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Alle Welt kennt ihn: Doch was denkt und fühlt der Dalai Lama wirklich? In diesem Buch gibt er zusammen mit seinem langjährigen Vertrauten Dagyab Kyabgön Rinpoche Einblick in sein Denken, sein Fühlen und Handeln. Dieses umfassende Buch des XIV. Dalai Lama, das tief in das Herz des Buddhismus als universelle Lebenskunst führt, sucht seinesgleichen und wurde in zehnjähriger Arbeit aus unzähligen Unterweisungen, Gesprächen und Diskussionen zusammengestellt. Es ist sein großes Vermächtnis an die Welt.
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Seitenzahl: 889
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Dalai Lama
Dalai Lama
Die Essenz meiner Lehre
Zusammengestellt und herausgegeben von Dagyab Kyabgön Rinpoche
Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Ulrike Strerath-Bolz
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Stefanie Kösling / Tibethaus Deutschland e.V.
E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
ISBN Print 978-3-451-38772-2
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82878-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82882-9
Vorwort von Seiner Heiligkeit dem Vierzehnten Dalai Lama
Band 1
Band 2
Einleitung des Herausgebers Dagyab Rinpoche
Vorwort und Danksagung des Tibethaus Deutschland
Einleitung des Übersetzers ins Englische
Der Dalai Lama als Wissenschaftler
Interaktion mit dem Westen
Mut
Der Text
Dank
Technische Hinweise
Die Leistungen des Vierzehnten Dalai Lama
Die Größe seiner Taten, Worte und geistigen Qualitäten
Die wichtigsten gütigen Taten Seiner Heiligkeit
Kapitel 1 Die Grundlage des Glücks
Die Bedeutung des Mitgefühls
Die Bedeutung des Erkennens
Die Wirkung von Liebe und Mitgefühl auf die Gesundheit
Die Bedeutung des Intellekts
Die Lage unserer Welt
Die Rolle der Medien
Zwei Arten, das Ich wahrzunehmen
Formen des Mitgefühls
Ethisches Verhalten ist wie Wasser – Religion ist wie Tee
Mutter und Kind
Gegenseitige Abhängigkeit
Schutz der Umwelt
Die Einheit der Menschheit
Kapitel 2 Religion
Interreligiöse Harmonie
Keine Religion ist „die beste“
Glaube auf Grundlage der Vernunft
Die Essenz der Religion
Religion und Gesellschaft
Die Verantwortung der Gesellschaft
Gläubige und Ungläubige
Kapitel 3 Wissenschaft
Die Beschaffenheit der Wissenschaft
Buddhistische Wissenschaft
Das Interesse der Wissenschaft am Buddhismus
Die gemeinsame Basis von Buddhismus und Wissenschaft und der Wert einer gegensätzlichen Kraft
Grundlage, Pfad und Ergebnis in buddhistischen Schriften
Grundlegende Realität
Bewusstsein
Neuronen und Geist
Sinnesbewusstsein und begriffliche Erkenntnis
Kapitel 4 Das Universum
Kapitel 5 Die philosophischen Grundlagen der Weltreligionen
Fragen über das Selbst
Hat das Selbst einen Anfang?
Hat das Selbst ein Ende?
Kapitel 6 Die Pāli- und die Sanskrit-Traditionen
Der Buddhismus in Tibet und Nālandā
Kangyur und Tengyur
Ein Gebet an die siebzehn großen Pandits des glorreichen Nālandā
Die Nālandā-Tradition ist nur in Tibet erhalten
Eine Absicht
Tibet, Mongolei und China
Die Ausbreitung der tibetisch-buddhistischen Tradition in anderen Teilen der Welt
Die einheimische Bön-Religion
Kapitel 7 Die Pfade von Sutra und Tantra
Die drei Schulungen
Die fünf Pfade
Die vier Tantra-Klassen
Eigenschaften des Vajrayana-Pfades
Zwei Schriftzitate zum Tantra
Wer sollte Tantra praktizieren?
Das große Fahrzeug ist das Wort des Buddha
Anrufung von Göttern und Geistern
Kapitel 8 Die Essenz des Buddhismus
Die drei Arten von Bedingungen
Die vier Arten logischer Gründe
Die vier Abhängigkeiten
Buddhistisches Verhalten des Nicht-Schädigens
Die vier Wahrheiten und die zwei Wahrheiten
Die drei Arten des Leidens
Die vier Siegel
Die Bedeutung von „Dharma“
Vernunft ist wichtiger als Vertrauen
Buddhisten des 21. Jahrhunderts
Studium, Praxis und Bewahrung des Buddhismus durch Laien
Eine Ungleichbehandlung der Geschlechter und eine Verachtung von Frauen widerspricht buddhistischen Grundsätzen
Große Frauen der tibetischen Geschichte und Literatur
Auszüge aus Geschichten der Tibetischen Frauen
Die einzigartigen Merkmale der tibetischen Tradition
Eine Zusammenfassung von Wegweiser für die Welt von heute – Die Essenz meiner Lehre
Einleitung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Anhang 1: Ausgewählte Texte der 17 Pandits von Nalānda – zusammengestellt von Dagyab Rinpoche
Anhang 2: Die Stufen des Voranschreitens auf den Pfaden des Kriyā-Tantra
Anhang 3: Die Stufen des Fortschreitens auf den Pfaden des Anuttarayoga-Tantra
Glossar
Literaturverzeichnis
Indische Abhandlungen
Tibetische Quellen
Werke, die für die englische und deutsche Ausgabe herangezogen wurden
Register
Kurze Biografie Seiner Heiligkeit des XIV. Dalai Lama
Kurze Biografie Seiner Eminenz Loden Sherab Dagyab Kyabgön Rinpoche
Über den Autor
Der erste Band von Die Essenz meiner Lehre1 umfasst eine detaillierte Erklärung allgemeiner Punkte im Zusammenhang mit buddhistischen Vorstellungen. Er enthält eine Einführung für heutige Buddhisten in die wichtigen und grundlegenden Aspekte der philosophischen Lehren von Śākyamuni Buddha, Erklärungen zur Realität der grundlegenden Existenz, wie sie vom Buddhismus und der modernen Wissenschaft dargestellt werden, und Möglichkeiten, die Essenz des Buddhismus in das tägliche Leben zu integrieren.
Der zweite Band wurde auf der Grundlage einer Analyse der heutigen Realitäten verfasst und besteht aus ergänzenden Anmerkungen zu dem wunderbaren Werk Mañjuśrīs mündliche Anweisungen, einer Exegese über den Lamrim oder die Abhandlung über die Stufen des Pfades des Großen Fünften Dalai Lama. Sie ist in der Auflistung enthalten, die als die „Acht großen Werke über die Stufen des Pfades“ bekannt ist.
Ich möchte ein wenig über die Gründe für diesen Ansatz sprechen. In unserem 21. Jahrhundert hat der wirtschaftliche Fortschritt die Völker dieser Welt zur Überwindung verschiedener unmittelbarer Schwierigkeiten in ihren Lebensverhältnissen geführt. Mithilfe unserer intellektuellen Fähigkeiten schmiedeten wir Menschen Allianzen, es wurden große Fortschritte in der Bildung errungen, und mit den enormen Anstrengungen, die durch die wissenschaftliche Forschung aufgewendet wurden, wurden große Fortschritte beim messbaren Verständnis der Funktionsweise der messbaren Außenwelt erzielt. Ähnliche messbare Verständnisse der Funktionsweise der inneren Welt des Geistes und der Erfahrung waren jedoch bisher nicht möglich. Doch die andauernde Suche nach Wegen dorthin, die durch ein wachsendes Interesse an diesen Bereichen gefördert wird, ist ein hervorragendes Zeichen.
Gleichzeitig gibt es jedoch das bislang beispiellose Phänomen des Klimawandels, es gibt Epidemien, Umwelt- oder Gesundheitsprobleme. Darüber hinaus plagen neue Probleme wie der Terrorismus die Welt. Und Tatsache ist, dass diese Probleme vom Menschen verursacht werden. Viele Regierungen, Gemeinschaften und Einzelpersonen, angetrieben von der Energie des Ärgers, der Gier und der falschen Vorstellungen, konzentrieren sich auf ihre unmittelbaren Bedürfnisse, ohne an den langfristigen Schaden zu denken, der entstehen kann. Darüber hinaus konzentrieren sie sich, besessen von einem intensiven Sektierertum, kurzsichtig auf den Nutzen Einzelner oder ihrer eigenen Gruppe und denken nicht an die Auswirkungen, die ihre Handlungen auf die globale Gemeinschaft haben werden. Es gibt keinen anderen Weg, diese Situationen zu lösen und zu verbessern, als den, das menschliche Denken und Verhalten zu transformieren.
Damit eine solche Transformation stattfinden kann, können wir uns an der Schulung der Ansichten und Verhaltensweisen beteiligen, die in religiösen Traditionen existieren. Insbesondere sollten wir daran arbeiten, anderen durch heilsame säkulare Handlungen zu nützen, die nicht unbedingt mit religiösen Traditionen verbunden sind: Liebe, Achtsamkeit, Rücksichtnahme, Zufriedenheit und Geduld sind die Grundhaltungen für ein Verhalten, welches anzunehmen oder aufzugeben ist. Diese heilsamen Verhaltensweisen finden sich in allen religiösen Traditionen, aber ihre Existenz ist weder von einer bestimmten Religion abhängig, noch entstehen sie aus diesen Religionen. Im Allgemeinen entstehen sie dadurch, dass sie die Grundlagen der Gesellschaft sind. [viii] Zum Beispiel wurde der Verzicht auf die zehn nichttugendhaften Handlungen in die buddhistische Praxis übernommen, weil diese zehn Handlungen – darunter Töten und Lügen – keinen Frieden, keine Harmonie und kein Glück in der Gesellschaft bewirken. Sie abzulehnen ist keine Erfindung des Buddha. Daher kann der Verzicht auf diese Handlungen als heilsames Tun eingestuft werden, das nicht speziell mit einer religiösen Tradition verbunden ist. Es gibt viele solcher Aktivitäten, und es ist hilfreich, sie als solche zu erkennen.
