Commissaire Marquanteur und die Nächte von Marseille:
Frankreich-Krimi
von Alfred Bekker
In Marseille treibt ein unheimlicher Serienmörder mit ganz
spezieller Handschrift sein Unwesen. Commissaire Pierre Marquanteur
heftet sich an seine Fersen und versucht, den Killer zu stoppen.
Schon bald erkennt er, dass der Fall einen ganz anderen Hintergrund
hat, als man bisher vermutete …
Bisher in der Serie von Marseille-Krimis um Pierre Marquanteur
erschienene Titel:
Der Killer von Marseille
Commissaire Marquanteur und die Nächte von Marseille
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Manchmal frage ich mich, wie viele Männer in Frankreich
eigentlich Jean heißen. Der Name kommt ziemlich häufig vor und
manchmal hat man das Gefühl, von Trägern dieses Namens geradezu
umzingelt zu sein.
In dieser Geschichte gibt es drei Männer mit dem Namen
Jean.
Mein Chef heißt Jean-Claude.
Ein Kollege von mir heißt Jean-Luc.
Und dann spielt da noch ein ziemlich zwielichtiger Typ eine
Rolle, der unter dem Namen Jean Sorell bekannt ist.
Aber vielleicht sollte ich den Fall von Anfang an erzählen.
Bonjour erst mal.
Mein Name ist Pierre.
Pierre Marquanteur.
Genauer gesagt: Commissaire Pierre Marquanteur aus Marseille.
Zusammen mit meinem Kollegen François Leroc bin ich in einer
Spezialabteilung. Wir kümmern uns um die großen Fische, so könnte
man das zusammenfassen, auch wenn wir mit dem Fischmarkt weniger zu
tun haben.
Den gibt es hier natürlich auch. Marseille hat ja einen großen
Hafen.
Aber zurück zu den Aufgabe unserer Abteilung.
Organisiertes Verbrechen ist unser Hauptarbeitsgebiet. Und da
gibt‘s natürlich jede Menge zu tun. Marseille hat einen großen
Hafen, und nicht alles, was da mit den Schiffen so ankommt, ist
auch legal. Und dann gibt es natürlich le Vieux-Port, den Alten
Hafen, wo die Clans von Algeriern und Schwarzafrikanern einen Krieg
gegeneinander führen und gleichzeitig versuchen, die klassischen
Hafen-Größen zu verdrängen. Wer weiß, vielleicht ist die uralte
Italo-Mafia dann der lachende Dritte. Und dann gibt es da noch die
Russen, die Marokkaner und die Libanesen. Und natürlich diverse
Rockergruppen, die auch mitzumischen versuchen.
Die Koalitionen in diesen Gangsterkriegen – nee, wir nennen
das ja anders und fachgerecht Strukturen krimineller Netzwerke –
wechseln ziemlich schnell.
Wer heute noch der bevorzugte Drogenlieferant ist, ist morgen
schon der Feind.
Was soll ich sagen? Gemordet wird immer. Manchmal haben wir es
mit irren Serientätern zu tun, manchmal sind es Killer aus dem
Milieu oder einfach nur jemand, der betrunken und zur falschen Zeit
eine Flasche in der Hand hatte, die er einem anderen auf den Kopf
geschlagen hat.
Aber wir werden damit fertig.
Darauf kann sich jeder verlassen.
*
Es war Nacht, und Marseille hatte sich in ein Lichtermeer
verwandelt. Von den Sternen war dadurch kaum etwas zu sehen.
Lichtverschmutzung nannten das manche. Aber es hatte seine eigene
Schönheit.
Und am Vieux-Port waren die Lichter besonders grell …
Nachtleben eben.
Die schwarze Limousine hielt kurz vor dem Hotel. Eine junge
Frau stieg aus der Tür hinten rechts. Sie trug einen sehr knappen
Lederrock, hochhackige Schuhe und viel Make-up. Das
wasserstoffblonde Haar war hochgesteckt. Auf der Holzspange war das
Wort L‘AMOUR in kunstvollen Lettern eingebrannt worden.
Die Blondine zählte ein paar Geldscheine und steckte sie in
ihre Handtasche.
Das Seitenfenster der Limousine glitt hinab.
»Sehen wir uns nächste Woche?«, fragte eine
Männerstimme.
»Klar.«
»Und?«
»Du hast meine Nummer.«
»Ja, schon …«
»Na, also!«
»Aber …«
»Also ruf mich an.«
»Ich möchte, dass du dir den Mittwoch ab acht Uhr abends für
uns reservierst, Chantal«, forderte der Mann, von dem nichts als
ein herausgelehnter Ellenbogen zu sehen war.
Chantal grinste.
»Dann musst du aber noch einen Schein drauflegen!«
»Okay! Bis dann!«
»Au Revoir!«
Die Limousine fuhr davon.
Chantal atmete tief durch und ging auf den flackernden
Neonschriftzug des nahen Hotels zu.
Ein unscheinbarer Ford näherte sich jetzt. Der Fahrer musste
Chantal beobachtet und gewartet haben, bis die Limousine fort
war.
Die Scheinwerfer erfassten Chantal.
Sie stand jetzt in deren grellen Licht.
»Nun ist aber gut!«, murmelte sie.
Aber es war nicht gut.
Hoffentlich nicht wieder so ein Perverser!, dachte sie und
verzog das Gesicht.
2
Die Seitenscheibe auf der Beifahrerseite öffnete sich. Chantal
blieb stehen und blickte ins Innere. »Na, was kann ich für dich
tun?«, fragte sie mit einem anzüglichen Unterton, der jedem
potentiellen Freier gleich klarmachte, dass dieser Dialog ein
Geschäft anbahnte.
Chantal versuchte zu erkennen, wer hinter dem Steuer der
Limousine saß. Die Gestalt beugte sich ihr entgegen. Etwas Licht
fiel jetzt von der Leuchtschrift des nahen Hotels auf das
Gesicht.
Chantal schüttelte den Kopf.
»Nein, tut mir leid, so etwas mache ich nicht!«, erklärte sie
bestimmt.
Sie ging die Straße entlang Richtung Hotel. Dort hatte sie ein
Zimmer. Der Wagen folgte ihr.
