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Das spirituelle Lieblingsbuch des Dalai Lama erklärt von ihm selbst Als der Dalai Lama in einer kalten Märznacht des Jahres 1959 über die Bergpässe des Himalaja aus Tibet floh, konnte er nicht viel bei sich tragen aber er ließ es sich nicht nehmen, dieses Buch mitzunehmen: Die Stufen des Weges zur Erleuchtung, verfasst von dem großen buddhistischen Weisen Tsong-kha-pa (um 1400). Hier ist es, versehen mit den persönlichen Erklärungen des spirituellen Oberhauptes der Tibeter und Friedensnobelpreisträgers. Wenn es ein Buch gibt, das die eigentliche Essenz des tibetischen Buddhismus enthält, dann ist es ganz bestimmt dieses. Das unsterbliche Werk des Tsong-kha-pa errichtet ein festes Fundament für die Erkenntnis, dass der einzelne Mensch nur in Verbundenheit mit anderen Menschen existieren kann. Für den Dalai Lama ergibt sich daraus die Verantwortung eines jeden für das Wohlergehen aller. Gerade in der globalisierten Welt sind unsere Geschicke auf diesem Planeten eng miteinander verknüpft. Niemand kann wahres Glück finden, ohne auch die anderen zu berücksichtigen. Glück und Erleuchtung sind eins, ebenso wie persönliche Selbstentfaltung und Mitmenschlichkeit: Dies ist der Kern der buddhistischen Lehre, und so lebt es der Dalai Lama selbst vor. Dieses Buch ist ein unerschöpflicher Quell der Weisheit und des Lebenswissens, allen Menschen geschenkt von einer der bekanntesten und glaubwürdigsten Persönlichkeiten der Welt: ein leuchtendes Beispiel für spirituelle Ökumene, für Toleranz und Liebe zu allen Geschöpfen und unserem Planeten. "Ganz gleich, wo das Leben uns hinstellt, ganz gleich, was unser persönliches Karma ist: Die Stufen des Weges zur Erleuchtung sind ein Springbrunnen spiritueller Inspiration für uns alle." Tenzin Gyatso, der XIV. Dalai Lama
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Seitenzahl: 325
Dalai Lama
Eine zeitlose Weisheit
Aus dem Amerikanischenvon Jochen Lehner
Die amerikanische Originalausgabe From Here to Enlightenment. An Introduction to Tsong-Kha-Pa’s Classic Text. The Great Treatise on the Stages of the Path to Enlightenment by His Holiness The Dalai Lama, translated, edited, and annotated by Guy Newland ist erschienen bei SNOW LION, an imprint of Shambhala Publications, Inc., Boston.
1. eBook-Ausgabe 2022
Vollständige Taschenbuchausgabe 2021
© 2012 by The Dalai Lama Trust
Published by arrangement with Shambhala Publications, Inc. Boston
© 2013 der deutschsprachigen Originalausgabe Scorpio,
ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München
Logoentwurf: Hauptmann und Kompanie, Zürich
Umschlaggestaltung: Danai Afrati, München
Umschlagmotiv: © AdobeStock /ananaline
Satz: Danai Afrati
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-943416-34-3
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Vorwort des Herausgebers
Zur Einführung, Robert A. F. Thurman
1Tiefe Verbindungen
2Der große Wert dieser Lehre
3Das Herz des Buddhismus
4Buddhistische Antworten auf große Fragen
5Die vier edlen Wahrheiten
6Die Praxis
7Der Sinn des Lebens
8Befreiung und Liebe
9Der Geist der Erleuchtung
10Aktives Mitgefühl
11Gemütsruhe
12Leerheit
13Die Wirklichkeit und das abhängige Entstehen
14Den Mittleren Weg finden
Ausklang
Anmerkungen
Mit diesem Buch lädt der Dalai Lama Sie ein, sich ihm beim Studium eines der allergrößten Werke seiner Tradition anzuschließen. Es handelt sich um Tsong-kha-pas Große Abhandlung über die Stufen auf dem Pfad zur Erleuchtung. Als Seine Heiligkeit in einer kalten Märznacht des Jahres 1959 aus Lhasa floh, konnte er nicht viel mitnehmen, aber es war ihm sehr wichtig, dass dieses Buch mitkam. Tsong-kha-pas monumentales Werk fasst die sehr umfangreiche ältere Literatur über den buddhistischen Weg zusammen und ist seiner Anlage nach sowohl prägnante Philosophie als auch spiritueller Ratgeber. Anlass zu dieser Darlegung der Großen Abhandlung durch Seine Heiligkeit an der Lehigh University (Bethlehem, Pennsylvania) 2008, der ersten überhaupt im Westen, war die Veröffentlichung der ersten vollständigen englischen Übersetzung des Werks (Great Treatise on the Stages of the Path to Enlightenment, 3 Bände, Ithaca, N. Y.: Snow Lion Publications, 2001–2004).
Tsong-kha-pas 1402 veröffentliche Große Abhandlung ist ein grundlegendes und bahnbrechendes Werk, das eine ganz charakteristische Deutung des Begriffs »Leerheit« als höchste Realität gegen alternative Anschauungen verteidigt. Es ist ein in der Geschichte des tibetischen Buddhismus umstrittenes, aber auch sehr einflussreiches Werk. Der Dalai Lama konzentriert sich jedoch in seinen hier vorgelegten Äußerungen zu diesem Werk nicht auf unterschiedliche Lehrmeinungen in den verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus; er präsentiert Tsong-kha-pas Anschauungen nicht als Widerlegung unterlegener Alternativen, sondern betont ihre einigende Kraft für die tibetische Weisheitstradition in ihrer ganzen Breite und Tiefe. Als Herkunft dieses reichen Erbes benennt er klar die Weisheitstradition Indiens, und auf der anderen Seite schlägt er den Bogen zur universalen menschlichen Erfahrung.
