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Paramythia, die Bücherstadt - so heißt das riesige Bibliothekslabyrinth unterhalb der Straßen von Mythia. Dort werden nicht nur Millionen von Büchern gehütet, sondern auch gefährliche Geheimnisse. Der ehemaligen Dieb Sam träumt davon, Wächter des Königs zu werden. Stattdessen wurde er damit betreut, die Bibliothek zu hüten - und entdeckte in ihren flüsternden Schatten, dass die Beraterin des Königs eine Intrige gegen ihren Herrn spinnt. Doch was genau ist ihr Plan? Nur wenn Sam das herausfindet, hat er eine Chance, den König zu retten ...
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Seitenzahl: 566
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Motto
Titel
Impressum
PROLOG
DAS FALSCHE GESICHT
UNERWARTETE GÄSTE
DER HERZSCHLAG DER BÜCHERSTADT
GEHEIMNISVOLLER GELEHRTER
DAS ÄLTESTE ALLER FABELWESEN
WILLKOMMEN ZURÜCK
EWIGE NACHT
NUR EINE AHNUNG
IM DUNKLEN PALAST
BAHRIDEN
STEINERNE STIMMEN
THALIA
DER FALSCHE NAME
TINTENJÄGER
DAS RASCHELN VON PAPIER
DER WEISSE KÖNIG
DEN GEDANKEN FEUER MACHEN
KANI
DER LÖWE DES KÖNIGS
WILLKOMMEN
DREI WORTE
DER WEG HINAUS
DER RAUM DER STUMMEN STIMMEN
BRENNENDE BÜCHER
ZWEI KÖNIGE
EPILOG
Über das Buch
Paramythia, die Bücherstadt – so heißt das riesige Bibliothekslabyrinth unterhalb der Straßen von Mythia. Dort werden nicht nur Millionen von Büchern gehütet, sondern auch gefährliche Geheimnisse. Der ehemalige Dieb Sam träumt davon, Wächter des Königs zu werden. Stattdessen wurde er damit betreut, die Bibliothek zu hüten – und entdeckte in ihren flüsternden Schatten, dass die Beraterin des Königs eine Intrige gegen ihren Herrn spinnt. Doch was genau ist ihr Plan? Nur wenn Sam das herausfindet, hat er eine Chance, den König zu retten …
Über den Autor
Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen. Dies spiegelt sich ebenso in seiner preisgekrönten Flammenwüste-Trilogie wider wie auch in seiner neuen Trilogie, in der eine geheimnisvolle Bibliothek im Mittelpunkt steht.
Aus der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher
AKRAM EL-BAHAY
Bücherkönig
DIE BIBLIOTHEK DER FLÜSTERNDEN SCHATTEN
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Michelle Gyo, Limburg a. d. LahnTitelillustration: © Jorge Jacinto; Thinkstock (4)Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-6559-5
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
Im dunklen Licht der Nacht erwachte der Jäger aus Papier im Herzen der Bücherstadt Paramythia zum Leben. Ein Körper aus Seiten und Blut aus Tinte. Es gab keinen passenderen Ort für seine Erweckung als inmitten der Bücher. Layl, die Wüstenhexe, strich über den Leib aus Papier, der vor ihr auf dem Boden lag. Ein Leib, den sie geformt hatte. Ein Leib, der wandelbar war.
»Der Eine, der Viele ist. Um unter den Vielen den Einen zu finden«, wisperte sie. Die Unsterbliche dachte unwillkürlich an den Moment zurück, als die Nacht ihren geflügelten Geliebten verschluckt hatte. Es war erst ein paar Stunden her, doch die Erinnerung schien ihr bereits wie ein Traum. Der Asfur war davongeflogen, weil er nicht mehr wusste, wer er war. Zu wem er gehörte. Aber Layl wusste es. Sie wusste, dass sie beide zusammengehörten, für alle Zeit. Sie waren beide Kinder der Nacht. Trugen die gleiche Dunkelheit im Herzen.
Der Zauber war noch nicht fertig gesprochen, doch der Tintenjäger regte sich bereits. Layl sah auf die leeren Buchdeckel, die wie erlegte Tiere um ihn herum lagen. Selbst in Paramythia, der Stadt der Bücher unter der Stadt der Menschen, war dies ein seltsamer Anblick. Layls Zauber hatte die Seiten zwischen den Deckeln zu Armen, Beinen, Kopf und Rumpf werden lassen. Die Namen auf den Buchrücken waren allesamt verblasst. Ebenso tot wie die Geschöpfe, die ein Zauber einst zwischen die Worte gebannt hatte. Worte als Ketten und Bücher als Zellen. Paramythia, das unterirdische Gefängnis aus Geschichten. Der Teil, in den Layl für die Erweckung des Papiermanns hinabgestiegen war, blieb jedoch den wenigen Büchern der Fabelwesen vorbehalten, die den Tod zwischen den Seiten gefunden hatten. Gelegentlich geschah dies, denn der Zauber, der die Tausenden und Abertausenden Geschöpfe im Herz der Bücherstadt band, verlor mit der Zeit an Kraft. Diese Gänge waren ein Bücherfriedhof.
