16,99 €
2500 Jahre Buddhismus, 2000 Jahre Christentum. Was hat es gebracht?
In Dharamsala trafen sich der Religionswissenschaftler Michael von Brück und der Dalai Lama, um sich über das Leben und die Zukunft des Menschen auszutauschen.
Die Überschrift ihrer Gespräche lautet »Wagnis und Verzicht«. Es ging um persönliche Erfahrungen, Misserfolge, Hoffnungen, Ängste der beiden langjährigen Freunde. »Wagnis« beinhaltet Mut, Abenteuer, Fortschritt ohne Angst vor dem eigenen Leben. »Verzicht« enthält Zurückhaltung, Illusionen verlassen, bescheiden sein, sich selbst zurücknehmen, realistisch sein angesichts der Misserfolge, die man gehabt hat. Dieses persönliche Gespräch soll den Menschen Hoffnung bringen, die sie aufgrund persönlicher Fehlschläge aufgegeben haben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 350
Eine freundschaftliche Begegnung der Kulturen, der Religionen, der unterschiedlichen Denkweisen: In Dharamsala trafen sich der Religionswissenschaftler Michael von Brück und der Dalai Lama, um über die Transformation von Lebensprozessen und die Zukunft der Menschheit zu diskutieren.
Die Überschrift ihrer Gespräche lautet »Wagnis und Verzicht«. Es geht um persönliche Erfahrungen, Misserfolge, Hoffnungen, Ängste der beiden langjährigen Freunde. »Wagnis« beinhaltet Mut, Abenteuer, Fortschritt ohne Angst vor dem eigenen Leben. »Verzicht« enthält Zurückhaltung, Illusionen verlassen, bescheiden sein, sich selbst zurücknehmen, realistisch sein angesichts der Misserfolge, die man gehabt hat. Dieses persönliche Gespräch soll den Menschen die Hoffnung bringen, die sie aufgrund von Fehlschlägen und Zukunftsängsten aufgegeben haben.
Dalai Lama
Michael von Brück
Wagnis und Verzicht
Die ermutigende Botschaft
des Dalai Lama
Kösel
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Übersetzerin: Elisabeth Liebl
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-24213-8V001
www.koesel.de
Inhalt
Vorwort
Einführung
Wagnis und Verzicht
Gespräche
Persönliche Erfahrungen
Autorität und vernunftbasierte Selbstverantwortung
Persönliche Begegnungen
Buddhistisch-christliche Wechselbeziehung
Bildung und Erziehung
Das Gesetz wechselseitiger Abhängigkeit – Urteilsvermögen und Liebe
Kultur und Institutionen
Familie und Freundschaft
Politische Beziehungen und Medien
Religionen
Wettbewerb und wechselseitige Abhängigkeit
Ökologie und Technologie
Zukunft gestalten
Transformation der Religionen
Vernunft und Fantasie
Verantwortung heute
Globale Ethik im interkulturellen Kontext Michael von Brück
Einleitung
Das Problem im Licht des Pluralismus
Klassische Fragen der Philosophie und die Problematik einer globalen Ethik: Wahrnehmung, Wirklichkeit, Bewusstsein
Wahrheit und religiöse Konstrukte der Wertebegründung
Schlussfolgerung
Die Praxis des Mitgefühls und unserer Verantwortung für die Welt Tenzin Gyatso, XIV. Dalai Lama
Die Praxis des Mitgefühls
Universelle Verantwortung und die globale Umwelt
Grund zur Hoffnung auf eine bessere Welt
Anmerkungen
Vorwort
Der Weg meditativer Erfahrung ist offen. Er ist nicht die Flucht in ein inneres Jenseits; er führt in die Gegenwart, in die Vernunft zurück.
Carl Friedrich von Weizsäcker1
Hat die Menschheit überhaupt noch eine Chance? Sind die zerstörerischen Potenziale des Menschen inzwischen so unkontrollierbar geworden, dass nur noch Resignation oder Verdrängung bleibt?
Die Antwort ist ein klares: Nein! Denn nichts ist und bleibt, was es ist, sondern entwickelt sich. Der Mensch muss jedoch lernen, vertraut Gewordenes aufzugeben. Dafür brauchen wir das Wagnis, Neues zu erproben, aber eben auch Verzicht auf manche Ansprüche, die wir, um unser Ego zu stabilisieren, für selbstverständlich halten. Vor allem brauchen wir Geduld, und das ist die kluge Balance von Wagnis und Verzicht, von Mut einerseits und Selbstbeschränkung andererseits.
Zwar wird in buddhistischer Perspektive das Bewusstsein als anfangs- und endlos begriffen, doch unter dem Gesichtspunkt des Entstehens aller Dinge in wechselseitiger Abhängigkeit und der Evolution erscheint alles Leben im Wandel. Die menschliche Kulturgeschichte wird ebenso wie die Geschichte der Natur durch das Gesetz von Ursache und Wirkung in Gang gehalten: Wie wir heute denken, fühlen und leben, ist das Resultat der Vergangenheit, und deshalb sind wir durch genetisch ererbte und kulturell geformte Verhaltensmuster zwar geprägt, aber nicht festgelegt. Denn das, was wir jetzt denken und tun, ist wiederum Ursache für Wirkungen, die sich in der Zukunft zeigen werden. Gedanken und Taten haben nicht nur Wirkungen nach außen, sondern sie wirken auf den Verursacher oder Täter zurück. So gestalten wir uns selbst durch unser Tun, d.h. der Mensch gestaltet sich durch seine eigene Gestaltung. Das bedeutet: Wir sind verantwortlich für das, was wir sind. Und wir sind im Werden.
Mutationen in der Geschichte der Evolution waren dann erfolgreich, wenn sie die verbesserte Anpassung der betreffenden Lebewesen an ihre Umwelt ermöglicht und damit die Lebensqualität erhöht haben. Fehlanpassungen und Fehlentscheidungen hingegen führen langfristig zu Verlust an Lebenskraft. Lebewesen werden, leben und vergehen in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt. Ohne dass steuernde Rückkopplung zu Korrekturen anregt, würde die Fehlerquote in jeder Entwicklung zunehmen und ein System sich letztlich selbst zerstören.
Wir sind also nicht festgelegt, sondern können lernen. Menschliche Natur und Kultur lassen sich nicht trennen, denn der Mensch hat zwar von Natur genetische Programme ererbt, doch umgekehrt ist des Menschen eigene Natur auch geprägt durch die Kulturgeschichte. Kultur, die durch Bildungsprozesse über die Generationen hinweg weitergegeben und gestaltet wird, ermöglicht neue und angepasste Formen der Erkenntnis, der Emotionen und des Verhaltens, die auf früheren Entwicklungen aufbauen, diese aber auch korrigieren. Der Anpassungs- und Transformationsdruck ist groß – andernfalls zerstören die Kräfte der Aggressivität (Kriege) und der Gier (Umweltzerstörung) die Grundlage für das menschliche Leben auf der Erde.