Unabhängig davon, ob wir einer religiösen Tradition folgen oder nicht, sehe ich es als Verpflichtung für uns alle an, das gemeinsame Ziel des kurz- und langfristigen Glücks anzuerkennen und zu verstehen, dass dies unsere gemeinsame Verantwortung als Individuen und Gemeinschaften ist. Viele Menschen haben keine Affinität zu religiösen Traditionen und neigen eher dazu, bestimmte Übungen zu meiden, als handele es sich um eine ansteckende Krankheit, nur weil sie aus einer religiösen Tradition stammen. Um für ihr eigenes Glück zu arbeiten, sollten diese Menschen versuchen, ganz grundlegende Übungen als praktische Methoden zur Herbeiführung von Frieden und Glück anzuerkennen. Wenn diese Methoden verschwinden würden, wäre das wirklich ein Verlust für die Menschheit. Es lohnt sich, zu experimentieren, um zu sehen, ob das stimmt oder nicht.
Menschen aller Art, ohne Unterschied, ob sie im religiösen Sinne gläubig sind oder nicht, ob sie jung oder alt, traditionell oder progressiv sind, ob sie an Veränderung glauben oder nicht, sind alle vereint in dem Wunsch, ein glückliches Leben in einer geordneten und anständigen Gesellschaft zu führen. Und wenn wir bedenken, dass es für dieses Unterfangen wesentlich ist, zum Wohle aller Wesen zu arbeiten, sollten wir es als unsere Verantwortung betrachten, all denen zu dienen, die ein Interesse daran zeigen. Da wir der Meinung sind, dass die Lehren des Buddha realitätsbezogen und durch Erfahrung überprüfbar sind, enthält dieses zweibändige Werk auch eine allgemeine Einführung in den Buddhismus in acht Kapiteln.
Seit vielen Jahren, wo auch immer ich mich auf der Welt gerade befinde, arbeite ich hart daran, drei große Verpflichtungen zu fördern, um von Nutzen zu sein. Die erste dieser Verpflichtungen besteht darin, zu versuchen, die dem Menschen innewohnenden und grundlegenden Qualitäten des Guten zu entwickeln. Die zweite Verpflichtung besteht darin, die Harmonie zwischen den Weltreligionen zu stärken. Die dritte bezieht sich auf das Engagement für das Wohlergehen Tibets. Diese drei stehen im Mittelpunkt dieses ersten Bandes und bilden den Kontext der Darstellung der allgemeinen und besonderen Punkte des Buddhismus, zusammen mit verschiedenen historischen Berichten. In dieser allgemeinen Erklärung finden sich Kapitel über die buddhistische Philosophie zur Realität der grundlegenden Existenz, über die Beziehung zwischen Buddhismus und moderner Wissenschaft und über die Frage, wie bestimmte buddhistische Übungen im Einklang mit den Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens in die Praxis umgesetzt werden können.
Ich werde kurz die grundlegenden Fragen erläutern, auf denen der Inhalt dieser acht Kapitel beruht. [ix] Die Bedingungen, die zu unseren vom Menschen verursachten Problemen führen, basieren darauf, dass wir heilsame Eigenschaften wie Liebe und Freundlichkeit, die uns Menschen angeboren sind, nicht wertschätzen und sie nicht als grundlegend für das Wohlergehen der Menschheit anerkennen. Da wir diese Qualitäten nicht schätzen, bemühen wir uns nicht, ihr Potenzial zu entwickeln.
Diese Eigenschaften gleichen Samen. Wenn wir Blumensamen mit den richtigen äußeren Bedingungen wie Erde, Dünger, Wärme, Wasser usw. versorgen und sie nähren und pflegen, können die Blumen in ihrer vollen Pracht und mit ihren wunderbaren Aromen erblühen. Wenn nicht, bleiben diese Samen lediglich Potenzial und bringen keine Ergebnisse. In ähnlicher Weise müssen wir, um das uns allen innewohnende Potenzial der Liebe und Güte zur Reife zu bringen, die richtigen inneren Bedingungen für unsere Einstellungen fördern und z. B. mitfühlend, zufrieden, diszipliniert und gewissenhaft sein. Unser Glück hängt ausschließlich davon ab, dass andere glücklich sind, und deshalb wird unser eigenes Glück, wenn wir das Leiden anderer lindern, ganz unweigerlich auf natürliche Weise entstehen. Wenn wir das begreifen, werden sich die Haltungen der Liebe und Güte ungehindert entwickeln, und das angeborene Potenzial im Menschen kann zum Tragen kommen.
Wir müssen erkennen, dass unter den zahlreichen Problemen, die in den letzten etwa tausend Jahren in der Welt aufgetreten sind, einige auch Gruppen betreffen, die religiösen Traditionen folgen. Deren Anhänger haben wenig Interesse daran gezeigt, ihren Geist zu zähmen, indem sie sich auf ihre Religion stützen. Sie halten ihre eigenen religiösen Ansichten für überlegen und missbrauchen ihre Religion, sodass sie zu einer Ursache für eine Zunahme von Ärger und Verlangen wird. Das ist eine tragische Situation, die bis heute andauert.
Ein Ergebnis dieses Missbrauchs religiöser Lehren ist die weit verbreitete Meinung, dass keine Religion in realen Situationen dieser Welt tatsächlich wirksam ist. Anhänger der großen religiösen Traditionen, die Praktiken zur Zähmung des widerspenstigen Geistes lehren, obliegt die Verantwortung, dieser unglücklichen Situation entgegenzuwirken und das kurz- und langfristige Wohlergehen von Einzelpersonen und Gemeinschaften herbeizuführen. Einer einzigen religiösen Tradition allein fehlen die Methoden, um alle Hoffnungen und Wünsche aller Lebewesen zu erfüllen, denn diese Hoffnungen sind so zahlreich wie die unterschiedlichen Veranlagungen der Lebewesen. Ich bin der Meinung, dass die Anhänger verschiedener religiöser Traditionen bereitwillig handeln sollten, um jeden Groll, jede Besorgnis, Erwartung und Konkurrenz zwischen ihnen abzubauen, die durch Anhaftung oder Abneigung angeheizt werden. Sie sollten ihre Vorgeschichte der Feindseligkeit und des Misstrauens beiseitelegen und daran arbeiten, harmonische Beziehungen zu fördern, indem sie Respekt und eine echte Wertschätzung für andere Religionen kultivieren.
Darüber hinaus ist es wichtig, dass wir Tibeter, die wir Vertrauen in den Buddhismus haben, verstehen, dass alle philosophischen Positionen der tibetisch-buddhistischen Traditionen und ihrer Untergruppierungen letztlich dieselbe Absicht verfolgen. Wenn wir mit den historischen Berichten darüber, wo und wie sich diese Traditionen entwickelt haben, besser vertraut wären, würde dies zweifellos den Respekt und die reine Wahrnehmung jeder einzelnen Richtung fördern. [x] Daher lohnt es sich, Interesse am Studium ihrer Geschichte zu entwickeln.
Die philosophische Grundlage des Buddhismus ist Abhängiges Entstehen, und das erwünschte Verhalten läuft darauf hinaus, niemandem zu schaden. Wenn wir uns auf den Buddhismus verlassen, kann das einen positiven Einfluss auf die Art und Weise ausüben, wie wir unser Leben verbringen. Im Buddhismus erkennen wir, dass alle Handlungen ausschließlich innerhalb eines Prozesses von Ursache und Wirkung ablaufen. Auf dieser Grundlage widmen wir uns den Gegenmitteln zu Karma und Geistegiften, die aufgegeben werden müssen, und wir streben nach Ergebnissen, die wir uns zu eigen machen müssen und die jetzt und langfristig Glück bringen. Um damit beginnen zu können, brauchen wir eine Einführung in die Essenz des Buddhismus durch eine Darlegung der vier Wahrheiten.
Es ist durchaus möglich, dass in den beiden Bänden dieses Buchs Wiederholungen vorkommen. Das liegt an der besonderen Betonung, mit der das Thema erklärt wird.
Es ist nicht notwendig, Buddhist zu werden, um die grundlegende Philosophie des Buddhismus und seine Ausbildungsstufen in die Praxis umzusetzen. Alle können diese wertvollen Eigenschaften verstehen und sie nutzen, um ein gutes Leben zu genießen, das mit kurz- und langfristigem Glück für sich selbst und andere gesegnet ist. Das ist etwas, was wir alle tun müssen. Es bedeutet aber nicht, dass man an den Buddhismus glauben oder ihn unbedingt praktizieren müsste. Wir sollten das Recht des Einzelnen respektieren, Vertrauen in eine Religion zu haben oder auch nicht. Es versteht sich von selbst, dass es akzeptabel ist, eine Religion auszuüben, und ebenso akzeptabel, dies nicht zu tun. Angesichts der Tatsache, dass wir uns nach Glück sehnen und uns kein Leiden wünschen, wird es jedoch immer von Vorteil sein, Praktiken einer religiösen Tradition aufrichtig in das tägliche Leben aufzunehmen, die dazu führen, den Geist zu zähmen und anderen nicht zu schaden. So können wir uns selbst und anderen Glück bringen. Ich halte es für wichtig, dass ich versuche, dies aufzuzeigen.