Mit Leichtigkeit, Humor, Leidenschaft und absolut souverän führt uns Seine Heiligkeit durch Tsong-kha-pas Große Abhandlung und stellt seine Erläuterung unter das Generalthema des »abhängigen Entstehens«, die tiefgründige Lehre, nach der alle Dinge nur in inniger Verbundenheit entstehen und existieren können. In jedem Kapitel kommt er erneut auf dieses Thema zurück und betrachtet alle Aspekte des Pfades unter dem Gesichtspunkt dieser Lehre. Um ein paar Beispiele zu geben: Im ersten Kapitel spricht er unter anderem über globale Verantwortung und macht deutlich, wie klar gerade in dieser modernen Welt zu erkennen ist, dass unsere Geschicke auf diesem Planeten eng miteinander verknüpft sind und kein Einzelner und kein Land Glück finden kann, ohne auch die anderen zu berücksichtigen. Oder er weist auf den großen Wert aller Weltreligionen für ihre Anhänger hin, lässt jedoch andererseits keinen Zweifel daran, dass die buddhistische Lehre der wechselseitigen Abhängigkeit den Glauben an einen Schöpfergott ausschließt, der selbst ungeschaffen und folglich ohne Ursache ist. Im Buddhismus gilt, dass alles nur in seiner Verbundenheit mit anderen Dingen existiert und von ihnen abhängig ist. Zugleich betont Seine Heiligkeit aber auch, wie wichtig die starke Überzeugung ist, dass unsere Entscheidungen aufgrund der Abhängigkeitsbeziehung zwischen karmischen Ursachen und Folgen Gewicht besitzen und unser Handeln entsprechende Konsequenzen nach sich zieht. Mit analytischer Präzision deckt er die ineinandergreifenden Prozesse auf, durch die wir mit unserem Festhalten an einem falschen Ich-Gefühl in immer weitere Zyklen unnötiger Leiden geraten. Immer wieder führt er vor, wie buddhistische Grundbegriffe, etwa die »drei Kostbarkeiten« und die »vier edlen Wahrheiten«, ihre wahre Bedeutung preisgeben, wenn wirklich verstanden wurde, wie alle Dinge in Abhängigkeit von anderen entstehen und darüber hinaus nicht auch noch von eigenständiger Existenz sind. Er beleuchtet, wie Liebe, Mitgefühl und Güte dadurch zustande kommen, dass wir unsere Verbundenheit mit anderen und unsere Beziehungen zu ihnen zutiefst als ein Geflecht von wechselseitigen Bedingungen erfahren. Schließlich zieht er eine Parallele zur Quantenphysik und bringt uns den Gedanken nahe, dass die Realität als solche nicht objektiv konstatiert werden kann, weil sie nur in der Wechselbeziehung zwischen dem erfahrenden Bewusstsein und seinen Gegenständen existiert.
Dieses Buch ist selbst ein Fall von abhängigem Entstehen. Es verdankt sich Lehrvorträgen, die von unzähligen Ursachen und Bedingungen abhingen, darunter das Lebenswerk von Geshe Ngawang Wangyal, die vielen treuen Freunde des Tibetan Buddhist Learning Center und der Einsatz des Lehrkörpers, der Angestellten, der Studenten und der Verwaltung der Lehigh University. Allen, die mir halfen, dieses Buch zu dem zu machen, was es ist, bin ich zutiefst dankbar, insbesondere Geshe Thupten Jinpa, dessen glänzende Simultanübersetzung von entscheidender Bedeutung für die Abfassung des Manuskripts war, sowie dem ehrwürdigen Geshe Lhaktor und seinem Assistenten Tsering Gyatso, die das von Seiner Heiligkeit auf Tibetisch Vorgetragene transkribierten. Joshua Cutler, Diana Cutler, Geshe Yeshe Thapkay, Thubten Chodron, Steven Rhodes, Gareth Sparham, Natalie Hauptman, Thomas Griffin und Susan Higginbotham verdanke ich entscheidende Hilfen immer dann, wenn ich sie brauchte.
Da Seine Heiligkeit vor englischsprachigem Publikum über die Große Abhandlung sprach, gebe ich für seine häufigen Zitate in Klammern immer die Fundstelle (Bandnummer und Seite) in der englischen Ausgabe des Verlags Snow Lion Publications an. Ich habe die Ausführungen Seiner Heiligkeit mit erläuternden Anmerkungen versehen und gebe dort auch die bibliografischen Daten englischer Fassungen der vielen weiteren von ihm angeführten Werke an. Da dieses Buch laienverständlich sein möchte, habe ich bei Sanskrit-Wörtern die diakritischen Zeichen weggelassen und gebe auch tibetische Namen und Begriffe nicht in wissenschaftlicher, sondern in annähernd den Klang nachahmender Transliteration wieder.
Es ist mir eine Ehre, dieses großartige Buch zu begrüßen. Hier legt Seine Heiligkeit der Große Vierzehnte Dalai Lama Tibets (geboren 1935) eine ebenso prägnante wie umfassende Darstellung der Kern-Unterweisungen vor, die Je Rinpoche Tsong Khapa Losang Drakpa (1357–1417) in seiner Großen Abhandlung über die Stufen auf dem Pfad zu Erleuchtung bis ins Detail darlegte. Tsong Khapa schrieb das Werk 1402 im vierten Jahr nach seiner vollkommenen Erleuchtung in einer Berghöhle hoch über dem Einödkloster, in dem er sich zu seinem fünfjährigen Retreat aufgehalten hatte. In den Jahren danach hatte er nur eines im Sinn, nämlich aus der Befreiungslehre des Buddha und seiner zahlreichen Nachfolger bis hin zu Atisha (982–1054) eine Aufstiegshilfe für den Weg zur Erleuchtung zu machen, deren sich Menschen jeder Art und Herkunft bedienen konnten.
Dieses großartige Werk wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts von Schülern des ehrwürdigen Geshe Wangyal ins Englische übertragen. Aus diesem Anlass kam Seine Heiligkeit 2008 in die Vereinigten Staaten und gab eine in diesem Buch wunderbar festgehaltene Einführung in die Praxis. Ich hatte das Glück, daran teilnehmen zu können, aber wenn ich das Buch jetzt lese, muss ich doch staunen, wie viel mir damals entging. Es ist, als blickte man durch eine starke Lupe auf einen geschliffenen Diamanten: Hat man die Unterweisungen als Text vor sich liegen, entdeckt man noch mehr Proportion und Tiefe, noch schönere Lichtbrechungen.
Das Buch gibt einem alles an die Hand, was man braucht, um sich auf den großen Weg mit seinen Stufen zu machen. Dennoch ist es kurz und einfach gehalten, verlangt dem Anfänger nie zu viel ab, während es zugleich die Erfahreneren auffordert, neu hinzusehen, um tiefere, verfeinerte Einsichten zu gewinnen. Es ist eine Quintessenz, wie man sie nur von diesem wahrhaft großen Lehrer der Möglichkeiten und Realitäten menschlicher Weisheit und menschlichen Mitgefühls erwarten kann.