Im Rückblick auf die uns bekannte Menschheitsgeschichte beobachten wir, dass Menschen von zwei Kräften angetrieben werden: einerseits von dem Verlangen, einer Gruppe anzugehören, und andererseits sich durch Eigenleistung von einer Gruppe abzuheben. Der erste Faktor macht uns zu sozialen Wesen, der zweite zu Individuen. Wir streben gleichzeitig nach Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und nach individuellem Status. Die Gemeinschaft ist Voraussetzung für unsere Entwicklung als Individuen, und als Individuen leisten wir einen Beitrag zur Gemeinschaft, denn wir sind soziale Wesen und Teil der Gemeinschaft. Kulturelle Traditionen setzen dieses Wechselspiel auf unterschiedliche Weise um, aber beide Kräfte sind ständig präsent. Gier, Macht- und Herrschaftssuche, Eifersucht, Liebe, Empathie, Hingabe etc. – alle »negativen« und »positiven« Emotionen können als funktionale Faktoren in dieser Dynamik betrachtet werden. Sie müssen in ein Gleichgewicht gelangen, das das Leben verbessert, anstatt es zu zerstören. Dies geschieht nicht von selbst, sondern durch kulturelle Praxis auf allen Ebenen menschlichen Handelns – individuell, in sozialen Gruppen, politisch und in einer globalen Wirtschaft. Kein Zweifel: Wirtschaft ist heute die treibende Kraft, aber auch die Wirtschaft wird von Wissenschaft und Technologie mit der Motivation menschlicher Emotionen angetrieben.
Wie können diese Prozesse auf der Grundlage von Einsicht gesteuert bzw. rational kontrolliert werden? Dies war und ist die zentrale Frage bei den Gesprächen zwischen Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama und Michael von Brück, die über mehrere Tage im April 2018 in Dharamsala, dem Sitz des Dalai Lama, stattfanden, von Michael von Brück herausgegeben und durch den Dalai Lama autorisiert wurden. Die Gespräche spiegeln die Lebenserfahrungen zweier Freunde, die sich vor dem Hintergrund ihrer Biographie in ganz verschiedenen sozialen Kontexten und Funktionen Gedanken um die Zukunft der Menschheit machen. Trotz sehr unterschiedlicher Lebenswege sind beide nunmehr über vier Jahrzehnte hinweg im Geiste intellektueller und emotionaler Diskurse vereint. Was ist dieser »Geist«, was bedeutet »vereint«? Natürlich werden wir unterschiedliche Meinungen und Ansichten zu den aufgeworfenen Fragen und den Möglichkeiten der Implementierung von Instrumenten für eine kulturelle Erneuerung vertreten, die einander ergänzen, aber auch widersprechen. Rückblickend auf unsere Lebenserfahrungen stellen wir fest, dass Mut und Frustration, Erfolg und Misserfolg, Hoffnung und Trauer zu dem beigetragen haben, was wir in diesen Gesprächen zum Ausdruck bringen wollen. Die Transformationsprozesse, über die wir sprechen werden, sind möglich. Und: Sie sind keine unerträgliche Last, sondern sie setzen Kräfte der Kreativität, der Freude, der gesteigerten Lebensqualität frei! Sie können uns ein erfüllteres Leben bereiten. Unter dem Titel »Wagnis und Verzicht« geht es uns einerseits darum, vorläufig Bilanz zu ziehen, und andererseits ein »Programm« zu entwerfen, das viele Menschen berühren und ermutigen möge, um ein transformiertes Bewusstsein als Grundlage für konstruktives Handeln zu entwickeln.
Tenzin Gyatso, XIV. Dalai Lama
Michael von Brück
Die Gespräche wurden auf Englisch geführt.Als ich dem Dalai Lama deutlich machte, dass wirim Deutschen zwei Möglichkeiten haben, das englische»you« zu übersetzen, nämlich in der distanzierteren,aber auch Respekt ausdrückenden Form des »Sie«, oder mit dem familiär-freundschaftlichen »Du«, das Nähe signalisiert, insistierte er kategorisch auf dem »Du«. Die Rücksprachemit den Privatsekretären ergab, dass ich unbedingt beim»Du« bleiben solle, denn das entspreche nicht nurdem ausdrücklichen Wunsch des Dalai Lama,sondern auch der Atmosphäre der Gespräche.
Im Übrigen begegnet der Dalai Lama jedem seiner Gästemit jener ungeteilten freundschaftlichen Präsenz,die so charakteristisch für ihn ist. Denn alle Lebewesenstehen zueinander in einer familiär nahen Beziehung undsollten dies täglich verinnerlichen, damit wir in einer Welt leben können, die stärker von Mitgefühl füreinanderund Hinwendung zueinander geprägt werde,als das heute der Fall ist.
Michael von Brück
Einführung
Wagnis und Verzicht
Michael von Brück (im Folgenden: MvB): Was ist unter dem Thema »Wagnis und Verzicht« zu verstehen? Einige Vorbemerkungen sind angebracht, damit wir, aber auch unsere Leser wissen, worüber wir reden.
Wagnis hat mit Mut zu tun, kann aber auch in Übermut umschlagen. Im Wagnis steckt Grenzüberschreitung, auch Risiko. Wagnis ist immer auch Abenteuer, es bedeutet meistens, gegen den Strom zu schwimmen und alte Gewohnheiten abzustreifen. Ein Wagnis ist es, Vertrauen zu haben, ohne das wir nicht leben können, das aber oft genug enttäuscht wird. Wagnis ist Aufbruch zu neuen Ufern. Wagnis riskiert das Scheitern. Verzicht kann eine kluge Selbstbeschränkung sein, manifestiert sich aber gelegentlich auch als Verzagtheit oder Resignation. Verzicht kann aus Einsicht in die Notwendigkeit folgen, bedeutet aber manchmal auch das mutlose Aufgeben eines brennenden Wunsches oder eines lang erstrebten Zieles. Verzicht kann Vermeidung sein oder eine Beschränkung, die sich der Herausforderung nicht zu stellen vermag. Verzicht kann jedoch auch einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten, wenn dadurch intensivere Konzentration möglich wird.