Was die tatsächliche Praxis des Buddhismus angeht, so bildet eine Darstellung von Karma bzw. Ursache und Wirkung den Kern des Dharmas. Die Aussage „Wenn dies getan wird, entsteht das“ gilt als eine grundlegende Wahrheit. Da der Buddhismus an der Realität festhält, dass alle Phänomene in einem Zustand gegenseitiger Abhängigkeit existieren, muss er in Übereinstimmung mit dem Prinzip praktiziert werden, Wahrheit aus Fakten abzuleiten. Der Buddhismus ist keine Tradition, die sich ausschließlich an die Überlieferung hält; er stellt die Vernunft in den Vordergrund. Jede Lehre, die Beweisen oder fundierten Argumenten widerspricht oder die dem widerspricht, was durch direkte Erfahrung bestätigt wird, sollte nicht akzeptiert, sondern verworfen werden. Neue Wege der Erklärung von Phänomenen, die aus den analytischen Fertigkeiten der modernen Forschung hervorgehen und nicht mit traditionellen Erklärungen in buddhistischen Texten der Vergangenheit übereinstimmen, sollten bereitwillig akzeptiert werden.
Auch die Worte von Śākyamuni Buddha selbst sollten nur dann praktiziert werden, wenn man sie geprüft hat, so wie man die Reinheit von Gold durch Brennen, Schneiden und Polieren prüfen würde. [xi] Das hat uns der Buddha selbst geraten. Seine Anweisungen sollen nicht als Objekte der Verehrung angesehen oder befolgt werden, nur weil sie die Worte unseres Lehrers sind. Diese vom mächtigen Buddha geforderte geistige Unabhängigkeit ist die zentrale Säule und das unvergleichliche Merkmal unserer Tradition. Religionen, die auf der Grundlage der maßgebenden Anweisungen eines Schöpfers oder eines Gründungsheiligen bestimmen, was erlaubt ist und was nicht, stimmen in diesem Aspekt nicht mit den Grundsätzen des Buddhismus überein. Aufgrund solcher Unterschiede können wir, wenn wir uns tatsächlich der Religionsausübung widmen, mit Ausnahme der Praktiken zum Wohle anderer nicht gleichzeitig verschiedenen Traditionen folgen. Das wäre so, als stände man mit den Füßen in zwei verschiedenen Lagern. Es wäre auch nicht von Nutzen, dazu sind die Wege zu verschieden.
In unserer Zeit, in der der menschliche Intellekt in rasendem Tempo neue Wissensgebiete erforscht, hat auch der Wettbewerbsgeist in gleichem Maße zugenommen. Viele aufgeschlossene Menschen, einschließlich derer, die moderne wissenschaftliche Ansichten vertreten, sind deshalb davon überzeugt, dass die buddhistische Philosophie und die damit verbundenen Übungen einer Überprüfung standhalten. Nichtbuddhisten erkennen, dass der Buddhismus Praktiken zur Entwicklung von Glück und zur Beseitigung von Leiden bereitstellen kann, die wirksam sind, um der Gesellschaft Frieden und Wohlergehen zu bringen. Solche Stimmen werden immer lauter. Für Menschen, die neue Wissensgebiete erforschen und Verantwortung für die Förderung des Wohlergehens unserer menschlichen Gesellschaft übernommen haben, ist der Buddhismus zu einem neuen Interessenfeld geworden. Dies verdeutlicht das einzigartige Ansehen unserer Tradition. Weiterhin wird von allen Seiten gelobt, dass der Buddhismus nicht nur kein Gift darstellt, sondern dass seine heilsamen Eigenschaften auch durch überprüfbare Beweise und Erfahrungen belegt werden können. Dies weckt grenzenlose und freudige Zuversicht.
Band 2 ist eine Übersetzung von Mañjuśrīs mündliche Anweisungen: Anweisungen zu den Stufen des Pfades. Dabei handelt es sich um eine buddhistische Darlegung der wesentlichen Methoden, die für eine Person, die nach Befreiung sucht, in einer einzigen Meditationssitzung zu praktizieren sind. Es ist ein Beispiel für die vielen zusammengefassten und ausführlichen Werke über die Stufen des Pfades, die von den großen MeisterInnen der Vergangenheit zusammengestellt wurden. Dieses spezielle Werk stammt vom Großen Fünften Dalai Lama, der in beispielloser Güte sowohl für die modernen religiösen und säkularen Systeme Tibets als auch für sein Volk arbeitete. Er war wirklich ein großes Wesen, ausgestattet mit Gelehrsamkeit und Verwirklichungen. Dieser Text basiert auf dem unvergleichlichen Werk Große Darlegung der Stufen des Pfades (Lamrim Chenmo), verfasst von dem allwissenden Tsongkhapa Losang Drakpa (1357–1419), [xii] und fasst die wichtigsten Punkte der Praxis hervorragend zusammen.
Ich habe Mañjuśrīs mündliche Anweisungen, die von vielen MeisterInnen der Vergangenheit sehr geschätzt wurden, als Grundlage für die Unterweisungen in Band 2 genommen und mit großem Respekt und Ehrerbietung eine leicht erweiterte Erklärung in Form einer Ergänzung gegeben.
Die Erklärungen in diesen beiden Bänden folgen nicht nur den traditionellen Darstellungsweisen der Vergangenheit. Sie berücksichtigen auch die sich verändernden Zeiten und folgen den großen Ozeanwellen von Überzeugungen und Veranlagungen der Wesen dieser Welt, wie auch immer sie leben. Sie richten sich an Menschen, die eine Vorliebe für Religion im Allgemeinen oder speziell für den Buddhismus haben, an Mönche und Nonnen, Laien beiderlei Geschlechts, Tibeter und Nicht-Tibeter, die aus Vertrauen dieser Lehre folgen. Und sie richten sich auch an Menschen, die der Religion gegenüber feindselig eingestellt sind oder kein besonderes Gefühl für sie haben, ebenso an Menschen mit verschiedenen politischen Einstellungen. Es ist ein Werk, das die Weisheit verschiedener wertvoller Philosophien und die großen Wege der Bodhisattvas zusammenfasst.
Diese Arbeit ist ein kleines Geschenk an die urteilsfähigen Menschen dieser riesigen Welt und wird mit der reinen Motivation dargebracht, dass sie den ausgezeichneten Weg des unmittelbaren und dauerhaften Glücks offenbaren wird, indem sie neue Augen der Weisheit in all jenen öffnet, die einen unvoreingenommenen Geist ihr Eigen nennen.
Der buddhistische Mönch und Verfasser, der Vierzehnte Dalai Lama, Tenzin Gyatso, Thekchen Chöling, Dharamsala, Indien, am sechsten Tag des zehnten Monats des Feueraffenjahres des siebzehnten Zyklus, entsprechend dem 5. Dezember 2016.
[xiii] Zu Beginn möchte ich Gedanken und Hintergründe zu der wunderbaren Gelegenheit darlegen, die zwei Bände von Die Essenz meiner Lehre aus den Unterweisungen des großen und allwissenden Vierzehnten Dalai Lama zusammenzustellen.
Am 7. Oktober 1991, während Seine Heiligkeit der Dalai Lama in Hamburg Unterweisungen gab, hatte ich das große Glück, für würdig befunden zu werden, beim Mittagessen in seiner Residenz im Rapten Jangchup Chöling Dharma Center anwesend zu sein. Im Einklang mit der Maxime, dass wir seine bedeutungsvollen Unterweisungen empfangen sollten, wo immer dies möglich ist, gab ich meinem Zweifel über die Art und Weise Ausdruck, wie Texte, vor allem über die Stufen des Pfades, kommentiert werden. Ich fragte, ob diese Kommentare noch zu den veränderten Umständen in der heutigen Welt passten, und bat ihn um Rat in dieser Angelegenheit.
Auch Seine Heiligkeit war der Ansicht, dass einige der eher traditionellen Kommentare nicht mehr angemessen seien und dass es bei solchen Kommentaren darauf ankomme, nicht im Widerspruch zu der modernen Bildung und dem modernen Denken und insgesamt im Einklang mit der Realität zu stehen.
Aus Sorge, dass der Buddhismus als nicht mehr zeitgemäß angesehen werden könnte, bat ich ihn daher, ein Werk über die Stufen des Pfades zu schreiben, das zu den geistigen Voraussetzungen vieler SchülerInnen passt. [xiv] Und der große Schatz des Mitgefühls2 verstand nicht nur, dass ein solches Werk nötig sei, sondern gab der Meinung Ausdruck, es wäre großartig, wenn eine derartige Zusammenstellung auf den Vier edlen Wahrheiten beruhen würde. Er sagte aber auch, sein voller Terminkalender würde es ihm kaum erlauben, einen entsprechenden Text selbst niederzuschreiben. Deshalb kündigte er mir an: „Ich werde darüber sprechen, und du, Rinpoche, schreibst es auf. Das wäre gut.“
Ich war mit einem Freudenfest dieser unschätzbaren Worte gesegnet worden und empfand ein unbeschreibliches Gefühl von Vertrauen, Ehrfurcht und Glück. Doch da ich sah, dass Seine Heiligkeit in zunehmender Weise für das Wohlergeben Tibets und der ganzen Welt und für den Frieden zwischen den Religionen arbeitete, wagte ich nicht, ihn noch einmal danach zu fragen. Dabei blieb es für einige Jahre.
Am 5. Juni 2006 jedoch, nachdem Seine Heiligkeit vier Tage in Brüssel Unterweisungen gegeben hatte, wurde ich kurz vor seiner Abreise in sein Zimmer gebeten. Er sagte, es würde sich lohnen, eine Ergänzung zu Mañjuśrīs mündliche Anweisungen des Fünften Dalai Lama zu verfassen, und da ich von Seiner Heiligkeit viele Unterweisungen erhalten hätte und mit seiner Denkweise sehr vertraut sei, wäre es angemessen, dass ich den Entwurf für diesen Ergänzungskommentar zusammenstellen sollte. Zu diesem Werk solle auch eine vorausgehende allgemeine Erklärung gehören, bestehend aus einer Einführung in den Buddhismus usw. Und deshalb solle ich die Herausgabe von Die Essenz meiner Lehre betreuen.
