Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und der gerechte Zorn
von Alfred Bekker
1
»Sie können schon gehen, Marita.«
Dr. Mike Gurth saß hinter seinem Schreibtisch und sah einige
Laborwerte durch, die gerade noch per Kurier in die Praxis gebracht
worden waren.
»Bis Morgen, Dr. Gurth.«
»Ich sehe mir nur noch kurz die Befunde an, dann gehe ich auch
nach Hause!«
Mike Gurth hörte, wie die Schritte seiner Arzthelferin auf dem
Flur verklangen. Wenig später fiel die Tür ins Schloss.
Gurth überflog die Laborergebnisse. Das Telefon klingelte.
Gurth nahm den Hörer ans Ohr.
»Mike Gurth?«, krächzte eine verzerrte Stimme.
»Am Apparat.«
»Du Kindermörder!«
»Hören Sie, ich …«
»Aber noch heute Abend wirst du selbst tot sein.«
Es machte klick. Die Verbindung war unterbrochen.
Gurth seufzte hörbar.
Dieser Spinner hat mir gerade noch gefehlt!, dachte er.
Als ein Gynäkologe, in dessen Praxis im Rahmen der
gesetzlichen Grenzen auch Abtreibungen durchgeführt wurden, war es
gewöhnt, dass religiöse Fanatiker und sogenannte Lebensschützer in
ihm eine willkommene Zielscheibe ihrer Kampagnen sahen. Das war
auch der Grund dafür, dass Gurth seine Praxis in einem Gebäude in
Hamburg-Winterhude eingerichtet hatte - einem Gebäude mit
erstklassigem Sicherheitsstandard. Rund um die Uhr sorgten die
bewaffneten Security-Leute eines privaten Sicherheitsunternehmens
dafür, dass kein Unbefugter ins Gebäude gelangen konnte. Flure, die
Eingangshalle und die Aufzüge waren ebenso mit einer
Videoüberwachungsanlage ausgestattet wie das zum Gebäude gehörige
unterirdische Parkhaus.
Seit Gurth vor drei Jahren auf einem Ärztekongress von einem
fanatischen Lebensschützer mit einem Messer angegriffen worden war,
trug er häufig einen Revolver bei sich.
Gurth legte die Befunde zur Seite. Er konnte sich jetzt
einfach nicht mehr auf die Ergebnisse konzentrieren.
Immerhin, das hast du erreicht, Krächzer!, dachte Gurth.
Krächzer – das war der Name, den er diesem Anrufer für sich
persönlich gegeben hatte. Der Krächzer verfolgte ihn schon seit
langem mit seinen Todesankündigungen. Manchmal täglich, dann wieder
nur alle vier bis fünf Wochen. Die Polizei hatte die Identität des
Krächzers bisher nicht herausbekommen. Alles, was man wusste, war,
dass er mindestens dreimal von einer bestimmten Telefonzelle bei
der U-Bahnstation Kehlinghusstraße angerufen hatte und ansonsten
verschiedene Prepaid Handys benutzt. Außerdem gehörte der Krächzer
zu einem guten Dutzend Anrufern, die Gurth mehr oder minder
regelmäßig mit Beschimpfungen, Beleidigungen oder Drohungen
bedachten. Zwei von ihnen hatte die Polizei erwischt.
Die meisten von ihnen nahm Gurth nicht besonders ernst. Ihre
Rhetorik mochte martialisch klingen, aber Gurth schätzte die
meisten von ihnen als harmlos ein. Menschen, für die es nur schwarz
oder weiß gab und die nicht bereit waren, sich mit der Not, die
eine Frau vielleicht zu der Entscheidung trieb, eine
Schwangerschaft zu unterbrechen, überhaupt zu beschäftigen.
Aber Gurth wusste spätestens seit dem Messeranschlag auf dem
Ärztekongress, dass es eine kleine Minderheit in den Reihen der
Abtreibungsgegner gab, die bereit waren, weiter zu gehen.
Einmal war sein Wagen angezündet worden. Die Polizei hatte die
Täter bislang ebenso wenig ermitteln können, wie die Identität des
Krächzers und der anderen Anrufer. Manche von ihnen waren für Gurth
im Laufe der Zeit zu so etwas wie guten Bekannten geworden.
Gurth versuchte so wenig wie möglich daran zu denken, dass da
draußen vielleicht tatsächlich jemand auf ihn lauern mochte.
Der Arzt war überzeugt davon, dass seine Arbeit wichtig war
und getan werden musste. Also setzte er sie trotz der damit
verbundenen Gefahren fort und versuchte ansonsten einfach, alle nur
denkbaren Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.
Mike Gurth streifte den weißen Kittel ab, hängte ihn an einen
Haken an der Wand seines Behandlungszimmers, ging in den Vorraum
und nahm Jackett und Mantel von der Garderobe. Kurz bevor er die
Praxis verlassen wollte, klingelte noch einmal das Telefon.
Gurth zögerte. Eine Frau in Not oder der Krächzer – beides war
möglich. Schließlich gab Gurth sich einen Ruck, ging zum Tresen,
hinter dem Marita normalerweise ihren Platz hatte und nahm das
Gespräch entgegen.
»Unbekannter Anrufer« stand im Display.
»Hier Dr. Gurth«, meldete er sich.
Auf der anderen Seite der Leitung war nur ein schweres Atmen
zu hören. Dann machte es klick und die Verbindung war unterbrochen.
Der Schweiger!, dachte Gurth. Von dir habe ich schon länger
nichts mehr gehört!
2
Gurth ging zu den Aufzügen. Unterwegs begegneten ihm vor allem
Raumpflegerinnen und Angehörige des Wachpersonals. Nur ab und zu
mischte sich noch einer der Anwälte und Architekten, deren Büros in
diesem Gebäude ebenfalls zu finden waren, dazwischen.
Mit dem Aufzug ging es hinab in die Tiefgarage. Überall
folgten ihm Kameraaugen.
Gurth fuhr einen Porsche. Ein fester Platz war für ihn
reserviert.
Bis auf zwanzig Meter hatte er sich dem Wagen genähert, als
plötzlich das Licht ausging. Es war stockdunkel. Nur noch Schwärze
umgab ihn. Mike Gurth griff unter das Jackett, wo er seinen
Revolver trug. Er zog den kurzläufigen 38er hervor und war
vollkommen orientierungslos. Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Da
war nichts, auf das er hätte zielen können.
Er konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Wie blind stand er
da.
Er griff zum Handy. Nicht, weil er hoffte, eine Verbindung zu
bekommen. In diesen Katakomben war jeder Netzkontakt
ausgeschlossen. Aber das Display war eine Lichtquelle - wenn auch
keine besonders starke.
Er klappte das Gerät auf. Ein schwacher Schein leuchtete
auf.
Nur Sekundenbruchteile, nachdem das Display aufblitzte,
ertönte ein Geräusch, das an ein kräftiges Niesen erinnerte.
Blutrot leuchtete Mündungsfeuer auf. Zweimal kurz hintereinander
geschah das.
Gurth fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Das Handy und
der 38er Revolver entglitten seinen Händen und rutschten über den
Asphalt. Einen Augenblick lang leuchtete das Display noch, dann
schaltete es sich automatisch ab.
Schritte hallten in der Dunkelheit.
Ein letzter, gedämpfter Schuss war zu hören. Aber diesmal war
noch nicht einmal Mündungsfeuer zu sehen, denn der Killer hatte die
Mündung direkt auf die Schläfe des regungslos daliegenden Opfers
gehalten.
3
Ich holte meinen Kollegen Roy Müller wie beinahe jeden Tag an
der bekannten Ecke ab. Er konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Mir
ging es nicht anders. Mein Name ist Kriminalhauptkommmissar Uwe
Jörgensen. Kollege Roy Müller und ich gehören zu einer
Sondereinheit mit der Bezeichnung ’Kriminalpolizeiliche
Ermittlungsgruppe des Bundes’ in Hamburg.
»Ich hoffe, Mandys Kaffee sorgt gleich dafür, dass wir nicht
einschlafen«, sagte Roy.
Ich grinste.
»Das ist der Nachteil des bequemen Sitzmobiliars in Herrn
Bocks Büro.«
Wir hatten eine lange Nacht hinter uns. Viele Stunden hatten
wir uns zusammen mit einem Dutzend anderer Kollegen des
Polizeipräsidiums Hamburg um die Ohren schlagen müssen, um Ricky
Fratella, den Chef eines Drogenrings auf frischer Tat bei einem
Deal zu ertappen. Fratella hatte geglaubt, das Geschäft seines
Lebens machen zu können. In Wirklichkeit war er in eine Falle
getappt. Monatelange, sehr aufwendige Ermittlungen konnten damit
wahrscheinlich zum Abschluss gebracht werden.
Eine halbe Stunde später fanden wir uns im Besprechungszimmer
von Kriminaldirektor Jonathan D. Bock, dem Chef unserer Abteilung,
ein. Außer uns waren noch die Kommissare Stefan Czerwinski und
Ollie Medina sowie die Kollegen Tobias Kronburg und Ludger Mathies
anwesend.
Herr Bock wartete, bis Mandy allen einen Becher Kaffee
serviert hatte. Die Sekretärin unseres Chefs wollte gerade den Raum
verlassen, da traf auch unser Innendienstler Max Warter ein.
»Wenigstens sind wir nicht die Letzten, Uwe«, raunte Roy mir zu,
während ich mir bereits den ersten Schluck Kaffee genehmigte.