Offensichtlich wird das Leben aller Wesen, uns Menschen eingeschlossen, von Energien geformt, in denen sich ein Wechselspiel widerstreitender Kräfte manifestiert. So, und nur so, kommt es zu Bewegung. Bewegung ist die Grundlage allen Lebens, sie ist der Ausgleich von Gegensätzen: Vor und Zurück, Aktion und Ruhe, Systole und Diastole, Einatmung und Ausatmung, Bewegung und Stillstand. Der Puls des Herzens, der Puls des Lebens. Diese antagonistischen Kräfte reagieren miteinander und stellen ein gewisses Gleichgewicht her. Solche Gleichgewichtszustände existieren entwicklungsgeschichtlich immer nur für einen kurzen Moment, da das Pendel, schlägt es in die eine Richtung aus, bestrebt ist, wieder in die Gegenrichtung zurückzuschwingen. Der Gleichgewichtspunkt liegt in der Mitte dieser Bewegung, und das Leben ist ein Schwingen bzw. Kreisen um eben diesen Gleichgewichtspunkt. Wagnis oder Mut heißt vorwärtsstreben, Verzicht heißt, das Tempo zu drosseln und, damit verbunden, bestimmten Impulsen nicht oder nicht sofort zu folgen. »Mut« bedeutet, die Stimme zu erheben, tätig und risikobereit zu sein. »Selbstbeschränkung« oder Verzicht heißt, den Augenblickswünschen nicht sofort nachzugeben, sondern abzuwarten und zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Verzicht erfordert und ermöglicht Geduld – und diese ist gewöhnlich verbunden mit einer gewissen, durch Lebenserfahrung gewonnenen Weisheit.
Es liegt auf der Hand, dass Leben nur möglich ist in Wagnis und Verzicht, mit Mut und Selbstbeschränkung. Doch ist Verzicht vielleicht auf eine noch viel grundlegendere Weise unverzichtbar: Das Universum scheint über unerschöpfliche Energien zu verfügen, und es strahlt diese Energien mit Dynamik in alle Richtungen ab. Allein aufgrund der Ausstrahlungen von Energie einerseits und der Gravitation, die Ausbreitung zurückhält, konnte sich in der Frühzeit des Universums feste Materie bilden. Das heißt, Form ist nur möglich, weil es diese Anziehungskraft gibt, und das wiederum ist, auf der Ebene des Physikalischen, ein Aspekt der Beschränkung. Nur durch Beschränkung entsteht aus unbegrenzter Energie etwas Spezifisches, ein »Etwas«, das mit vielen anderen »Etwas« interagiert und kooperiert.
Dass jedes »Etwas« genau dieses (und nicht ein anderes) ist, hat seine Ursache in der Beschränkung. Einige Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von »ermöglichender Beschränkung«, weil nur das Spezifische, dieser Körper, diese Richtung, dieser Moment es uns ermöglichen, etwas zu sein, zu haben und es zu erfahren. In diesem Augenblick. Aus dem unermesslichen Raum, der unermesslichen Zeit werden dieser Raum und diese Zeit. Und dies wiederum ist die Grundlage für jede Erkenntnis, jede Emotion und jede Erfahrung.
Man könnte Wagnis und Verzicht, Mut und Beschränkung als Energien oder Kräfte betrachten, die dem Einatmen und Ausatmen gleichen. Möglicherweise handelt es sich dabei um komplementäre Bewegungsrichtungen, welche unsere Handlungen von Körper, Rede und Geist prägen. Vielleicht hängt die Dynamik dieser Polarität aber auch von unserem Alter ab, davon, an welchem Punkt wir im Rhythmus des Lebens stehen. Gewöhnlich legen junge Menschen Mut, Tatendrang und Ungestüm an den Tag. Sie haben ganz bestimmte Vorstellungen und Wünsche, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Sie wagen viel, um etwas zu erreichen, und dürsten danach, die Welt zu verändern. Ältere Menschen lassen sich hingegen meist weniger auf Wagnisse ein, ihre Lebenskreise sind zunehmend eingeschränkt und oft schon aus gesundheitlichen Gründen durch Verzicht geprägt. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass man nicht alles erreichen kann, was man hätte erreichen wollen. Sie zügeln ihren Enthusiasmus, und ihre Lebenserfahrung lässt sie die Dinge nüchterner sehen, aus einem erfahrenen Realismus heraus, manchmal aber auch aus Frustration oder Verbitterung.
Wir sind beide in einem Alter, wo Rückschau Eindrücke widerspiegelt, die mit Wagnis und Verzicht zu tun haben. Wir fragen uns, was wir erreicht haben. Und wo wir haben verzichten müssen, vielleicht aber auch ganz bewusst verzichtet haben, um möglichen Schaden abzuwenden? Alter bedeutet ja auch Befreiung, es kann nämlich eine Haltung erleichtern, in der wir weniger müssen, sondern vielmehr dürfen und wollen und auch verzichten können. Wir sind vielleicht gelassener geworden und müssen nicht mehr so viele und teils widerstreitende Rollen spielen. Dennoch stellt sich die Frage: Haben wir noch genug Mut zum Wagnis, um uns auf die drängenden Fragen und Probleme, mit denen sich die Menschheit heute konfrontiert sieht, einzulassen? Und wenn ja, woher, aus welchen Ressourcen, beziehen wir unseren Mut und unsere Hoffnung und unsere Bereitschaft zum Wagnis?
Jeder Mensch wächst in einer spezifischen Umgebung auf. Ob dies Bestimmung bzw. Karma ist oder Zufall, erleben und deuten Menschen verschieden. Durch unsere Eltern geprägt, dann durch die Sprache, in der wir aufwachsen, beeinflusst uns auch die Religion bereits in jungen Jahren mit ihren Erzählungen und Ritualen. Später hinterlassen dann Freunde und Lehrer Eindrücke in unserem Geist und in unserem Herzen. Was wir sind, das sind wir in wechselseitiger Abhängigkeit von anderen, unsere natürliche Umgebung inbegriffen. In Abhängigkeit von ererbten physischen wie psychischen Prägungen und diesen frühen Einflüssen bilden wir, während wir heranwachsen, bestimmte Vorstellungen, Bestrebungen und damit unseren Charakter aus. Wir sind also keineswegs Individuen, die von anderen unabhängig wären. Was wir sind, sind wir aufgrund vieler unterschiedlicher Einflüsse, denen wir ausgesetzt waren und sind. Was wir aber mit diesen Einflüssen, die uns geformt haben, anfangen, ob wir sie bewusst ausgestalten oder uns davon frei machen, sie annehmen oder zurückweisen, das liegt ganz entscheidend an uns selbst, an unserem Willen und unseren Fähigkeiten. Aber auch dieser Wille zum Wagnis oder die Fähigkeit zum Verzicht sind eine Folge von Erziehung und Vorbildern, die uns besonders in der Jugend geprägt haben. Wir können bestimmte Ziele akzeptieren oder aufgeben, mit unseren Erfolgen und Fehlschlägen auf unterschiedliche Weise umgehen. In jede Biographie sind Erfahrungen des Erfolgs und des Scheiterns eingezeichnet, und wir vermögen aus beidem zu lernen. Erfolg wie auch Scheitern können uns zum Wagnis ermutigen oder Verzicht lehren, und es gibt keine absolut gültigen Lösungen. Wenn wir Bilanz ziehen, ist immer beides im Spiel: Wagnis und Verzicht.