Die Seiten der toten Fabelwesen gaben dem Jäger seinen Leib. Und ihre geheimen Namen verliehen ihm das Leben, das Layl ihm schenkte. Der geheime Name, den jedes Fabelwesen im Herzen trug und der es zu dem machte, was es war. Layl blickte in das Buch, das auf ihrem Schoß lag. Das Buch, in dem alle geheimen Namen standen. Alle, bis auf einen.
Der Mahfuz, der an ihrer Seite kniete, strich mit der Feder, die er in den feingliedrigen Fingern hielt, über den Körper aus Seiten. Er war eines der Fabelwesen, ein Schreiber, und damit selbst in Paramythia eine Besonderheit. Denn seinesgleichen vermochte die Geschichten zu schreiben, die die anderen Geschöpfe festhielten. Er malte die Namen so kunstvoll auf den Leib aus Papier, als wollte er ihn mit Tätowierungen verzieren, sodass er dem von Layls geflügeltem Geliebten ähnelte. Die geheimen Namen leuchteten kurz auf, wenn der Schreiber einen von ihnen beendete. Dann verblassten sie. Neun Namen für neun Leben. Mehr fanden keinen Platz auf dem Leib. Sie würden ausreichen, um Layls Geliebten zu finden. Sie mussten es einfach.
»Die Menschen sind so töricht«, sagte sie zu dem Mahfuz und sah in sein rundes Gesicht, faltenfrei wie das eines Kindes. Weiße Augen, so hell, als wäre alle Farbe aus ihnen gewaschen worden, erwiderten ihren Blick. »Sie glauben, die Namen, die sie ihren ungeformten, schneckenglatten Kindern schenken, kaum dass diese den ersten Schrei getan haben, würden zu ihnen passen«, wisperte Layl. »Dabei stammen allein die geheimen Namen aus dem Herzen. Aus der Seele.«
Der Mahfuz hielt nur kurz inne, um ihren Worten zu lauschen, dann malte er weiter die Namen auf den sich regenden Papierleib. Er hatte keins ihrer Worte verstanden. Der Mahfuz stand unter Layls Bann und war in einem traumlosen Schlaf gefangen. Layl folgte seinen Bewegungen mit dem Blick. Nur Wüstenhexen waren in der Lage, die geheimen Namen offenbar zu machen, und selbst unter ihnen war diese Gabe selten. Diese wenigen Wüstenhexen vermochten die Namen aus den Herzen der Fabelwesen zu lesen. Die Namen geboten Macht über ihre Besitzer. Sie waren der Kern des Lebens. Der Funke, den Layl brauchte, damit der Jäger seine Aufgabe erfüllen konnte: den zu finden, den Layl mehr als das Leben selbst begehrte.
Dieser Zauber war unter den Sahiras, den Wüstenhexen, verboten. Die geheimen Namen durften nie zweimal vergeben werden. Die Leben, die sie schenkten, nie zweimal beendet werden. Doch Layl war gezwungen, diese Regel zu brechen. Und sie brach sie gerne.
Der Schreiber betrachtete den letzten Strich, den er setzte. Dann erhob er sich und trat einen Schritt zurück. Der lange, dürre Leib wurde so bewegungslos wie der einer Puppe. Der Zauber, mit dem Layl den Mahfuz gegen seinen Willen lenkte, kostete sie kaum mehr als einen Gedanken. Doch die verbotene Magie, die dem Jäger einen dunklen Verstand schenken und sein Herz endgültig würde schlagen lassen, war von einer anderen Art. Layl würde vermutlich das Bewusstsein verlieren, wenn sie ihn beendete. Und dann? Ihre helle Schwester, mit der sie sich einen Leib teilte, regte sich bereits in ihr. Sabah, der Morgen. Layl fühlte sie in sich. Layl würde entkräftet zwischen all den leeren Buchdeckeln einschlafen, und Sabah erwachen. Wie lange würde es dauern, bis sie ahnte, was ihre dunkle Schwester getan hatte? Es war gleich, wenn der Jäger nur den fand, den Layl begehrte. Sie schickte den Mahfuz fort. Der Schreiber wandte sich wortlos um und steckte die Feder in eine Tasche seines silbergrauen Gewands. Die Mahfuz trugen nie etwas anderes und sahen so beinahe wie eine kleine Armee aus. Eine Armee, deren Waffen Schreibfedern waren. Er würde sich an nichts erinnern können.