Ich begriff die unermessliche Freundlichkeit und den unvergleichlichen Optimismus, mit dem er mich, einen Klumpen Erde, als Gold ansah. [xv] Es blieb keine Zeit, über diesen Dienst und meine Möglichkeiten, ihn zu leisten, nachzudenken oder Seine Heiligkeit über die geplante Herangehensweise zu befragen. So konnte ich, sobald seine Anordnung meinen Scheitel erreicht hatte, nur ein „Ja“ von mir geben und wusste nicht, was ich sonst dazu sagen sollte.
Erst später, nachdem diese überraschende Wendung etwas klarer geworden war, dachte ich darüber nach und erkannte, dass der Auftrag vermutlich mit den Worten seinerzeit in Hamburg in Verbindung stand. Obwohl ich mir in keiner Weise das Wissen oder die Fähigkeiten zutraute, diesen Dienst zu leisten, dachte ich aber gleichzeitig, die Macht des mitfühlenden Segens des Lamas würde mir die Kraft geben, die Arbeit zu vollbringen. Das baute mich auf und machte mir Mut.
Zeitgleich bestellte ich vom Ganden Phodrang Private Office CDs und anderes Material sowohl zu den in den Buddhismus einführenden Erklärungen Seiner Heiligkeit als auch seine Unterweisungen zu den Stufen des Pfades mit hauptsächlichem Bezug auf Mañjuśrīs mündliche Anweisungen. Diese Texte waren meine Basis. Mit der Zeit stellte ich eine Sammlung von Büchern über seine Unterweisungen und meine eigenen Aufzeichnungen zusammen. Aus Zeitungen und Zeitschriften in tibetischer Sprache und aus dem Internet sammelte ich selbst die kleinsten seiner Aussagen sowie die verschiedenen Vorträge, die regelmäßig stattfanden. Und so legte ich das Fundament für die Veröffentlichung.
Am 18. Dezember 2006 hielt Seine Heiligkeit eine Unterweisung im indischen Varanasi. Dort hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, ihn nach seiner Meinung über die Notizen zu diesem Buch zu befragen und um seine Einschätzung zu bitten, ob der Inhalt im Einklang mit dem modernen Denken stehe.
Vom 16. bis 20. August 2008 hielt Seine Heiligkeit eine Unterweisung in Nantes, Frankreich. Dort konnte ich ihm einen vorläufigen Entwurf zeigen, soweit ich ihn bis dahin erstellt hatte, und erhielt tiefgreifende Ratschläge dazu. Auf Vorschlag Seiner Heiligkeit fuhr ich danach in die Schweiz, um mich mit Geshe Thupten Jinpa zu treffen, dem Dolmetscher Seiner Heiligkeit. In informellen und sehr hilfreichen Gesprächen über unterschiedliche Themen machte er verschiedene Verbesserungsvorschläge und brachte viele Ideen ein, und auf der Grundlage dieser Gespräche überarbeitete ich den Entwurf.
Im Allgemeinen sind die Unterweisungen zu den Stufen des Weges eindeutig. In diesem Fall war die Große Darlegung der Stufen des Pfades zwar gut für die Zusammenstellung geeignet, wurde aber nicht wörtlich übernommen und teilweise gekürzt, sodass die Gliederung nur grob übereinstimmt.
Allgemeine Einführungen in den Buddhismus haben keine Gliederungen. Deshalb machte ich mich auf Vorschlag von Geshe Thupten Jinpa und anderen daran, eine Kapiteleinteilung als neue Struktur festzulegen und vor allem darauf zu achten, dass es keine Wiederholungen gab und dass alles in die richtige Rubrik passte. Damit lud ich geradezu dazu ein, mich von allen Seiten für meinen Mangel an Wissen und Fähigkeit kritisieren zu lassen. Ich bin jedoch so vorgegangen, wie mein Geist es zu verstehen vermochte. Trotzdem bleiben Zweifel, ob das, was ich geschrieben habe, den Absichten Seiner Heiligkeit entspricht, und deshalb kann ich nur darum bitten, dass man meine Irrtümer tolerieren möge.
[xvii] Seine Heiligkeit hält seine Unterweisungen in einer leicht verständlichen Sprache, sodass ihre Bedeutung immer klar ist. Sie sind aktuell, tiefgründig, enthalten wichtige Ratschläge und stehen im Einklang mit Zeit und Ort. Und sie passen zu den Meinungen, Vorlieben, Haltungen, Fähigkeiten oder Neigungen von den ZuhörerInnen verschiedenster Herkunft. Deshalb ist auch allen klar, dass sie unvergleichlicher Anlass zum Lob und zur Ehrfurcht sind.
Um die Größe und Brillanz der Reden Seiner Heiligkeit klar zum Ausdruck zu bringen, habe ich bei der Niederschrift besonderen Wert darauf gelegt, nach besten Kräften jene Aspekte zu betonen, die das Denken Seiner Heiligkeit verdeutlichen. Es war mir wichtig, dass bei der schriftlichen Form nichts verloren geht, vor allem im ersten Band, in dem ich relevantes Material ergänzt habe.
Unterweisungen Seiner Heiligkeit wie diese sind sehr wichtig. Als ich den Entwurf schrieb, scheute ich mich nicht vor dem Umfang der Schriftarbeit. Was er zur Durchsicht zu lesen bekam, war jedoch zweifarbig angelegt. Die Passagen, die seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurften, waren mit blauer Tinte geschrieben. Jeder Hinweis, den er nach dem Lesen gab, wurde aufgenommen oder niedergeschrieben, und der Text wurde entsprechend revidiert.
Vom 31. Juli bis zum 9. August 2010 traf ich mich im Ganden Phodrang in Dharamsala mit Professor Sandhong Rinpoche, Geshe Thupten Jinpa und dem Dolmetscher Geshe Dramdul. [xviii] Gemeinsam mit Seiner Heiligkeit diskutierten wir den Entwurf, und ich überarbeitete den Text aufgrund der Hinweise und Vorschläge, die dabei zur Sprache kamen.
Ab dem 22. Dezember 2012 besuchte ich Samdhong Rinpoche im Ashram, seiner Privatresidenz in Dharamshala. Siebzehn Tage lang – ohne sich von seinen anderen Pflichten und Aufgaben unterbrechen zu lassen und mit sehr viel Verantwortungsgefühl – widmete er seine Aufmerksamkeit all den Notizen, die inzwischen auf die zwei Bände zu den Stufen des Pfades und der allgemeinen Erklärungen aufgeteilt worden waren. Ich erhielt unschätzbare Hinweise und Vorschläge von ihm, verbesserte den Entwurf, wo es nötig war, und schickte immer wieder Abschnitte zur Überprüfung an Rinpoche.
Vom 19. bis 21. Mai 2015 traf ich mich im Ganden Phodrang in Dharamshala mit Samdhong Rinpoche und dem Untersekretär des Private Office und Sera Me Monastery Lharampa Geshe, Yangteng Rinpoche. Zu dieser Zeit gab Seine Heiligkeit uns die wunderbare Zusicherung, er werde den gesamten Teil über die Stufen des Pfades noch einmal lesen. Aufgrund der Hinweise für die noch verbesserungs- und ergänzungsbedürftigen Teile beriet ich mich mit Samdhong Rinpoche und erstellte eine entsprechend ergänzte Textfassung. Damit war der Entwurf des zweiten Bandes von Die Essenz meiner Lehre über die Stufen des Pfades fertiggestellt.
Ende Dezember 2015 hielt ich mich in Südindien auf, während Seine Heiligkeit dort Unterweisungen gab; ich besprach mit Samdhong Rinpoche den ersten Band mit den allgemeinen Unterweisungen und revidierte den Text nach seinen Hinweisen. Am 2. April 2016 kam ich nach Dharamsala, um Seiner Heiligkeit den Entwurf zur Durchsicht vorzulegen. Dieses kostbare Werk in zwei Bänden, überprüft von Samdhong Rinpoche und Yangteng Rinpoche, ist eine Sammlung von Unterweisungen, die den Nektar aus den Gedanken Seiner Heiligkeit des Vierzehnten Dalai Lama enthalten. Es sind großartige Unterweisungen in seinen eigenen Worten, in Worten, die seine Zustimmung finden und die seinen Segen haben.3 Damit bricht ein neues Zeitalter mit einer neuen und authentischen literarischen Tradition an, die allen Wesen auf dieser Erde den Weg aufzeigt, ohne Unterschiede zwischen ihnen zu machen. Und nun war die Gelegenheit gekommen, es der Menschheit als Geschenk zu überreichen. Ein Geschenk, das ihr Leiden lindert.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat mir eine kostbare Möglichkeit eröffnet, großartige Verdienste zu erwerben, indem ich diesen Akt der Ehrfurcht vollführte und den Entwurf zu den beiden Bänden zusammenstellte. Mein Herz ist voller Freude darüber, und mit ebendieser Freude, voller Vertrauen und Ehrfurcht werfe ich mich vor ihm nieder und erinnere mich an seine Güte, die keine Grenzen kennt.
Eine Zusammenfassung
Als Schlüssel, um das weite Tor zu den tiefgründigen Unterweisungen Seiner Heiligkeit zu öffnen, habe ich aus beiden Bänden eine Zusammenfassung, Die Essenz der Gedanken, erstellt. Sie enthält die prägnantesten Aussagen in einer leicht strukturierten Weise und findet sich am Ende beider Bände.
Danksagung
Mein Dank gilt Professor Samdhong Rinpoche, der von Anfang bis Ende die verschiedenen Entwürfe genau las und mir immer wieder unschätzbaren, reichen Rat und Anleitung gab. Meine Dankbarkeit kennt kein Maß.