Gespräche
Persönliche Erfahrungen
Autorität und vernunftbasierte Selbstverantwortung
MvB: Du schaust bereits auf acht Lebensjahrzehnte zurück, und ich selbst bin neulich siebzig Jahre alt geworden, da können wir Rückschau halten und solche prägenden Erlebnisse bewerten, von denen ich eben sprach. Zwischen uns ist eine langjährige Freundschaft gewachsen, seit unserer ersten Begegnung hier in Dharamsala sind mehr als vierzig Jahre vergangen. Wenn wir Kindheit und Jugend betrachten, sehen wir, dass ein wichtiger Motor im Leben die Lehrer sind, die wir hatten. Wer war für Dich ein besonders wichtiger Mensch in Deinem Leben – der, von dem Du am meisten gelernt hast, der, der Dich am meisten begeistert und inspiriert hat?
Dalai Lama (im Folgenden: DL): Selbstverständlich wachsen wir in wechselseitiger Abhängigkeit von anderen auf, Michael. Das ist unbestreitbar. Doch aus buddhistischer Perspektive und auch aus einer humanistischen Tradition heraus betrachtet, denke ich, dass jeder Mensch sein eigener Lehrer ist. Sich auf einen anderen Menschen zu verlassen, ist keine stabile Grundlage. Wir müssen ein eigenes Verständnis, unsere eigene Intelligenz entwickeln: nachdenken, nachdenken, und noch einmal nachdenken … und alles, jede Situation, mit einer aufrichtigen Motivation analysieren und unsere Überzeugungen begründen. Ist allerdings unsere Motivation nicht echt, dann können wir mit unserem Intellekt viel Unheil anrichten. Selbst gegenüber unserem hochgeschätzten Lehrer, dem Buddha Gautama Shakyamuni, müssen wir eine solche Haltung einnehmen. Beschäftigen wir uns mit dem Buddha, so ist es nicht dieser besondere Mensch, sondern seine Lehre, worauf wir uns stützen sollten. Wir können uns vielmehr mit aller Kraft bemühen, seine Lehre, seine Methode, wie er denkt und die Dinge analysiert, zu verstehen und angemessen zu überprüfen. Wir müssen unsere ganze Intelligenz, unsere analytischen Fertigkeiten einsetzen, um ein korrektes Verständnis seiner Lehren zu erwerben. Denn erst die praktische Anwendung und Überprüfung gibt uns Aufschluss, ob wir eine konkrete Situation verstanden haben oder nicht. Wir folgen seinen Lehren nicht, weil wir uns seiner Autorität beugen, weil er eben der Buddha ist, sondern aus eigener Überzeugung und Einsicht. Dies gilt für jede Behauptung, jede Lehrmeinung und jede Idee. Andernfalls wären wir in einer Ideologie gefangen, was immer höchst gefährlich ist. Es kommt auf selbstständiges Denken und gültige Argumente an, und nicht auf autoritäre Botschaften, die einige für wichtig halten, die für andere jedoch irrelevant sind. Es geht um einsichtige Gründe und stichhaltige Argumente! Das gilt auch für meine eigenen Lehrer. Dementsprechend sagt Lama Tsongkhapa (1357 – 1419), der Begründer der Geluk-Tradition, in der auch ich stehe, in seinem Buch Lam-rim chen-mo (dt. Große Darlegung des Stufenweges) ganz unmissverständlich, dass wir eine Anweisung unseres Gurus, die unserer eigenen grundlegenden Einsicht zuwiderläuft, nicht befolgen sollen.
MvB: Wenn ein Guru also etwas lehrt, das der eigenen Vernunfteinsicht widerspricht, dann soll man das kritisieren und verwerfen. Sogar dann, wenn es sich um religiöse Belehrungen handelt?
DL: Ganz recht. Unser Denken und Handeln sollte von Vernunft und klarem Verstehen geprägt sein. Tugendhaftes Verhalten ist vernunftgemäß, also übt man sich allein aus diesem Grunde in tugendhaftem Handeln. Das heißt, man tut, was tugendhaft ist, und vermeidet, was nicht tugendhaft ist, und dabei spielt unsere Urteilskraft die Hauptrolle. Die Urteilskraft aber muss entwickelt und geschult werden. Das ist ein Lernprozess, der unser ganzes Leben lang währt und in Anspruch nimmt. Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen: Sollte etwas, das der Buddha gelehrt hat oder ihm in den Texten als seine Lehre zugeschrieben wird, der Vernunft widersprechen, so sollten wir es verwerfen. Nagarjuna (2./3. Jh.) und Candrakirti (8. Jh.) zum Beispiel haben das getan. Dabei bezieht sich Candrakirti explizit auf das Tathagatagarbha-Sutra, von dem zwei Versionen existieren. Die erste spricht von der Unbeständigkeit als grundlegendem Prinzip, während die zweite die Buddhanatur als etwas Beständiges aufzufassen scheint. Candrakirti lehrt in seinem Text Madhyamakavatara, dass auch die Sutras auf Grundlage von logischen Schlussfolgerungen interpretiert werden müssen. Und diese Vorstellung von Beständigkeit wird von ihm verworfen, weil sie allen erkennbaren Tatsachen und der Vernunft widerspricht. Im Madhyamakavatarabhashyam, Candrakirtis Kommentar zu seinem eigenen Text, erwähnt er noch zehn weitere Sutras, die nicht wörtlich verstanden werden sollten, sondern interpretiert werden müssen.
Ich vermute, eine derart radikale Haltung gegenüber allen äußeren Autoritäten ist in dieser Form einzigartig. Doch sie verlangt uns auch einiges ab, denn wir müssen unseren eigenen Verstand gebrauchen und die volle Verantwortung dafür übernehmen. Darum verlassen sich viele Menschen letztlich doch lieber auf Autoritäten. Es gibt auch unter tibetischen Lamas einige, die von ihren Schülern verlangen: »Du musst alles akzeptieren, was dich dein Lama lehrt.« Das ist falsch und hat enorme Verwirrung gestiftet.
MvB: Ist es sogar dann falsch, wenn es sich um den Dalai Lama handelt?
DL: Natürlich. Wir sind Menschen, und als solche haben wir Emotionen. Aus diesem Grund empfinden viele ihrem Guru gegenüber emotionale Hingabe. Das ist verständlich und so weit auch in Ordnung, solange man sich dieses Gefühls bewusst ist und es als etwas erkennt, das wir mit dem Verstand ausbalancieren und kontrollieren müssen. Diese Emotion kann einem aber nicht befehlen: »Du musst alles glauben und akzeptieren, was dir dein Guru sagt.« Lama Tsongkhapa drückt dies unmissverständlich aus: Wenn das, was der Guru sagt, richtig ist, dann solltest du es akzeptieren. Ist, was er sagt, falsch, musst du es zurückweisen.