Layl schloss das Buch mit den geheimen Namen und drückte ihre Stirn gegen die des Jägers. Seine Bewegungen waren noch ohne Verstand. Doch er würde schnell lernen, die Namen und damit sein Äußeres zu wechseln. Die Menschen, die Layl ihren Geliebten genommen hatten, würden keine Chance gegen ihn haben. Und zuletzt würde sie den wieder in die Arme schließen, den sie so lange entbehrt hatte.
Layls Gedanken richteten sich für einen Augenblick auf diejenigen, die ihr den gestohlen hatten, der ihr gehörte. Der Mann mit dem Helm des Iblis. Und die Frau … Eine Überraschung. Layl würde sich um sie kümmern, wenn die Zeit gekommen war.
Der Leib aus Seiten verharrte, als Layl tief einatmete. Wartete gespannt auf ihren Befehl.
Ein dunkles Lächeln verzog Layls Mund. »Geh auf die Jagd, Tintenjäger. Die ewige Nacht zieht auf.«
Beeil dich, dachte Sam. Er wandte den Blick nicht vom Türschloss ab, während er in die endende Nacht lauschte. Er konnte den Wächter bereits hören, der müde in ihre Richtung schlurfte. Die Schritte klangen nahe. Zu nahe für seinen Geschmack. Schneller, Sam, trieb er sich an. Oder noch ein Unschuldiger muss sterben. Das Schloss hielt seiner Fertigkeit als Dieb nur für einen Moment stand. Dann schwang die Tür auf. Das silberkalte Mondlicht vertrieb mit Mühe die Schatten, die träge in dem Schlachthaus nisteten, das zwischen Lagerhäusern und Anlegestellen im Hafen Mythias lag, dem größten Stadtstaat der bekannten Welt. Die gehörnten Körper, die von der Decke baumelten, erschienen im ersten Moment wie Scherenschnitte von Iblisen. Der Geruch aber, der Sam in die Nase stieg und ihm beinahe den Magen umdrehte, war ein anderer. Stierhälften. Das leise Tropfen verriet ihm, dass zumindest einige noch nicht ganz ausgeblutet waren. Sam scheuchte seine Begleiter hinein. Zwei Flügelpaare streiften ihn. Noch vor wenigen Tagen hatte er mit der geflügelten Frau Kelaino, die die Tür hinter sich zuzog, um sein Leben gekämpft. Und nun war sie diejenige im Raum, der er am ehesten vertraute. Draußen hörte er die Schritte des Wächters. Sam hob die Hand, um Kelaino und ihrem Begleiter zu bedeuten, dass sie leise sein sollten. Doch Kelaino und der Asfur, der geflügelte Mann an ihrer Seite, sahen nur auf die Stierhälften.
»Er braucht Fleisch«, hatte die Asfura gesagt, kurz nachdem sie alle aus Paramythia geflüchtet waren.
Sam strich sich über die schwarze Wächterrobe, die er trug. Er hatte sich in Paramythia als Herr der Wache ausgegeben. Nur eine weitere falsche Rolle, in die er geschlüpft war. Vorher hatte er, der Dieb, der keiner mehr hatte sein wollen, die Identität eines Wächters angenommen, um ein neues Leben beginnen zu können – und war in das größte Abenteuer seines Lebens gestolpert. Sam wunderte sich längst nicht mehr darüber, dass aus dem gigantischen Bücherlabyrinth Fabelwesen kamen. Dass sie aus Büchern schlüpften, die als Gefängnisse dienten. Das Geheimnis um die gewaltige Bibliothek, die flüsternde Schatten gebar, hatte ihn längst ganz und gar in seinen Bann gezogen.
Sam wäre lieber noch weiter weg vom Palast geflogen, doch Kelainos Einwand, dass der erste Hunger des Asfur unbedingt gestillt werden musste, hatte ihn einem Zwischenhalt zustimmen lassen. Wie hätte er sich auch gegen zwei Flügelmenschen stellen sollen, die ihm mit ihren Krallen mühelos den Leib aufreißen konnten?
Sam fand einen Riegel an der Tür und schob ihn leise vor. Dann sah er sich in dem Schlachthaus um. Das Silberlicht konnte dem Haus seine grausige Natur nicht nehmen. Es maß kaum mehr als ein paar Meter in jeder Richtung. Der Duft von Tod hing schwer in der Luft. Gegenüber der Tür waren ein paar schmutzige Fenster in die Wand eingelassen, durch die Sam das Hafenbecken erahnen konnte. Er ging rasch auf eines zu, wobei er nur knapp einer ausblutenden Stierhälfte ausweichen konnte, und zog es auf. Tief sog er die salzig schmeckende Luft ein, die den Gestank von Blut und Innereien aus seiner Nase vertrieb.