Die Gestalt am Steuer hatte jetzt auch die Seitenscheibe auf
der Fahrerseite herabgelassen. Eine Hand in einem Lederhandschuh
hielt Geldscheine empor.
Chantal drehte sich kurz um.
Dreihundert Euro, durchfuhr es sie.
Sie blieb stehen, der Wagen ebenfalls.
Sie umrundete den Wagen und trat auf der Fahrerseite an das
geöffnete Seitenfenster. Die Hand hielt ihr das Geld hin.
Etwas ließ sie zögern.
Dann nahm sie doch das Geld.
»Ich sagte ja, eigentlich mache ich so etwas nicht.
Schließlich habe ich meine Grundsätze, aber …«
Stumm deutete die Gestalt auf den Platz auf dem Beifahrersitz.
Chantal nickte.
Sie umrundete den Wagen erneut und stieg ein.
»Du musst es ja ganz schön nötig haben!«, murmelte sie und
steckte die Scheine in ihre Handtasche.
3
Es war kurz nach Mitternacht, als die Eingangstür des Hotels
zur Seite flog.
Ein Mann in einem hellgrauen Wollmantel trat ein. Das
blauschwarze Haar trug er schulterlang. Es war zu einem Zopf
zusammengefasst.
Mit weiten Schritten ging er quer durch das Foyer und zog eine
Waffe hervor. Es handelte sich um eine sehr zierliche
Maschinenpistole vom Typ Uzi.
Im Milieu nannte man das auch wohl eine Angeberknarre.
Aber schießen konnte man auch damit.
Dreißig Schuss pro Sekunde mit einem Feuerstoß.
Das macht eine Menge kaputt.
Und wer da zufällig im Weg steht, ist hinterher ein
Sieb.
Der Portier erstarrte und wollte in eine Schublade greifen,
aber die Uzi knatterte bereits los. Ein Dutzend Schüsse ging knapp
über den Portier hinweg und zeichnete hinter ihm ein Lochmuster in
die Wand.
»Wo ist Chantal?«, fragte er anschließend.
»Keine Ahnung!«, stotterte der Portier.
»Ich pump dich voll Blei, wenn du mir keine Antwort gibst! Ich
lass mich nicht länger hinhalten!«
Ein Mann kam die Freitreppe herunter, die ins Obergeschoss
führte. Er trug einen silbergrauen Maßanzug. Die Linke war in der
Hosentasche verborgen.
»Jacques Bolgerie, immer noch der alte Hitzkopf! Was machst du
hier für einen Zirkus?«, fragte er. »Zerballerst mir die ganze
Einrichtung! Was glaubst du, was das alles kostet!«
Jacques hieß eigentlich Gustave Bolgerie.
Aber wer konnte schon Respekt vor jemandem haben, der Gustave
hieß? Vielleicht konnte man mit dem Namen als Buchhalter arbeiten.
Aber als Zuhälter? Bolgerie hatte keine Lust, eine Lachnummer zu
sein.
Alle nannten ihn Jacques.
Manche auch den Fiesen Jacques.
Aber nur manche.
Und Jacques hatte auch gar nichts dagegen.
Jacques drehte sich um und richtete die Uzi auf den Mann im
Anzug, einen grauhaarigen Endvierziger mit dünnem Oberlippenbart
und einem überlegenen Lächeln.
»Ich habe tagelang versucht, dich zu erreichen,
Vincent!«
»Und? Hier bin ich! Was gibt es zu besprechen?«
»Es geht um Chantal!«
»Sie hat sich entschieden, Jacques.«
»So?«
»Sie will lieber für mich arbeiten. Da wird sie nämlich nicht
so oft verprügelt und kann mehr von ihrem Geld für sich behalten.
Außerdem kann ich sie beschützen – im Gegensatz dazu bist du eben
ein Loser, Jacques!«
»Ich – ein Loser?«
»Tut mir Leid, Jacques.«
»Hör mal …«
»Nimm‘s sportlich, Jacques!«
Jacques‘ Gesicht lief rot an. Sein Gesicht verzog sich zur
Grimasse. Er richtete die Uzi in Kopfhöhe auf sein Gegenüber.
»Was ist los, willst du mal wieder durchdrehen, Jacques? Wer
einen Vincent Janvier bedroht, sollte sich das gut überlegen. Ich
habe nämlich viele gute Freunde, die du dann am Hals hättest
…«
»Wo ist Chantal?«, wiederholte Jacques.
Vincent Janvier grinste schief. »Ich verstehe schon, dass es
dich ziemlich anpisst, dass Chantal jetzt bei mir ist. Immerhin
hast du ja wohl ausschließlich von dem gelebt, was sie
herangeschafft hat.« Janvier zuckte mit den Schultern. »Dann
hättest du halt etwas netter zu ihr sein sollen! Das letzte Mal
hast du sie so zugerichtet, dass sie fast nicht mehr einsetzbar
gewesen wäre! Glücklicherweise kenne ich einen guten Doc, der so
etwas wieder hinkriegt! Aber jetzt hat sie von dir einfach die Nase
voll! Akzeptier das und verschwinde.«
»Ich will das aus ihrem eigenen Mund hören!«
»Bernard hat dir schon gesagt, dass sie nicht hier ist.«
»Wo finde ich sie, verdammt noch mal?« Er ließ die MP erneut
losknattern. Die Schüsse fetzten in den Parkettboden, dicht vor
Vincent Janviers Füße.
Dieser blieb seelenruhig stehen.
Sein Gesicht gefror zu einer eisigen Maske.
»Mach ruhig weiter so! Am Ende kommt noch die Polizei, weil
jemand merkt, dass die Knallerei nicht von einem zu laut
eingestellten Fernseher kommt!«
»Du Arsch!«
»Keine Ahnung, was du genommen hast und auf welchem Trip du
gerade bist, aber der Stoff kann nicht gut gewesen sein, Jacques!
Chantal ist bei einem Kunden und hat jetzt keine Zeit für dich! Du
wirst dich also mit meinen Auskünften zufrieden geben müssen.«
Jacques atmete tief durch.
Er hatte sichtlich Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Seine
Hand zitterte leicht. Mit dem Finger am Abzug einer Uzi war das
nicht ungefährlich.
»Wir können über alles reden, Jacques«, versuchte Vincent
Janvier ihn zu beschwichtigen.
Schließlich senkte Jacques die Waffe.