»Guten Morgen«, begrüßte uns Herr Bock. »Da alle Anwesenden an
der gestrigen Operation gegen Ricky Fratella beteiligt gewesen
sind, möchte ich Ihnen mein ausdrückliches Lob aussprechen. Das war
gute Arbeit! Ich habe heute Morgen bereits mit Herrn
Oberstaatsanwalt Thornow telefoniert und er ist sehr
zuversichtlich, dass die Anklage bei Ricky Fratella und seinen
Helfershelfern auf sicheren Füßen steht. Und das verdanken wir in
erster Linie der sorgfältigen Ermittlungsarbeit und der
gewissenhaften Beweissicherung, die von den Mitarbeitern dieses
Polizeipräsidium geleistet wurde.« Herr Bock machte eine kurze
Pause. Ohne einen weiteren Übergang kam er nun zu seinem
Hauptanliegen – dem neuen Fall, mit dem er zumindest einen Teil der
Kommissare unseres Polizeipräsidium betrauen würde. »Ich weiß, dass
Ihnen allen die letzte Nacht noch sehr in den Knochen steckt, aber
wir können uns leider keine Pause gönnen. Heute Morgen wurden wir
offiziell mit den Ermittlungen in einem Fall betraut, der bereits
jetzt die Medien beschäftigt wie kaum ein anderer Mordfall der
letzten Jahre. Es geht um den Fall Mike Gurth. Jeder von Ihnen, der
während der Fahrt hierher die Frühnachrichten gehört hat, müsste
die wesentlichen Fakten bereits kennen.«
Ich hatte die Meldung über den Tod des Arztes Dr. Mike Gurth
auch gehört – war allerdings nur mit halbem Ohr bei der Sache
gewesen. Der Meldung nach war Gurth am Vorabend in einer Tiefgarage
erschossen worden, nachdem er monatelang von militanten
Abtreibungsgegnern und sogenannten Lebensschützern bedroht worden
war. Natürlich kochten die Emotionen auch unter den Hörern der
Radiosender bereits hoch, noch bevor überhaupt nähere Umstände der
Tat bekannt waren. Die Hörer waren vom Sender aufgefordert worden,
anzurufen und ihre Meinung zu äußern, wovon die Hamburger ausgiebig
Gebrauch machten. Während die einen in Gurths Tod die gerechte
Strafe für einen vielfachen Kindermörder sahen, waren andere empört
darüber, mit welch brutalen Methoden religiöse christliche Gruppen
Ärzte einzuschüchtern versuchten, die letztlich nichts anderes
taten, als sich nach den bestehenden Gesetzen zu richten.
Über die näheren Hintergründe der Tat war natürlich noch so
gut wie nichts bekannt. Alles, was bisher auf dem Tisch lag, waren
Vermutungen.
Herr Bock hob die Augenbrauen.
»Dr. Gurth hatte seine Praxis hier in Winterhude und Sie
werden sich mit Recht fragen, was wir mit dem Fall zu tun haben.
Schließlich wäre dafür normalerweise die Mordkommission der Polizei
zuständig. Und falls man denen dies aufgrund des gewaltigen
öffentlichen Interesses an dem Fall nicht zutrauen würde, wären
schließlich zunächst unsere Kollegen vom Polizeipräsidium dran. Der
Umstand, der diesen Fall auf unseren Schreibtisch gebracht hat, ist
Dr. Gurths Wohnsitz. Er lebt in Hamburg-Winterhude. Außerdem
bestehen vermutlich Zusammenhänge mit einer Reihe von Anschlägen
auf Kliniken und Arztpraxen, in denen legale Abtreibungen
durchgeführt wurden und die sich allesamt auf dem Gebiet der Stadt
Hamburg befinden. Es erschien daher sinnvoll, uns die Ermittlungen
führen zu lassen.« Herr Bock wandte sich an Max Warter. »Bitte, Sie
haben auf die Schnelle bereits einiges über Gurth zusammengetragen
und auch ein paar Ansatzpunkte für unsere Ermittlungen gefunden.«
Max nickte. Während Herr Bocks Ausführungen war er damit
beschäftigt gewesen, den Laptop hochzufahren und den Beamer zu
installieren. Wenig später erschien das Gesicht eines grauhaarigen,
energisch dreinblickenden Mannes. Die Augen waren strahlend blau,
das Kinn wirkte markant, die Nase war lang und gerade.
»Dieses Foto stammt aus der Presse«, sagte Max. »Man kann es
im Internet finden und wurde anlässlich eines gynäkologischen
Symposiums an der Frankfurter Universität im vergangenen Jahr
aufgenommen. Vor drei Jahren wurde Gurth Opfer einer Messerattacke
auf einem medizinischen Kongress hier in Hamburg. Er wurde nur
leicht verletzt. Die Täterin war eine gewisse Alina Matern. Da sie
als Aktivistin einer radikalen Gruppe von sogenannten
Lebensschützern wegen verschiedener einschlägiger Delikte bereits
vorbestraft war, bekam sie keine Bewährung mehr und verbrachte
anderthalb Jahre im Gefängnis, bevor sie wieder auf freien Fuß kam.
Seitdem ist sie nicht mehr straffällig geworden. Von der Gruppe,
der sie damals angehörte, haben wir dafür umso mehr gehört. Sie
nennt sich LEBEN IST GÖTTLICH oder kurz LIG und gehört zu den
radikalsten Gruppen in der Szene der sogenannten Lebensschützer.
Angeführt wird diese Organisation von Moses Vosswinkel, einem
charismatischen Prediger, der von sich behauptet, früher Missionar
in den Urwäldern am Amazonas gewesen zu sein.«
»Gibt es irgendetwas, das eine konkrete Verbindung zwischen
Dr. Gurth und LIG herstellt?«, erkundigte sich Herr Bock, nachdem
er an seinen Kaffeebecher genippt hatte.
Max nickte.
»Die gibt es tatsächlich! Dr. Gurth wurde laut Angaben der
Polizei seit langem telefonisch belästigt und mit Drohbriefen
überhäuft, wie es vielen Medizinern geht, die auf seinem Gebiet
tätig sind und zu der Problematik eine aufgeklärte Haltung haben.
Die meisten dieser anonymen Quälgeister ließen sich nie ermitteln,
aber gegen zwei Personen wurden eine Geldstrafe und eine
gerichtliche Verfügung verhängt, nach der die Täter unter Androhung
von Haft weder telefonisch noch sonst wie Kontakt mit Dr. Gurth
aufnehmen oder sich seiner Praxis oder seiner Wohnung nähern
durften.«
»Fragt sich nur, ob sie sich auch daran gehalten haben«, warf
unser Kollege Oliver ‚Ollie‘ Medina ein.
»Die beiden heißen Georg Brandner und Michael Milovich«, fuhr
Max fort. »Ihre Adressen sind bekannt. Die gerichtlichen Auflagen
beinhalten auch eine Meldepflicht bei jedem Umzug innerhalb der
nächsten zwei Jahre. Also können wir davon ausgehen, dass die
Adressen stimmen.«
Herr Bock wandte sich an Tobias und Ludger.
»Sie beide kümmern sich um Milovich und Brandner. Wir brauchen
ihr Alibi und müssen wissen, ob sie sich in die gerichtlichen
Anordnungen gehalten oder Dr. Gurth weiter schikaniert haben.
»In Ordnung«, nickte Tobias.
»Es gibt da noch ein weiteres interessantes Detail«, erklärte
Max. »Sowohl Milovich als auch Brandner arbeiteten zum Zeitpunkt
ihrer Verurteilung als Ordner bei den Veranstaltungen von Moses
Vosswinkel und seiner Organisation.«
»Auf jeden Fall ist die Verbindung Grund genug, diese
Organisation mal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, zumal sie
mit einer ganzen Anzahl von weiteren einschlägigen Delikten in
Verbindung gebracht werden«, äußerte Max seine Einschätzung. »So
wurde vor vier Wochen im Marienkrankenhaus ein Stromausfall von
LIG-Aktivisten herbeigeführt, der dazu führte, dass sämtliche
Operationen – damit auch zwei Abtreibungen – abgesetzt werden
mussten.«
»Was ist mit den Tätern?«, hakte Herr Bock nach.
»Wilhelm Bleicher und Tara Müller – beides Aktivisten von LIG.
Die beiden sind untergetaucht, die Polizei fahndet nach ihnen.
Vermutlich waren noch weitere Täter an dem Anschlag beteiligt, aber
anhand der Aufnahmen der Überwachungskameras konnten nur diese
beiden zweifelsfrei identifiziert werden.«
»Da das jetzt unser Fall ist, werden wir auch dort ansetzen«,
erklärte Herr Bock. »Vielleicht könnten Sie uns noch ein paar Worte
zu den Zielen sagen, die LEBEN IST GÖTTLICH verfolgt.«
Max nickte und blätterte in einer Mappe mit Computerausdrucken
und Notizen.
»Gerne«, sagte er. »Kristallisationspunkt ist der Prediger
Moses Vosswinkel. Er wurde eigentlich als Robert Vosswinkel geboren
und tritt jetzt öffentlich unter dem Namen Moses Vosswinkel auf,
nach dem er seine sogenannte Wiedergeburt als Christ erlebte.
Seitdem zieht er als charismatischer Prediger durch das Land und
wettert in Fußball-Stadien und Eishockey-Arenen gegen Abtreibung,
Homosexualität und Sittenverfall. Außerdem hat er wöchentlich eine
Sendung auf dem Kabelsender ‚Gottes Bibel-TV’, den hier in Hamburg
eigentlich jeder empfangen können müsste.«
»Und wer finanziert diesen Vosswinkel?«, fragte Stefan. Er war
nach Herr Bock der zweite Mann in der Hierarchie des
Polizeipräsidium.
»Vosswinkel erwirtschaftet mit seinen Auftritten und den
dazugehörigen Büchern, Videos etc. ein Millionenvermögen, von dem
der größte Teil einer Stiftung mit der Bezeichnung LEBEN IST
GÖTTLICH STIFTUNG zufließt«, berichtete Max. Er wandte das Gesicht
Herrn Bock zu und fuhr fort: »Ich werde nachher mit Norbert Nahr
sprechen, dass er diese Stiftung und die mit ihr zusammenhängenden
Finanzströme mal etwas genauer unter die Lupe nimmt.«
»Tun Sie das!«, stimmte Herr Bock zu. »Aber dazu werden Sie
frühestens heute Mittag Gelegenheit haben, denn zurzeit ist Norbert
beim Zahnarzt und lässt sich eine Wurzel behandeln.«
Norbert Nahr war bei uns im Polizeipräsidium der Spezialist
für Betriebswirtschaft. Häufig genug waren gerade seine
Erkenntnisse es, die uns durch das Aufspüren verdeckter Geldströme
bei unseren Ermittlungen auf den richtigen Weg brachten.
Herr Bock wandte sich an Roy und mich.