MvB: Das ist in der Tat ein Rat, dessen Umsetzung Mut erfordert. Wir suchen ja Gleichgesinnte, um nicht allein dazustehen, was anstrengend und aufreibend sein kann. Außerdem stellen sich Zweifel ein. Warum gibt es denn in dieser Hinsicht immer wieder Probleme? Versuchen wir doch eine kurze Analyse, wobei ich diese Frage gerne unter zwei Gesichtspunkten vertiefen möchte: einmal unter einem allgemeineren anthropologischen Blickwinkel, und dann vor dem Hintergrund des nicht unerheblichen Problems, das sich uns heute in Gestalt so vieler selbsternannter Gurus stellt.
Erstens ist es offenkundig so, dass wir Menschen, von unseren evolutionär ererbten psychischen Anlagen her, generell zwei Optionen haben: In frühester Kindheit sind wir völlig von unseren Eltern und anderen Menschen abhängig. Später fordern wir unsere Unabhängigkeit ein und durchtrennen solche Bindungen, die vorher unseren Schutz gewährleistet haben. Zwischen diesen beiden psychischen Grundhaltungen, dem Bedürfnis nach Abhängigkeit und Schutz einerseits und dem Verlangen nach Unabhängigkeit und Freiheit andererseits, müssen wir ein Gleichgewicht finden, denn diese beiden widersprüchlichen Tendenzen bestimmen ein Leben lang unser Handeln. Insbesondere in der modernen westlichen Welt halten wir das Ideal der Freiheit des Individuums hoch. Andererseits aber ist es eine erwiesene sozialpsychologische Tatsache, dass viele Menschen schlicht Angst vor der Freiheit haben und sich daher lieber irgendwelchen Autoritäten unterordnen, wenn ihnen diese im Gegenzug Sicherheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit und/oder Bedeutung bieten. So gewinnen Diktatoren die Unterstützung der Massen. Das alles ist allerdings auch eine Frage der Erziehung, doch geht es dabei nicht allein um die Ausbildung unserer rationalen Kräfte, sondern auch – und vielleicht sogar in viel höherem Maße – um Erziehung und Kultivierung unserer emotionalen Seite. Vielleicht ist dies sogar eines der dringendsten Erfordernisse, wenn wir die demokratischen Strukturen der westlichen Welt retten wollen, die nicht nur durch bestimmte wirtschaftliche Fehlentwicklungen, sondern auch durch diesen sozio-psychologischen Mechanismus gefährdet sind.
Zweitens haben wir gerade in der westlichen Welt immer wieder Probleme, ja sogar Skandale um Gurus, die ihre Schüler, die sich von ihnen abhängig gemacht haben bzw. von diesen emotional missbraucht werden, ausbeuten. Aus der Geschichte kennen wir religiöse oder philosophische Autoritätsfiguren oder politische Führungsgestalten, die für sich beanspruchten, über eine höhere Einsicht zu verfügen, und Menschen, die ihnen blindlings folgten, nicht selten zu ihrem eigenen Schaden. Doch trotz aller Kritik, die seit den Tagen der Aufklärung von der Philosophie geleistet wurde, folgen auch heute noch Menschen den falschen Versprechungen und Trugbildern machthungriger Führer politischer und religiöser Art. Die jüngsten Entwicklungen in Nord- und Südamerika wie auch in Europa müssen vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Einige buddhistische Lehrer und indische Gurus, aber auch die Gründer verschiedener angeblich christlicher Gemeinschaften legen ebenfalls ein autoritäres Verhalten an den Tag und verbreiten Botschaften, die sich rationaler Kritik zu entziehen versuchen. Sogar im akademischen Bereich, in den Geisteswissenschaften und manchmal auch in den Naturwissenschaften, ist es üblich, kritiklos dem Mainstream zu folgen und die allseits anerkannten Autoritäten zu zitieren, und es ist schwer, den Mut aufzubringen, sein Wort gegen Theorien, Einstellungen und Verhaltensweisen zu erheben, die man, weil allgemein akzeptiert, nicht infrage zu stellen wagt. Der Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn (1922–1996) spricht in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel, der meist nur dann erfolgreich ist, wenn eine neue Wissenschaftlergeneration die alte ablöst. Es gibt Fragen, die wir nicht stellen aus dem einzigen Grund, weil wir sie für politisch nicht korrekt halten und nicht zu Außenseitern werden wollen. Diese Fragen würden den reibungslosen Lauf des Systems stören – des ökonomischen, des politischen oder des theoretischen Systems, auf dem der gesamte Wissenschaftsbetrieb beruht. Es ist ein Wagnis, das eigene Erkennen zum Maßstab zu machen und gegebenenfalls gegen den Strom zu schwimmen! Daher sollten wir Deine Worte sehr ernst nehmen, denn sie geben uns ein Instrumentarium an die Hand, mit dessen Hilfe wir solche falschen Versprechungen als eine spezielle Art »falscher Religion« entlarven können. Wir brauchen die rationale Überprüfung als Gegengewicht, um der autoritären Versuchung widerstehen zu können.
Nichtsdestotrotz begegnen wir in unserem Leben immer wieder Menschen, die für uns eine wichtige Rolle spielen, weil sie uns inspirieren, Wissen vermitteln und geeignete Methoden lehren, wie wir das Denken schulen und entwickeln können, Menschen, die unser Selbstvertrauen stärken. Gerade als Kinder haben wir so viel bekommen von unseren Müttern, Vätern und den Menschen, die einen tiefen Eindruck in uns hinterlassen haben. Gibt es in Deinem Leben solche Menschen?
DL: Oh ja, meine Mutter! Ich wiederhole es immer wieder: Der erste Lehrer, der mir Liebe und Mitgefühl beigebracht hat, war meine Mutter. Unsere Mütter sind ganz wundervolle, von Natur aus liebevolle Menschen. Ich glaube, kein Baby oder kleines Kind hat je das zornige Gesicht seiner Mutter zu sehen bekommen. Alle Mütter lächeln, wenn sie ihre Kinder anblicken. Mein Vater war da anders. Er war recht aufbrausend. Einige Male hat er mir sogar eine Tracht Prügel verabreicht. Deswegen mochte ich meinen Vater nicht besonders. Ich erinnere mich gut: Ich war noch recht klein und krabbelte auf allen vieren herum, mit ungefähr zwei Jahren. Die Morgensonne schien ins Zimmer, die Atmosphäre im Raum war ruhig und friedlich, und ich robbte munter herum. Dabei kam ich in seine Nähe, und er hatte Gebetstexte vor sich liegen. Du weißt ja, die Seiten von tibetischen Büchern liegen einfach lose aufeinander. Irgendwie passierte es dann, dass ein paar Seiten zu Boden flatterten. Mein Vater geriet außer sich vor Wut und schlug mich. Für die nächsten paar Jahre habe ich ihm gegenüber Hassgefühle entwickelt. Das tut mir heute sehr leid.
