlich für 2016 vorgesehen gewesen war, vorverlegt hat. Die Umweltkrise ist gravierend, wir durchlaufen eine für die Zukunft der Menschheit ungemein kritische Phase. Er fragt mich, ob ich Neues über das interreligiöse Treffen erfahren hätte, von dem vorgesehen gewesen war, es in Paris vor der Weltklimakonferenz im Dezember 2015 zu veranstalten.
Ich hatte Matthieu Ricard von diesem Ereignis reden hören, bei dem der Papst, der Dalai Lama, der südafrikanische Bischof Desmond Tutu und andere erstrangige geistliche Persönlichkeiten zusammentreffen sollten. Aber aus diplomatischen Gründen war es dann nicht möglich gewesen, dies weiter zu verfolgen. Niemand wollte das Risiko eingehen, China mit der Einladung des Dalai Lama zu irritieren und dadurch die Weltklimakonferenz zu gefährden, denn diese führende wirtschaftliche Weltgroßmacht hätte die Dynamik der Verhandlungen lähmen können.
Das Oberhaupt der Tibeter betonte nüchtern, diese Zusammenhänge vollkommen zu verstehen. Das Wichtigste sei ja nicht, ob er an der soundsovielten internationalen Versammlung teilnehme oder nicht, sondern dass die Umstände so günstig wie möglich seien, damit sich China konstruktiv auf die komplexen Verhandlungen über Maßnahmen gegen die zunehmende Erderwärmung einlasse. Sodann kam der Dalai Lama auf die Meinungswechsel der »Realpolitik« zu sprechen, die er nur zu gut kannte, und das mit seiner besonderen Fähigkeit, über die er anscheinend in unerschöpflichem Maß verfügte, nämlich immer mit einem Lächeln über die Peinlichkeiten hinwegzugehen, die ihm das politische Establishment bescherte.
Ein Freund, dessen Namen er nicht nannte, war Präsident einer buddhistischen Republik der ehemaligen Sowjetunion.13 Bei einem Treffen in der Schweiz hatte er ihn zu einem Privatbesuch eingeladen.
»Am Schluss unseres Aufenthalts in der Schweiz sagte mir mein Sekretär, die Maschine des Präsidenten erwarte uns am Morgen des nächsten Tages. Aber im Morgengrauen rief mich der Präsident mit zerknirschter Stimme an. Er erging sich in Entschuldigungen und berichtete mir, am Vorabend habe Hu Jintao Präsident Putin angerufen und die Annullierung meines Besuchs verlangt. Er habe das anordnen müssen, um nicht gegen die Direktiven des russischen Präsidenten zu verstoßen, der sich wiederum an die Forderungen des chinesischen Staatschefs halten müsse. ›Kein Problem!‹, habe ich zu ihm gesagt. ›Ich nehme die Dinge an, wie sie sind.‹«
Weit davon entfernt, sich an diplomatischen Sackgassen zu stoßen, amüsiert sich das Oberhaupt der Tibeter darüber … selbst dann, wenn andere an seiner Stelle entscheiden und dabei meinen, es sei zu seinem Nachteil:
»Wo immer ich hinkomme, besteht meine Absicht darin, Öffentlichkeit zu finden, um die Werte des Menschseins zu fördern, wie etwa den Frieden, das Verzeihen, die Liebe und das Mitleid. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, die sieben Milliarden Menschen auf der Erde als Mitglieder einer einzigen Familie anzusehen. Angesichts all der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, müssen wir nach dem suchen, was für die ganze Welt heilsam ist und nicht nur für das eine oder andere Land. Wenn ich ein politisches Projekt hätte, könnte ich mich enttäuscht fühlen, aber das ist nicht der Fall. Wenn mich Staatenlenker wie Präsident Obama besuchen, ist das gut, aber ich möchte niemandem Probleme bereiten. Ich bin ein einfacher buddhistischer Mönch, und ich freue mich, dass mich so viele einfache Menschen aufsuchen. Die Welt gehört allen, nicht nur den Staatschefs.«
»Wie ist heute Vormittag Ihre Begegnung mit den chinesischen Studenten verlaufen?«, fragt ihn der Präsident des Magdalene College.