»Ich möchte, dass Sie beide sich zusammen mit einigen Kollegen
aus unserem Erkennungsdienst zum Tatort begeben, um die
Verhältnisse dort genauer zu untersuchen und sich mit den dortigen
Kollegen der Polizei kurzschließen.«
»In Ordnung, Herr Bock«, nickte ich.
»Stefan, Sie nehmen sich diesen Moses Vosswinkel vor.«
»Er wird seine Hände in Unschuld waschen«, erwiderte der
Kollege.
Herr Bock teilte diese Einschätzung.
»Natürlich. Vermutlich ist er im juristischen Sinn gesehen
sogar unschuldig, auch wenn sich die eigentlichen Täter von ihm
haben inspirieren lassen. Jedenfalls nehme ich nicht an, dass diese
Bewegung so straff geführt ist, dass er eine direkte Befehlsgewalt
hätte.«
»Oh, ich widerspreche Ihnen ungern, Herr Bock«, mischte sich
Max ein. »Was Sie sagen, mag für andere charismatische
Erweckungsprediger ja im Allgemeinen zutreffen, aber was Vosswinkel
angeht, wissen wir - ehrlich gesagt - noch gar nicht so viel über
die Führungsstrukturen dieser Organisation. Auf wirtschaftlicher
Ebene gibt es diese bereits erwähnte Stiftung und ansonsten hat er
sicher einen großen Pulk von Anhängern, die eher locker mit ihm und
seinen Idee verbunden sind. Aber davon abgesehen scheint es
innerhalb dieser Anhängerschaft durchaus Kreise zu geben, die sehr
viel strengere Organisationsformen angenommen haben und sich stark
nach außen abschotten. Inwiefern Vosswinkel hier über eine direkte
Befehlsgewalt verfügt und vielleicht sogar konkretere Aktionen
anordnen kann, ist noch lange nicht geklärt.«
»Wie auch immer, es ist sehr wahrscheinlich, dass die Mörder
von Dr. Gurth und die Urheber einiger weiterer krimineller Aktionen
gegen Abtreibungskliniken und –praxen im direkten Umfeld dieses
Predigers zu finden sind«, schloss Herr Bock.
»Zurzeit versuchen wir gerade den gegenwärtigen Aufenthaltsort
von Alina Matern ausfindig zu machen«, erklärte Max.
»Ich denke, wir hätten damit zunächst einmal alles
besprochen«, stellte Herr Bock fest. »Damit wäre die Sitzung
beendet.«
»Eine Frage noch«, meldete sich Stefan zu Wort.
Herr Bock hob die Augenbrauen. »Bitte!«
»Wo wird die gerichtsmedizinische Untersuchung
durchgeführt?«
»Da Gurth Bürger der Stadt Hamburg ist und man den Fall
außerdem jetzt uns übertragen hat, wurde die Leiche in das
gerichtsmedizinische Labor des Erkennungsdienstes hier in Hamburg
überführt. Soweit ich weiß, ist Dr. Bernd Claus mit der Obduktion
betraut.« Herr Bock blickte auf die Uhr. »Die Sektion hat vor einer
halben Stunde begonnen und dauert für gewöhnlich drei Stunden.
Danach werden wir mit ersten Ergebnissen rechnen können.«
4
Roy und ich machten uns mit dem Sportwagen auf den Weg. Wir
fuhren vom Ring 2 auf die Oldendorfer Straße, um auf die B5 zu
kommen. Dort ging es dann Richtung Osten zum Wiesendamm. Ich fuhr
den Sportwagen in die zum Gebäude gehörende Tiefgarage.
An der Zufahrt waren sowohl Beamte der örtlichen Polizei, als
auch Mitarbeiter des privaten Security Service postiert, die
normalerweise für Sicherheit sorgten.
Ich ließ die Scheibe des Sportwagens herunter und zeigte
meinen Dienstausweis vor.
Der Polizist winkte uns durch.
»Kommissar Alberts von der Mordkommission erwartet Sie
bereits«, sagte der Uniformierte.
»Danke«, gab ich zurück.
»Der Tatort befindet sich auf Deck 2. Ansonsten läuft hier der
Betrieb ganz normal. Wir kontrollieren allerdings, wer rein und
wieder heraus fährt und nehmen die Personalien auf.«
»Das ist sonst nicht der Fall?«, fragte ich.
»Eine Videoüberwachung muss normalerweise reichen«, mischte
sich jetzt der neben dem Beamten stehende Wachmann der Security in
das Gespräch ein. »Wenn irgendetwas vorfällt, können wir das vom
Kontrollraum aus sehen und sind innerhalb weniger Augenblicke mit
einem Dutzend Mann hier vor Ort. Aber im Moment müssen wir den
Besuchern des Hauses einfach das Gefühl von Sicherheit vermitteln,
wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Vollkommen«, nickte ich.
Wir fuhren weiter und gelangten schließlich auf Deck 2, von
dem ungefähr ein Viertel mit Flatterband abgesperrt und als Tatort
gekennzeichnet worden war. Ich parkte den Sportwagen zwischen den
anderen Einsatzfahrzeugen.
Die Kommissare Frank Folder und Martin Horster – zwei
Erkennungsdienstler aus unserer Sonderabteilung – folgten uns in
einem blauen Ford aus dem Bestand unserer Fahrbereitschaft.
Wir stiegen etwa gleichzeitig aus.
»Hallo Uwe!«, begrüßte mich Frank Folder. »David Eichner wird
gleich auch noch hier auftauchen. Aber er macht zuerst noch einen
kleinen Umweg über die Labore des Erkennungsdienstes, um sich das
Projektil abzuholen, das in Gurths Kopf steckte.«
David war unser Chefballistiker. Früher hieß er mal Ochmer.
Aber seitdem er seinen schwulen Freund geheiratet hatte, hatte sich
sein Name geändert. Zwei der Schüsse, die Gurth getroffen hatten,
waren glatt durch seinen Körper gegangen und steckten jetzt im
grauen Beton, der uns hier umgab. Aus der Berechnung der
Schussbahnen mit Hilfe von Laserprojektionen konnte man den
Standpunkt ermitteln, von dem aus der Täter geschossen hatte.
Roy verzog das Gesicht.
»Was mit dem Kopf geschehen ist, mag man sich überhaupt nicht
vorstellen.«
Ich ließ den Blick schweifen. Weiße Kreidemarkierungen
deuteten an, wo Gurth gestorben war. Die Blutlache auf dem Asphalt
war selbst jetzt noch unübersehbar, obwohl das Verbrechen am
vorangegangen Abend geschehen war.
Ein paar Passanten standen außerhalb des Flatterbandes und
sahen den Kollegen bei der Arbeit am Tatort zu. Graue, dreiteilige
Anzüge und seriös wirkende Business-Kostüme herrschten vor. Die
meisten dieser Passanten blieben nur kurz stehen. Ihre
Terminkalender erlaubten es ihnen nicht, ihrem Voyeurismus
nachzugeben.
Ein Mann mit stämmiger Figur, hoher Stirn und markanten, wie
gemeißelt wirkenden Gesichtszügen fiel mir auf. Ich schätzte ihn
auf Mitte fünfzig. Er trug einen Kaschmirmantel und hatte die Hände
tief in den Taschen vergaben. Im Gegensatz zu den anderen Passanten
schien er keinerlei Eile zu haben.
»Kommissar Alberts, Chef der Mordkommission«, holte mich eine
raue, heisere Stimme aus meinen Gedanken.
Der Mann, zu dem diese Stimme gehörte, war Mitte dreißig. Er
trug eine fleckige, abgeschabte Lederjacke und Jeans. Alberts hielt
uns seinen Ausweis entgegen, und wir taten dasselbe.
»Ich bin Kommissar Roy Müller und dies ist mein Kollege Uwe
Jörgensen«, stellte Roy uns beide vor. »Außerdem sind noch die
Kommissare Frank Folder und Martin Horster von unserem eigenen
Erkennungsdienst mitgekommen. Ein Ballistiker ist noch
unterwegs.«
»Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass ich diesen Fall los bin«,
bekannte Alberts und machte eine wegwerfende Geste.
Ich runzelte etwas überrascht die Stirn. »So?«
»Der Mord an Dr. Gurth wird jede Menge Staub aufwirbeln. Wir
haben bereits im Verlauf des Morgens mehr als ein Dutzend
hasserfüllter Anrufe bekommen, wonach Dr. Gurth den Tod verdient
hätte und dass man die Tat als den Vollzug eines göttlichen
Richterspruchs sehen müsse. Auf so etwas kann ich gerne
verzichten.«
»Konnten Sie einige dieser Anrufe zurückverfolgen?«
»Ja. Diese Personen wohnen in einem Umkreis von dreißig
Kilometer um Hamburg. Die Kollegen vor Ort überprüfen die Alibis,
aber ich persönlich glaube nicht, dass der oder die Täter so dumm
sein könnten, sich auf diese Weise selbst ans Messer zu liefern.
Nein, das sind nur Leute, die ihre Meinung mit missionarischem
Eifer unbedingt mitteilen müssen.«
»Haben Sie bereits ungefähr rekonstruiert, was geschehen
ist?«, fragte Roy.
Alberts nickte.
»Gestern gegen halb neun am Abend verließ Dr. Gurth seine
Praxis. Seine Arzthelferin Marita Jonas hatte bereits ungefähr eine
Viertelstunde zuvor die Praxis verlassen. Die anderen Angestellten
von Dr. Gurth waren bereits zwei Stunden früher gegangen.«
»Wo finden wir Marita Jonas?«, fragte ich.
»In der Praxis. Sie ist damit beschäftigt, die Patienten an
andere Ärzte zu verweisen.«
»Ich nehme an, Dr. Gurths Weg bis ins Parkhaus lässt sich
durch die Videoüberwachung lückenlos dokumentieren.«
»So ist es«, bestätigte Alberts. »Kommissar Wittwer ist
zusammen mit den Kollegen der Security im Kontrollraum damit
beschäftigt, die wichtigen Bildsequenzen aus den Aufzeichnungen
herauszusuchen und auf Datenträger zu kopieren, so dass Sie sich
ein Bild machen können.«
»Danke.«
»Gurth erreichte also das Parkhaus und ging auf seinen Porsche
zu.« Alberts streckte die Hand in Richtung des Wagens aus, der noch
immer an seinem Platz stand. »Dann fiel das Licht aus. Und zwar im
gesamten Parkhausbereich. Die genaue Ursache dafür wird noch
untersucht.«
»Dies bedeutet wahrscheinlich, dass sämtliche
Überwachungskameras mit einem Schlag blind waren«, schloss
Roy.