Zwischen den toten Körpern standen die beiden Flügelmenschen. Trotz der schwarzen Schwingen, die ihm aus dem Rücken wuchsen, ähnelte der Mann noch am ehesten einem Menschen. Sein nackter Leib war verziert mit einem Muster, als hätte er sich den Körper tätowieren lassen. Hinter langen dunklen Haaren funkelten zwei weiße Augen wie Perlen in dem schmalen Gesicht. Er hatte den Blick starr auf das Fleisch gerichtet, das vor ihm baumelte.
Die Asfura an seiner Seite schien dagegen einem Albtraum entstiegen zu sein. Ihr Leib war mit zu viel grauer Haut für den dürren Leib bespannt. Ihre schwarzen Haare waren kaum mehr als verfilzte Flechten. Wie der Asfur besaß sie lange Krallen, Nase und Oberlippe jedoch waren bei ihr zu einer Art Schnabel verwachsen. Dass sie seit ihrem Kampf in der Bücherstadt auch noch eine stattliche Zahl Schnitte auf der Haut trug, machte sie nicht hübscher. Auch sie besaß Flügel, doch ihre Federn waren grau. Sie sah zu dem Flügelmann auf.
Er war eine mehr als imposante Erscheinung. Sam schätzte, dass der Asfur ihn wenigstens um zwei Köpfe überragte. Er war gefährlich. Und Sam vertraute ihm nicht. Der Flügelmann hatte kein Wort gesagt, seit er seinem Buchgefängnis entkommen war. Zumindest keines, das Sam verstand. Das Krächzen, das seinem Mund entfuhr, klang wie das eines heiseren Raben. Sam wusste jedoch, dass es eine Sprache war. Kelainos Erwiderung klang noch weniger menschlich.
Der Asfur legte den Kopf schief und entblößte dabei Zähne, die ebenso wie die von Kelaino spitz wie Dolche waren. Es war Zeit, zu essen. Sam wandte sich ab. Er schloss die Augen und versuchte, die Geräusche zu überhören, die das kleine Schlachthaus einen Moment später erfüllten. In den fünfundzwanzig Jahren seines Lebens hatte ihn seine Arbeit als Dieb in viele Häuser geführt. Aber erst seit du ein Wächter in Paramythia bist, kommst du in ein Schlachthaus, Sam, dachte er. Sehr passend. Paramythia war in dieser Nacht selbst zu einem Schlachthaus geworden. Die Erinnerung an die blutige Flucht aus der Bücherstadt ließ ihn schaudern. Er hatte mit Kani, der Tochter eines Universitätsprofessors, versucht, ihren Vater zu befreien. Der Gelehrte hatte einen Teil des Geheimnisses um Paramythia gelüftet. Ein Geheimnis, das ihn zuletzt das Leben gekostet hatte. Kani und ihr Vater hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschöpfe, die in Paramythia eingesperrt waren, in die Freiheit zu führen. Die Asfura, Flügelmenschen, die in Märchen den Himmel beherrschten. Die Nushishans, die Menschen mit den Pferdehufen, denen die Welt keine Grenzen stecken konnte. Doch es gab noch andere Geschöpfe in der Bücherstadt. Die Iblise. Rothäutige, gehörnte Krieger, deren Wut heiß wie ein Feuer in ihrem Inneren brannte, das sie beinahe verzehrte. Und eine Wüstenhexe, eine Sahira, die ihr Wesen mit der Tageszeit wechselte. Paramythia schien nach und nach alle Märchen, die es in seinem Herzen beherbergte, wahr werden zu lassen. Dunkle Märchen.
Sam öffnete die Augen und sah auf den Helm in seiner Hand. Assasil hatte ihn getragen. Und als Sam ihm den Helm vom Kopf gezogen hatte, hatte sich der Herr von Mythias Wache als Iblis entpuppt. Nur mit viel Glück war es Sam zuletzt gelungen, ihn zu töten.
Das leise Geräusch von Schritten mischte sich in das Schmatzen. Sam drückte sich an den geflügelten Menschen und ihrem Festmahl vorbei und legte ein Ohr an die Tür. Die Schritte kamen näher. Sam runzelte die Stirn. Sie klangen anders als die des müden Wächters. Sam hatte schon früh gelernt, dass ein Dieb seinen Ohren ebenso sehr vertrauen musste wie seinen Augen. Diese Schritte klangen nicht nach jemandem, der gelangweilt am Ende einer langen, ereignislosen Nacht noch einmal nach dem Rechten sehen wollte. Diese Schritte klangen kraftvoll und dennoch vorsichtig. Ein ungutes Gefühl stieg in Sam auf wie Wasser in einem dunklen Brunnen. Er wandte sich zu Kelaino um und machte ein Zeichen zur Tür.