MvB: Wie hast Du diesen Hass überwunden?
DL: Die Zeit hat ihn geheilt. Wenn der Geist grundsätzlich eher sanft und gütig ist, verschwinden solche negativen Gefühle von selbst. Manchmal kommen sie vielleicht zurück, aber dann vergehen sie genauso automatisch wieder, weil der Wurzelgrund des Geistes aus natürlicher Freundlichkeit besteht.
MvB: Glaubst Du, dass Du Frieden mit Deinem Vater gemacht hast?
DL: Oh ja, natürlich. Später haben sich meine Gefühle total verändert. Es gab keine Probleme mehr.
MvB: Wie hast Du das geschafft? Wie konntest Du einen so starken negativen Eindruck auflösen?
DL: Nun, es gab zwischen uns ja keine grundlegende Meinungsverschiedenheit oder gar tief verwurzelten Hass. Er war ja immer noch mein Vater, ein Teil der Familie, und so machten wir die meiste Zeit irgendwelche Späße, aßen zusammen und verstanden einander gut. Unsere Probleme hingegen traten nur gelegentlich und vereinzelt auf, und das ist etwas, womit man umgehen kann und muss.
MvB: Du sprichst da einen Punkt an, der aus meiner Erfahrung größte Bedeutung hat – das gemeinsame Lachen auf Grund eines tiefen Humors. Ich glaube, dass Humor eine sehr wichtige Rolle in unserer geistigen und emotionalen Entwicklung spielt. Aber warum ist das eigentlich so?
DL: Humor löst Angst und Kummer auf. Wirklicher Humor hat immer mit Warmherzigkeit zu tun. Ein guter Scherz geht nie auf Kosten des anderen, sondern legt allzu Menschliches mit einem Augenzwinkern offen. Die Pointe ist dabei nie gegen die andere Person gerichtet, sondern zeigt die komische Seite der Situation, wobei derjenige, der den Witz macht, sich selbst nicht ausnimmt. Echter Humor hat also immer mit Herzenswärme zu tun. Spannungen, die durch Ärger entstanden sind, kommen und vergehen wieder, doch solange eine grundlegende Herzenswärme da ist, ist das kein Problem.
MvB: In diesem Zusammenhang finde ich interessant, dass es letztlich zwei Arten von Humor bzw. Witzen gibt: Manche sind universell und wandeln mit der Zeit nur äußere Umstände ab, wie das beispielsweise bei vielen politischen Witzen der Fall ist. In Deutschland hat man solche Witze in der Nazizeit heimlich erzählt, später waren sie dann – der veränderten Situation angepasst – auch unter der kommunistischen Herrschaft im Osten in der Bevölkerung verbreitet. Geändert haben sich dabei nur die Namen. Diese Art von Humor zeichnet sich durch wiederkehrende Muster aus: Sie machen Machtstrukturen bewusst, menschliche Schwächen und Korruption, zeigen aber auch den Mut und die Schlauheit der unterdrückten Menschen, die die Mächtigen durch ihre Gewitztheit überlisten. Humor dieser Art eröffnet plötzlich und unerwartet eine völlig neue Sichtweise auf die Dinge. Er befreit aus einem inneren mentalen Gefängnis von Vorurteilen. Andere Formen von Humor hängen von sehr spezifischen Erfahrungen einzelner Menschen oder Gruppen, bestimmter Gesellschaften oder Generationen ab. Witze arbeiten auch immer mit Wortspielen, mit Redewendungen, Doppeldeutigkeiten und mit Wörtern, die ähnlich klingen, aber ganz unterschiedliche Bedeutung haben. Witze oder humorvolle Anekdoten kulminieren oft in einer überraschenden Pointe, und dabei öffnet sich in einer vertrackten Situation ein Tor der Freiheit. Solche Witze sind nicht übersetzbar. Manchmal operieren Witze auch auf beiden Ebenen zugleich. Als Beispiel möchte ich Dir einen Witz erzählen, den mir mein japanischer Zen-Meister Hirata Seiko Roshi erzählt hat, der gut Deutsch sprach. Diesen Witz haben wir uns dann im kommunistischen Ostdeutschland immer wieder erzählt: »Was ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis? Die Theorie ist Marx, die Praxis ist Murks.« Die Wörter klingen ähnlich, die Bedeutung ist aber eine ganz andere. Witze können eine festgefahrene Situation aufbrechen, sie schaffen ein Gefühl der Verbundenheit durch Humor. Und Humor lässt jeder Selbstüberhöhung oder Ichbezogenheit erstmal die Luft ab. Humor schafft Distanz und vor allem Selbstdistanz, die Hingabe ermöglicht. Das ist dann der Gipfel der psychischen Kraft, die sich durch Humor entfaltet – Hingabe für den anderen Menschen und auch für sich selbst, gütiger Neuanfang! Manchmal ermöglichen humorvolle Pointen auch einen frischen Blick auf die Dinge, und sie können die Mutlosen wieder aufrichten. Sollten wir nicht mehr Humor entwickeln? Humor hat viel mit spiritueller Reife zu tun.
DL: Oh ja, da stimme ich Dir von ganzem Herzen zu.
Persönliche Begegnungen
MvB: Du betonst zwar nachdrücklich die Bedeutung von Selbstverantwortung, die auf dem rechten Gebrauch der Vernunft fußt, dennoch sollten wir darüber nicht die Menschen aus den Augen verlieren, die in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen und uns inspiriert haben. Gerade heute ist jeder von uns durch die starke Wirkkraft der Medien so vielen Einflüssen ausgesetzt, und das ist einer der Gründe, dass es so viel Verwirrung gibt und so viele Menschen – keineswegs nur Jugendliche – sich nach Führung und authentischen Persönlichkeiten sehnen. Freilich war das zu allen Zeiten so, nur die Bedingungen und die Medien haben sich geändert. Jetzt, da ich älter bin, erinnere ich mich voller Dankbarkeit an jene großartigen Menschen, die mich geprägt haben und mir Vorbild für das Abenteuer meines Lebens waren. Wie ist das bei Dir? War zum Beispiel Mahatma Gandhi wichtig für Dich?
DL: Ja.
MvB: Was ist für Dich das Wichtigste, wenn Du Dir sein Leben in Erinnerung rufst? Sein Kampf für die Unabhängigkeit Indiens war erfolgreich, doch die Teilung des Landes konnte er nicht verhindern. Auch seine Ideen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung fanden im unabhängig gewordenen Indien kaum Beachtung. So gesehen ist er mit einigen seiner Vorstellungen und Strategien gescheitert.