»Genau. Der Täter hatte mit der Dunkelheit allerdings
keinerlei Probleme. Er hat Gurth zielsicher erschossen, ist dann an
Gurth herangetreten und hat ihm einen aufgesetzten Kopfschuss
gegeben. Ob der Arzt zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, wird wohl
erst die Obduktion ergeben.«
»Ich nehme an, wenn das Licht komplett ausgeschaltet ist,
sieht man hier nichts mehr«, sagte ich.
»Nicht mal die Hand vor Augen«, bestätigte Alberts. »Wir haben
das heute Morgen ausprobiert. Wir haben am Tatort einen 38er
Revolver gefunden, der Gurth gehört haben muss. Aber angesichts der
Lichtverhältnisse hat ihm die Waffe natürlich nicht helfen
können.«
»Der Täter muss ein Nachtsichtgerät getragen haben«, meinte
ich. »Anders ist es nicht erklärbar, dass er Gurth überhaupt
treffen konnte.«
»Daran haben wir auch schon gedacht.«
»Wie hat der Täter das Parkhaus verlassen?«, mischte sich nun
Roy wieder ein.
»Auch das ist noch nicht geklärt«, sagte Alberts. »Die
simpelste Methode wäre, das Parkhaus einfach zu Fuß über die
Ausfahrtsrampe zu verlassen. Es herrschte dort überall totale
Dunkelheit und in dem kleinen Bereich, der vielleicht von außen
durch die Straßenbeleuchtung etwas Licht abbekommen hat, gibt es
keine Kameras mehr. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, dass er
mit dem Aufzug ins Erdgeschoss fuhr und das Haus auf ganz normalem
Weg durch den Haupteingang verließ. Aber da wäre er aufgefallen, da
die meisten Büros zu diesem Zeitpunkt längst Feierabend hatten und
auch keine Kundschaft mehr empfingen. Möglichkeit drei: Er hätte
sich in seinen Wagen setzen und abwarten können, bis der
Stromausfall beendet war. Aber dann wäre er vermutlich auch leicht
aufgefallen. Schließlich haben die Kollegen des Security Service
sofort versucht, alles abzuriegeln und Kontrollen durchzuführen.
Und selbst wenn er ihnen durch die Lappen gegangen wäre, müsste man
ihn in den Videoaufzeichnungen sehen. Schließlich ist die gesamte
Strecke bis zu der Ausfahrtsschranke nahezu lückenlos
erfasst.«
»Und wenn er während der Dunkelphase bereits gefahren ist?«,
fragte Roy. »Angenommen er verfügte tatsächlich über ein
Nachtsichtgerät, dann konnte er sich doch einfach ans Steuer setzen
und wäre von den Kameras nicht gesehen worden, solange er die
Beleuchtung einschaltete. Ich nehme doch nicht an, dass die Kameras
auch über Mikrofone verfügen, so dass man später das
Motorengeräusch hätte hören können.«
Alberts schüttelte den Kopf.
»Nein, das tun sie nicht. Ein bisschen Privatsphäre muss ja
schließlich bleiben. Allerdings hätte er dazu die Schranke entweder
über den Haufen fahren oder passieren müssen. Da die Schranke
unbeschädigt ist und sie nachweislich zum fraglichen Zeitpunkt
nicht passiert wurde, scheidet diese Möglichkeit aus.«
»Das Einfachste ist oft auch das Effektivste«, mischte sich
jetzt Frank Folder in das Gespräch ein. »Ich nehme an, dass die
erste Möglichkeit zutrifft und er das Parkhaus zu Fuß verlassen
hat. Zeit genug müsste er dafür eigentlich gehabt haben.«
»Gut möglich«, gab Alberts zu.
»Dann werden wir den Eingangsbereich nach Fußabdrücken und
anderen Spuren absuchen, die wir später mit dem, was wir am Tatort
finden, abgleichen können«, kündigte Frank an.
»Ich fürchte, dazu ist es bereits zu spät«, entgegnete
Alberts.
Frank hob die Augenbrauen.
»Wie kommen Sie darauf, Kommissar Alberts?«
»Es hat in der Zwischenzeit jede Menge Publikumsverkehr
gegeben.«
»Das mag sein, aber wenn unsere Theorie stimmt, dann war
darunter seit gestern Abend ganz gewiss nur ein einziger Fußgänger
– Dr. Gurths Mörder.«
5
»Wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen,
so sagt Jesus, der Herr!«, dröhnte die tiefe Stimme von Moses
Vosswinkel durch den Raum.
Vosswinkel war eine imposante Erscheinung. Ein zwei Meter
großer Mann mit vollem, sehr dichtem grauem Haar und einem grau
durchwirkten Bart, der bis auf Brusthöhe hinabreichte.
»Was tut denn ein sogenannter Arzt, der eigentlich geschworen
hat, den Menschen zu helfen und sie mit Gottes Hilfe zu heilen,
wenn er das durchführt, was man beschönigend einen
Schwangerschaftsabbruch nennt? Jawohl, meine Brüder und Schwestern,
er nimmt eine Waffe und greift ein menschliches Wesen an – dazu
noch ein besonders hilfloses! Was macht es schon für ein
Unterschied, ob es nun ein Schwert ist oder ein medizinisches
Instrument, das den kleinen menschlichen Körper zerstückelt? Der
Herr sagt, dass das Leben heilig ist! Und dass Gott es gesandt hat
– diesen Odem, den er Adam einhauchte und der uns allen seitdem
innewohnt. ‚Du sollst nicht töten’, so steht es schon in dem
Gesetz, das Gott uns am Sinai gab. Und wer dagegen verstößt, ist
ein Sünder, der selbst des Todes ist ...«
»Danke, aus!«, rief ein Mann mit aufgekrempelten Hemdsärmeln,
dem die Krawatte wie ein Strick um den Hals hing. Er nahm ein Glas
Wasser, trank es aus und stellte zurück auf seinen Skripttisch.
»Alles klar. War das Licht okay?«, wandte er sich an einen der
Techniker.
»Ja!«, kam es knapp zurück.
Moses Vosswinkel entspannte sich ebenso deutlich wie die
Kameraleute hinter ihren Geräten. Normalerweise wurde Vosswinkel
stets durch das Publikum angespornt. Vor leeren Rängen, imaginären
Zuschauern zu predigen, daran mochte er sich einfach nicht
gewöhnen. Andererseits kam seine Sendung gut an und war auf ‚Gottes
Bibel-TV’ der absolute Quotenspitzenreiter. Also gab es keinen
Grund, seine Fähigkeiten als TV-Prediger infrage zu stellen.
»Alles perfekt im Kasten!«, rief der Mann mit den Hemdsärmeln.
Zwei Männer traten von hinten an ihn heran - der eine
flachsblond, der andere mit blauschwarzem Haar und dunklen
Teint.
»Stefan Czerwinski, Kriminalpolizei. Dies ist mein Kollege
Herr Medina. Wir haben ein paar Fragen an Herrn Moses
Vosswinkel.«
Der Mann mit den Hemdsärmeln drehte sich herum. Er starrte
einen Augenblick lang auf den Dienstausweis, den Stefan ihm
entgegen hielt. Dann atmete er tief durch und wischte sich mit
einer fahrigen Handbewegung über das Gesicht.
»Sie kommen zu einem ungünstigen Zeitpunkt, Herr Czerwinski.
Wir zeichnen hier gerade eine Sendung für ‚Gottes Bibel-TV’ auf und
sind ohnehin schon im Zeitplan hinterher.«
»Das tut mir leid«, antwortete Stefan.
»Wir würden das nicht tun, wenn es nicht unbedingt
erforderlich wäre«, ergänzte Ollie Medina. »Dürfen wir erfahren,
wer Sie sind?«
»Krämer, Dieter Krämer, ich bin hier der Aufnahmeleiter und
ausführender Produzent in einer Person.« Er seufzte. »Wenn es Ihr
Geld kosten würde, würden Sie das nicht machen. Da bin ich mir
ziemlich sicher.«
»Wir sind sicher schnell fertig«, versprach Ollie
Medina.
Dieter Krämer nickte. Er machte seiner Crew ein Zeichen und
rief: »Wir machen zwanzig Minuten Pause! Aber das mir hinterher
jeder pünktlich ist!« Er wandte sich an die beiden Kommissare und
knurrte: »Kommen Sie!«
Stefan und Ollie folgten ihm auf die Bühne. Als Hintergrund
wurde eine blaue Wand verwendet, die später gegen jeden beliebigen
Hintergrund ausgetauscht werden konnte.
»Herr Vosswinkel?«, fragte Stefan. »Ich bin Stefan Czerwinski
von der Kripo Hamburg. Mein Kollege Herr Medina und ich hätten ein
paar Fragen im Zusammenhang mit dem Tod von Dr. Mike Gurth an
Sie.«
»Pfarrer Vosswinkel – so viel Zeit muss sein, meine Herren!«,
mischte sich Krämer ein.
»So weit uns bekannt ist, hat Herr Vosswinkel weder ein
Theologiestudium absolviert, noch steht er einer Kirchengemeinde
vor oder hat sich sonst wie als Geistlicher qualifiziert – nach
welchem Bekenntnis auch immer«, hielt Ollie ihm entgegen.
»Die Kirchen sind zu Treffpunkten lauwarmer
Kompromiss-Christen geworden, die das Wort Gottes nicht mehr ernst
nehmen«, erklärte Vosswinkel. »Diejenigen, die sich mir
angeschlossen haben, nennen mich üblicherweise Pfarrer, aber das
muss für Sie nicht gelten.«
»Ich schlage vor, wir gehen in einen Raum, in dem wir uns
ungestört unterhalten können«, sagte Stefan.
Vosswinkel wechselte einen etwas verwirrten Blick mit Krämer.