Die Asfura ließ die Stierhälfte los, in die sie sich verbissen hatte. Der tote Körper schlug wie ein Pendel aus, während die Asfura den Kopf in den Nacken legte und tief die Luft einsog. Ihr leises Knurren ließ den Asfur an ihrer Seite aufblicken. Auch er ließ den Körper los, von dem er gerade abgebissen hatte, und starrte einen Moment lang zur Tür. Dann spannte er plötzlich die Muskeln an.
Und die Schritte draußen verklangen.
Jemand musste genau vor Sam stehen. Einzig durch die Tür von ihm getrennt. Wenn es doch nur ein einfacher Wächter ist, darf er nicht reinkommen, schoss es Sam durch den Kopf. Nicht, dass er für die geflügelten Menschen eine Gefahr dargestellt hätte. Sam hatte gesehen und am eigenen Leib erfahren, wozu sie fähig waren. Doch Paramythias Geheimnis hatte bereits genug Opfer gefordert. Die Bücherstadt schien einen ungeheuren Appetit auf Leben zu entwickeln. Und wenn es kein Wächter ist, Sam?, fragte er sich. Er glaubte, das Rascheln von Papier zu hören. Vielleicht ein Iblis aus Paramythia? Tief im Herzen der Bücherstadt bewachten die Iblise die eingesperrten Fabelwesen. Verdammt, ihr müsst hier raus, sagte sich Sam. Er zweifelte nicht an der Stärke der Flügelmenschen. Doch sie durften keine Spuren hinterlassen.
Sam fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Denk nach, Sam! Er sah sich hektisch um. Das Schlachthaus hatte nur eine Tür, und das Fenster war selbst für einen Menschen zu eng. Für Wesen, die Flügel auf dem Rücken trugen, kam es auf keinen Fall als Fluchtweg infrage. Und außer den toten Körpern gab es nichts, was ihnen als Versteck hätte dienen können. Doch an der Wand zu seiner Linken führte eine schmale Holztreppe zu einer Galerie empor. Die Holzbalken, an denen die Stierhälften hingen, liefen darunter von einer Seite des Schlachthauses zur anderen.
Kelaino folgte Sams Blick, als dieser nach oben deutete, und nickte. Kurzentschlossen schlich er die Treppe empor und drückte sich auf dem geländerlosen Zwischenboden gegen eine der Steinwände. Die Asfura Kelaino hingegen ging in die Knie und sprang in die Höhe. Die Kraft in ihren dürren Beinen reichte aus, um sie neben Sam zu tragen. Der Flügelmann zögerte. Der Asfur schien etwas zu wittern.
Jemand drückte erst vorsichtig, dann mit deutlich mehr Kraft von außen gegen die Tür. Der Riegel, den Sam vorgeschoben hatte, hielt denjenigen, der vor ihr stand, nur mit Mühe zurück.
Verdammt, dachte Sam. Wenn dieser zu groß geratene Vogel nicht endlich raufkam, würde es gleich ein Blutbad geben.
Der Asfur spreizte Arme und Finger, als würde er seine Waffen ziehen. Zehn Schneiden. Sie konnten selbst einem Iblis die Haut aufreißen.
Wieder drückte jemand gegen die Tür.
Kelaino krächzte leise. Es klang wie eine Warnung. Sogar Sam, der direkt neben ihr stand, hatte es kaum gehört. Der Asfur hob widerstrebend den Kopf und sah zu ihr empor.
Und der Riegel brach.
In dem Moment, in dem die Tür langsam aufglitt, sprang der Asfur so lautlos wie eine Katze in die Höhe. Eine der Stierhälften schaukelte noch ein wenig, als er neben Sam landete. Der Geruch von Blut, der sich in Sams Nase drängte, war mit einem Mal noch stärker.
Das Mondlicht fiel silbern durch die Türöffnung, und auf dem fleckigen Boden zeichnete sich ein Schatten ab. Von seiner Position aus konnte Sam nicht sehen, wer da vor der Tür stand. Und der Umriss, der bis zu den ersten Stierhälften reichte, gab keinen Hinweis darauf, welcher Art der Mann dort war. Wenn es ein Mann war.
Sam drückte sich enger gegen die Wand und sah zu Kelaino. Sie erwiderte seinen Blick und verstand. Auch sie trat einen Schritt zurück und zog den Flügelmann mit sich, der widerwillig gehorchte.
Schritte. Jemand trat in das Schlachthaus. Der Duft von salzigem Wasser mischte sich unter den der toten Körper. Und der Duft von Papier. Sam runzelte die Stirn. Fast glaubte er, er wäre zurück in Paramythia. Das bildest du dir ein, Sam, sagte er sich. Du warst viel zu lange dort unten bei den Büchern. Ja, so musste es sein.