Des Weiteren danke ich Geshe Thupten Jinpa, Dolmetscher seiner Heiligkeit; Geshe Dorje Dramdul, Leiter des Tibet House in Delhi und Dolmetscher Seiner Heiligkeit; [xx] sowie dem Untersekretär des Ganden Phodrang Private Office, Sera Me Lhamrampa Geshe Yangteng Rinpoche. Sie alle haben mir unschätzbare Hilfe mit Ideen und Anleitung geleistet und standen über einen langen Zeitraum für Diskussionen zur Verfügung. Ich danke ihnen aus tiefstem Herzen.
Das Ganden Phodrang Private Office hat viel dringend benötigte Unterstützung für dieses Vorhaben geleistet. Und ich danke auch denjenigen, die uns die Rechte für die Veröffentlichung in tibetischer, englischer, deutscher und chinesischer Sprache eingeräumt haben. So konnten sich die Hoffnungen des tibetischen Kultur- und Bildungsinstituts erfüllen, welches auch unter dem Namen Tibethaus Deutschland bekannt ist und durch das Mitgefühl seines Schirmherrn, Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, erhalten wird. Von ganzem Herzen bringe ich meinen Dank und meine Wertschätzung zum Ausdruck.
Respektvoll,
Dagyab Loden Sherab
Herausgeber dieses Werks
Im März 2016
Von großen ErfinderInnen wird berichtet, dass sie bei einer banalen Aktivität wie z. B. dem Zähneputzen plötzlich eine geniale Eingebung hatten, wie aus dem Nichts. Dass diesen Erfindungen viele Jahre des Nachdenkens, der einsgerichteten Motivation und des intensiven Schaffens vorausgingen, wird oft verschwiegen. Die Idee, Die Essenz meiner Lehre zu schreiben, entstand in einer vergleichbaren Situation:
Es liegt schon mehr als ein Jahrzehnt zurück, da hat mir S. H. der Dalai Lama in Brüssel am Ende einer Audienz plötzlich – zwischen Tür und Angel: er band sich gerade die Schuhe zu – unvermittelt den Auftrag gegeben, in seinem Namen einen modernen Lamrim auf der Basis seiner eigenen Unterweisungen zu verfassen. Es sollte sein eigener Kommentar zum Lamrim des V. Dalai Lama werden. Darüber hinaus sollte ich eine ausführliche Einführung in den Buddhismus schreiben.
Mit diesen Worten beschrieb unser hochgeschätzter spiritueller Leiter, S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche, vor einigen Jahren schmunzelnd den Moment der „Initialzündung“ der Entstehung des zweibändigen tibetischen Werkes Gyälwäi Gongsel.
In der Folge hat Rinpoche, der gerade nach achtunddreißigjähriger Tätigkeit an der Universität Bonn in den Ruhestand gegangen war, mehr als zehn Jahren lang intensiv an diesen Büchern gearbeitet. Was für eine bewundernswerte Leistung! Dreimal reiste er dafür nach Dharamsala, um den Text bis ins Detail mit Seiner Heiligkeit zu sichten und zu korrigieren. Prof. Samdhong Rinpoche, Geshe Thubten Jinpa und Yangteng Rinpoche waren ebenfalls bei diesen Treffen anwesend. Die tibetische Ausgabe wurde dann im Dezember 2016 gemeinschaftlich von The Dalai Lama Trust und Tibethaus Deutschland gedruckt und in Anwesenheit Seiner Heiligkeit, der von Dagyab Rinpoche sowie Herrn Phuntsok Tsering Düchung im Rahmen einer „Book Lounge“ in Indien der Öffentlichkeit präsentiert.
Es ist ein bemerkenswertes Werk: modern, komplex und tiefgründig zugleich. Es beinhaltet nahezu alle kritischen Überlegungen Seiner Heiligkeit zur traditionellen buddhistischen Darlegungsweise und Kultur. Er hat dabei mehrere neue Wege aufgezeigt, denen insbesondere tibetische Buddhisten folgen sollen. Zum Beispiel wurde der Geshe-Lharampa-Titel, der vom Vierten Panchen Lama Losang Chökyi Gyaltsen (1570–1662) eingeführt wurde, bis vor wenigen Jahren nur an Mönche verliehen. Der Vierzehnte Dalai Lama hat veranlasst, dass dieser Titel auch an Nonnen verliehen wird. Die erste weibliche Geshe in der akademischen Geschichte des tibetischen Buddhismus ist die deutsche Nonne Kelsang Wangmo (2011). Weiterhin hat er jetzt in die Wege geleitet, dass dieser akademische Titel in Zukunft an alle AbsolventInnen des buddhistischen Philosophiestudiums – unabhängig von Ordination, Geschlecht und Rasse – verliehen wird.
Laut Dagyab Rinpoche können wir dieses Werk als etwas betrachten, auf das wir uns immer stützen können – vergleichbar mit der Verfassung eines Landes. Es ist zukunftsweisend und von großer Bedeutung für Buddhisten, aber auch für Menschen ohne spirituellen Hintergrund sowie für WissenschaftlerInnen.
Seit 2017 wird das Werk unter der Leitung unseres Tibethaus Verlags ins Englische, Deutsche und Chinesische übersetzt. Und das ist hoffentlich erst der Anfang …
Warum hat das Tibethaus Deutschland zusammen mit der Gaden Phodrang Stiftung des Dalai Lama das Copyright inne? Dazu sollte kurz etwas zur Geschichte und Ausrichtung unserer Organisation erklärt werden: Das Tibethaus steht seit 2005 unter der Schirmherrschaft S. H. des Dalai Lama. Es ist ein Kultur- und Bildungsinstitut mitten in der multiethnischen und multireligiösen offenen Weltstadt Frankfurt a. M., hervorgegangen aus einer buddhistischen Vorgängerorganisation, die schon seit über zwanzig Jahren mit Dagyab Rinpoche zusammengearbeitet hatte. Unser Institut hat Seine Heiligkeit in den letzten Jahren insgesamt viermal zu Veranstaltungen und Konferenzen einladen dürfen, um seine Herzensanliegen (die auch unsere sind) der Öffentlichkeit vorstellen zu können: interkultureller und interreligiöser Dialog, Studium und die Pflege der tibetischen Kultur sowie die Kultivierung der von ihm entwickelten globalen, nichtreligiös geprägten Ethik. Besonders wichtig und berührend waren für uns seine Begegnungen mit teilweise an die zweitausend SchülerInnen sowie die dialogischen Treffen zu interreligiösen und säkularen Themen.
Tibethaus Deutschland ist ein Brückenbauer, um zwischen tibetischer Kultur und allen Menschen, die sich dafür interessieren, eine Verbindung herzustellen und die dafür notwendige Basis zu schaffen, indem wir z. B. die Kommunikation mit anderen tibetischen Institutionen innerhalb und außerhalb Tibets vertiefen. Genauso mit westlichen, tibetischen und chinesischen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen. Es geht darum, die Menschen durch differenzierte Information, Studium und Praxis beim Erlangen von Glück zu unterstützen und entscheidende Grundwerte zu vermitteln.
Nach der treffenden Aussage des Dalai Lama sind diese Grundwerte – kurz und knapp formuliert:
Anschauung (tawa): abhängiges Entstehen (tenjung)
Handlungsmaxime (chöpa): keinen Schaden zufügen (tshewa me pa)
Tibet, Tibeterinnen und Tibeter wie auch die tibetische Kultur sind der Ursprung und die Quelle der Inhalte und Anliegen des Tibethauses. Die tragenden Säulen des Tibethauses sind Tibeterinnen und Tibeter und Deutsche/Westler gleichermaßen. Das unverwässerte Studium der buddhistischen Texte, die Anwendung der Lehren im Alltag, aber auch die Wertschätzung aller Schulrichtungen und die Überwindung von Schubladendenken gehören zu unserem Selbstverständnis. Wir fördern auch die Verbindung zwischen buddhistischem Wissen und der Wissenschaft. Ein gutes Beispiel dafür ist das Projekt „Phuntsok Tsering Scholarship“ unserer Kulturstiftung, die es jungen Menschen aus Tibet ermöglicht, an der Universität Hamburg unter der Leitung von Prof. Wangchug zu studieren. Ein weiteres Anliegen ist die überfällige Gleichstellung der tibetischen gelehrten und praktizierenden Frauen, seit vielen Jahren ein Ziel des Dagyab Hilfsvereins und auch unserer Stiftung.
Nur noch ein weiterer Schwerpunkt sei erwähnt: die besondere Förderung von Kindern und Jugendlichen, die ja unsere Zukunft bilden. Unsere „Schule für tibetische Kinder“ – „Sherab Ling“ (Garten des Wissens) – und der Besuch von etlichen Schulklassen und Gruppen von Studierenden, die Vermittlung der – auf die Initiative des Dalai Lama zurückgehenden – säkularen SEE Learning Methode für Lehrkräfte (seit 2016 sind wir Kooperationspartner der Emory University/USA) sind uns eine große Freude.
So versuchen wir, möglichst viele der wichtigen Themen und Gedankenanstöße dieses großartigen zweibändigen Werkes in die Praxis umzusetzen.
Unser besonderer Dank gilt der Ganden Phodrang Foundation of the Dalai Lama für ihre unschätzbare finanzielle und administrative Unterstützung. Ohne diese Unterstützung wäre diese Übersetzung nicht möglich gewesen. Wir möchten uns außerdem für das Vertrauen bedanken, dass sie uns mit der Planung und Koordination der englischen, deutschen und chinesischen Übersetzung betraut hat. Herrn Kungo Tseten Chhökyapa und Herrn Tenzin Sewo möchten wir an dieser Stelle unseren Dank für die sehr gute Zusammenarbeit aussprechen.