Dieser zuckte mit den Schultern und beteuerte: »Ich habe keine
Ahnung, was das Ganze soll!«
»Mit dem Tod dieses unglückseligen, gottesfernen Arztes, der
das Leben als etwas ansah, dass man im Abort verschwinden lassen
kann, weil der Staat ihm dafür keine Strafe androht, habe ich
nichts zu tun.«
»Wir verdächtigen Sie auch keinesfalls. Unsere Fragen dienen
der Information.«
»Welcher Information? Das ist doch vollkommen lächerlich! Sie
können mich gerichtlich vorladen lassen, wenn Sie glauben, dass das
Ihrer Sache dient, aber ich weigere mich, mir Ihr Geschwätz auch
nur anzuhören.«
»Warum so feindselig?«, fragte Stefan. »Wir sollten versuchen
zu kooperieren, soweit das möglich ist.«
Vosswinkel durchbohrte Stefan förmlich mit seinem Blick und
fuhr aufgebracht fort: »Deine Rede sei ja, ja oder nein, nein, so
heißt es in der Bibel und daran habe ich mich immer gehalten!
Alles, was ich zu dem Thema zu sagen habe, habe ich gesagt. Und
zwar öffentlich! Jede Woche lege ich in meiner Sendung auf ‚Gottes
Bibel-TV’ Zeugnis ab und mehr als 200 Veranstaltungen im Jahr im
ganzen Land hätten Ihnen die Möglichkeit gegeben, sich über meine
Ansichten zu informieren. Oder Sie hätten sich eines meiner Bücher
anschaffen können. Aber nein, Sie bevorzugen natürlich den großen
Auftritt und stören mich bei meiner Arbeit!«
»Den großen Auftritt überlassen wir gerne Ihnen, Pfarrer
Vosswinkel«, erwiderte Stefan. »Ich denke, es wäre aber für alle
Seiten das Beste, wenn wir die anstehenden Fragen unter sechs Augen
klären können.«
»Meinetwegen auch unter acht Augen, wenn Sie glauben, dass Sie
dazu einen Anwalt nötig haben«, ergänzte Ollie.
Vosswinkel seufzte.
»Na gut«, gestand er zu.
Ollie und Stefan folgten ihm in einen Büroraum.
»Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen«, eröffnete Vosswinkel
das Gespräch, nachdem sich alle gesetzt hatten. »Soweit ich das
über die Medien mitbekommen habe, wurde dieser Mörder-Arzt gestern
Abend erschossen. Ich habe vor über tausend Menschen am Altonaer
Volkspark gepredigt. Davon gibt es eine Videoaufzeichnung, die
irgendwann in nächster Zeit auch auf ‚Gottes Bibel-TV’ läuft und
als DVD zu beziehen ist. Außerdem ...«
»Wie ich schon sagte, Ihnen persönlich wird in dieser Hinsicht
nichts vorgeworfen, auch wenn man natürlich auf dem Standpunkt
stehen könnte, dass Ihre Predigten die Tat vielleicht inspiriert
haben ...«
»Ich predige keine Gewalt. Aber ich verschweige auch nicht,
dass das Gericht des Herrn mit aller Härte die Sünder treffen wird!
Halleluja!«
»Es gab in letzter Zeit eine Reihe von Sachbeschädigungen und
Anschlägen auf Kliniken in Hamburg. Der Gipfel war der provozierte
Stromausfall im Marienkrankenhaus, der unter Umständen einigen
Menschen das Leben hätte kosten können«, erwiderte Stefan.
Vosswinkel breitete die Arme aus.
»Das ist bedauerlich. Aber ich habe nichts damit zu
tun!«
»Zwei der Täter wurden anhand der Videoüberwachung
identifiziert: Wilhelm Bleicher und Tara Müller. Beide waren
Aktivisten von LEBEN IST GÖTTLICH.«
»Sie können mich nicht im Ernst für das haftbar machen, was
Menschen, die meinen Predigten lauschen, anschließend tun. Es
kommen Mörder, Huren und andere verworfene Seelen in meine
Gottesdienste, und schon so mancher wurde dort durch die
Verkündigung von Gottes Wort geläutert.«
»Bleicher und Müller waren Angestellte Ihrer Stiftung – nicht
nur irgendwelche Anhänger«, gab Ollie zu bedenken.
»Was das mit dem Fall Gurth zu tun hat, ist mir ehrlich gesagt
schleierhaft«, entgegnete Vosswinkel.
Stefan versuchte, es ihm zu erklären.
»Bleicher und Müller zählen für uns durchaus zum erweiterten
Kreis der Tatverdächtigen. Es ergibt sich einfach ein
beunruhigendes Gesamtbild der Aktivitäten Ihrer
Organisation.«
»Jetzt übertreiben Sie mal nicht!«
»Gurth wurde – wie andere Ärzte auch – mit Drohanrufen und
Hassbriefen drangsaliert. Zwei der Täter wurden verurteilt – Georg
Brandner und Michael Milovich. Sie arbeiten als Ordner bei Ihren
Veranstaltungen. Und dann ist da noch Alina Matern, die vor drei
Jahren Gurth mit einem Messer attackierte. Zuvor war auch sie als
Aktivistin von LEBEN IST GÖTTLICH tätig und wurde sogar mit der
Durchführung von Predigerseminaren betraut.«
»Dass wir Gurths Mörder im Umkreis Ihrer Organisation suchen,
dürfte Sie doch angesichts dieser Tatsachen kaum überraschen«,
ergänzte Ollie.
Vosswinkel saß wie versteinert da. Sein Gesicht wirkte wie das
gemeißelte Standbild eines alttestamentarischen Patriarchen. Der
Blick war nach innen gekehrt. Schließlich murmelte er: »Sie werden
von mir kein Wort des Bedauerns über Gurths unrühmliches Ende
hören. Er hat geerntet, was gesät hat: Den Tod nämlich!«
Stefan hob die Augenbrauen.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten uns dabei behilflich sein,
Ihre Organisation von jedem Verdacht rein zu waschen, so dass wir
uns auf andere Verdächtige konzentrieren könnten«, erklärte er.
»Aber da scheine ich bei Ihnen leider auf Granit zu beißen.«
»Ich soll Auskünfte über meine Mitbrüder geben? Für wen halten
Sie mich? Ich bin kein Judas!«
»Es soll unter Ihren Anhängern Gruppen geben, die eine
radikalere Vorgehensweise bevorzugen würden«, stellte Ollie fest.
»Könnte es sei, dass Teile von LEBEN IST GÖTTLICH Ihrer Kontrolle
aus den Händen geglitten sind?«
Moses Vosswinkel erhob sich mit hochrotem Kopf. Er ging zu
einem der Wandregale des Büros. Neben Akten mit Geschäftsberichten
und Steuerratgebern stand dort auch ein Bibelexemplar in Leder.
Vosswinkel nahm es heraus und knallte es auf den Tisch.
»Alles, was ich sage, gründet sich auf das Wort Gottes. Ich
predige, was mir mein Gewissen gebietet und welche
Schlussfolgerungen der einzelne daraus zieht, damit habe ich nichts
zu tun.«
»Machen Sie es sich damit nicht ein bisschen zu einfach?«,
fragte Ollie.
»Ich gehe den geraden Weg in der Nachfolge des Herrn. Das
Leben ist für mich etwas Heiliges und ich empfinde es als Hohn,
dass unsere Gesetze auf der einen Seite Mord bestrafen, ihn aber in
anderen Fällen einfach geschehen lassen.«
Es klopfte an der Tür. Dieter Krämer öffnete.
»Können wir weitermachen, Pfarrer?«
»Sofort!«
»Sie wissen, dass wir heute die Sendungen des nächsten Monats
aufzeichnen müssen!«
Vosswinkel wandte sich an Stefan. »Ich denke, es gibt nichts
weiter zu besprechen, Kommissar Czerwinski.«
»Falls Ihnen irgendetwas einfällt, dass mit dem Fall zu tun
hat, dann lassen Sie es uns bitte wissen«, forderte Stefan und
reichte ihm eine seiner Visitenkarten. Vosswinkel zögerte zunächst.
Dann nahm er sie und steckte sie ein.
»Kommen Sie in meine Gottesdienste und lassen Sie Gottes Wort
in Ihr verstocktes Herz, Herr Czerwinski!«
6
Ich begleitete Frank Folder auf dem Weg zur Ausfahrtsrampe,
während Roy mit dem Leiter des Security Service sprach. Frank und
ich gingen die Strecke ab, von der wir annahmen, dass auch der
Täter sie gegangen war. Einer der Wachmänner der Security
begleitete uns und stand uns Rede und Antwort. Er hieß Ronald
Donner und war am Vorabend der Schichtführer gewesen.
Ich versuchte zwischenzeitlich, das Polizeipräsidium zu
erreichen, um weiterzugeben, dass der Täter vermutlich ein
Nachtsichtgerät benutzt hatte. Aber mein Handy bekam erst
Netzkontakt, als wir die Auffahrtsrampe erreichten. Ich bekam Max
Warter an den Apparat.
»Es muss ein Gerät gewesen sein, dass auf Infrarotbasis
arbeitet und dadurch auch bei absoluter Dunkelheit
funktioniert.«
»Die Herkunft dieses Gerätes könnte ein Ermittlungsansatz
sein«, glaubte Max. »Schließlich sind die Infrarotgeräte fiel
seltener und technisch aufwendiger als diejenigen, die auf dem
Prinzip der Restlichtverstärkung arbeiten.«
»Ich hoffe, ihr bekommt etwas heraus.«
»Nachtsichtgeräte werden vorwiegend beim Militär benutzt«,
stellte Max fest. »Da der Täter damit umgehen und sogar schießen
konnte, liegt der Schluss nahe, dass wir es mit jemandem zu tun
haben, der das in der Bundeswehr gelernt hat.«
»Du kannst ja mal nachsehen, ob einer der frommen
Lebensschützer, die bis jetzt auf unserer Liste stehen, vielleicht
ein martialisches Vorleben hatte«, schlug ich vor.
Ich hörte, wie Max an seinem Terminal herumtippte.
»Volltreffer!«, stieß er dann hervor. »Wilhelm Bleicher war
bei der Bundeswehr. Ich werde mal sehen, ob sich darüber Näheres in
Erfahrung bringen lässt.«
Max unterbrach die Verbindung.
Wir erreichten die Schranke. Frank sah sich um.