»Wie gesagt, ich möchte es von Chantal selbst hören!«
»Kannst du, sobald sie zurück ist.«
»Außerdem will ich eine Ablösesumme.«
»Was schwebt dir denn da so vor?«
»Mindestens fünfzigtausend Euro. Chantal ist ein Klasse-Girl.
Sie bringt dir doch im ersten Vierteljahr schon mehr ein!«
»Ich werde darüber nachdenken!«, versprach Vincent
Janvier.
Aber das war Jacques nicht genug. Er hatte das Gefühl, dass
Vincent ihn hereinlegen wollte.
Der Fiese Jacques hob den Lauf der Uzi. »So nicht!«
Ein Geräusch, das an ein heftiges Niesen erinnerte, war jetzt
von der anderen Seite zu hören. Dreimal kurz hintereinander wurde
eine Automatik mit Schalldämpfer abgefeuert.
Jacques‘ Körper zuckte unter den Treffern.
Er sackte in sich zusammen und fiel schwer auf den
Boden.
Der Schütze trat aus einer seitlich gelegenen, offen stehenden
Tür heraus, durch die es in die Zimmer des Erdgeschosses ging. Er
war rothaarig, hatte starke Sommersprossen und trug einen
eleganten, kobaltblauen Anzug aus einem fließenden, seidenartigen
Stoff. Die obersten drei Knöpfe seines Hemdes waren geöffnet. Ein
kleines Kreuz aus Rotgold blitzte dort auf. Darüber befand sich ein
tätowierter Adler mit gespreizten Schwingen.
»Das wurde aber auch höchste Zeit, René«, knurrte Vincent
Janvier.
Der Mann, der René genannt worden war, grinste und begann
damit, den Schalldämpfer abzuschrauben. René Moustique hieß er
vollständig.
René Moustique wog die Waffe in der Linken und meinte
grinsend: »Ich konnte dieses verdammte Ding nicht finden!«
»Mann, das ist nicht witzig! Ich dachte schon, du tauchst gar
nicht mehr auf.« Vincent Janvier trat auf den am Boden liegenden
Mann zu und drehte ihn mit dem Fuß herum.
»Ich habe doch gesagt, dass Jacques Bolgerie es sich nicht so
einfach gefallen lassen wird, dass Chantal zu uns gewechselt ist«,
meinte der Portier.
»Wie auch immer!«, presste Vincent Janvier zwischen den Zähnen
hindurch. Er wandte sich an René. »Sorg dafür, dass dieses Stück
Dreck auf Nimmerwiedersehen verschwindet.«
»In Ordnung.«
»Fischfutter fürs Meer! Oder was immer dir einfällt!«
»Mach ich.«
4
Ich heiße Pierre Marquanteur, bin Commissaire und gehöre als
solcher zur FoPoCri.
Ja, eine solche Abkürzung klingt nach einem übel schmeckenden
Medikament oder nach einer Ausführungsbestimmung im Steuerrecht.
Irgendetwas, was kompliziert, teuer und unangenehm ist. Aber ich
kann Ihnen versichern, auf die FoPoCri trifft das nicht zu.
Die Abkürzung steht für »Force spéciale de la police
criminelle «, unsere Büros befinden sich im Polizeipräsidium
Marseille. Formaljuristisch sind wir ein Teil der französischen
Polizei. Klingt wie ein Wirrwarr? Ist ein Wirrwarr. Aber nur in der
Theorie. In der Praxis klappt das alles ganz gut. Bürokratie ist
immer das, was Beamte daraus machen. Und Beamte sind Menschen.
Auch, wenn viele das nicht glauben wollen, aber es ist so. Menschen
wie mein Kollege François Leroc und ich. Unsere Abteilung greift
dann ein, wenn andere nicht mehr weiter wissen. Oder wenn eine
Koordinierung zwischen den Polizeibehörden verschiedener Staaten
nötig ist. Ich will da nicht in die Einzelheiten gehen. Es sind die
größeren Fälle, in denen unser Einsatz vonnöten ist.
In der Praxis sage ich meistens nur: »Marquanteur, police
criminelle.«
Das reicht.
Absolut.
Und wenn ich sehr geschwätzig bin, was nicht so oft vorkommt,
dann sage ich: »Marquanteur, police criminelle Marseille.«
Wenn ich den Leuten mit unserer offiziellen Bezeichnung komme,
sagen die nur: »Ich hab schon eine Versicherung, besten Dank. Und
ich kaufe auch nichts.«
Wie gesagt, es sind die größeren Fälle, mit denen wir uns
befassen.
*
An diesem klaren, kalten Morgen holte ich meinen Kollegen
François Leroc wie gewöhnlich an der bekannten Ecke ab.
»Salut, François!«
»Schon gefrühstückt, Pierre?«
»Non. Nichtmal Kaffee.«
Er rieb sich kurz die Hände und schnallte sich an, während ich
bereits losfuhr. »Zum Glück können wir uns gleich ja wohl auf einen
Becher mit Melanies berühmtem Kaffee freuen!«
»Tut mir leid, daraus wird nichts.«
Er sah mich erstaunt an. »Wieso? Was ist los?«
»Schlechte Nachrichten, Monsieur Marteau hat uns vorhin
angerufen. Wir müssen zu einem Tatort.«
»Wo?«
»Liegt direkt auf dem Weg. In einem Park wurde von Joggern
eine Leiche gefunden, die in unsere Serie passt.«
Zur Zeit hatten wir es mit einer Serie von
Prostituiertenmorden zu tun. Die Opfer waren mit einer
Drahtschlinge erwürgt und kahl rasiert worden, weswegen der Täter
in den Medien inzwischen den Beinamen »Coiffeur« bekommen hatte.
Die Tote war die Nummer sechs dieser Serie, deren erster Fall
bereits sieben Jahre zurücklag. Anfangs hatte man natürlich noch
nicht erkennen können, dass es sich um einen Serientäter handeln
musste. Inzwischen war das aber unstrittig.
Nachdem der Coiffeur innerhalb eines halben Jahres gleich drei
Mal zugeschlagen hatte, waren wir mit dem Fall beauftragt worden.
Zahlreiche Einsatzfahrzeuge der uniformierten Polizei und des
Erkennungsdienstes waren bereits da und zeigten uns, wohin wir uns
halten musste. Ein uniformierter Kollege wollte uns am Fundort der
Leiche vorbei lotsen.