Rebecca Hufen, Jürgen Manshardt und Dr. Ulrike Strerath-Bolz haben mit ihren herausragenden sprachlichen und fachlichen Fähigkeiten eine gleichermaßen akkurate und inspirierende Übersetzung geschaffen und damit dieses überaus wichtige Werk den deutschsprachigen Lesenden erst zugänglich gemacht. Ihnen gilt unsere höchste Wertschätzung und unser allergrößter Dank. Die deutsche Übersetzung des ersten Bandes erfolgte auf der Basis der exzellenten englischen Übersetzung von Gavin Kilty, sodass unser besonderer Dank auch ihm gilt. Weiter möchten wir Chandra Chiara Ehm für ihre inspirierende Übersetzung der Zusammenfassung ins Englische unseren Dank aussprechen. Wir möchten uns darüber hinaus ganz herzlich bei Frank Hofmann, Dagmar Kronenberg, Arne Schelling und Cornelia Wahl bedanken, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Manuskript der deutschen Übersetzung sorgfältig gesichtet und bearbeitet haben, sowie bei Franziska Örtle, die die englische und deutsche Übersetzung des zweiten Bandes Wort für Wort mit dem tibetischen Original verglichen hat.
Die Zusammenarbeit mit dem Verlag Herder war zu jeder Zeit durch hohe Professionalität gekennzeichnet. Wir sind sehr glücklich, dass wir das Werk in diesem hervorragenden Verlag in guten Händen wissen. Besonders möchten wir uns bei Simon Biallowons für die jederzeit sehr angenehme und zuverlässige Projektbetreuung und bei Dr. German Neundorfer und Dr. Dennis Stammer für das ausgezeichnete und sehr sorgfältige Lektorat bedanken.
Im Tibethaus möchten wir uns ganz besonders bei Phuntsok Tsering bedanken. Er hat dieses Projekt als Vorstandsmitglied vor seinem viel zu frühen Tod mit viel Engagement begleitet. Ein großer Dank geht an Ole Meier-Hahn für die Begleitung der Vertragsverhandlungen, an Claudia Heilmann für ihre Betreuung im Rahmen der Tibethaus Kulturstiftung, an Margit Müller, Thösam Rinpoche und Heike Merkle für die Planung und Koordination der Veröffentlichungsfeier im Tibethaus und der Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse, sowie an Judith Fries, die mit außerordentlichem Einsatz eine große Anzahl von Spenden für diese Übersetzungen sammeln konnte. Unser herzlicher Dank gilt auch Matthias Atrott für die großzügige und professionelle juristische Beratung.
Nicht zuletzt möchten wir allen Personen, die durch ihre kleinen und großen Spenden dazu beigetragen haben, dass diese Übersetzung möglich geworden ist, von ganzem Herzen danken.
Wir wünschen uns, dass viele Menschen von diesem Werk einen persönlichen Nutzen haben werden und dadurch einen Beitrag für eine friedvollere und bessere Welt leisten können.
Elke Hessel – Vorstand Tibethaus Deutschland
Andreas Ansmann – Leitung Tibethaus Verlag
Ngawang Losang Yeshe Tenzin Gyatso, der Vierzehnte Dalai Lama von Tibet, ist kein gewöhnlicher Dalai Lama – wenn man überhaupt sagen kann, dass ein Dalai Lama „gewöhnlich“ ist. Irgendwann in den Siebzigerjahren, als er in seinen Vierzigern war, bemerkte er, jetzt sei er alt genug, um nicht mehr unerfahren zu sein, und noch nicht zu alt, um in dieser Welt nichts mehr bewirken zu können. Und was er alles bewirkt hat!
Seine Heiligkeit wurde 1959 in die moderne Welt gedrängt, als er nach der Besetzung Tibets durch das kommunistische China Zuflucht in Indien suchte. Die Geschichte dieser und der nachfolgenden Ereignisse wurde viele Male erzählt. Seit dieser Zeit hat er sich von seinem Hauptquartier in der kleinen Bergstadt Dharamsala in den Ausläufern des Himalaya aus damit beschäftigt, die religiösen, kulturellen und Bildungseinrichtungen Tibets in tibetischen Siedlungen in Indien wiederherzustellen und zu erhalten, während er gleichzeitig einen radikalen Ansatz für die Organisation und Einrichtung dieser Institutionen verfolgte. Er hat nie eine Tradition um ihrer selbst willen aufrechterhalten, hat oft gut etablierte tibetische Bräuche und Praktiken abgelegt, die für die Förderung menschlicher Werte und des Glücks nicht hilfreich sind oder nicht im Einklang mit dem modernen Denken stehen, und er hat Veränderungen umgesetzt, die in der tibetischen Gesellschaft für Stirnrunzeln gesorgt hätten, wenn sie von einer geringeren Person als einem Dalai Lama vorgeschlagen worden wären.
Doch er ist der Dalai Lama – eine verehrte Person und ein spiritueller Führer, dessen Inkarnationen Hunderte von Jahren zurückreichen. Er ist der Vierzehnte dieser illustren Linie und der Erste, der eine so lange Zeit im Exil verbrachte. Andere Dalai Lamas waren in ihrer Zeit mit politischen Umwälzungen konfrontiert, aber keiner musste sich wie er an eine neue und fremde Lebensweise gewöhnen, zusammen mit Tausenden seiner MitbürgerInnen, die mit ihm aus Tibet geflohen sind. Im Großen und Ganzen ist diese Anpassungsleistung gelungen. Wird die Integration von Exilgemeinschaften auf der ganzen Welt bewertet, dann werden tibetische Flüchtlinge oft als leuchtende Beispiele einer Kultur hochgehalten, die nicht nur in einem fremden Land und Klima Fuß gefasst hat, sondern dort sogar gediehen ist. Diejenigen, die längere Kontakte mit tibetischen Gemeinschaften in Indien und anderswo haben, werden das bestätigen.
Ein Großteil dieses Fortschritts in der Diaspora geht auf die Führung des Dalai Lama zurück, verbunden mit der bedingungslosen Hingabe, die sein Volk ihm entgegenbringt. Sehr wenige Nationen lieben ihren Anführer so wie die Tibeter. Die radikale Veränderung der Umstände und Lebensbedingungen, welcher die tibetischen Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Indien ausgesetzt waren, machten es nötig, die kulturellen Institutionen Tibets wiederherzustellen, aber nicht in einer Weise, die einfach nur nostalgisch die jahrhundertealten religiösen und kulturellen Traditionen Tibets zurückholte. Sein Ansatz bestand vielmehr darin, darüber nachzudenken, was für die Betroffenen und die Welt insgesamt von größtem Nutzen wäre. Seine Heiligkeit betrachtet sich selbst als Tibeter, aber auch als Weltbürger. Folglich stellt er enge nationalistische Überlegungen nie an die erste Stelle. Wenn das, was im alten Tibet praktiziert wurde, in der heutigen Welt von Vorteil ist und im Einklang mit dem gegenwärtigen Denken steht, dann sollte es fortgeführt werden. Andernfalls sollte es enden dürfen.
Das auffälligste Beispiel für dieses radikale Denken war sein Rücktritt von der politischen und administrativen Herrschaft über die tibetische Gesellschaft im Jahr 2011. Die politische Macht, die von den Dalai Lamas ausgeübt wurde, bestand seit dem 17. Jahrhundert, als sie vom Fünften Dalai Lama initiiert wurde. Da der gegenwärtige Dalai Lama seit Langem verstanden hatte, dass die Demokratie der Weg der Zukunft war, verzichtete er auf seine eigene Macht und ermutigte zur Errichtung eines demokratischen Systems, in dem die politische Macht vom Willen des Volkes bestimmt wird. Das war keine leichte Aufgabe – nicht, weil er selbst an der Vorstellung von Macht festhielt, sondern weil es nicht der erklärte Wunsch des tibetischen Volkes war. Hätte man das tibetische Volk gefragt, ob Seine Heiligkeit auf die politische Macht verzichten solle, dann wäre die Antwort mit absoluter Sicherheit ein klares Nein gewesen. Doch er erklärte den Menschen seine Entscheidung sorgfältig und mit Vernunft. Angesichts dieser Argumentation hätte es für ihn keinen Sinn ergeben, die Institution des Dalai Lama nur um der Tradition willen in der althergebrachten Form fortzusetzen.
Die tibetische Gesellschaft ist eine konservative Gesellschaft, und sie nimmt Veränderungen nicht freiwillig oder schnell auf. Dieser Konservatismus war mit Blick auf die Bewahrung der schriftlichen Überlieferungen des Buddhismus mit seinem riesigen Korpus indischer und indigener Werke ein Segen. Dies ist jetzt von enormem Nutzen für die Welt, besonders da der Buddhismus in Indien, dem Land seiner Geburt, vor langer Zeit verschwunden ist. Tausende von Seiten indischer Texte, die vor Jahrhunderten aus dem Sanskrit übersetzt wurden, finden sich heute nur noch im tibetisch-buddhistischen Kanon. Seine Heiligkeit betrachtet diese Bewahrung als ein Geschenk an die Welt, und er bemüht sich sicherzustellen, dass sie nicht nur fortbesteht, sondern dass diese Schriften der buddhistischen Philosophie und Praxis der Welt in verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellt werden.