»Waren Ihre Leute gestern hier?«, fragte ich inzwischen Ronald
Donner.
»Nein. Jedenfalls nicht zu Fuß«, erklärte der
Security-Mitarbeiter. »Ich habe ein paar Posten an das Ende der
Ausfahrtrampe beordert, nachdem wir begriffen hatten, was geschehen
war.«
»Wann war das der Fall?«
»Bereits unmittelbar nach der Tat. Wir konnten den
Mündungsblitz der Waffe sehen – außerdem noch ein anderes
Licht.«
»Haben Sie eine Ahnung, worum es sich gehandelt haben
könnte?«
»Die Polizei meint, es stamme von Gurths aufleuchtenden
Handydisplay. Als der Strom ausfiel, wollte er damit wohl für Licht
sorgen.«
»Ich habe etwas gefunden«, meldete Frank. »Hier ist jemand
durch einen Ölfleck gelaufen. Ich werde Fotos von dem Abdruck
machen, so dass wir hinterher das Profil und die Größe des Schuhs
haben.« Frank sah Donner einen Moment lang an. »Wir werden nicht
umhin können, es mit den Schuhen Ihrer Leute zu vergleichen. Auch
wenn angeblich keiner von denen zu Fuß hier gewesen ist – es könnte
ja sein, dass Sie sich irren.«
»Ich möchte von Ihnen noch wissen, wie Ihre Anordnungen
lauteten, nachdem Ihnen bewusst wurde, dass ein Schuss gefallen
war.«
»So klar, wie Sie vielleicht denken, war das erst gar nicht.
Im Vordergrund standen zunächst der Stromausfall und die
Gebäudesicherung. Dann wurden alle Ein- und Ausgänge mit Posten
besetzt, und ich bin mit mehreren Männern ins Parkdeck gegangen.
Wir hatten nur eine Taschenlampe. Auf solche Einsätze sind wir
nämlich nicht vorbereitet.«
»Verstehe.«
»Der Hausmeister war auch dabei. Wir sind zum Sicherungskasten
gegangen und haben den Strom wieder eingeschaltet. Aber weshalb die
Sicherung rausgeflogen ist, kann sich niemand erklären.«
»Könnte der Täter sie nicht einfach ausgeschaltet
haben?«
»Der Kasten wird mit einem elektronischen Schloss gesichert.
Man braucht eine Chipcard in Verbindung mit einem Zahlencode, um an
die Sicherungen heranzukommen. Der Hausmeister besitzt eine solche
Karte – und wir natürlich auch.«
»Zeigen Sie mir gleich den Kasten!«, verlangte ich.
»Gerne, Herr Jörgensen.«
»Zuerst möchte ich mit Ihnen aber noch die Rampe hinaufgehen,
um zu sehen, wo Ihre Leute postiert waren.«
»Sie meinen, der Täter könnte meinen Männern durch die Lappen
gegangen sein?«
Donner schüttelte den Kopf. »Unmöglich!«
»So, wie Sie mir das geschildert haben, war der Täter längst
weg, als Ihre Leute die Rampe abriegelten«, hielt ich ihm
entgegen.
Wir erreichten das Ende der Rampe. Eine Asphaltbahn führte
zurück zur Straße. Auf der anderen Seite schloss sich ein Park an.
Ein Hot Dog-Stand befand sich dort und sorgte dafür, dass all die
von ihrer Terminhetze geplagten Anwälte und Ärzte des Hauses
schnell satt werden konnten.
Ein Mann stand im eigentlichen Ausfahrtsbereich auf einem
Stück, das weiß gestreift war. Kein Fußgänger hatte dort
Zugang.
»Hey, Sie!«, rief der Wachmann von der Security unwirsch.
»Gehen Sie da weg!«
Der Mann war etwa vierzig Jahre alt und hager. Ich schätzte
ihn auf ein Meter achtzig. Die Hände hatte er in den Taschen seiner
Jacke vergraben.
»Alles klar!«, sagte der Hagerere. Er wirkte dennoch wie
angewurzelt.
»Hören Sie schwer?«, rief Donner.
»Warten Sie mal, ich möchte mit dem Mann reden«, verlangte
ich.
Kurz entschlossen ging ich auf ihn zu und zog meinen
Dienstausweis.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei! Darf ich fragen, wer Sie sind
und was Sie hier tun?«
»Hier soll etwas passiert sein.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Er zog einen Presseausweis und hielt ihn mir unter die Nase.
Ich sah ihn mir an. Er hieß Jannes Immel. »Ich sehe mich nur um,
dass ist ja wohl nichts Verbotenes.«
»Nein. Aber es wundert mich, dass Sie nicht einfach mit dem
Wagen in die Garage fahren und ein Parkticket erwerben.«
»Das bekommen Sie nur, wenn Sie sich bei der Einfahrt in der
Sicherheitszentrale melden und angeben können, bei wem Sie einen
Termin haben. Die Angestellten haben natürlich eigene Parkausweise.
Aber ansonsten ist es schwer da hineinzukommen.«
»Sie kennen sich aber aus!«
Er schluckte. Ich fragte mich, weshalb Immel meinem Blick
dauernd auswich. Er vermied es regelrecht, mich anzusehen. Ein
Goldkreuz fiel mir auf, das um seinen Hals baumelte.
»Ich bin hinter der Gurth-Story her. Untersuchen Sie den Fall,
Herr Jörgensen?«
»Ja.«
»Vielleicht können Sie mir ja weiterhelfen.«
»Tut mir leid, aber erstens stehen wir in unseren Ermittlungen
noch ganz am Anfang und zweitens kann ich nicht ohne Absprache mit
dem Polizeipräsidium Informationen herausgeben, die entweder
fahndungsrelevant sind oder die Rechte Dritter verletzen
könnten.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Das ist schade«, bekannte er.
»Für welche Zeitung schreiben Sie?«
»Ich … bin freier Journalist. Mal für das eine Blatt, auch mal
für das Hamburger, mal bringen Sie von mir etwas in ein paar
lokalen Radio- und Fernsehsendern. Warum fragen Sie?«
»Weil Sie weder eine Kamera oder ein Aufnahmegerät dabei
haben!«
»Ich mache Hintergrundreportagen, keine Foto-Stories. Und da
muss man erst einmal gründlich recherchieren. Die Kamera habe ich
im Übrigen im Wagen liegen ...« Er sah auf die Uhr. »Leider muss
ich jetzt weg ...«
»Sie sind mit dem Wagen da?«
»Sagte ich doch.«
»Wo haben Sie ihn abgestellt?«
»Man muss ein Stück durch den Park und dann links.«
»Gehen wir zusammen, Herr Immel!«
Er sah mich ziemlich perplex an.
»Ich verstehe jetzt nicht so ganz, was hier läuft, Herr
Jörgensen.«
»Ganz einfach. Wir gehen davon aus, dass der Täter zu Fuß das
Parkhaus verlassen hat. Er muss also ganz in der Nähe seine Wagen
abgestellt haben. Möglicherweise auf dem Parkplatz, den Sie
erwähnten.«
Ich begleitete Immel zum Parkplatz. Der Bedarf an Parkplätzen
hier war genauso hoch wie in anderen Teilen Hamburgs. Auch hier
werden freie Asphaltflächen, auf denen man seinen Wagen abstellen
kann, immer knapper. Jenseits des Parks befanden sich zahlreiche
Geschäfte. Dementsprechend hoch lagen die Parkgebühren.
»Was bringt es Ihnen zu wissen, dass der Täter seinen Wagen
hier vermutlich abgestellt hat?«, fragte Immel.
»Er könnte Spuren hinterlassen haben!«
»Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, dass Sie davon
ausgehen, hier Reifenprofile eines Wagens zu finden, der gestern
Abend abgestellt war?«
»Ich weiß nur, dass unsere Erkennungsdienstler sich alle Mühe
geben werden.« Ich gab ihm meine Karte. »Falls Sie bei Ihren
Recherchen etwas herausfinden, das mit dem Fall zu tun hat, dann
lassen Sie es mich wissen, Herr Immel!«
Er steckte die Karte ein.
»Glauben Sie nicht, dass Sie von mir etwas ohne Gegenleistung
hören.«
»Darüber könnte man reden!«
Mir fiel zum ersten Mal das rötliche Feuermal auf der
Außenseite der rechten Hand auf, die er bis dahin stets in seiner
Jackentasche vergraben hatte. Jannes Immel bezahlte sein Parkticket
am Automaten, stieg in seinen Wagen – einen silbergrauen Mitsubishi
– und fuhr bis zur Schranke. Nachdem er sein Ticket in den Schlitz
gesteckt hatte, öffnete sich die Schranke und er fuhr davon. Ich
griff zum Handy und rief Frank an.
»Was gibt es, Uwe?«
»Ich habe hier vielleicht einen Fingerabdruck des
Täters.«
»Wie bitte?«
»Na ja, nicht gerade auf dem Silbertablett. Ihr werdet ein
bisschen danach suchen müssen.«
»Du sprichst in Rätseln, Uwe!«
7
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, die
Betreiberfirma des Parkplatzes ausfindig zu machen. Der Platz
gehörte zu einem Hotel, etwa sechzig Meter entfernt. Es war nicht
schwer, den Direktor davon zu überzeugen, uns zu helfen. Sofern der
Täter tatsächlich den Parkplatz benutzt hatte, musste er die
Schranke passiert und sein Ticket abgegeben haben.
Wenn wir die Tickets der letzten Nacht auf Fingerabdrücke
untersuchten und diese anschließend durch den Computer jagten,
stießen wir vielleicht auf jemanden, der sich in irgendeinen
Zusammenhang zu Dr. Gurth bringen ließ.
Ich ließ mir die infrage kommenden Tickets übergeben.
Kommissar Alberts stellte ein paar Männer ab, um die Mülleimer auf
dem Weg zum Parkplatz zu durchsuchen. Vielleicht hatte der Täter ja
unterwegs etwas weggeworfen.