Der Schatten wuchs, und dann endlich konnte Sam die Gestalt erkennen, zu der er gehörte. Eine Robe, die im Dunkel des Schlachthauses fast schwarz wirkte, und ein Helm, der den ganzen Kopf bedeckte. Ein Wächter aus Paramythia, der einen guten Grund hatte, sein Gesicht zumindest außerhalb der Bücherstadt zu bedecken. Es war nicht menschlich. Die Iblise, die sich darunter verbargen, trugen nicht nur Hörner wie Ziegenböcke, sondern sie hatten auch ein ebenso schmales Gesicht und kleine Augen. Die Kraft, die in ihnen steckte, war jedoch gewaltig.
Sam versuchte instinktiv, nicht zu atmen. Eine Übung, die er gut beherrschte. Allzu oft hatte er lautlos im Verborgenen ausharren müssen, während jemand an ihm vorbeigegangen war, manchmal so nahe, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Er sah zu den Asfura. Ihren Atem konnte er deutlich wahrnehmen. Er hoffte, dass der Iblis unter seinem Helm weniger hörte.
Der unmenschliche Wächter trat zwischen die toten Körper. Und verharrte vor dem, der noch immer leicht schaukelte.
Sam presste angespannt die Lippen aufeinander. Der Wächter blickte sich suchend um, doch auf die Idee, hinaufzusehen, kam er offenbar nicht. Wer hatte ihn wohl geschickt, nun da sein Herr, Assasil, tot war? Wer wohl, Sam?Die Wüstenhexe natürlich. Layl. Der Gedanke an sie ließ dunkle Schatten in seinem Herzen wachsen. Vermutlich suchten die Helmträger in der ganzen Stadt nach den Flügelmenschen und denen, die sie befreit hatten.
Der Wächter legte den Kopf schief. Er schien zu dem geöffneten Fenster zu sehen. In diesem Moment fegte der Wind hindurch und schlug die Tür zu. Dem Asfur neben Sam entfuhr ein Knurren.
Und der Wächter sah hinauf.
Sam wollte etwas rufen. Doch er kam nicht mehr dazu. Kelaino krächzte dem Flügelmann etwas zu, das wie eine Warnung klang, und schlang ihre dünnen Arme um Sam. Dann entfaltete sie ihre Flügel.
Sam begriff nicht, was sie vorhatte. Das Schlachthaus war viel zu klein, um zu fliegen, und zwischen ihnen und der Tür stand der Wächter, der nun seine Klinge zog.
Der Asfur tat es Kelaino gleich. Seine Schwingen strichen über den schartigen Stein der Wände. Im nächsten Moment stürzte sich der geflügelte Mann hinab. Die Asfura aber drückte Sam eng an ihren Leib.
Sam drängte den Fluch, der ihm auf die Zunge sprang, nur mit Mühe zurück. Wohin wollte Kelaino mit ihm? Wie zur Antwort schwang sich die Asfura kerzengerade in die Höhe. Und brach mit Sam durch das strohgedeckte Dach. Mittlerweile war Sam an das Fliegen mit der Asfura einigermaßen gewöhnt. Sein durch den Fleischgeruch mitgenommener Magen rebellierte dennoch, als sie direkt über dem Dach des Schlachthauses abrupt stoppte und auf der Stelle schwebte. Kelaino schlug gleichmäßig mit den Flügeln, und Sam sog hastig die klare Luft ein. Am Horizont mischte der Morgen fahles Licht in die Nacht. Es floss wie Milch über Mythia.
Vom Meer sickerte dichter Morgendunst zwischen die Häuser. Wie viele Augen konnten sie da wohl gerade sehen? Nicht allzu viele, dachte Sam. Zu dieser Stunde war der Hafen Mythias ohnehin noch wie ausgestorben. Zu Sams Linken lag das Hafenbecken. Die Masten Dutzender Schiffe wuchsen wie ein Wald blattloser Bäume aus dem Wasser, das sanft gegen die Kaimauer schlug. Hier war es wie ein gezähmtes Tier, das sich dem Willen der Menschen unterworfen hatte. Doch nicht weit entfernt mündete es in das offene Meer und wurde wild.
Der Asfur und der Iblis waren durch das Loch im Dach kaum zu erkennen. Schwarze Flügel in den Schatten. Und ein Körper in einer Robe. Sam konnte nicht mehr als ein paar verschwommene Bewegungen ausmachen. Er ließ den Blick stattdessen über die Ansammlung von Lagerhäusern schweifen, die sich hier aneinanderdrängten. War der Wächter alleine gekommen? Hoffentlich. Sam erinnerte sich, wie er schon einmal von Helmträgern entdeckt worden war. Eine ganze Gruppe von ihnen hatte ein halbes Dutzend Asfura besiegt, die sich im selben Turm wie Sam aufgehalten hatten. Und ihm und seinen Freunden war die Flucht nur um Haaresbreite geglückt. Kani, die die Sprache der Flügelmenschen verstand, und Shagyra, der Nushishan. Der Mensch mit den Pferdebeinen war eines der ersten Fabelwesen gewesen, denen Sam begegnet war.