DL: Gandhi besaß eine sehr gute Ausbildung. Er war tief in seiner indischen religiösen Tradition verwurzelt, hatte in England aber auch eine westliche Bildung genossen. Unmittelbar danach nahm er in Südafrika den Freiheitskampf auf, der die Apartheid beenden sollte. Nach Indien kam er erst später und übernahm dort in jeder Hinsicht den Lebensstil der einfachen Menschen im Hinblick auf Kleidung, Essen und Arbeit. Er wurde einer von ihnen, und er hat sich wirklich mit den Armen und Unterdrückten identifiziert. Auf diese Grundlage stellte er seinen sehr klugen Kampf. Seine ganze Strategie gründete sich auf das Verständnis des menschlichen Geistes, der sozialen und politischen Gegebenheiten sowie der wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Er übte sozialen und psychologischen Druck aus, griff aber nie zur Waffe. Sein Kampf war nicht durch Hass motiviert, sondern durch ein tiefes Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, wie sie in der Bhagavad Gita, dem Buch, das er über alles liebte, gelehrt werden. Sein Kampf war ein Kampf für die Menschenrechte der Inder. Er kämpfte nicht gegen die Briten als Menschen, sondern gegen das System der Kolonialregierung. Er wollte Freiheit für beide Seiten, für Inder und Briten. Auf diese Weise praktizierte er ahimsa, die jahrtausendealte indische Tradition der Gewaltlosigkeit. Sein gewaltfreier Widerstand war keine romantische Träumerei, sondern ein äußerst intelligenter und gut abgestimmter Kampf gegen die Ungerechtigkeit des britischen Kolonialsystems. Er traf dieses System an den Stellen, wo es wirklich verwundbar war. Darüber hinaus respektierte er alle Religionen als Teil der indischen Tradition. Was ich am meisten bewundere, ist seine Lebensweise. Sein Aussehen, sein Verhalten, sein ganzes Handeln war das eines gewöhnlichen Inders, doch all das beruhte auf einem tiefgründigen Wissen.
Gandhi besaß enormen Mut zum Wagnis, und dieser Mut war verbunden mit absoluter Selbstbeschränkung und Verzicht, was seine Rolle im Freiheitskampf, seine eigenen Träume und Erwartungen anging. Er wollte wirklich kaum etwas für sich selbst, und diese Haltung der Bescheidenheit prägte seine politischen Ansichten und Aktionen. Gandhi war strikt gegen die Teilung Indiens und hielt die politischen Entscheidungen, die zur Teilung führten, für einen kardinalen Fehler. Er wollte dem Muslimführer Jinnah sogar das Amt des Ministerpräsidenten übertragen, um diese Tragödie zu verhindern. Pandit Nehru entschied aber anders, da er glaubte, die Mehrheit der Inder würde Jinnah nicht als Premierminister akzeptieren.
Nun liegen aber andererseits die Dinge sehr viel komplexer und komplizierter, wie Du weißt. Kein Ereignis folgt nur aus einer einzigen Ursache. Es handelt sich immer um ein Bündel von vielen Ursachen und Bedingungen, von denen uns einige bekannt sind, andere nicht. Diese Erkenntnis wird im Buddhismus mit dem Begriff der wechselseitigen Abhängigkeit (pratityasamutpada) bezeichnet: Man kann nicht von einem einzelnen Ding oder einem einzelnen Faktor sagen: Das ist das entscheidende Element, das Element, dem das größte Gewicht zukommt – nein. Es spielen immer viele Faktoren mit. Wenn man daher einen einzelnen Faktor herausgreift und ihn als »gut« oder »schlecht« wertet, so ist das nicht angemessen, es führt zu nichts. Wir müssen auch die verschiedenen anderen Faktoren berücksichtigen. Denn kein Ding und kein Ereignis geht auf nur eine einzige Ursache zurück, sondern es gibt immer mehrere Ursachen und wechselseitige Abhängigkeiten. Generelle Werturteile von »gut« bzw. »schlecht« treffen auf einer gegebenen Skala nie zu 100 Prozent zu. In eine rational gut begründete Bewertung fließen immer mehrere Aspekte ein, und sie hängt ab von der jeweiligen Perspektive und der Anzahl der betrachteten Faktoren.
MvB: Das ist ein weiterer, sehr wichtiger Bereich, in dem »Wagnis und Verzicht« eine Rolle spielen. Ganz klar, wir müssen Mut entwickeln und ein Wagnis eingehen, um zu handeln und Bedingungen zu verändern, die wir als schlecht, ungerecht oder schädlich für das Glück der Menschen und anderer Lebewesen erkannt haben. Gleichzeitig sollten wir uns aber auch eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung auferlegen, damit wir mit unseren Veränderungsbestrebungen nicht alles noch schlimmer machen, weil wir mangels umfassenden Wissens die Folgen unseres Tuns nicht korrekt abschätzen können. Wir brauchen Verzicht oder Selbstbeschränkung auch, um Geduld zu entwickeln, und umgekehrt. Wissenschaft und eigene Lebenserfahrung zeigen uns, dass die Evolution höchst komplexe Systeme hervorgebracht hat und die Erde wie ein lebendiger Organismus reagiert. Sämtliche Faktoren in diesem System beeinflussen einander in einem Ausmaß, dass jeder vorsätzliche Eingriff aufgrund menschlicher Interessen Folgen haben kann, die sich für das große Ganze als schädlich herausstellen könnten. So vermögen wir vielleicht Technologien zu entwickeln, die uns ermöglichen, die klimatischen Bedingungen zu beeinflussen, durch Genmanipulation landwirtschaftliche Erträge zu steigern oder bislang undenkbare medizinische Eingriffe durchzuführen, doch solche Eingriffe haben ausnahmslos Nebenwirkungen, die wir nicht kennen oder prinzipiell nicht abschätzen können. Wir müssen von den Möglichkeiten, die uns die Technologie bietet, also mit höchster Vorsicht und Zurückhaltung Gebrauch machen. Wagnis heißt ja nicht Fahrlässigkeit.
DL: Richtig. Aber auch das ist wiederum eine Frage des rechten Gebrauchs unserer Vernunft. Einige Menschen sind überkritisch gegenüber allem, was mit Technik und Technologie zu tun hat, und mir scheint, dass eine solche Haltung besonders in Europa verbreitet ist. Sicher gibt es jeweils gute Gründe. Wir Menschen können aber auf technologische Entwicklung nicht verzichten. Außerdem war jede kulturelle Errungenschaft in der Geschichte der Menschheit immer auch ein Eingriff in die Natur. Häufig beschleunigt die Technologie auch evolutionär bereits vorhandene Abläufe, und da müssen wir natürlich Vor- und Nachteile kritisch abwägen und entsprechend gegensteuern. Wir brauchen also beides. Wir brauchen den nötigen Mut, um schädliche oder ungerechte Bedingungen, speziell im politischen und sozio-ökonomischen Bereich, zu verändern. Das aber geht nur mit dem verantwortungsvollen Einsatz von Technik. Genauso aber brauchen wir Selbstbeschränkung bzw. die Bereitschaft zu akzeptieren, dass wir nicht immer tun sollten, was wir tun können, weil wir sonst anderen Wesen schaden. Vielleicht können wir uns diesem Punkt später noch einmal ausführlicher zuwenden?