Ich kehrte in die Tiefgarage zurück und ließ mir von Ronald
Donner den Sicherungskasten zeigen. Er lag in einer Nische, etwa
fünfzig Meter vom eigentlichen Tatort entfernt. Die Kameras
erfassten diesen Bereich nicht und der Täter hatte das vermutlich
ausgenutzt, um die Sicherung abzuschalten. So lautete jedenfalls
die bis jetzt plausibelste Theorie, denn Martin Horster hatte den
Sicherungskasten erkennungsdienstlich untersucht und jede Menge
Fingerabdrücke sichern können, die noch mit denen des Hausmeisters
und der Wachmänner des Security Service abgeglichen werden
mussten.
Ein Rätsel war nach wie vor, wie der Mörder es geschafft
hatte, das elektronische Schloss zu überwinden.
»Vor drei Wochen wurde eine Überprüfung sämtlicher
elektronischer Schlösser im Haus durchgeführt«, verriet mir
Donner.
»Wir brauchen Name und Adresse der Firma, die das durchgeführt
hat«, erklärte ich.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie bekommen, was Sie
brauchen.«
Inzwischen war auch längst unser Chefballistiker David Eichner
am Tatort eingetroffen und hatte mit seinen Untersuchungen
begonnen.
Mit Hilfe von Laserpointern waren die Schussbahnen exakt zu
ermitteln. Dasselbe galt für den Standort, von dem aus der Schütze
geschossen hatte. Seine Größe konnte aufgrund von Davids
Ermittlungsergebnissen auf ein Meter achtzig geschätzt werden.
Roy hatte sich in der Zwischenzeit zusammen mit den Kollegen
des Security Service und der hiesigen Polizei die
Videoaufzeichnungen noch einmal genau angesehen. Erkenntnisse, die
wesentlich über den bisherigen Erkenntnisstand hinausgingen,
ergaben sich dadurch jedoch nicht.
»Wir haben bereits damit begonnen, aus den Videoaufzeichnungen
all die Personen herauszufiltern, die im fraglichen Zeitraum
überhaupt im Parkhaus anwesend waren«, meinte Roy.
»Wobei sich der Täter durchaus auch Stunden früher
hierherbegeben und sich unbemerkt in der unbeobachteten Nische
aufgehalten haben könnte«, gab ich zu bedenken.
Roy nickte.
»Wäre das nicht jemandem aufgefallen?«
»Offenbar nicht.«
Zusammen mit Roy suchte ich schließlich die Praxis des
ermordeten Arztes auf. Marita Jonas hielt dort nach wie vor die
Stellung. Als Roy und ich die Praxis betraten, war sie jedoch nicht
allein.
Ein Mann mit kantigem Gesicht und hoher Stirn war bei ihr. Ich
erkannte ihn als jenen Passanten wieder, der sehr ausdauernd die
Arbeiten am Tatort beobachtet hatte.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei. Dies ist mein Kollege Roy
Müller«, stellte ich uns vor und hielt dabei zuerst Marita Jonas
und anschließend dem Mann mit der hohen Stirn meinen Ausweis unter
die Nase. »Frau Jonas?«
»Kommissar Alberts hat Sie mir bereits angekündigt«, sagte
Marita Jonas.
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«, wandte sich Roy an
den Mann.
Dieser lächelte verhalten.
»Mein Name ist Maxwell. Dr. Hannes Maxwell, ich bin Gynäkologe
in der Klinik in Hamburg-Mitte.«
»Sind Sie so etwas wie eine Vertretung für Dr. Gurth?«,
erkundigte ich mich.
Maxwell schüttelte den Kopf.
»Nein. Mike und ich kennen uns vom Studium. Ich hatte heute
Morgen einen Termin bei meinem Anwalt, der hier im Haus seine
Kanzlei unterhält. Dadurch habe ich das ganze Theater hautnah
mitbekommen. Von Mikes Tod hatte ich natürlich zuvor schon aus dem
Autoradio erfahren.« Ich bemerkte sein Zögern. Eine tiefe Furche
erschien mitten auf seiner Stirn. Er musterte mich einen Moment und
fuhr dann fort: »Ich musste einfach vorbeischauen, um Näheres zu
erfahren.«
»Hatte Sie in letzter Zeit Kontakt zu Dr. Gurth?«
»Nein.«
»Wann zuletzt?«
»Ehrlich gesagt, seit dem Studium so gut wie gar nicht mehr.
Wissen Sie, wir machen einen sehr anstrengenden Job, der viel von
denjenigen fordert, die sich dafür entschiedenen haben. Da bleibt
nicht viel Zeit, um Freundschaften zu pflegen.«
»Ich habe Dr. Maxwell gesagt, dass sehr wahrscheinlich diese
Fanatiker von den sogenannten Lebensschützern dahinter stecken«,
äußerte sich nun Marita Jonas. »Zumindest war das die Vermutung von
Kommissar Alberts.«
»Genau wissen wir das natürlich noch nicht«, schränkte ich
ein. »Aber Sie haben recht, im Moment deutet einiges in diese
Richtung.«
»Das, was Mike geschehen ist, kann jedem von uns passieren«,
murmelte er. »Ich kenne das! Drohanrufe, Farbbeutel, die gegen das
Auto geschleudert werden … Wahrscheinlich muss unsereins damit
leben lernen – auch wenn es schwer fällt, so viel Intoleranz zu
akzeptieren. Für diese Leute gibt es nur Schwarz oder Weiß.
Grautöne interessieren sie nicht. Wenn eine Frau vergewaltigt wurde
oder selbst noch ein halbes Kind ist und deswegen die Verantwortung
für ein Baby einfach nicht tragen kann, dann interessiert diese
Eiferer das nicht im Geringsten. Und die einzige Empfehlung, die
sie Teenagern geben können, besteht darin, auf Sex vor der Ehe
völlig zu verzichten. Wie unrealistisch das ist, brauche ich Ihnen
sicher nicht zu erläutern.«
»Unsere Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang«, sagte ich.
Dr. Maxwell erhob sich von seinem Platz.
»Ich muss jetzt zum Dienst. Meine Schicht in der Klinik
beginnt in einer Stunde und Sie wissen ja, wie die
Verkehrsverhältnisse in Hamburg um diese Zeit sein können.«
»Allerdings«, nickte ich.
»Falls mir irgendetwas einfallen sollte, was Ihnen vielleicht
weiterhilft - die Nummer der Polizei steht ja im
Telefonbuch.«
»Sie können auch mich persönlich anrufen.« Ich reichte ihm
meine Karte, und Maxwell steckte sie ein.
Er verabschiedete sich noch von Marita Jonas und verließ
anschließend die Praxis.
»Bevor Sie mir Ihre Fragen stellen, übergebe ich Ihnen schon
einmal das hier«, eröffnete die Arzthelferin das Gespräch und gab
Roy einen braunen Umschlag.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Die Drohbriefe der letzten drei Monate und Aufzeichnungen von
unfreundlichen Anrufen.«
»Warum ist das nicht bei der Polizei gelandet?«
»Dr. Gurth hat nicht mehr daran geglaubt, dass man ihm dort
weiterhelfen konnte.«
»Immerhin kam es zu zwei Verurteilungen«, gab ich zu
bedenken.
Marita Jones lächelte gequält.
»Sie meinen Brandner und Milovich?«
»Ja.«
»Soll ich Ihnen was sagen? Der ganze Wirbel um den Prozess hat
Dutzende von weiteren Fanatikern dazu ermutigt, uns zu
terrorisieren. Und wer sagt Ihnen, dass diese beiden Typen nicht
erneut damit angefangen haben und dabei nur geschickter vorgegangen
sind? Zum Beispiel, indem sie darauf geachtet haben, ihr Prepaid
Handy regelmäßig zu wechseln oder nicht immer dieselbe Telefonzelle
zu benutzen und so weiter. Einige verändern ihre Stimme. Manche
wurden fast so etwas wie gute Bekannte. Dr. Gurth gab ihnen Namen.
Da war zum Beispiel der Krächzer, der erkennbar seine Stimme
verstellte und sich auf diese Weise wohl davor schützen wollte,
eventuell von der Polizei identifiziert zu werden.«
»Gab es in letzter Zeit irgendwelche besonderen Vorfälle?«,
fragte Roy. »Ich meine damit Attacken und Belästigungen, die über
das Maß hinausgingen, das Dr. Gurth offenbar gewöhnt war.«
»Dr. Gurth hat versucht, diese Dinge so gelassen wie möglich
zu nehmen. Er sagte mir mal, wenn seine Stunde geschlagen hätte,
sei es nun einmal soweit. Aber er wollte sich weder davon abbringen
lassen, seinen Beruf auszuüben, noch sich dauernd durch Leibwächter
abschirmen zulassen. Das sei kein Leben mehr, so fand er.« Marita
Jonas wischte sich kurz über die Augen. Sie musste schlucken.
»Versprechen Sie mir, dass Sie denjenigen zur Rechenschaft ziehen,
der dieses Verbrechen zu verantworten hat!«
»Wir werden auf jeden Fall tun, was wir können«, versicherte
ich.
8
Jannes Immel fühlte, wie ihm der Puls bis zum Hals schlug. Er
stand an einer der Piers am Hamburger Hafen. Es war ein klarer,
kühler Tag. Man hatte eine freie Sicht auf Hamburg-Mitte.
Jannes Immels Hand krampfte sich um den Griff der Pistole, die
er in seiner Jackentasche verborgen hielt. Er lief den weit ins
Wasser ragenden Pier entlang. Zwei Angler waren zu finden. Das
Kreischen der Möwen erfüllte die Luft.
Die Unterhaltung mit diesem Kommissar namens Jörgensen hatte
Immel innerlich aufgewühlt.
Ihm war schlecht.
Wovor hast du jetzt Angst?, ging es ihm durch den Kopf. Davor,
das Falsche getan zu haben oder davor, zur Rechenschaft gezogen zu
werden? Gott gab uns die Freiheit der Entscheidung – und diese
Entscheidung hatte dein Herz längst gefällt. Das ist das einzige
was zählt …
Er presste die Lippen aufeinander und erreichte schließlich
das Ende der Pier.
Ein kräftiger Wind ließ das Wasser der Elbe sich
kräuseln.
Mike Gurth, du hast genau das bekommen, was du verdient hast,
durchfuhr es Jannes Immel. Wut erfüllte ihn und es dauerte einige
Augenblicke, bis er sich wieder einigermaßen beruhigen konnte.