Ich hielt mit dem Dienstwagen an, ließ das Fenster hinunter
und zeigte ihm meinen Ausweis.
»Marquanteur, Polizei Marseille. Wir werden hier
erwartet.«
»Fahren Sie noch ein Stück weiter und parken Sie links auf dem
Rasen. Dann bleibt Platz genug für den Durchgangsverkehr.«
»Wirklich links?«
»Die rechte Seite sehen sich die Kollegen des
Erkennungsdienstes genauestens an.«
»In Ordnung.«
Ich fuhr also weiter.
Eine Reihe von Fahrzeugen säumte die linke Seite der Straße.
Schließlich fanden wir einen Platz, wo wir den Dienstwagen
abstellen konnten.
Anschließend liefen wir zu dem in den Park integrierten
Spielplatz.
Spielgeräte, Sandkästen und Sitzbänke waren hier zu
finden.
Ein breitschultriger Kerl Mitte fünfzig begrüßte uns. Er trug
einen Knebelbart.
»Commissaire Mathies Jobert«, stellte er sich vor. Er gehörte
nicht zu unserer Abteilung. Marseille ist eine große Stadt. Da
kennt nicht jeder jeden. Nicht ganz so, wie in Paris, aber nahe
dran.
Ich sagte:
»Pierre Marquanteur. Dies ist mein Kollege François
Leroc.«
»Die Tote wurde dort drüben, bei den Sträuchern neben dem
Karussell gefunden. Wir können von Glück sagen, dass um diese Zeit
noch keine Kinder zum Spielen hier sind!«
»Wer hat sie gefunden?«, fragte ich.
»Ein Jogger. Paul Lumiere, vierundvierzig Jahre alt, Makler,
hat eine Wohnung in der Cité und bezahlt dafür wahrscheinlich mehr,
als ich im Monat verdiene.« Jobert verzog das Gesicht. »Wir haben
die Personalien aufgenommen. Wenn Sie noch mit ihm sprechen wollen
… Es sind ja nur ein paar Minuten von hier bis zu seiner
Adresse.«
»Mal sehen.«
Mathies Jobert führte uns zum Karussell.
Die Stelle, wo die Tote in den Büschen gelegen hatte, war
markiert. Die Leiche selbst befand sich bereits im Wagen des
Gerichtsmediziners.
»Die äußerlich erkennbaren Tatumstände sprechen dafür, dass
Sie zur Serie des Coiffeurs gehört«, erklärte Mathies Jobert. »Male
am Hals deuten auf einen Draht als Tatwaffe hin. Außerdem hat man
ihr sehr sorgfältig die Haare abrasiert.«
»Wurde sie vergewaltigt?«
»Dr. Neuville meint nein. Aber genau können wir das natürlich
erst nach der Obduktion ausschließen. Allerdings ist sie wohl
gefesselt worden. Vermutlich mit handelsüblichen
Kabelbindern.«
Einer der anderen Beamten der uniformierten Polizei, die an
diesem Leichenfundort Dienst taten, trat auf uns zu und wandte sich
an Jobert. »Wir haben alles abgesucht. Die Schuhe sind nicht zu
finden.«
»Danke, Kollege«, nickte Jobert.
»Was hat es mit den Schuhen auf sich?«, erkundigte sich
François.
»Ganz einfach: Sie fehlen«, gab Jobert kurz und knapp
Auskunft. »Sie hatte übrigens keinerlei Papiere bei sich. Wir
wissen nicht, wer sie ist.«
Unsere Innendienstler würden das früher oder später
herausfinden. Man konnte von der Toten Fingerabdrücke nehmen und
vergleichen.
5
Während François sich weiter mit Commissaire Jobert
unterhielt, suchte ich Dr. Neuville auf, der sich bei dem
Leichenwagen befand, mit dem die Tote in die Gerichtsmedizin
transportiert werden sollte.
Dr. Neuville begrüßte mich freundlich.
Ich hatte bereits im Rahmen anderer Ermittlungen mit ihm
zusammengearbeitet.
»Sie hatte nichts bei sich, was sie hätte identifizieren
können«, berichtete Dr. Neuville. »Kein Führerschein, keine
Kreditkarte und kein Handy.«
»Das hat mir der Kollege bereits gesagt. Sind Sie sicher, was
den Draht angeht?«
»Sie können gerne noch einen Blick auf die Leiche
werfen.«
»In Ordnung.«
»Die Male am Hals sind ziemlich eindeutig. Wir werden
natürlich noch genauere Untersuchungen anstellen. Ob sie eine
Prostituierte war, wissen wir mit Sicherheit erst, wenn wir ihre
Personalien kennen.«
»Wann starb sie?«
»Deutlich vor Mitternacht.«
Jemand hatte sie irgendwo in der Umgebung getötet und sie
später genau hier, beim Karussell einfach abgelegt.
»Dass wir die Obduktionsergebnisse so schnell wie möglich
brauchen, muss ich ja wohl nicht extra betonen«, sagte ich.
»Bis die Leiche in unserem Labor ist, vergeht eine
Dreiviertelstunde. Mindestens. Für die Obduktion brauche ich
voraussichtlich nicht länger als drei Stunden. Da ich zwischendurch
etwas essen möchte, können Sie mich gegen fünfzehn Uhr anrufen,
dann kann ich Ihnen eine mündliche Zusammenfassung geben. Mein
diktierter Bericht kommt etwas später – je nachdem, wie viele
Berichte gerade sonst noch in der Warteschleife hängen.«
»Okay«, murmelte ich. »Eins wundert mich nur ….«
»Was?«
»Dass Sie noch was essen wollen.«
»Wieso?«
»Nach Ihrer Arbeit, meine ich.«
»Jeder muss essen.«
»So?«
»Auch Gerichtsmediziner.«
»Na, dann …«
»Das gilt auch für Gerichtsmediziner, die gerade gearbeitet
haben.«
Ich seufzte. »Wenn Sie das sagen …«
»Ich sage das.«
Längst hatten sich entlang der mit Flatterband abgesperrten
Zone Trauben von Passanten gebildet. Jogger, die ihren eigentlichen
Fitnesslauf unterbrachen, um zu sehen, was hier los war, und
Rentner, die ihre Hunde ausführten. Außerdem ein Mountainbiker und
ein paar junge Leute mit Roller Blades.