Dennoch sieht er, dass nicht alles, was bewahrt und eingeführt wurde, notwendig oder gar vorteilhaft für die heutigen Tibeter ist, die jetzt dem modernen Denken und den modernen Lebensweisen ausgesetzt sind. Deshalb hat er sich nie davor gescheut, radikale religiöse und kulturelle Veränderungen vorzunehmen. In den meisten Fällen stimmt das tibetische Volk seinen Vorschlägen zur Veränderung zu. Dennoch muss es einigen Mut gekostet haben, gegen tief verwurzelte und etablierte Gewohnheiten vorzugehen. Nehmen wir zum Beispiel die Shukden-Kontroverse. Diese rituelle Praxis war in der tibetischen Gelukpa-Klostertradition seit etwa sechzig Jahren weit verbreitet und wurde in den 1930er Jahren von einem beliebten Lehrer in Tibet propagiert. Tibeter können in ihrer Loyalität und Hingabe ziemlich heftig sein. Der Dalai Lama war sich dessen bewusst, und obwohl ihm klar geworden war, dass Dorje Shukden nicht der wohltätige Beschützer war, als der er dargestellt wurde, gab er eine Zeitlang keine öffentlichen Erklärungen zu diesem Thema ab. Später wurde die Situation jedoch unerträglich und begann den Menschen zu schaden. Deshalb ging er an die Öffentlichkeit, verurteilte die Praxis dieses Rituals und bat diejenigen, die sich weigerten, es aufzugeben, nicht an seinen Unterweisungen teilzunehmen.4
Der Weg, den er einschlug, widersprach zum Teil der vorherrschenden Gelukpa-Praxis. Es gab nicht viele Mönche und Nonnen in der Gelukpa-Tradition, die sich nicht auf Shukden als Beschützer verließen. Die Erklärung Seiner Heiligkeit stellte sie vor die schwierige Wahl, entweder ihren eigenen LehrerInnen treu zu bleiben, die sie in die Praxis eingeweiht hatten, oder den Wünschen des Dalai Lama zu folgen. Dies war keine leichte Entscheidung, und tatsächlich weigerten sich einige Mönche, die Praxis aufzugeben.
Trotzdem folgten die Handlungen Seiner Heiligkeit einer vernünftigen Argumentation, die ihn zu der Erkenntnis geführt hatte, dass die Shukden-Praxis auf einer falschen Wahrnehmung beruhe und im Kern sektiererisch sei. Er befürchtete, dass sie, wenn sie fortgesetzt würde, der Einheit des tibetischen Volkes schaden würde. Tibet bestand aus verschiedenen Regionen und Bezirken, von denen viele unbedingt an ihrer eigenen Identität festhalten wollten. Es war auch die Heimat etlicher buddhistischer Traditionen, die im Laufe der Jahrhunderte von großen MeisterInnen der Vergangenheit oder durch die Umstände von Zeit, Ort und der Überlieferung aus Indien gebildet wurden. Einheit im Sinne eines Landes und einer Religion war im alten Tibet nicht immer offensichtlich. Im Exil war jedoch die regionale und religiöse Einheit unerlässlich, wenn die tibetische Kultur überleben wollte. Aus der Sorge um diese Einheit sah er sich veranlasst, Shukden öffentlich anzuprangern. Dazu brauchte er großen Mut.
Auch in Angelegenheiten der Lehrmeinungen ist er offen, unsentimental und zögert nie, die Wahrheit auf der Grundlage von Argumentation und Erfahrung zu präsentieren. Zum Beispiel beschreiben alte indische buddhistische Schriften, wenn sie sich auf die Kosmologie des Universums beziehen, unsere Welt als aus einem großen zentralen Berg namens Meru bestehend, der von Kontinenten und Ozeanen umgeben ist. Menschen und Tieren wird nachgesagt, auf dem südlichen Kontinent zu leben. Götter und andere göttliche Wesen leben auf oder über den höheren Bereichen von Meru, während andere übernatürliche Kreaturen die unterirdischen Regionen der Kontinente bewohnen. Die Vorstellung ist geozentrisch mit Sonne, Mond, Planeten und Sternen, die sich täglich um diesen Berg drehen, und mit raffinierten Bewegungen von Planetenkörpern durch die Konstellationen, die gemessen werden, um den Lauf der Zeit aufzuzeichnen. Dieses Modell des Kosmos wird verwendet, um Kalender zu erstellen und astrologische Vorhersagen zu treffen. Hinweise auf diese kosmologische Anordnung finden sich häufig in den Schriften, und entsprechende Darstellungen werden auch in Ritual- und Opferzeremonien verwendet. Beschreibungen, Dimensionen und Lebensräume werden in der buddhistischen Abhidharma-Literatur sehr detailliert dargestellt.
Doch offensichtlich steht eine solche Darstellung in krassem Widerspruch zu modernen kosmologischen Erklärungen. Also, wer hat recht? Ist es eine Frage der Interpretation? Der Dalai Lama hat sich die Wissenschaft angesehen und die buddhistische Erklärung untersucht, und er ist zu dem Schluss gekommen, dass der Meru-Kosmos in keinem wörtlichen Sinne der Realität existiert. Er tat dies nicht, um modern zu erscheinen, um dem wissenschaftlichen Denken zu entsprechen oder weil er die buddhistische Sichtweise für altmodisch hielt, sondern weil solide Argumentation und empirische Beweise die alten kosmologischen Darstellungen widerlegten, die im klösterlichen Lehrplan auftauchten und immer noch studiert wurden.
In dieser Darstellung wird behauptet, dass sich die Sonne täglich um Meru bewegt, und wenn sie hinter Meru im Norden steht, tritt die Nacht auf dem südlichen Kontinent ein, weil die riesige Gestalt des Meru ihr Licht blockiert. Dies bedeutet, dass Meru eine grobe Form sein muss, die in der Lage ist, Licht und alles andere, was sich dahinter bewegt, zu blockieren. Der Buddhismus akzeptiert die Existenz einer subtilen Form, die mit bloßem Auge nicht sichtbar ist und die den Blick auf andere, gröbere Formen nicht behindern kann. Es wird jedoch gesagt, dass Meru das Licht blockiert und daher grobe Form sein müsse und nicht irgendeine Art von subtiler Form, wie einige gesagt haben. Dies bedeutet, dass er angesichts seiner Größe mit bloßem Auge sichtbar sein müsste. Doch das ist er eindeutig nicht. Raumschiffe sind weit außerhalb unserer Erde gereist, und Astronauten und Bordkameras haben auf unseren Planeten zurückgeblickt, aber sie haben keinen Berg Meru gefunden.
Seine Heiligkeit hat diese Argumentation viele Male in öffentlichen Vorträgen dargelegt und erklärt, dass er den Meru-Kosmos nicht mehr akzeptiert. Er sagt weiter, dass er größten Respekt vor dem angesehenen indischen Meister Vasubandhu hat, der das Schatzhaus des höheren Wissens verfasst hat, in der ein ganzes Kapitel der Darstellung dieses Systems gewidmet ist. Trotzdem könne er diese Darstellung nicht mehr akzeptieren. Vasubandhus Arbeit ist seit Hunderten von Jahren ein wichtiger Teil des tibetischen monastischen Lehrplans und wird ernsthaft studiert. Und nun lehnt der gegenwärtige Dalai Lama eines seiner Kapitel völlig ab.
Im Buddhismus ist die Analyse der Ansichten und Lehren der vielen buddhistischen Philosophien des alten Indien alltäglich, und ein Großteil der Abhidharma-Philosophie über die Natur der Realität, des Selbst und der letztendlichen Wahrheit wird von anderen buddhistischen Lehren abgelehnt. Dennoch werden sie immer noch als Hilfsmittel zum Verständnis tiefergehender Philosophien studiert. Wenn jedoch die Behauptung Seiner Heiligkeit akzeptiert wird, kann nicht mehr gesagt werden, dass das Studium der Abhidharma-Kosmologie einen praktischen oder theoretischen Nutzen hat. Daher führen solche Erklärungen zu großen Verschiebungen im monastischen Lehrplan. Es beunruhigt ihn jedoch nicht, dass er das Boot der Tradition zum Wanken bringt, weil diese Aussagen auf der Grundlage ehrlicher Untersuchung und Argumentation gemacht werden. Er ist kein Bilderstürmer um seiner selbst willen.
Er hat auch einige Aspekte der Karma-Lehre in Zweifel gezogen. In der buddhistischen Philosophie ist Karma der Schöpfer. Es ist eine zentrale Lehre, und es wird gesagt, dass alle Phänomene das direkte oder indirekte Produkt des Karma-Prozesses sind. Seine Heiligkeit hat jedoch erklärt, dass die Wechselwirkung der vier äußeren Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft eine Rolle im Erschaffungsprozess spielt, ohne dass karmischer Einfluss erforderlich wäre. Einmal sagte er: „Wenn ein Blatt von einem Baum fällt, zeigt seine Spitze in eine bestimmte Richtung, wenn es auf dem Boden landet. Wird diese Richtung vom Karma bestimmt? Wenn ja, von wessen Karma?“ Eine strenge Interpretation der buddhistischen Philosophie würde sagen, dass es nichts gibt, was nicht durch individuelles oder kollektives Karma geschaffen wurde, aber hier stellt der Dalai Lama das infrage.
Er zögert auch, einige der fantastischeren Elemente in der buddhistischen Geschichtsschreibung zu akzeptieren – wie zum Beispiel die Behauptung, es gebe große MeisterInnen, die seit Hunderten von Jahren leben –, und sagt, dass wir in unseren Einschätzungen solcher Ereignisse realistischer und praktischer sein sollten. Er warnt vor der Gefahr exzessiver „reiner Sichtweisen“, durch die die Tibeter, von ihrem Glauben getrieben, in übertriebenem Maße das Göttliche im Gewöhnlichen sehen und zögern, es unvoreingenommen zu untersuchen. Er betont, dass die Tibeter Buddhisten des 21. Jahrhunderts sein und buddhistische Studien mit einem modernen wissenschaftlichen Verständnis kombinieren sollten.