Der Dalai Lama, den die Propaganda der Kommunistischen Partei als »Wolf in Mönchskutte« beschreibt, zeigt sich erkennbar glücklich darüber, dass er die Gelegenheit hatte, vor rund fünfzig jungen Chinesen zu sprechen. Er hat ihnen die drei großen Verpflichtungen seines Lebens vorgestellt. Als Mensch sieht er sich im Dienst der menschlichen Werte, um Ursachen für das Glücklichsein zu schaffen. Als buddhistischer Mönch setzt er sich für die Harmonie zwischen den Religionen ein sowie dafür, dass die inneren Wissenschaften des Geistes und der Gefühle gelehrt werden. Und zudem möchte er als geistliches Oberhaupt der Tibeter zum Erhalt der Sprache und ursprünglichen Kultur Tibets beitragen:
»Das Tibetische ist die Sprache, in der auf dem Weg über die Weisen der Universität von Nalanda die reiche Tradition der Exegese der buddhistischen Schriften erhalten geblieben ist.14 Alle diese Texte des Kanons sind ein Schatz für die Menschheit, denn sie stellen ein einmaliges Verständnis des Geistes und der Gefühle dar, an das andere Denksysteme nicht heranreichen. Zudem ist nur die tibetische Terminologie dafür geeignet, diese großen Texte wirklich präzise zu interpretieren.«
Tenzin Choegyal stimmt seinem Bruder zu. Es sei der Beweis einer bedauerlichen Geistesenge, wenn man das Tibetische auf »eine Sprache von Separatisten und Feinden des Mutterlandes« reduziere, wie es im offiziellen Sprachgebrauch der Kommunistischen Partei Chinas heiße.
Der Dalai Lama wendet sich an mich: Ob ich eine überraschende Erklärung des Präsidenten Xi Jinping anlässlich seines Staatsbesuchs 2014 in Paris bemerkt hätte? Ich lächle, denn ich weiß, worauf er anspielt. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas hatte in einer ungewöhnlichen Abweichung vom atheistischen Kurs der Partei eingeräumt, dass der Buddhismus beim Erhalt der chinesischen Kultur eine wichtige Rolle spiele.
»Es stimmt ja«, sagte der Dalai Lama dazu, »dass China der buddhistischen Tradition angehört. Bei meinem Besuch Chinas im Jahr 1954 habe ich mit eigenen Augen buddhistische Kultstätten gesehen. Heute zählt man in Kontinentalchina 400 Millionen Buddhisten, die sich mehrheitlich für das vajrayana15interessieren. Aufgrund unserer gemeinsamen Geschichte müssten die Völker der Han und der Tibeter eigentlich Freunde sein. Diese 400 Millionen chinesische Kommunisten sind für uns Grund zur Hoffnung, eines Tages so weit zu kommen, dass wir in friedlicher und demokratischer Koexistenz mit der Volksrepublik leben können.«
Die chinesischen Studenten hatten an diesem Vormittag dem Dalai Lama die Frage gestellt, wie er sich denn das Überleben des tibetischen Buddhismus vorstelle. Würde er der letzte Dalai Lama sein? Würde es keinen fünfzehnten mehr geben? Er hatte ihnen zur Antwort gegeben, dass der Buddhismus mehr als 2500 Jahre lang ohne eine Reinkarnation des Buddha überlebt habe. Er habe erst im siebten Jahrhundert in Tibet Wurzel gefasst, als es dort noch überhaupt keinen Dalai Lama gegeben habe.
Wir kommen auf das Buch zurück, und die Diskussion belebt sich. Ich entschuldige mich beim Präsidenten des Magdalene College und seiner Frau, dass ich zu viel rede, aber sie fordern mich höflich auf, nur weiterzumachen. Vielleicht sind sie ein wenig eingeschüchtert und haben nicht die gleiche Veranlassung wie ich, so viele Fragen zu stellen.
»Das Umweltthema ist ja spannend«, räumt der Präsident ein. »Heute stellt man schon gar nicht mehr die Frage, ob es die Klimaerwärmung tatsächlich gibt, es geht bereits darum, wie man sie einschränken und sich an sie anpassen kann.«