Mir fiel eine Passantin mit dunklem, schulterlangem Haar auf.
Sie wirkte sehr elegant gekleidet. Nicht nur ihr Business-Kostüm
hob sie aus der Menge heraus, sondern auch die Tatsache, dass sie
die Absperrungen der Kollegen ziemlich dreist ignoriert hatte.
Von den uniformierten Kollegen hatte das noch niemand bemerkt.
Es waren wohl einfach auch zu wenige Einsatzkräfte vorhanden,
um das Areal tatsächlich komplett abzuriegeln. Die Schwarzhaarige
hatte so nah bei uns gestanden, dass sie das Gespräch zwischen Dr.
Neuville und mir mit Sicherheit verstanden hatte.
»Wir hören voneinander«, sagte ich an den Gerichtsmediziner
gewandt und trat anschließend auf die elegante Lady zu. Ich
schätzte sie auf Ende zwanzig.
»Commissaire Pierre Marquanteur!«, stellte ich mich vor. »Sie
haben die Absperrungen übertreten. Es ist eigentlich nicht
gestattet, sich jenseits des Flatterbandes aufzuhalten, wenn man
nicht zum Kreis der dafür autorisierten Personen gehört.«
Sie zuckte zusammen. »Oh, das war mir nicht bewusst«, sagte
sie. Ihr Lächeln war gleichermaßen charmant und verlegen.
»Oder sind Sie eine Zeugin und haben irgendetwas gesehen, was
vielleicht zur Aufklärung dieses Falles beitragen könnte.«
»Nein. Ich bin keine Zeugin.« Sie hob die Schultern. »Tut mir
leid.«
»Dann muss ich Sie bitten, sich wieder hinter die Absperrung
zu begeben.«
»Natürlich.«
Sie ging in Richtung des Flatterbandes, tauchte dann darunter
hindurch und drehte sich wieder in meine Richtung, als sie sich auf
der anderen Seite befand. Einige der Passanten, die sich entlang
des Flatterbandes aufgestellt hatten, um möglichst viel
mitzubekommen, machten etwas widerwillig Platz. Ein Hund knurrte
und wurde von seinem Besitzer zur Ruhe ermahnt.
»Sagen Sie, stimmt es, dass man dem Opfer sämtliche Haare
abgeschnitten hat, Monsieur Marquanteur?«, fragte mich die
Schwarzhaarige.
»Es wird zu gegebener Zeit eine Erklärung unserer Pressestelle
an die Medien geben, sodass Sie alle Einzelheiten erfahren können«,
erklärte ich ausweichend. Ich hielt meine Marke hoch. »Ist unter
Ihnen noch jemand, der sachdienliche Hinweise geben kann?«, fragte
ich. »Falls Sie sich nicht hier und jetzt zu einer Aussage
entschließen können, rufen Sie einfach die Nummer Ihres zuständigen
Polizeireviers. Ich danke Ihnen.«
»Wenn ich Sie kurz sprechen könnte!«, meldete sich ein älterer
Mann zu Wort, der einen angeleinten Terrier mit sich führte.
»In Ordnung, wir gehen ein Stück zur Seite«, erwiderte ich.
»Ich mache morgens gegen fünf meine erste Runde durch den
Park.«
»Und was haben Sie gesehen?«
»Einen viertürigen Ford. Jemand machte sich am Kofferraum zu
schaffen.«
»Konnten Sie denjenigen sehen, der am Kofferraum beschäftigt
war?«
»Nein. Die Klappe stand offen, ich konnte den Kerl nicht
sehen.«
»Wo standen Sie genau?«
Er streckte die Hand aus. »Dort auf der Brücke!«
»Dann möchte ich mit Ihnen dorthin gehen und mal sehen, wie
der Blick ist.«
»Gerne.«
6
Der alte Mann hieß Etienne Clary, war 81 Jahre alt, verwitwet
und hatte drei erwachsene Kinder, die er nur selten sah, weil ihre
Jobs sie über die gesamte Republik verstreut hatten. Innerhalb der
fünf Minuten, die wir brauchten, um auf die Brücke zu gelangen,
erzählte er mir seine halbe Lebensgeschichte.
Schließlich standen wir auf der Brücke und Clary beschrieb mir
exakt die Position, an der er den Wagen gesehen hatte.
»Ich habe leider nicht weiter darauf geachtet«, bekannte er.
»Ich meine, wer denkt denn auch daran, dass da vielleicht jemand
eine Leiche aus dem Kofferraum holt und auf einem Spielplatz
abgelegt? Das ist doch pervers!«
»Wie kommen Sie denn darauf, dass die Leiche dort abgelegt
wurde und man das Opfer nicht auf dem Spielplatz umgebracht
hat?«
Er sah mich etwas verdattert an, nahm seine dicke Brille ab
und putzte mit einem Taschentuch über die Gläser. »Das haben die
Leute gesagt, die das Glück hatten, eher da unten zu sein und mehr
von den Ermittlungen mitzubekommen.«
»Ach, so. Wie stark ist übrigens Ihre Brille?«
»Fünf Dioptrien. Aber mit Brille sehe ich ausgezeichnet. Und
dass da ein Ford stand, da bin ich mir sicher!«
»Können Sie sich an das Modell erinnern?«
»Ich kenne mich mit den Bezeichnungen nicht so aus.«
»Wären Sie dann so freundlich, sich in unserem Präsidium ein
paar Bilder verschiedener Ford-Modelle anzuschauen? Vielleicht
gelingt es Ihnen ja, das richtige zu identifizieren.«
Etienne Clary nickte. »Aber nur, wenn Sie mich in Ihrem Wagen
mitnehmen und mein Hund dabei sein kann. Ich besitze nämlich keinen
Führerschein mehr, und in der Métro fühle ich mich nicht
sicher.«
»Kein Problem, Monsieur Clary.«
7
An der Stelle, die Monsieur Clary uns angegeben hatte, waren
tatsächlich Reifenspuren zu finden. Ein Fahrzeug war dort an den
Rand gefahren. Die beiden Räder auf der rechten Seite hatten dabei
auf der Rasenfläche Spuren hinterlassen. Da der Boden sehr weich
war, konnte man allerdings kein brauchbares Profil gewinnen.