Am Beginn der Großen Abhandlung geht Tsong Khapa selbst auf die Größe dieser Lehre ein, die sein illustrer Vorgänger Atisha in den wegbereitenden und für die Kadam-Schule des tibetischen Buddhismus so grundlegenden Werken Leuchte auf dem Weg des Erwachsens und Stufen des Erleuchtungsweges hinterlassen hatte. Gewähr für die Größe einer Lehre ist unter anderem die Größe des Lehrers, und Atishas Größe geht aus seiner Biografie hervor, sie ist an seinem gewaltigen Einfluss auf Indien und Tibet zu erkennen, vor allem aber an seiner Hinterlassenschaft in Form des »Viereck-Pfades« zur authentischen Rezeption der Lehren des Buddha. Diese vier Eckpunkte sind:
1.Alle Lehren sind als widerspruchsfrei zu erkennen.
2.Alle Darlegungen werden als praktische Anleitung wirksam.
3.Die Intention des Besiegers (Buddha) ist folglich leicht zu erkennen.
4.Dadurch wird der Abgrund der Abkehr vom Dharma umgangen.
Tausend Jahre später ist dieser Pfad der vier Eckpunkte nach wie vor das beste Mittel gegen sektiererische Tendenzen im Buddhismus, und wie dieses kostbare Buch mehr als hinreichend deutlich macht, lebt Seine Heiligkeit der Dalai Lama die unerschütterliche Treue zu diesem Weg wie wohl kaum ein anderer. Seine eigene Praxis, seine nie behauptete, aber klar erkennbare Verwirklichung und seine ebenso sorgfältige wie eloquente Art der Kommunikation scheinen wider aus diesem Buch und sind für den Schüler eine weit geöffnete Tür zum großen Weg.
Gleich zu Beginn teilt Seine Heiligkeit die drei Dinge mit, um die es ihm vor allem zu tun ist: Als Mensch möchte er die essenziellen Werte der klar blickenden Intelligenz und des Mitfühlens gewahrt wissen; als buddhistischer Mönch möchte er, und das von ganzem Herzen, alle großen religiösen Traditionen außerhalb des Buddhismus in den Weg der vier Eckpunkte einbezogen wissen, wobei er insbesondere Judentum, Christentum und Islam anspricht, aber auch die spirituellen Traditionen des säkularen Humanismus meint; und als Tibeter, der Frieden und Aussöhnung mit allen Völkern anstrebt, wendet er sich liebevoll und verständnisvoll den Chinesen zu, die unter normalen menschlichen Gesichtspunkten wohl zu den schlimmsten Feinden Tibets zu zählen wären.
Auch innerhalb des Buddhismus bekundet er seine Hochachtung gegenüber dem, was er Pali-Tradition nennt, also dem Theravada, der »Schule der Alten«, und ihren Lehren, aber auch gegenüber dem von ihm als Sanskrit-Tradition bezeichneten Mahayana, zu dem er auch den chinesischen Buddhismus als ehrwürdigen Vorfahren zählt. Danach jedoch lässt er keinen Zweifel daran, dass Tsong Khapa und er selbst in der Tradition der buddhistischen Nalanda-Universität Indiens stehen, die auf Nagarjuna, Arya Asanga und andere zurückgeht. Er lässt uns teilhaben an der tiefen Freude, die er empfindet, wenn er Gelegenheit hat, indische Schüler zu unterweisen und sie mit Geist und Herz wieder an ihre lange verschollenen intellektuellen und spirituellen Schätze heranzuführen:
Besonders tief bewegt und berührt es mich, wenn ich Gelegenheit habe, indischen Buddhisten buddhistische Unterweisungen zu geben. Überall in der Welt, wo ich lehre, besteht meine Botschaft eigentlich in altindischem Denken. Wirklich nichts weiter. Nehmen Sie die Lehre der Gewaltlosigkeit, Ahimsa – eine indische Tradition. Und bei allem, was ich hier über den Weg zur Erleuchtung sage, handelt es sich um die Schätze der Nalanda-Tradition. Wenn ich also zu meinen indischen Freunden spreche, steht mir dabei vor Augen, wie wir in Tibet die Kostbarkeiten lebendig erhalten haben, die ihnen im Laufe der Jahrhunderte weitgehend abhandenkamen. Es macht mich so unglaublich froh, sie ihnen zurückzugeben. (S. 42)
Beim intensiven Lesen dieses Abschnitts fiel mir wieder ein, welch ein dringendes Anliegen es Seiner Heiligkeit ist (und dem verstorbenen Geshe Wangyal war), die in der Bibliothek der Nalanda-Universität aufbewahrten und im Tengyur, dem tibetischen Schriftenkanon, gesammelten Werke der großen Pandita oder Gelehrten und Weisen ins Englische und Chinesische sowie in die modernen indischen und europäischen Sprachen übersetzt zu sehen. Und schließlich macht er erkennbar, wie Tsong Khapas Große Abhandlung Atishas Darstellung des Pfades beleuchtet, aufbauend auf dem, was der Kagyu-Meister Gampopa (1079–1153), der Sakya-Meister Sapan (1182–1251) und der Nyingma-Meister Longchenpa (1308–1364) bereits so wunderbar entfaltet hatten. Darin zeigt sich der Einklang, in dem Tsong Khapas Große Abhandlung mit den Kernlehren der übrigen Haupttraditionen des tibetischen Buddhismus steht.
Wenn Seine Heiligkeit schließlich zu den eigentlichen Lehren vom Pfad kommt, geht er alle von Atisha und Tsong Khapa aus den Sutras isolierten Lehren durch, die für die Entwicklung des Einzelnen von zentraler Bedeutung sind: die Kostbarkeit des menschlichen Lebens und sein Zweck; grobe und subtile Vergänglichkeit und das Bevorstehen des Todes; das Wirken der karmischen Kausalität; die Unvermeidbarkeit des Leidens in einem auf das eigene Ich ausgerichteten Leben; die Herrlichkeit und Glückseligkeit des nichts ausschließenden Mitgefühls und der Übergang zum Erleuchtungsgeist eines Bodhisattwas; und die höchste transzendente Weisheitslehre der Ichlosigkeit, Leerheit und universalen Relativität (das abhängige Entstehen und das abhängige Benennen). Kapitel für Kapitel kredenzt er uns die Quintessenz jeder Stufe so freigiebig und so auf den Punkt gebracht – die Präzision und Reichweite sind buchstäblich atemberaubend. Hin und wieder und wie beim Vortrag selbst legt er eine Pause ein, um große und repräsentative Fragen von Studenten und Praktizierenden zu beantworten, und auch das trägt wesentlich dazu bei, die vermittelten Ideen leichter zugänglich zu machen.