Sam drängte die Gedanken an die beiden zurück. Jetzt ging es nur um den Wächter, der ihnen gefolgt war. Er konnte keine Spur von weiteren Angreifern zwischen den Gebäuden ausmachen. Wenigstens etwas. »Wie lange …?« Die Frage erstarb ihm auf den Lippen, als Kelaino plötzlich zischte.
Und dann schoss der Asfur in die Höhe.
Im ersten Moment glaubte Sam, er würde den Wächter mit sich tragen, so wie es die Asfura mit ihm selbst tat. Doch dann erkannte er, dass sich der Iblis mit einem Arm an den geflügelten Leib klammerte wie ein Junges an seine Mutter. Die Robe hing in Fetzen an ihm. Für einen Moment glaubte Sam, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Der Stoff war auch im grauen Morgenlicht so schwarz wie der, den Sam trug. Er kannte nur einen Wächter, der diese Farbe getragen hatte. Assasil, der Iblis. Der Herr der Wächter, dessen Rolle Sam bei der Flucht aus Paramythia angenommen hatte. Der, dem er seine Klinge in den Hals getrieben hatte. Wieso trug dieser Iblis dort eine schwarze Robe?
In seiner freien Hand hielt das Geschöpf ein Schwert. Soweit Sam erkennen konnte, hatte es damit dem Asfur einige Schnitte beigebracht. Sam hatte den geflügelten Mann im Herzen der Bücherstadt kämpfen sehen. Er sollte einem Iblis, so stark diese Wesen auch waren, überlegen sein. Eigentlich. Der Kampf aber schien völlig unentschieden zu sein.
Der Asfur schraubte sich mit zwei Schlägen seiner mächtigen Schwingen in die Höhe. Der Dunst verschluckte ihn beinahe, als versuchte er, den Kampf am Himmel zu verdecken.
Undeutlich erkannte Sam, wie der Asfur mit einer Hand nach dem Wächter hieb. Die Krallen an seinen Fingern waren ebenso scharf wie eine Klinge. Der Iblis schaffte es irgendwie, seine Waffe zwischen sich und die fünf Schneiden zu bringen.
Sam drehte den Kopf und warf Kelaino einen Blick zu. Die Asfura wäre dem geflügelten Mann sicher gerne zu Hilfe geeilt, doch dazu hätte sie ihn absetzen müssen. Oder ihn loslassen. Er war sich noch immer nicht sicher, wie weit er ihr vertrauen konnte. Bei Kani war sie zahm wie ein Ziervogel. Sam gegenüber aber war sie wild und unberechenbar.
»Keine Angst«, zischte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Er wird den Iblis töten. Alleine.« Sie ließ den Blick nicht von dem Asfur, während sie Sams Befürchtungen zerstreute.
Der Asfur versetzte dem Iblis einen mächtigen Hieb gegen die Brust, der einem Menschen sicher mehrere Knochen gebrochen hätte. Der Iblis aber schüttelte sich nur kurz. Und holte mit seiner Klinge aus. Der Asfur versuchte noch, die Krallen seiner rechten Hand zwischen sich und die Waffe zu bringen, doch er war nicht schnell genug. Der Schnitt, den der Iblis ihm beibrachte, war für den Asfur vermutlich nicht tödlich, sondern nur schmerzhaft. Das Knurren, das der Asfur daraufhin ausstieß, klang wie eine Todesdrohung. Er presste seine Linke auf die Wunde, und für einen kurzen Moment war er ohne Deckung.
Das war es, dachte Sam. Der Iblis wird ihn töten. Und Kelaino wird dich fallen lassen und sich auf ihn stürzen. Am Ende sind wir alle tot.Eine erfolgreiche Flucht, Sam.
Doch anstatt dem Asfur die Klinge in die ungeschützte Brust zu stoßen, zögerte der Wächter. Der Asfur nutzte den Moment und stieß den Iblis mit einem mächtigen Hieb der rechten Hand von sich. Dem Wächter fiel die Waffe aus der Hand, und er klammerte sich nun mit beiden Händen an den Asfur. Ein weiterer Schlag gegen die Brust und ein Hieb gegen den Kopf lösten den Griff wieder. Der Asfur packte mit beiden Händen den Helm des Iblis, als wollte er ihm den Kopf von den Schultern reißen.
Und dann löste sich der Helm.
Das ziegenbockähnliche Gesicht, das für einen kurzen Moment im Dunst erschien, ehe der Wächter in die Tiefe stürzte, sah so aus, wie Sam es erwartet hatte. Rote Haut, kleine Augen und kurze Hörner. Und doch war es das falsche Gesicht.
Nein, dachte Sam. Das kann nicht sein. Es war unmöglich.