Du wirst jetzt wahrscheinlich schon vor deinem himmlischen
Richter stehen, Gurth, überlegte Immel. Und der wird dich nicht
nach den Buchstaben eines zweifelhaften, von Menschen gemachten
Gesetzes freisprechen, das Mord legalisiert. Den Mord an
ungeborenen Kindern ebenso wie den Mord an einer schwach gewordenen
Seele.
Jannes Immel nahm die Waffe aus der Tasche. Das Ding musste
jetzt schleunigst verschwinden.
Er schleuderte es in einem hohen Bogen in die Elbe und
scheuchte damit ein paar Möwen auf, die dicht über der
Wasseroberfläche nach Beute Ausschau hielten.
9
Unsere Kollegen Tobias Kronburg und Ludger Mathies suchten die
Adresse von Georg Brandner auf. Der als Ordner für die LEBEN IST
GÖTTLICH STIFTUNG tätige Brandner wohnte in einem Mietshaus an der
Ötzstraße auf St. Pauli. Das Apartment lag im vierten Stock. Das
Gebäude verfügte über keinen nennenswerten Sicherheitseinrichtungen
und gehörte damit eher der unteren Kategorie an.
Mit Aufzug fuhren Ludger und Tobias in den vierten Stock, wo
sie etwas später vor Brandners Tür standen. Routinemäßig postierten
sich die beiden Kommissaren rechts und links von der Tür.
»Ich schätze, Herr Brandner wird nicht begeistert von unserem
Besuch sein«, glaubte Tobias.
»Warten wir es ab!«
Ludger betätigte die Klingel.
Keine Reaktion.
Ludger versuchte es ein zweites Mal und rief: »Herr Brandner?
Machen Sie auf, hier spricht die Polizei! Wir müssen Ihnen ein paar
Fragen stellen.«
Im nächsten Moment krachten zwei Schüsse durch das Holz der
Tür. Die großkalibrigen Geschosse stanzten daumendicke Löcher in
das Holz und blieben auf der gegenüberliegenden Seite in der
Steinwand stecken.
»Ihr kriegt mich nicht!«, rief eine heisere Männerstimme. Das
ratschende Geräusch eines Pump Action Gewehrs ertönte und eine
Sekunde später donnerte der nächste Schuss durch das Holz.
Tobias riss seinen Magnum Revolver vom Kaliber 357 aus dem
Gürtelholster.
Von der anderen Seite war zu hören, wie die Waffe erneut
durchgeladen wurde. Der Schuss folgte sofort danach.
»Jetzt«, rief Tobias.
Er trat die Tür ein und ließ sie zur Seite fliegen, ging aber
sofort wieder in Deckung. Der Kerl auf der anderen Seite hatte die
Waffe erneut durchgeladen und schoss in den Flur. Den Revolver
hielt Tobias mit beiden Händen.
Georg Brandner lud jetzt erst das Gewehr durch.
»Waffe weg!«, schrie Tobias.
Aber Brandner hörte nicht darauf. Er taumelte mit seinem Pump
Action Gewehr rückwärts auf die Tür zum Nebenraum zu und feuerte
dabei. Der Rückstoß des ungezielten Schusses riss Brandner zur
Seite, so dass die Kugel einen halben Meter über Tobias Kronburgs
Kopf in den Türsturz hineinkrachte.
Brandners Augen waren geweitet. Panik erfüllte ihn. Er
schnellte in den Nachbarraum hinein. Tobias verzichtete auf einen
Warnschuss. Innerhalb geschlossener Räume war das aufgrund zu
erwartender Querschläger zu gefährlich.
Tobias setzte nach. Ludger folgte ihm mit SIG Sauer P226 im
Anschlag, der Standardwaffe der Polizei. An der Tür stoppten sie.
Ludger versuchte in den Nachbarraum einzudringen. Eine Kugel, die
dicht an ihm vorbeizischte und schließlich in einen der Schränke
hineinfuhr, ließ ihn sofort wieder in Deckung gehen.
»Ihr kriegt mich nicht!«, rief Brandner.
Wenig später stürzten sie nacheinander in den Nachbarraum –
ein völlig mit Möbeln überladenes Wohnzimmer.
Die Tür zu dem schmalen, zur Straße ausgerichteten Balkon
stand halb offen.
Georg Brandner saß rittlings auf dem Geländer und lud das Pump
Action Gewehr nach.
»Seien Sie vernünftig, Herr Brandner! Wir sind nur hier, um
mit Ihnen zu reden«, rief Tobias.
Brandner schloss das Magazin der Waffe. Er blickte kurz
hinunter auf die Ötzstraße, wo sich bereits ein paar besorgte
Passanten versammelt hatten.
»Ich springe!«, rief er.
»Herr Brandner!«
»Gehen Sie weg! Verschwinden Sie!«
Tobias schnellte durch die Balkontür auf Brandner zu. Ludger
war ihm dicht auf den Fersen.
Brandner legte das Gewehr an und verlor dabei fast das
Gleichgewicht. Der Schuss krachte ins Nichts und ließ die Scheibe
des benachbarten Fensters zerbersten. Der Rückstoß gab ihm einen
Schubs und sorgte zusätzlich dafür, dass Brandner über die
Balkonbrüstung gerissen wurde. Tobias packte Brandner am Arm.
Dieser schrie und ließ das Gewehr fallen. Es segelte in die Tiefe.
Einen Moment später war der Aufprall zu hören.
Ludger Mathies trat hinzu und mit vereinten Kräften zogen die
beiden Kommissare Georg Brandner wieder auf den Balkon. Er
schnappte nach Luft und war zunächst unfähig nur ein einziges Wort
zu sagen.
»Was sollte dieses Theater, Herr Brandner?«, knurrte Tobias
ihn an. »Wieso haben Sie gleich auf uns geschossen, obwohl wir Sie
in keiner Weise bedroht haben? Um ein Haar würden mein Kollege und
ich jetzt aussehen wie ein Sieb.«
Brandner stieß einige unverständliche Laute hervor.
»Es hat keinen Sinn, Tobias«, stellte Ludger fest. »Der ist
völlig außer sich.«
Ludger legte ihm Handschellen an und klärte in pro forma über
seine Rechte auf. Allerdings war es sehr zweifelhaft, ob er davon
überhaupt ein Wort mitbekommen hatte.
Sie führten den Gefangenen in die Wohnung. Tobias nahm mit dem
Polizeipräsidium Kontakt auf und meldete die vorläufige Festnahme
von Brandner.
»Es kommt jemand, der sich um ihn kümmern wird«, kündigte er
nach dem Gespräch an.
»Ich sammle inzwischen das Gewehr von der Straße auf«, sage
Ludger. »Es ist schon genug Schaden damit angerichtet
worden.«
»Tu das!«
»Glaubst du, du kommst hier allein zurecht?«
»Ich denke schon.«
10
Georg Brandner saß in Handschellen in einem der Sessel im
Wohnzimmer. Er zitterte leicht. Tobias war schnell klar, dass die
Reaktionsweise dieses Mannes nicht normal war. Um eine
psychiatrische Begutachtung kam man in seinem Fall wohl nicht
herum. Während Ludger Mathies sich auf den Weg machte, um das Pump
Action Gewehr sicherzustellen, bewachte Tobias den Gefangenen.
»Sie werden von Dr. Gurths Tod gehört haben«, sagte er.
»Er hat verdient, was ihm widerfahren ist«, rief Brandner.
»Der Herr wird ihn richten, so wie er euch richten wird, die ihr
Schergen Babylons und der Götzen seid!«
»Wo waren Sie gestern Abend zwischen acht Uhr und
Mitternacht?«
»Erwarten Sie wirklich eine Antwort von mir?«
»Sie haben das Recht zu schweigen, wenn Sie sich selbst
belasten. Aber ich dachte, Sie möchten vielleicht etwas tun, um uns
deutlich zu machen, dass Sie nichts mit dem Mord an Gurth zu tun
haben.«
»Jemand muss das Schwert Gottes sein – so wie ihr als Diener
der Götzenherrschaft fungiert!«
»Vielleicht bekommen unsere Verhörspezialisten ja etwas
Vernünftiges aus Ihnen heraus, Herr Brandner. Tut mir leid, Sie
haben es nicht anders gewollt!«
»Sie haben doch Ihr Urteil längst gefällt!«
»Nein, das ist nicht wahr. Mein Kollege und ich sind
eigentlich nur hier gewesen, um Ihr Alibi für die Tatzeit zu
überprüfen, wobei Sie mir unglücklicherweise nicht behilflich sein
wollen.«
»Warum sollte ich auch nur einen Finger für die Diener des
satanischen Systems krumm machen, das unser Land beherrscht und es
zulässt, dass unschuldige Kinder getötet werden?!«
»Haben Sie sich vielleicht zum Richter über Dr. Gurth
aufgeschwungen?«
»Gott richtet. ‚Mein ist die Rache’, spricht der Herr.«
»Es war ein Mensch, der Gurth drei Kugeln verpasst hat. Nicht
Gott!«
»Ein Mensch, ja! Ein Mensch, der zweifellos ein Werkzeug
Gottes war! Ein Schwert in den Händen des Allmächtigen! Ein Wächter
des Heiligen Lebens ...«
Ludger Mathies kehrte wenig später mit dem Gewehr zurück, das
auf die Straße geschleudert worden war. Glücklicherweise hatte es
niemanden verletzt.
»Aus dem Kerl bekommen wir keine vernünftige Aussage heraus.
Entweder er hat Drogen genommen oder ist verrückt, Ludger.«
»Sehen wir uns hier ein bisschen um«, schlug Ludger vor. Er
hob die Waffe an. »Bewaffneter Angriff auf zwei Bundesbeamte – da
kommt einiges auf Sie zu, Herr Brandner.«
Tobias zog sich Latexhandschuhe an und sah sich um.
In einer Ecke stand ein Schreibtisch samt Computer. Ein
Festnetzanschluss existierte nicht, dafür aber lag ein Handy neben
dem Computer. Das Gerät war eingeschaltet. Tobias sah sich im Menü
die Anruflisten durch. Dann griff er in seine Jackentasche, um
einen Zettel hervorzuholen, auf dem er sich einige Telefonnummern
notiert hatte. Es handelte sich um Dr. Gurths Anschlüsse in der
Praxis, zu Hause und mobil.