In den letzten Kapiteln führt uns Seine Heiligkeit behutsam durch die Vielschichtigkeit der Lehren des Mittleren Weges, wie sie von Madhyamika-Philosophen wie Nagar- juna, Aryadeva, Chandrakirti, Shantarakshita und Tsong Khapa vertreten werden, sowie durch die Feinheiten der dialektischen (Prasangika) und dogmatischen (Svatantrika) Auffassung der Leerheit und der beiden Realitäten (der relativen und der absoluten). Es gelingt ihm tatsächlich, diese Themen klar und nachvollziehbar zu behandeln oder zumindest so viel Orientierung zu geben, dass man Lust bekommt, sich näher damit zu befassen. Am Schluss steht die herzliche Aufforderung an uns alle, uns auf den Weg zu unserer eigenen Buddhaschaft zu machen und es nicht einfach dabei zu belassen, dass andere sie haben, dass große Meister sie erringen. Nein, wir sind alle aufgerufen, die in uns allen, Buddhisten und Nichtbuddhisten, angelegte glückselige Weisheit des klaren Lichts zu entfalten und so nach diesem unvorstellbar freien und glücklichen, aber erreichbaren Leben zu streben.
Wenn die Größe einer Lehre ein wichtiger Anreiz für die Auseinandersetzung mit ihr ist und die Größe eines Lehrers auf die Größe der Lehre schließen lässt, muss wohl die Größe dieses Weltlehrers, des buddhistischen Mönchs Tenzin Gyatso, Seiner Heiligkeit des Großen Vierzehnten Dalai Lama, die sich in diesem prägnanten und klaren Buch so überaus deutlich zeigt, ein klarer Hinweis auf die ungebrochene Vitalität dieses Werks über die Stufen des Weges zur vollen Erleuchtung sein. Möge es sich in der pluralistischen spirituellen Kultur dieses Weltzeitalters für aufgeschlossene Menschen aller Glaubens- und Nichtglaubensrichtungen als hilfreich erweisen.
ROBERT A. F. THURMAN
Jey Tsong Khapa Professor of Indo-Tibetan Buddhist
Studies, Columbia University
President, Tibet House US
GANDEN DEKYI LING,
Woodstock, New York
31. Mai 2012, im Saga Dawa, dem tibetischen Jahrdes königlichen Wasserdrachen 2139
Guten Tag Ihnen allen. Es ist mir eine große Freude, hier zu sein, um Vorträge über Die große Abhandlung über die Stufen auf dem Pfad zur Erleuchtung (tib. lam rim chen mo)1 zu halten. Ich habe das Zentrum des verstorbenen Geshe Wangyal auch während meines ersten Aufenthalts in Amerika 1979 besucht, denn zwischen den Tibetern und Mongolen besteht schon sehr lange und insbesondere seit der Zeit des Dritten Dalai Lama eine sehr enge Verbindung.2 Wir Tibeter haben eine ganz besondere und tiefe Beziehung zu den Mongolen einschließlich der Kalmücken und Burjäten. Einer meiner besten Studienfreunde war Ngodrup Tsokyi, ein Mongole. Von ihm habe ich so viel Hilfe erfahren – da ist es ganz natürlich, dass man sich verbunden fühlt. Bei einem meiner Besuche im Zentrum des verstorbenen Geshe Wangyal erinnerten wir uns an die vielen Geschichten von unserem starken Miteinander in der Vergangenheit. Wir waren alle sehr bewegt davon und hatten Tränen in den Augen.
Joshua Cutler, der Direktor des Tibetan Buddhist Learning Center, ist weder Tibeter noch Mongole, sondern ein Amerikaner europäischer Abstammung. Aber er und Diana, glaube ich, haben die Arbeit getreulich im Geist Geshe Wangyals fortgeführt. Sie haben mich gebeten, Die große Abhandlung über die Stufen des Pfades zur Erleuchtung zu lehren, und sie haben das Werk ins Englische übertragen. Ich habe zugesagt, irgendwann in der Zukunft über diesen Text zu sprechen, und heute ist es so weit.
Nun ist das Buch natürlich sehr umfangreich. Wir können unmöglich alles in ein paar Tagen durchgehen. Ich werde also in erster Linie seine wesentlichen Aussagen zusammenfassend darstellen und sie erläutern, wo es nötig erscheint.
Die Große Abhandlung wurde von Lama Tsong-kha-pa verfasst, einem großen Gelehrten und wahren Angehörigen der Nalanda-Tradition.3 Ich sehe ihn als einen der größten tibetischen Gelehrten überhaupt. Man kann das Buch heute ohne Weiteres auf Tibetisch oder Englisch erwerben, aber wie Sie sehen, habe ich mein eigenes Exemplar mitgebracht. Am 17. März 1959, als ich am Abend den Sommerpalast Norbulingka verließ, nahm ich dieses Buch mit.4 Seitdem habe ich es zehn- bis fünfzehnmal bei Unterweisungen benutzt, immer dieses Exemplar. Es liegt mir wirklich sehr am Herzen.
Die meisten von Ihnen werden wissen, wofür ich mich engagiere, Sie kennen meine Anschauungen und Gedanken. Einige werden aber auch neu sein, und deshalb möchte ich kurz auf die wesentlichen Dinge eingehen, die mir besonders am Herzen liegen. Zunächst einmal bin ich einfach ein Mensch unter sechs bis sieben Milliarden anderen, die sich alle diesen einen Planeten teilen. Wir alle leben unter der einen Sonne. Heute mehr denn je stehen wir als ein einziges Gemeinwesen vor Phänomenen wie dem Bevölkerungswachstum, der weltweiten Kommunikation ohne Zeitverzögerung, der globalen Wirtschaft und den uns alle betreffenden Umweltproblemen. Tatsächlich sind wir ein Ganzes, und in Wirklichkeit gibt es keine gesonderten, für sich bestehenden Einzelinteressen. Für jeden von uns gilt, dass unsere Zukunft gänzlich von den übrigen Menschen, vom Rest der Welt, abhängig ist. Unsere Anschauungen sind jedoch nach wie vor von einer Art, die aus früheren Zeiten auf uns überkommen ist, in der die Menschen in weitgehend voneinander unabhängigen Gemeinschaften lebten. Zwischen unserer Wahrnehmung und der Realität besteht eine Kluft, und diese Kluft wird größer. Überholte Denkgewohnheiten lassen uns irrtümlich annehmen, wir und unsere engere Lebensgemeinschaft seien von der übrigen Welt unabhängig. Unser Handeln, von diesem Denken geleitet, erweist sich ebenfalls als realitätsfern.