MvB: Wir haben einen gemeinsamen Freund, der sowohl Dein wie auch mein Lehrer war. Ich spreche von dem deutschen Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007). Ihr seid einander mehrfach mit großem gegenseitigem Respekt begegnet. Was hat Dich am meisten an ihm beeindruckt und was hast Du von ihm gelernt?
DL: Ich erinnere mich, dass wir uns zum ersten Mal 1986 in Bayern begegnet sind, bei der Konferenz »Raum und Zeit«. Die Konferenz ging über mehrere Tage, und es waren Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen vertreten. Joseph Needham zum Beispiel sprach über die wissenschaftlichen Paradigmen in der chinesischen Geschichte. Außerdem war noch Marie-Louise von Franz anwesend, Psychologin in der Tradition Carl Gustav Jungs, der Religionsphilosoph Raimon Panikkar, und noch einige andere. Carl Friedrich von Weizsäcker war zwar einer der Hauptredner, doch nachmittags zogen wir uns immer zurück, und er gab mir eine Einführung in die Quantenphysik. Du warst doch auch mit dabei, Michael, nicht wahr? Außer uns dreien war da noch ein Übersetzer Helmut Gassner und die ganze Atmosphäre war äußerst konzentriert. Von Weizsäcker hat mich sehr beeindruckt, denn er konnte mit derselben Intensität und Klarheit zuhören und erklären. Wenn ich ihm eine Frage stellte, hörteer aufmerksam zu und erläuterte dann alles so, dass ich als Nicht-Physiker es auch verstehen konnte. Er verfügte nicht nur auf seinem Spezialgebiet über enormes Wissen, sondern auch in Philosophie, Logik und in einem gewissen Umfang sogar in buddhistischer Philosophie. Sein Geist war sehr klar, und seine Erklärungen immer verständlich. Kurz, er wusste, wovon er sprach. Sein Denken war aber nicht nur in seinem Fachgebiet, der Physik, von hoher Klarheit, sondern auch bei unseren Diskussionen über Politik und in Fragen der Religionsphilosophie. Vor allem aber ließ er mich tiefen Einblick nehmen in sein liebenswürdiges Wesen. Wir sind wirklich Freunde geworden.
MvB: Weißt Du, was er mir erzählt hat, als wir uns einmal über die intensiven Tage auf der Konferenz »Raum und Zeit« in der herrlichen Landschaft am Eibsee unterhielten? Er erinnerte sich noch gut an die Begegnung mit Dir und meinte: »Wissen Sie, als ich dem Dalai Lama die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie erklärte, hörte er mit hundertprozentiger Konzentration zu, seine Aufmerksamkeit schweifte nicht einen Augenblick ab. Und plötzlich unterbrach er mich und warf ein: ›Moment, dieses Argument beruht auf einem logischen Fehlschluss.‹ Und das war eben jener Kritikpunkt, den auch Niels Bohr seinerzeit vorgebracht hatte, als wir diese Probleme mit Heisenberg und anderen in Kopenhagen diskutierten. Es war wirklich erstaunlich, dass der Dalai Lama, der schließlich kein Physiker ist, denselben Widerspruch erkannte wie Niels Bohr. Die beiden hatten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ein logisches Problem erkannt. Wirklich erstaunlich.« Von Weizsäcker erinnerte sich noch gut an diese Geschichte. Ich dagegen habe leider vergessen, welches Problem da diskutiert wurde, vermutlich, weil ich dem Argument nicht wirklich folgen konnte. Wirklich zu schade.
DL: Nun, die Tatsache, dass wir einander verstehen, beruht auf dem Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit, von dem ja bereits die Rede war. Dieses Prinzip spielt nicht nur in der buddhistischen Philosophie eine sehr wichtige Rolle, sondern auch in der modernen Physik und in modernen Formen der westlichen Philosophie wie der Prozessphilosophie. Allerdings war ich mit der Quantenphysik schon vorher in Berührung gekommen, als ich den amerikanischen Physiker David Bohm (1917 – 1992) traf. Wir haben nicht viel Zeit miteinander verbracht, sondern sind uns vielleicht zwei- oder dreimal begegnet. Wir unterhielten uns über Quantenphysik und bestimmte Ideen, die er entwickelt hatte wie die »implizite Ordnung« (implicate order) und die Ganz-Bewegung (holomovement). Doch dann sprach er ein völlig anderes Thema an, und das hat mich so sehr beeindruckt, dass ich mich noch lebhaft daran erinnere. Bohm hatte sich als junger Mensch, in seinen Zwanzigern, mit Politik, besonders mit der »Erbfeindschaft« und den Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich, beschäftigt. Deutschland und Frankreich waren seit Jahrhunderten verfeindet gewesen, und diese Feindschaft gipfelte in dem deutschen Überfall auf Frankreich und in Zerstörungen auf beiden Seiten im Zweiten Weltkrieg. Doch nach den Verheerungen des Krieges änderte sich diese feindselige Einstellung auf beiden Seiten von Grund auf. Adenauer und de Gaulle reichten einander aus tiefer Einsicht und aus dem Wunsch heraus, den Lauf der Geschichte zu ändern, die Hand zur Versöhnung. Beide hatten den dazu nötigen Mut und wurden auf diese Weise zu den Hauptakteuren bei der Gründung der Europäischen Union. Wie gesagt, das hat mir David Bohm mit Begeisterung und Hoffnung erzählt, und es hat sich mir stark eingeprägt. An seine Erklärungen zur Quantenphysik erinnere ich mich hingegen kaum noch. Während ich ihm zuhörte, dachte ich, ich verstünde alles, doch schon am nächsten Tag hatte ich restlos vergessen, was ich gelernt hatte. Später dann traf ich mit dem indischen Physiker und Philosophen Raja Ramanna (1925 – 2004) zusammen. Ich hatte Gelegenheit, einige Zeit mit ihm zu verbringen, und mein Verständnis der modernen Physik hat sich deutlich vertieft. Du siehst, wie solche Netzwerke uns zu tieferem Verständnis, zu mehr Wissen und Einblick in die Wirklichkeit verhelfen. Und dies wiederum hilft uns, angemessen zu handeln. Das ist wirklich wunderbar. Daher schätze, respektiere und bewundere ich diese Menschen, die meine Freunde geworden sind, zutiefst.
MvB: Wie Du weißt, waren sowohl Carl Friedrich von Weizsäcker als auch Raja Ramanna an der Entwicklung der Atombombe beteiligt – der eine für Deutschland, der andere für Indien. Von Weizsäcker, sein Freund und Lehrer Werner Heisenberg sowie einige andere Wissenschaftler hatten von Hitler und dem NS