Wir brachten Monsieur Clary etwas später zum Präsidium.
François quetschte sich dafür in den engen Fond des Dienstwagens,
während Clary auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Der Hund befand
sich zu seinen Füßen.
Während sich unser Innendienstkollege Maxime Valois um die
Auswertung der Fingerabdrücke kümmerte, die man der Toten
abgenommen hatte, verbrachten François und ich geschlagene zwei
Stunden damit, Etienne Clary verschiedene viertürige Ford-Modelle
auf einem Computerschirm zu zeigen.
Zunächst glaubte er, das Modell erkannt zu haben, dann wurde
er jedoch unsicher, identifizierte schließlich auch einen von mir
in die Bildreihe geschmuggelten Mitsubishi als Ford und wurde sich
immer unsicherer.
Schließlich ließen wir ihn von einem Kollegen unserer
Fahrbereitschaft nach Hause bringen.
»Wir wissen, dass da heute Morgen ein viertüriger
metallicfarbener Wagen – wahrscheinlich ein Ford – mit zwei Reifen
auf dem Rasen stand«, fasste François die Ergebnisse der Befragung
von Etienne Clary zusammen. »Hast du eine Ahnung, wie viele es
davon in Marseille gibt?«
»Hunderttausende«, schätzte ich.
»Optimistisch geschätzt. Wahrscheinlich sind es mehr. Und
Metallic ist nun auch nicht gerade ein seltener Farbwunsch. Vom
Nummernschild konnte Monsieur Clary ja leider nichts erkennen und
angesichts seiner Sehschwäche frage ich mich, was er überhaupt
mitbekommen hat.«
»Möglicherweise wurde dieser Wagen ja noch von jemand anderem
beobachtet. Wir wissen jetzt zumindest den Zeitpunkt, an dem die
Leiche abgeladen wurde.«
Inzwischen hatte Maxime Valois die Identität der Toten anhand
ihrer Fingerabdrücke herausbekommen.
Er suchte François und mich in unserem gemeinsamen
Dienstzimmer auf und zeigte uns einen Computerausdruck.
»Ich habe euch die Daten auf den Rechner geschickt. Die Tote
hieß Chantal Lafitte. Sie war Prostituierte und wegen
gemeinschaftlichen Raubes verurteilt worden. Ein Freier wurde
niedergeschlagen, um ihm die Geldbörse und diverse andere
Wertgegenstände zu entwenden.«
»Gemeinschaftlicher Raub?«, echote François. »Wer war denn
noch an der Tat beteiligt, Maxime?«
Ich hatte inzwischen den Rechner hochgefahren, sodass wir die
Daten auch auf dem Schirm hatten.
»Der Mittäter war ein gewisser Gustave, genannt Jacques –
Bolgerie, angeblich ihr Lebensgefährte – wahrscheinlich aber auch
ihr Zuhälter. Man nennt ihn auch den Fiesen Jacques. Mehrere
Anklagen wegen diverser einschlägiger Delikte. Das meiste führte
jedoch aus Mangel an Beweisen nicht zu einer Verurteilung.«
»Die letzte Adresse, unter der ihr Bewährungshelfer Chantal
Lafitte erreichen konnte, haben wir«, stellte ich fest.
»Die ist übrigens identisch mit der letzten Adresse, die wir
von Jacques Bolgerie haben«, stellte Maxime fest. »Gleich um die
Ecke gibt‘s einen Club mit der Bezeichnung Caché Joie, in dem
Bolgerie längere Zeit als Rausschmeißer gearbeitet habe. Chantal
war da mal Go-Go-Tänzerin.«
»Scheint, als hätte man ihr dort nicht genug gezahlt, um sie
in dem Job zu halten«, kommentierte François Maxime Angaben.
»Ich schlage vor, wir schauen uns das traute Heim von Chantal
Lafitte mal an«, meinte ich. »Und es wäre sicher auch ganz
aufschlussreich, mit Jacques Bolgerie zu sprechen.«
»Dem Fiesen Jacques«, sagte François. Er zuckte mit den
Schultern. »Gustave klingt netter. Aber vielleicht ist er einfach
nicht nett.«
»Gute Idee, mal Chantal Lafittes Zuhause unter die Lupe zu
nehmen«, sagte Maxime. »Aber ich soll euch von Monsieur Marteau
ausrichten, dass vorher eine kurze Besprechung in seinem Büro
ansteht.«
8
Jean-Claude Marteau, der Commissaire général de police und
unser direkter Chef, nippte an seinem Kaffee und hielt mit der
anderen Hand einen Telefonhörer, als wir sein Büro betraten. Maxime
Valois begleitete uns. Monsieur Marteau nickte uns knapp zu. Außer
uns befanden sich noch die Commissaire Stéphane Caron und Boubou
Ndonga sowie die Erkennungsdienstler Sami Opporte und Jean-Luc
Duprée im Raum. Normalerweise nutzen wir zwar die Labors der
Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst, deren Hilfe allen Marseilleer
Polizeieinheiten zusteht, aber wenn es nötig ist, unterstützen wir
deren Arbeit durch den Einsatz eigener Erkennungsdienstler,
Ballistiker oder anderer wissenschaftlich ausgebildeten
Spezialisten.
Monsieur Marteau beendete inzwischen sein Telefongespräch.
»Das war Dr. Neuville mit ersten Obduktionsergebnissen. Er ist
zwar noch nicht ganz fertig, aber wir können es jetzt wohl als
sicher ansehen, dass die Tote zur Serie des Coiffeurs gehört. Es
sind alle Merkmale vorhanden, die auch auf die anderen Opfer
zutrafen: Die Opfer wurden zunächst mit KO-Tropfen betäubt und
anschließend gefesselt. Etwas später wurden sie dann mit einer
Drahtschlinge erwürgt und schließlich irgendwo abgeladen.«
An der Wand von Monsieur Marteaus Büro hing eine Karte des
Großraums Marseille. Die Fundorte der einzelnen Opfer waren
markiert.