Niemand wünscht sich wachsende Probleme. Aber es gibt nun einmal viele Probleme, und oft schaffen wir sie uns selbst, weil uns der Blick fürs Ganze fehlt, der Blick für die Realität. Wenn wir ein Gefühl für globale Verantwortung bekommen sollen, müssen wir die ganze Erde in den Blick fassen. Sie ist einfach ein kleiner Planet, und unsere individuelle Zukunft ist sehr eng mit der ihren verknüpft. Kümmern wir uns also um unsere Erde. Unsere eigene individuelle Zukunft ist nur dadurch zu sichern, dass wir uns für das Wohl aller Menschen und überhaupt aller Lebewesen dieser Welt engagieren.
Das also ist mein Hauptanliegen: klarzumachen, dass wir ein globales Verantwortungsgefühl brauchen. In diesem Zusammenhang betrachte ich die buddhistische Lehre nicht als Religion, sondern als einen Fundus von Ideen, die uns weiterhelfen könnten. So ist es doch sicher sinnvoll, alle Lebewesen zu berücksichtigen. Es mag unrealistisch wirken, an andere Wesen in anderen Welten zu denken. Ob Sie das so sehen oder nicht, in emotionaler Hinsicht ist es jedenfalls sehr hilfreich. Wenn wir darin geübt sind, uns innerlich unzähligen Lebewesen in unzähligen Welten zuzuwenden, steht doch sicher außer Frage, dass wir uns auch für die weit über sechs Milliarden Menschen auf unserem eigenen Planeten engagieren werden. Und die Abermilliarden Tiere – sie leiden immens unter uns Menschen, ist es nicht so? Da ist die buddhistische Lehre des grenzenlosen Altruismus, der Selbstlosigkeit, sicher höchst relevant. Dabei geht es nicht um künftige Leben oder Erleuchtung, sondern grenzenloser Altruismus erweist sich einfach als praktisch, wenn man ein glücklicher Mensch werden möchte, ein einsichtiger, Nutzen stiftender Mensch auf dieser Erde.5
In den Schwierigkeiten des Alltags können buddhistische Ideen eine große Hilfe sein. Sie rüsten uns mental und vor allem seelisch so aus, dass wir auch in Schwierigkeiten unseren inneren Frieden wahren können. Das dient unserer Gesundheit. Zu viele Sorgen und zu viel Ehrgeiz schüren Argwohn und Neid, und die ziehen psychische Störungen nach sich. Da können sich manche buddhistische Ideen als hilfreich für das geistige und seelische Wohlergehen des Einzelnen erweisen, und in der Folge können sich auch Nutzeffekte für den Körper zeigen. Wenn Sie also nicht gläubig und nicht an Religion interessiert sind, muss das kein Mangel sein. Hören Sie sich einfach diese Ideen an, und wenn Sie etwas finden, das Ihnen brauchbar erscheint, greifen Sie zu. Und was Ihnen unsinnig erscheint, das vergessen Sie einfach.
Mein zweites Anliegen ist die Einmütigkeit unter den Religionen. Ich bin ein Buddhist, manche sehen mich sogar als strammen Buddhisten. Die buddhistischen Meister des alten Indien, namentlich die Gelehrten der Nalanda-Universität, waren sehr, sehr kritische Geister.6 Sie zergliederten alles, sowohl die Worte des Buddha selbst als auch die Anschauungen der nicht buddhistischen Überlieferungen. Buddhistische Meister wie Nagarjuna, Aryadeva, Dignaga, Dharmakirti und Shantarakshita waren Logiker von höchsten Gnaden, die jeden noch so kleinen Bruch, jede noch so kleine Schwäche in nicht buddhistischen philosophischen Positionen aufspürten. Ich bin auch so, bis zu einem gewissen Grade zumindest. Ich möchte ausloten und analysieren, und in diesem Sinne darf man mich als sehr entschiedenen Buddhisten sehen.
Aber ich habe eben auch Sinn für den Wert und das Potenzial aller anderen großen Traditionen. Ist es nicht furchtbar, ist es nicht traurig, dass es Konflikte im Namen der Religion gibt? In der Folge haben unschuldige, aufrichtige Gläubige zu leiden. Es ist also wichtig, sich für Harmonie zwischen den Religionen einzusetzen, und das in einem Geist der Achtung und des gegenseitigen Verstehens. Für Nichtbuddhisten ist es gut, etwas über die Grundzüge des Buddhismus zu wissen, und Buddhisten sollten etwas von den anderen Religionen verstehen.
Deshalb bin ich gestern zum Ajmer-Sharif-Schrein, einem berühmten muslimischen Heiligtum im indischen Rajasthan, gepilgert.7 Es ist vielleicht die heiligste Stätte des Sufismus, der mystischen Tradition des Islam. Jedes Jahr finden hier sechs Tage lang Gebete zum Gedenken an einen großen Heiligen statt. Ich war dazu eingeladen. Es wurde die Nacht hindurch gebetet, aber ich nahm daran nur in den frühen Morgenstunden teil. Da habe ich also gestern früh von halb drei bis halb fünf in der Kleidung eines buddhistischen Mönchs und mit einer muslimischen Kopfbedeckung gebetet.8 Es müssen Hunderttausende Menschen da gewesen sein, und es war unglaublich heiß und schwül. Bei so vielen Menschen auf so engem Raum wurde natürlich geschwitzt, und es roch entsprechend. Nennen wir es den Duft der ethischen Disziplin – gewürzt mit Schweiß. Mein Gewand ist jetzt noch feucht, aber es hat richtig Spaß gemacht, es war wunderbar.
Vor ein paar Wochen gab es in Delhi eine internationale muslimische Konferenz, zu der ich ebenfalls eingeladen war. Ich muss wohl der einzige nicht muslimische Teilnehmer gewesen sein. Am Nachmittag habe ich die Jama-Masjid-Moschee in Delhi besucht und zusammen mit Tausenden Muslimen gebetet.9 Es war das erste Mal, dass ich die weiße Kappe trug. Ich persönlich freute mich riesig darüber, aber es gab auch Bedenken, dass gewisse konservative Elemente die Sache ganz anders sehen könnten. Aber es gab alles in allem sehr positive Reaktionen. Es scheint, die Leute schätzen meine Bemühungen um Einklang und echten Respekt zwischen allen Religionen.
Wenn Sie auch finden, dass Verständnis und Einklang unter den Religionen der Welt eine wichtige Sache sind, dann bitte, werden Sie aktiv. Suchen Sie Kontakt zu den Gläubigen anderer Religionen. Seit dem 11. September ist es ganz besonders wichtig, den Kontakt zu den Brüdern und Schwestern muslimischen Glaubens zu suchen. Viele Menschen haben ein negatives Bild vom Islam und seinen Anhängern, und dieses Bild ist vollkommen falsch.