Mit solchen radikalen Äußerungen gerät er in Konflikt mit den ungeprüften und ohne Nachfragen akzeptierten Elementen der tibetischen Kultur und religiösen Tradition. Da er sein Volk liebt, kann ihm das nicht leichtgefallen sein, aber er tut, was richtig ist, und das bedeutet, das zu tun, was sinnvoll ist und was für die tibetische Gesellschaft von Vorteil ist, wenn sie ihren Platz in der modernen Welt finden soll. Für alle möglichen Zuhörerschaften betont er den Vorrang einer vernünftigen Argumentation gegenüber bloßem und blindem Glauben. Er tadelt das tibetische Publikum oft sanft für sein Festhalten an Glauben und Ritual zu Lasten von Untersuchung und Analyse. Er ermutigt die tibetische Laiengemeinschaft, das Studium aufzunehmen, wie es die Klostergemeinschaft tut, und erklärt, es gebe keinen Grund, warum das Studium der Schriften auf die Ordinierten beschränkt sein sollte. Sogar vor einigen klösterlichen ZuhörerInnen betont er die Bedeutung des Studiums, wenn er das Gefühl hat, dass sich die Mönche und Nonnen übermäßig auf das Ritual konzentrieren, zum Nachteil des Lernens. Er regt sogar Debatten und Diskussionen in den Schulen über nichtreligiöse Themen an. Auch bei seiner Förderung der Gleichberechtigung der Frauen in der tibetischen Gesellschaft und insbesondere in der monastischen Gemeinschaft verwendet er Argumente, um die von ihm vorgebrachten Punkte zu untermauern. Er tut es nicht, weil es in Mode ist. Das Thema Gleichstellung der Geschlechter wird in diesem Buch ausführlich behandelt.
Einmal, als ich um den Tempel in Dharamsala, Indien, herumging, sah ich einen alten Mönch, der eine Schrift trug. Während ich mit ihm plauderte, fragte ich ihn, ob er sich für Wissenschaft interessiere. Er lächelte und winkte ab: „Nein, nein, ich bleibe bei den heiligen Schriften.“
Seine Heiligkeit ist natürlich anders. Sein Interesse an der Wissenschaft ist bekannt, und dieses Interesse wird im vorliegenden Buch ausführlich beschrieben. Aber was ist es, das sein Interesse entfacht, und wie weit geht er, um wissenschaftliche Theorien zu akzeptieren?
Da ist zunächst seine natürliche Neugier darauf, wie die Dinge funktionieren. Das zeigte sich schon, als er noch ein kleines Kind war und wissen wollte, wie alles funktioniert. Als er älter wurde, genoss er es, Uhren auseinanderzunehmen und zu versuchen, sie wieder zusammenzubauen. Als buddhistischer Philosoph und Praktizierender gibt es jedoch einen ernsteren Grund, warum er die Wissenschaft oder insbesondere das wissenschaftliche Denken mag. Er bewundert den wissenschaftlichen Ansatz, von einer unvoreingenommenen und ehrlichen Haltung auszugehen, in der keine Position gegenüber einer anderen bevorzugt wird und Fakten nicht selektiv gesucht werden, um ein bereits festgelegtes Ergebnis zu unterstützen. Und er betont nachdrücklich, dass diese Haltung auf buddhistische philosophische Studien angewandt werden sollte. Buddhistische Argumente sollten nicht zirkulär sein und eine Debatte steuern, um zu einer gewünschten Schlussfolgerung zu gelangen. Einmal, als er einen Vers in einem Text kommentierte, der über die Unterschiede zwischen gewöhnlichen Menschen und YogInis sprach, sagte er, dass WissenschaftlerInnen vielleicht die heutigen YogInis seien, weil sie das Unbekannte verstehen wollen. Vielleicht irritierte eine solche Aussage diejenigen, die sich YogInis immer noch als spärlich bekleidete Menschen vorstellen, die mit verfilzten Haaren in einer Höhle irgendwo im Himalaya hausen. Aber seine Aussage hat ihre eigene Logik, weil echte YogInis versuchen, verborgene Wahrheiten zu erkennen, während ein Großteil der Welt nur mit dem täglichen Leben beschäftigt ist.
Er schätzt die Wissenschaft auch wegen ihrer ontologischen Herangehensweise an das, was die Buddhisten die „grundlegende Realität“ unserer Existenz nennen. Ein Verständnis der grundlegenden Realität wie der Natur des Geistes, des Maßes von Glück und Leid, ihrer Ursachen und der Realitäten in Bezug auf Phänomene auf einer groben und tiefen Ebene ist für den Buddhismus unerlässlich, um seine Pfade und daraus resultierende Zustände aufzubauen – das heißt, Befreiung vom Leiden. Seine Heiligkeit ist der Ansicht, dass in einigen Bereichen, insbesondere in Bezug auf die Materie, das wissenschaftliche Verständnis der grundlegenden Realität detaillierter und genauer ist als die buddhistischen Erkenntnisse und dass daher die Wissenschaft für den Buddhismus von Nutzen sein kann. In anderen Bereichen, beispielsweise in denen, die sich auf das Bewusstsein konzentrieren, glaubt er, dass der Buddhismus der Wissenschaft viel zu bieten hat. Daher sucht er den Meinungsaustausch durch verschiedene Konferenzen und Institutionen.
Wahrscheinlich tut der alte Mönch, der die Schrift der Wissenschaft vorzieht, dies einfach, weil er schon zu lange damit beschäftigt war, als dass er noch etwas Neues und Fremdes studieren wollte. Und wahrscheinlich kann er auch nicht genug Englisch. Es gibt jedoch einige im Westen, die Wissenschaft und Religion als verfeindet betrachten. Sie denken, dass die Wissenschaft mächtig und weit verbreitet ist und dass sie den Buddhismus leicht überwältigen und in die Bedeutungslosigkeit verbannen könne. Seine Heiligkeit denkt nicht so. Für ihn ist die Wissenschaft ein Gefährte, und Buddhismus und Wissenschaft, die zusammenarbeiten, haben der Welt viel zu bieten.
Er betrachtet auch die alte Vorstellung, dass sich die Wissenschaft mit dem Materiellen befasst, während die Religion mit dem Spirituellen umgeht, als eine unnötige und künstliche Trennung. Er setzt einige Bereiche der Wissenschaft, insbesondere die der Quantenphysik, in denen die Wahrnehmung eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Existenz spielt, in Beziehung zu bestimmten buddhistischen Lehren, die im alten Indien entstanden sind. Diese alten Lehren hatten den soteriologischen Zweck, Leiden zu lindern und Glück zu bringen. Wäre es nicht möglich, dass die Quantenphysik und andere Zweige der modernen Wissenschaft der Menschheit auf die gleiche Weise dienen könnten?
Seine Heiligkeit tut alles, um auf Bitten von Westlern, die sich für den Buddhismus interessieren, einzugehen. Wenn er ihnen nachkommt, lehnt er sich nie zurück und stellt eine spirituelle Distanz zwischen sich und dem Bittsteller her nach dem Motto: „Ich bin Buddhist, und so ist es.“ Sondern er versucht zu sehen, wie er ihnen am besten helfen kann. Dabei hat er weder Angst, seine Autorität zu verlieren, noch bleibt er reserviert, um seinen „heiligen Status“ zu schützen. Bereitwillig lässt er sich auf die echten Wünsche seines Publikums ein. Kurz gesagt: Er nähert sich nicht der westlichen Welt, um zu predigen oder zu bekehren. Er hat nicht den Wunsch, Westler zu Buddhisten zu machen, sondern will nur helfen.
Seine Unterstützung der säkularen Ethik ist bekannt und ein Thema, das in diesem Buch umfassend behandelt wird. Obwohl er sich eng an buddhistische Prinzipien hält und sein Vertrauen in sie unerschütterlich ist, legt er, wenn er mit Westlern spricht, oft die großen Lehr- und Glaubensgebiete der Religion beiseite, wie etwa die Sicht auf vergangene und zukünftige Leben, die Existenz allwissender Buddhas usw. In der Tat könnte man sagen, dass es sein Verständnis und seine Hingabe an den Buddhismus sind, die ihn so bereit machen, fast nichtbuddhistisch, pragmatisch und hier und jetzt in seinen Lehren zu sein. Das zentrale Thema des Buddhismus ist Mitgefühl, nicht Dogma, logische Beweisführung, nicht Schrift. Und kein wahrer Buddhist wird jemals versuchen, andere zu bekehren.
Eine Sache, die in den Ansprachen Seiner Heiligkeit auffällt, ist, wie er immer versucht, das Gute im anderen zu sehen. Egal wie eine Person oder eine Gemeinschaft in der Welt gesehen wird, er wird nach ausgleichenden Eigenschaften suchen. Wenn es keine gibt, wird er mit Mitgefühl reagieren, niemals mit Ärger. Vor einigen Jahren erklärte er öffentlich, dass wir Mitgefühl für den serbischen Politiker und früheren Präsidenten Slobodan Milošević haben sollten, der wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde. Dafür erhielt er viel öffentliche Kritik, aber seine Kommentare wurden auf der Grundlage seiner eigenen Wahrnehmung dieses Mannes als Objekt des Mitgefühls gemacht, und er trennt die Person von der Tat. Weder leugnete er die Verbrechen noch entschuldigte er sie, er schaute über sie hinaus auf den Menschen, in dem festen Glauben, dass alle Wesen Mitgefühl verdienen. Auf diese Weise erreicht er die Balance, anderen entgegenzukommen, ohne jemals ihren Ansichten nachzugeben, um ihre Zuneigung zu gewinnen. Er tut und sagt, was er für richtig hält.
Vor ein paar Jahren war ein tibetischer Freund von mir, der im Westen lebte, für die Organisation eines groß angelegten Besuchs des Dalai Lama verantwortlich. Am Ende des Besuchs hatte er das Gefühl, dass er bei der Organisation der Veranstaltungen nicht so gut abgeschnitten hatte, und ging zu Seiner Heiligkeit, um sich für die wenig beeindruckenden Arrangements zu entschuldigen. Der Dalai Lama antwortete mit den Worten: „Die einzige Person, die du beeindrucken musst, bist du selbst. Wenn du dein Bestes gegeben hast, ist das genug.“ Diese Worte hatten eine starke Wirkung auf meinen Freund. Im Wesentlichen glaubt der Dalai Lama, dass eine freundliche Motivation, Ehrlichkeit, Demut und eine gründliche Analyse der Situation die beste Handlungsweise darstellen. Wenn sich daraus Erfolg ergibt, gut. Wenn nicht, hat man immer noch sein Bestes getan.