»Viel mehr gibt es im Moment leider noch nicht zu sagen, außer
dass die verwendete Drahtschlinge rostig gewesen ist, was ebenfalls
für sämtliche Opfer gilt, sodass es wohl ausgeschlossen ist, dass
irgendeiner dieser Morde in einem anderen Zusammenhang gesehen
werden muss«, fuhr Marteau fort. »Allerdings möchte ich noch ein
paar Worte in Bezug auf die Tatortabschirmung am Spielplatz im Park
loswerden.« Jean-Claude Marteau wandte sich an François und mich.
»Das, was ich jetzt sage, ist keine Kritik an Ihnen beiden,
schließlich war das Kind schon in den Brunnen gefallen, als Sie am
Fundort der Toten eintrafen. Ich hatte vorhin ein eher
unfreundliches Gespräch mit dem Kollegen Gressy, dem Chef des
zuständigen Reviers. Ein Kollege namens Jobert hat es zugelassen,
dass wichtige Details der Ermittlungen an die Medien gegangen sind
und sich jetzt jeder Konsument des Kabelfernsehens darüber
informieren kann, wenn er will. Beispielsweise wurde die Nachricht
über den Ford sofort verbreitet.«
»Und dabei hat Monsieur Clary noch nicht einmal den richtigen
Typ identifizieren können«, gab François zu bedenken.
»Das sehen einige Reporter offenbar anders.« Monsieur Marteau
atmete tief durch. »Ich hoffe, dass so etwas das nächste Mal nicht
passiert. Das gibt doch nur Leuten wie diesen Trittbrettfahrern das
nötige Material.«
Es gab einen anonymen Anrufer, der von sich behauptete, die
Morde begangen zu haben. In den kurzen Statements, die er bei
seinen Anrufen von sich gab, bezog er sich allerdings
ausschließlich auf den ersten Fall. Tatsächlich schien er auch
einiges über das Opfer Gabrielle Donjon zu wissen und stammte
vielleicht aus ihrem immensen Bekannten- und Kundenkreis.
Aber was die anderen Opfer des sogenannten Coiffeurs anging,
so bekam er nicht einmal die Namen vollständig auf die Reihe, was
bei jemandem, der sich ansonsten so akribisch über zumindest ein
Opfer informiert hatte, sehr ungewöhnlich war. Wir nahmen daher an,
dass es sich eher um einen Wichtigtuer handelte, der davon träumte,
irgendwann einmal einen großen Auftritt in einem Mordprozess zu
haben. Dass er sein Leben damit womöglich ruinierte, schien ihm
weniger wichtig zu sein, als zumindest einmal im Rampenlicht der
Öffentlichkeit zu stehen und das Interesse einer ganzen Stadt – und
später im Prozess vielleicht des ganzen Landes auf sich gerichtet
zu wissen.
Leider hatten wir im Rahmen von spektakulären Mordfällen immer
wieder mit Menschen zu tun, die uns mit ihren falschen
Geständnissen wertvolle Zeit stahlen.
Einstweilen schätzten wir diesen Anrufer als unglaubwürdig
ein. Trotzdem waren wir hinter ihm her, da wir annahmen, dass er
das Opfer namens Gabrielle Donjon gut gekannt haben musste und von
daher vielleicht ein wertvoller Zeuge war.
»Leider war es bisher nur möglich, die Anrufe zu Telefonzellen
in Marseille zurückzuverfolgen«, erklärte Stéphane Caron. »Wir
nehmen daher an, dass der Trittbrettfahrer dort lebt.«
»Es gibt noch Telefonzellen?«, fragte François.
»Eine Handvoll in Marseille«, sagte Stéphane.
»Gibt es sonst irgendeine Verbindung zwischen Gabrielle
Donjon, Chantal Lafitte und den anderen Opfern?«, erkundigte sich
Jean-Claude Marteau.
Stéphane schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich nehme an, dass es uns im Moment eher weiterbringt, wenn
wir uns zu Jacques Bolgerie, den Lebensgefährten und vermutlich
auch Zuhälter von Chantal Lafitte kümmern«, schlug ich vor. »Der
müsste Chantal eigentlich längst vermissen.«
»Eine Vermisstenanzeige ist aber ihretwegen definitiv nicht
eingegangen«, stellte Monsieur Marteau fest. »Aber tun Sie das
ruhig, Pierre. Versuchen Sie, Monsieur Bolgerie aufzuspüren.«
9
Zwei Stunden später suchten wir Jacques Bolgeries Wohnung auf.
Das Haus Nummer 21 war ein ehemaliges Lagerhaus, das irgendwann in
den Siebzigern in ein Apartmenthaus umgewandelt worden war.
Mir fiel auf, dass die Post von heute noch in Bolgeries
Brieffach steckte, während alle anderen Bewohner von Nummer 21 ihre
Fächer bereits gelehrt hatten.
Der Lift war früher als Lastenaufzug benutzt worden und die
Kabine so groß, dass ein Kleinwagen darin Platz gehabt hätte.
Wenig später standen wir vor der Tür zu Bolgeries Wohnung.
François betätigte die Klingel. Keine Reaktion.
François probierte es ein zweites Mal. »Monsieur Bolgerie?«,
rief ich. »Hier ist die Polizei! Machen Sie bitte auf!«
Ich drückte leicht gegen die Tür. Sie war nur angelehnt und
öffnete sich einen Spalt. An dem herkömmlichen Zylinderschloss
waren Spuren von Gewalteinwirkung zu sehen.
François und ich zogen die Dienstwaffen. Ich gab der Tür einen
Stoß. Sie flog zur Seite. François trat zuerst ein. Der Raum vor
uns war ziemlich groß und vor allem hoch. Die Deckenhöhe betrug
sicherlich mehr als viereinhalb Meter.
Es war offensichtlich, dass bereits jemand vor uns da gewesen
war, der alles durchwühlt hatte. Die Polstermöbel waren
aufgeschlitzt, alle Schubladen geöffnet und ausgeleert und der
Inhalt sämtlicher Regale auf den Fußboden geworfen.
In einer Ecke befand sich ein Computer, dessen Gehäuse
aufgeschraubt worden war.
Es stellte sich später heraus, dass jemand die Festplatte
mitgenommen hatte.
Die Tür zum Nebenraum stand halb offen. Mit der Waffe im
Anschlag ging ich hinein und gelangte in ein Schlafzimmer, in
dessen Mittelpunkt ein riesiges Wasserbett stand. Auch hier war
alles durchwühlt und auf dem Boden verstreut worden. Die
Kleiderschränke standen offen. Zwei Drittel der Sachen waren
eindeutig für eine Frau bestimmt.