Sicher, es trifft zu, dass indische Buddhisten in der Vergangenheit vielfach unter den Muslimen zu leiden hatten, doch das ist wie gesagt Vergangenheit.10 Es ist müßig, dabei zu verweilen und alten Hass zu pflegen. Es ist ausgesprochen töricht. Heute leben Muslime zum Beispiel auch in der Gegend von Bodhgaya. Möglicherweise kamen ihre Vorfahren nach Bodhgaya, um den dortigen buddhistischen Tempel zu zerstören.11 Aber heute sind sie den buddhistischen Pilgern wirklich gute Freunde. Immer wenn ich Bodhgaya besuche, heißen sie mich mit Tee und diesen köstlichen Nüssen willkommen. Wie ich das genieße! So sieht die heutige Realität aus. Tausende Muslime leben dort, und sie praktizieren nicht nur ernsthaft ihre Religion, sondern sind wunderbare Menschen.
Mein drittes Anliegen ist Tibet mit seinen Menschen und seiner Kultur. Solange es zwischen Tibetern und Chinesen keine echte Verständigung zum beiderseitigen Wohl gibt, ist es meine Pflicht, für die Tibeter zu sprechen. Leider hat die Propaganda der chinesischen Regierung seit der Krise vom 10. März 2008 vielen Chinesen den Eindruck vermittelt, die Tibeter seien gegen die Chinesen.12 Die Wogen der Gefühle schlugen hoch. Bei meinem letzten Amerikabesuch demonstrierten einige Chinesen vor dem Gebäude, in dem ich meinen Vortrag hielt. Ich hatte den Wunsch, mit ihnen zu sprechen, und tatsächlich kam ich mit sieben von ihnen zusammen. Zwei hörten sich meine Erklärungen ruhig an, aber die übrigen waren so verärgert, dass sie gar kein Interesse hatten zu hören, was ich sagte. Die Gefühle waren einfach zu stark.
Ich finde, dass jetzt die beste Zeit ist, Freundschaftsgruppen von Tibetern und Han-Chinesen überall da einzurichten, wo sie in derselben Kommune zusammenleben. Da lernen sie sich kennen, und wenn dann Probleme entstehen, können sie darüber sprechen, sich gegenseitig informieren und ihre Ansichten austauschen. Bisher gibt es im Normalfall keine Kommunikation zwischen beiden Seiten. Sie bleiben beide für sich, und wenn dann etwas passiert, werden sie von ihren Gefühlen mitgerissen.
Sie können dabei helfen. Wenn irgendwo Tibeter und Han-Chinesen in der gleichen Gegend leben, können Sie ihnen beim Aufbau einer Freundschaftsgruppe helfen. Sie selbst können natürlich auch dabei sein, sofern Sie ehrliche Absichten haben. Letztlich müssen die Han-Chinesen und Tibeter das Problem jedoch selbst und gemeinsam lösen. Niemand kann ihnen das abnehmen.
Wir Tibeter strecken unseren chinesischen Freunden die rechte und unseren Förderern im Westen die linke Hand hin. Die rechte wird als wichtiger gesehen, und die bieten wir der chinesischen Regierung. Solange diese rechte Hand jedoch leer bleibt, wird unsere linke Hand die Hilfen all derer annehmen, die sich wirklich für uns einsetzen. Das ist nur folgerichtig, nur natürlich. In dem Maße, in dem die rechte Hand etwas Konkretes geboten bekommt, kann sich die linke lösen und zum Abschied winken.
Unsere chinesischen Brüder und Schwestern müssen das Tibet-Problem wirklich voll und ganz zur Kenntnis nehmen, das ist entscheidend wichtig. Da ist es gut, ihnen bei jeder Gelegenheit von tibetischer Kultur, tibetischer Sprache oder tibetischer Spiritualität zu erzählen. Erst dann ist es sinnvoll, etwas zur Geschichte zu sagen und dabei die Anschauungen beider Seiten zu berücksichtigen. Auch bei den Chinesen selbst gehen die Meinungen zur Geschichte auseinander, nicht jeder schließt sich der offiziellen Darstellung an. Was wir also brauchen, ist ein die Realität abbildender Ansatz, und dazu ist erst einmal eine umfassende Kenntnisnahme der Realität erforderlich. Selbst unter Ihnen hier ist vielleicht mancher, der dazu etwas leisten könnte.
Nach herkömmlicher Geschichtsauffassung lebte der Buddha vor etwa 2600 Jahren. Seine Lehre verbreitete sich von Indien aus in die umliegenden Regionen, vor allem nach Südostasien und Ostasien. Heute herrscht in Birma, Sri Lanka, Thailand, Kambodscha und anderen Ländern die Pali-Tradition vor. In China, Korea, Japan, Vietnam und eben Tibet und der Mongolei ist die Pali-Tradition ebenfalls vertreten, aber hier finden wir auch die Sanskrit-Tradition.13 Die chinesische Sprache – und erst danach die tibetische – ist eine wichtige Bedingung für das Verständnis des Buddhismus der Sanskrit-Tradition. In China fasste der Buddhismus mindestens drei bis vier Jahrhunderte früher Fuß als in Tibet.
Die Pali-Tradition ist die älteste, sozusagen das Fundament des Buddha-Dharma. Wer in dieser Tradition steht, gehört gleichsam zur Oberstufe der Buddha-Schüler. Innerhalb der Sanskrit-Tradition sind die chinesischen Buddhisten die ältesten Buddha-Schüler, gefolgt von uns, den Tibetern und Mongolen. Deshalb bezeige ich immer als Erstes der älteren Tradition meinen Respekt, wenn ich vor chinesischen Zuhörern spreche.
Aber ich darf vielleicht auch erwähnen, dass die jüngeren Schüler des Buddha manchmal die Nase vorn haben, was den Erkenntnisstand angeht. Der Buddhismus wurde in Tibet durch Shantarakshita eingeführt, einen der führenden Logiker und Philosophen der Nalanda-Tradition. Er kam selbst nach Tibet. Er und sein Schüler Kamalashila waren große Gelehrte, deren Schriften auf uns überkommen sind. Sie waren Logiker, Madhyamika-Philosophen und Mönche, und in diesem Geist unterwiesen sie ihre Schüler in Tibet. Noch heute, im 21. Jahrhundert, studieren wir wichtige Texte in der strengen und gründlichen Weise, die damals eingeführt wurde. Zuerst lernen wir sie auswendig, dann bekommen wir eine Wort für Wort vorgehende Erläuterung. Danach diskutieren wir ihre Bedeutung ebenso gründlich wie präzise. Unsere Kenntnis des Buddha-Dharma geht im Wesentlichen auf diese großen Lehrer zurück, durch sie finden wir uns in die Nalanda-Tradition eingebunden. Ich glaube also, dass die tibetische Tradition führend ist, was die tiefere und ausführlichere Form der Lehre angeht.
Die von indischen Meistern und tibetischen Meistern verfassten Texte unterschieden sich aufgrund der äußeren Umstände. Indien war ja nicht rein buddhistisch, sondern es gab auch viele Nichtbuddhisten, und es kam zu regen Diskussionen zwischen den führenden Gelehrten der verschiedenen Traditionen. Folglich verfassten indische Meister wie Nagarjuna und Aryadeva Texte, die eher auf Vergleich und tiefere Analyse angelegt waren, während tibetische Meister davon ausgehen konnten, dass ihre Zuhörerschaft durchweg buddhistisch war, weshalb sie wenig Vergleichendes schrieben.
Wir haben auf dieser Erde so viele religiöse Traditionen, die alle zu verschiedenen Zeiten ihren Anfang nahmen und den Menschen in ihrem Entstehungs- und Verbreitungsgebiet gute Dienste leisten. Seit mehr als tausend Jahren, in etlichen Fällen seit über zweitausend Jahren, stiften diese Traditionen der Menschheit großen Nutzen. Auch heute sind Abermillionen Menschen von ihnen inspiriert. Das ist einfach eine Tatsache. Auch in der Zukunft werden diese Traditionen Bestand haben und den Menschen dienen.
In der Vergangenheit hat das Nebeneinander vieler verschiedener Traditionen manchmal zu Auseinandersetzungen geführt. Von jetzt an, hoffe ich, wird es seltener zu solchen Problemen kommen, weil wir uns einander näher fühlen werden. Wir bekommen mehr Sinn für den Wert anderer Traditionen. Wir wissen, dass Menschen von unterschiedlicher Art sind und keine Religion allen gerecht werden kann. Im Westen herrscht das Christentum vor, es ist eine jüdisch-christlich geprägte Kultur. Nach meiner Erfahrung ist es oft sicherer und besser, bei der Religion zu bleiben, in der man aufgewachsen ist.
Lassen Sie mich zur Verdeutlichung ein paar persönliche Beobachtungen anführen. Vor langer Zeit habe ich bei der Theosophischen Gesellschaft in Madras eine polnische Theosophin kennengelernt.14 Als ab 1959 immer mehr Tibeter nach Indien strömten, freundete sie sich mit ihnen an und unterstützte viele junge Tibeter bei ihrer Ausbildung. Das führte schließlich dazu, dass sie den Buddhismus zu ihrer Religion machte. Später jedoch, als sie über 80 war und den Tod näher kommen spürte, wurde der Schöpfergott wieder lebendig in ihr und beschäftigte sie zunehmend. Das brachte für sie einiges an Verwirrung mit sich.
Und noch eine Geschichte, diesmal von einer Tibeterin, die mit einem tibetischen Regierungsbeamten verheiratet war. Als er starb, blieb sie mit etlichen kleinen Kindern allein. Sie wurde von christlichen Missionaren unterstützt, die auch dafür sorgten, dass die Kinder eine ordentliche Schulbildung bekamen. Zu mir kam sie irgendwann in den Sechzigerjahren, und sie war sehr traurig. Weil die christlichen Missionare so gut zu ihr gewesen waren, hatte sie beschlossen, in diesem Leben eine Christin zu sein. Aber sie war fest entschlossen, im nächsten Leben wieder Buddhistin zu sein. Hier sehen Sie wieder, wie weit die Verwirrung gehen kann.
Heute interessieren sich viele im Westen für den Buddhismus, und manche sind ernsthaft praktizierende Buddhisten geworden. Aber im Allgemeinen, muss ich sagen, ist es viel sinnvoller, in seiner ursprünglichen Religion zu bleiben. Wir können auch die andere Seite betrachten: Es gibt Millionen Tibeter, und so gut wie alle sind Buddhisten, aber in der Gegend von Lhasa leben seit Jahrhunderten auch muslimische Tibeter. Meist ist es so, dass die Muslime aus Ladakh kamen, sich in Tibet niederließen und Ehen mit Tibetern schlossen. Das war und ist unproblematisch. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es außerdem fromme christliche Tibeter, wenn auch sehr wenige. Ein paar Tausend von sechs Millionen Tibetern fühlen sich also zu anderen Religionen hingezogen. Im Westen gibt es Millionen von christlich geprägten Menschen, die ein sehr waches Interesse am Buddhismus zeigen. Manche dieser Menschen sehnen sich nach einer Spiritualität, die sie in ihrer angestammten Religion nicht finden. Wenn also der Buddhismus Sie wirklich fördert, dann gut; aber es bleibt immer wichtig, auch die Religion, in der Sie aufgewachsen sind, in Ehren zu halten.
Die Realität kann kaum einfach buddhistisch oder christlich sein. Das betone ich immer, wenn ich im Westen lehre, einfach weil ich ein gewisses Zögern in mir spüre.15 Wenn ich dagegen vor Chinesen, Tibetern, Mongolen, Japanern oder Vietnamesen buddhistische Unterweisungen gebe, kann ich davon ausgehen, dass die allermeisten ohnehin schon in der buddhistischen Tradition stehen. Das ist dann unproblematisch. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich sie wieder an ihre ureigenen überlieferten Lehren heranführe, an ihren Dharma, ihre Religion.
Besonders tief bewegt und berührt es mich, wenn ich Gelegenheit habe, indischen Buddhisten buddhistische Unterweisungen zu geben. Überall auf der Welt, wo ich lehre, besteht meine Botschaft eigentlich in altindischem Denken. Wirklich nichts weiter. Nehmen Sie die Lehre der Gewaltlosigkeit, Ahimsa – eine indische Tradition. Und bei allem, was ich hier über den Weg zur Erleuchtung sage, handelt es sich um die Schätze der Nalanda-Tradition. Wenn ich also zu meinen indischen Freunden spreche, steht mir dabei vor Augen, wie wir in Tibet die Kostbarkeiten lebendig erhalten haben, die ihnen im Laufe der Jahrhunderte weitgehend abhandenkamen. Es macht mich so unglaublich froh, sie ihnen zurückzugeben.