François schaute kurz im Bad und in der Küche nach, wo
ebenfalls niemand anzutreffen war.
Ich steckte die Waffe weg.
»Wir sind offenbar zu spät dran, Pierre«, sagte François,
während er in der Tür zum Bad stand und ebenfalls seine Waffe
einsteckte. Anschließend griff er zum Handy.
»Zumindest haben wir jetzt einen Grund, diese Wohnung zu
durchsuchen«, meinte ich.
»Und wenn Monsieur Bolgerie gleich in der Tür steht und
behauptet, dass dies der Normalzustand seiner Wohnung wäre?«
»Das glaubst du doch nicht im Ernst, François!«
»Nein, aber wir würden ziemlich alt aussehen.«
»Auf den Fluren gab es eine Videoüberwachung. Und da der oder
die Einbrecher offensichtlich durch die Tür gekommen sind, müssten
sie gefilmt worden sein.«
»Dann schlage ich vor, wenden wir uns als Nächstes an die
Hausverwaltung.«
10
Der Hausverwalter hieß Henri Vedell. Außerdem gab es insgesamt
sechs Wachmänner, die in einem Wechselschicht-System rund um die
Uhr gewährleisteten, dass in den Fluren von Nummer 21 nichts
geschah, was gegen das Gesetz war.
Im Wesentlichen bestand ihre Aufgabe darin, die
Überwachungskameras im Auge zu behalten.
Der Wachmann, der gerade Dienst hatte, hieß Norbert Jassonne
und war ein mittelgroßer Mann mit leichtem Übergewicht und dunklen
Haaren.
Während François sich in der Wohnung weiter umsah, nahm ich
mir zusammen mit Norbert Jassonne die in Frage kommenden
Videoaufzeichnungen vor.
»Die Aufnahmen werden auf einer Festplatte aufgezeichnet«,
erklärte Jassonne, der dabei auf der Tastatur seines Computers
herumtippte, um die entsprechenden Daten herauszusuchen.
»Wir hatten einen Ausfall der Überwachungsanlage zwischen drei
und vier Uhr heute Nacht«, berichtete Jassonne.
»Ich würde gerne wissen, wann Jacques Bolgerie seine Wohnung
verließ.«
»Das lässt sich schnell beantworten. Um die Haustür zu
passieren, braucht man eine Chipcard. Irgendwann wollen wir die
Türschlösser zu den einzelnen Wohnungen auch auf Chipcards
umstellen, aber das wird sich noch ein halbes Jahr hinziehen …«
Jassonne ließ die Finger über die Tastatur tanzen und fuhr
schließlich fort: »Monsieur Bolgerie hat den Haupteingang um kurz
nach drei passiert und das Haus um kurz vor vier wieder verlassen.
Seitdem ist er nicht zurückgekehrt. Wie sind Sie eigentlich
hereingekommen?«
»Wir haben einfach bei einer anderen Wohnung geklingelt«,
sagte ich.
Jassonne grinste. »Ich verstehe.«
»Wir gehen also davon aus, dass jemand mit Jacques Bolgeries
Chipcard das Haus genau in dem Zeitraum betreten und wieder
verlassen hat, in dem Sie einen Systemausfall hatten. Finden Sie
das nicht verdächtig?«, fragte ich.
Jassonne hob die Schultern. »Nun, wenn Sie das so sagen
…«
»Es könnte doch sein, dass jemand anderes zuvor Bolgerie die
Chipcard abgenommen hat, um damit in seine Wohnung einzubrechen.
Allerdings hatte dieser Unbekannte wohl nicht den Schlüssel für die
Wohnungstür dabei, sonst hätten der oder die Täter nicht das
Schloss aufzubrechen brauchen.«
»Wir haben die Türschlösser mit einer elektronischen Sicherung
versehen. Man muss zuerst eine Zahlenkombination eingeben. Die
Tastatur befindet sich hinter einer seitlich der Tür in die Wand
eingelassenen Klappe. Aber wenn die neue Anlage erst eingebaut ist,
dann bekommen wir hier in der Sicherheitszentrale Alarm, wenn
jemand versucht, das Schloss zu manipulieren.«
»Wann hat Bolgerie vor dem Zeitraum des Systemausfalls zuletzt
seine Wohnung verlassen?«
»Kurz nach acht am Abend. Zumindest hat er da die Chipcard
benutzt, um die Tür am Haupteingang zu öffnen.«
»Aber wenn er das Haus in einem Moment verlassen hätte, in dem
gerade jemand anders die Tür öffnete, hätten wir darüber jetzt
keine Aufzeichnungen, richtig?«, hakte ich nach.
Jassonne schüttelte den Kopf. »Nein, Monsieur Marquanteur, das
ist ausgeschlossen. Unsere Bewohner müssen die Chipcard in jedem
Fall durch den Schlitz ziehen, um ins Freie zu gelangen. Ansonsten
kann es Ihnen passieren, dass das System nicht reagiert, wenn Sie
später wieder hinein wollen.«
Ich seufzte. »Sicherheit hat ihren Preis, was?«
»Ich gebe zu, dass unser System in diesem Punkt noch
verbesserungsfähig ist, und man hat mir auch versprochen, dass
daran gearbeitet wird.«
»Ach, so.«
»Aber unsere Mieter schätzen die Sicherheit, die ihnen hier
geboten wird und sind auch bereit, dafür ein paar
Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen.« Jassonne lachte heiser. »Die
können sich den Spaß auch leisten. Ich selbst wohne mit meiner
Familie in einem ganz normalen Wohnblock – ohne irgendwelchen
Sicherheits-Schnickschnack.«
»Es dürfte doch nicht allzu schwierig sein, mir die passende
Aufnahme herauszusuchen, die zeigt, wie Bolgerie das Haus
verließ.«
»Sofort, Monsieur Marquanteur. Ich habe sie gleich.«
Es dauerte nicht einmal eine halbe Minute und Jassonne hatte
gefunden, wonach ich suchte.
Deutlich war zu sehen, wie Jacques Bolgerie seine Wohnung
verließ. Anschließend sah man ihn im Flur, im Lift und schließlich
in der Eingangshalle von Haus Nummer 21.