Es ist sehr wertvoll, die eigene Tradition beizubehalten. Natürlich können Sie jederzeit Praktiken anderer Religionen, also etwa des Buddhismus, einbeziehen. Manche meiner christlichen Freunde bemühen sich um Mitgefühl, Toleranz und Zufriedenheit und bedienen sich dazu buddhistischer Übungsweisen, ohne gleich die Religion zu wechseln. Das erscheint mir vernünftig und gut.
Dann gibt es aber auch christliche Freunde, die etwas über den buddhistischen Begriff der »Leere« oder »Leerheit« erfahren möchten, und da lache ich meistens und sage: »Das geht Sie nichts an.« Das sage ich zwar im Scherz, aber ich möchte durchaus auch zur Vorsicht mahnen, dieses Interesse kann nämlich ihren Glauben an einen Schöpfergott, an etwas Absolutes, an einen mächtigen Gott untergraben. Es ist für einen Buddhisten nicht ganz einfach, über dergleichen zu sprechen.
Vor vielen Jahren bin ich in England einmal gebeten worden, vor einer christlichen Zuhörerschaft über die Evangelien zu sprechen. Das war eine Herausforderung, schließlich glauben Buddhisten ja eigentlich nicht an einen göttlichen Schöpfer. Letztlich sollte ich also den Glauben an einen Schöpfer stärken, an den ich selbst nicht glaube. Nun, ich tat mein Bestes. Ich bediente mich einiger Argumente für diesen Glauben, wie wir sie aus alten indischen Überlieferungen kennen, die auch einen Schöpfergott bejahen. Die Zuhörer waren von meiner Auslegungen einiger Textstellen aus den Evangelien sehr angetan. Ich glaube sogar, dass sie wirklich zu einem tieferen Gottesverständnis kamen.
Natürlich gibt es sehr bedeutsame Unterschiede der Philosophie zwischen verschiedenen Religionen, aber in praktischer Hinsicht sind sie eigentlich gleich. Sie lehren Liebe und Güte, sie lehren Vergebung, Toleranz, Selbstdisziplin und Zufriedenheit. Sie lehren Glauben, all das ist überall gleich. Einer meiner christlichen Freunde in Australien, ein Seelsorger, der sich sehr engagiert für die Armen einsetzt, stellte mich dem Publikum als »guten Christen« vor. Das gefiel mir sehr. Ich griff den Scherz auf und gab zurück, ich sehe ihn als guten Buddhisten. Es kommt darauf an zu sehen, dass die verschiedenen Traditionen vieles miteinander gemein haben, und alle werden ja in dem Bewusstsein praktiziert, sich für das Wohlergehen anderer einsetzen zu wollen. Darum geht es.
Wenn Sie Ihre Religion mit diesem Engagement für das Wohlergehen anderer praktizieren, finden Sie darin selbst Erfüllung. Darin liegt der Sinn unseres Lebens. Welchen Sinn hätte ein lediglich luxuriöses Leben, in dem man viel Geld ausgibt, wenn andere auf derselben Erde mit furchtbaren Schwierigkeiten zu kämpfen haben oder gar hungern müssen? Anderen helfen, anderen dienen – darin liegt eigentlich der Sinn des Lebens. Und wenn Sie glauben, dass Gott uns als soziale Wesen erschaffen hat, muss darin wohl doch ein tieferer Sinn liegen. Unter sozialen Wesen kann die Basis des Lebens nur darin bestehen, dass wir uns einer um den anderen kümmern, dass wir füreinander da sind.
In Gungthang Rinpoches Gesängen16 finden wir die folgenden Zeilen:
Da ich nun dieses kostbare menschliche Leben der Muße und der Möglichkeiten erlangt habe, besteht die Gefahr, dass ich es verliere, ohne ihm Sinn verliehen zu haben. So wird es also jetzt Zeit für mich, nach Befreiung zu streben.
Und er richtet an sich selbst die Mahnung:
So muss ich denn jetzt vom Bewusstsein der Vergänglichkeit gepackt werden wie von einem Eisenhaken.
Machen wir uns alle klar, welch ungeheure Chance sich uns bietet. Als Menschen besitzen wir diese einzigartige Intelligenz, aber es besteht die reale Gefahr, sie nicht richtig zu nutzen. Der Tod ist uns sicher, aber wann er kommt, können wir nicht wissen. Unser kostbares menschliches Dasein könnte uns jeden Moment verloren gehen. Vor diesem Hintergrund sollten wir uns dazu anhalten, jetzt etwas Sinnvolles zu tun. Und es gibt, um unserem menschlichen Dasein Sinn zu verleihen, nichts Besseres als die entschlossene Praxis des Dharma. Seien Sie bei der Meditation im Sitzen, aber auch in den Zeiten zwischen den Meditationen achtsam, schauen Sie mit wachem Blick nach innen. Behalten Sie Ihren Geist immer im Auge.
Sie wissen ja, Praktiken dieser Art gibt es in allen Religionen. Es bleibt ganz der Entscheidung des Einzelnen überlassen, ob er sich diesen Praktiken widmet, unabhängig von seiner Haltung zur Religion überhaupt. Sie brauchen nicht religiös zu sein, um ein guter, ein sensibler Mensch zu sein – auch unter Nichtgläubigen gibt es wunderbare Menschen. Aber wenn Sie sich einer Religion zugehörig fühlen, sollten Sie darin ernsthaft und aufrichtig sein. Machen Sie die Lehren Ihrer Religion zum Bestandteil Ihres Lebens. Sie können jeden Tag vom Moment des Aufwachens an eine kleine Ecke Ihres Geistes dafür reservieren, immer ein Auge auf Ihren Geist und Ihr Verhalten zu haben.
Ich war einmal in Jerusalem bei einer Zusammenkunft von einigen Juden und Palästinensern. Ein jüdischer Lehrer erzählte uns, wie er seine Schüler anleitet, mit Situationen umzugehen, in denen sich die Begegnung mit Menschen, die sich nicht mögen, nicht vermeiden lässt. Seine palästinensischen Schüler, sagte er, seien an israelischen Checkpoints immer sehr aufgewühlt. Ihnen gab er den Rat, sich bei solchen das innere Gleichgewicht störenden Begegnungen zu sagen, dass auch dieser Mensch ein Ebenbild Gottes sein müsse. Seine Schüler meldeten zurück, dieses Vorgehen sei ihnen eine große Hilfe. Sofern sie an seinen Rat dachten, blieben sie innerlich wesentlich ruhiger, und es fiel ihnen leichter, mit den Wachen an den Checkpoints umzugehen, ohne sich allzu sehr zu erregen. Das ist mit Praxis gemeint. Wir müssen diese Dinge wirklich tun. Religiöse Lehren wollen praktisch umgesetzt werden, und das kann ganz wunderbar sein.