So ähnlich Iblise einander waren, ein Gesicht hatte sich für alle Zeit in Sams Gedächtnis eingebrannt. Für einen Augenblick starrte Sam fassungslos Assasil an. Die Lippen des toten Iblis verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen.
Und dann fiel der Herr der Wache in die Tiefe. Der Dunst verschluckte ihn wie ein hungriges Tier. Einen Moment später hörte Sam, wie der Körper ins Wasser fiel. Er fragte sich, ob er träumte. Wenn, dannist es ein Albtraum, dachte er. Ein verfluchter Albtraum.
Du findest uns bei deinem Leithengst. Sam kamen die Worte des Pferdemenschen Shagyra wieder in den Sinn, als er mit den beiden geflügelten Wesen die Mauer erreichte, die das Anwesen seines Vaters umgab. Shagyra hatte sie ihm zugerufen, als sie aus Paramythia geflüchtet waren. Sam konnte sich trotz des Schreckens, den ihm diese Nacht noch beschert hatte, das Lächeln nicht verkneifen, als er sich den klein gewachsenen Vicente als kraftvollen Hengst vorstellte. Der Einspänner, den er vor einem Lagerhaus im Hafen gestohlen hatte, erregte keine nennenswerte Aufmerksamkeit. Der Duft von getrockneten Tabakblättern und Rauch haftete an dem betagten Gefährt wie klebriger Pollen. Vicente, der Fürst der Diebe, bestach gelegentlich die Wachleute in den Lagerhäusern des Weißen Königs, um sich einen steten Nachschub an den sündhaft teuren Zigarren zu sichern, die auch die königlichen Gäste genossen. Es dürfte daher niemanden verwundern, dass eine neue Lieferung bei Vicente, der sich nach außen hin als ehrbarer Geschäftsmann gab, eintraf. Dass hinter der prunkvollen Fassade in Wirklichkeit der Fürst der Diebe Mythias lebte, war nur einem kleinen Kreis von Menschen bekannt.
Leithengst. Sam sah auf den altersschwachen Gaul, der unter der Last des Karrens ächzte. Er ähnelte mehr einem stolzen Pferd als der verschlagene Vicente. Das Tier war nur schwer dazu zu bewegen gewesen, den Karren zu ziehen. Und das lag sicher nicht nur daran, dass er diesmal ungewöhnlich schwer war. Die beiden Fabelwesen unter der Plane brachten nicht nur mehr Gewicht als ein paar Dutzend Zigarren auf die quietschenden Achsen. Sie rochen sicher auch anders, wenngleich Sams Menschennase hierfür nicht fein genug war. Das Pferd aber hatte anfangs gescheut, als müsste es den Tod persönlich ziehen. Im Grunde genommen war das gar nicht so falsch. Diejenigen, die sich unter der Plane verbargen, könnten seine geflügelten Boten sein.
Das Tor zum Garten des prächtigen Anwesens war geöffnet, und Sam lenkte den Wagen so nahe an den Dienstboteneingang des Hauses, dass neugierige Augen hoffentlich nicht würden sehen können, wen er da mitbrachte. Der Junge, der für den Herrn der Elstern, oder besser der Ikariq, wie Vicente seine Organisation nannte, vor der Tür Wache hielt, erkannte Sam und schenkte ihm ein ehrliches Lächeln.
»Mateo«, begrüßte ihn Sam erfreut. Er griff Assasils Helm, den er neben sich auf den Kutschbock gelegt hatte, und seine Waffe. Dann stieg er ab.
Der Junge war einer der Laufburschen im Palast von Mythia gewesen, doch mittlerweile hatte er einen Platz unter den Ikariq gefunden. Sams Vater hatte seine Organisation nach dem Wüstenwort für Elstern benannt. Und die Elstern hatten Nachwuchs bekommen. Die Zeit bei den Dieben schien Mateo gut zu tun. Er sah schon nicht mehr ganz so mager aus. »Hol Vicente her. Schnell.«
Das Lächeln des Jungen wurde anzüglich. »Ich fürchte, das geht nicht. Euer Vater hat Anweisung gegeben, nicht gestört zu werden.«
Euer Vater. Sam hatte ihm nichts von seinem Verhältnis zum Fürsten der Diebe erzählt. Der Junge hatte ein gutes Gespür dafür, die kleinen Geheimnisse der Ikariq schnell in Erfahrung zu bringen.
»Er hat …« Dem Jungen schoss das Blut in die Wangen, und er strich sich nervös das dunkle Haar aus der Stirn. »… dieses Kraut genommen, das, nun, man nimmt es für Pferde, die … in Stimmung kommen sollen. Seine neue Favoritin ist bei ihm.«
»Hat er etwa Liebestoll gekaut?« Himmel, dachte Sam bei Mateos Nicken. Also doch ein Leithengst. »Er wird sich stören lassen müssen, fürchte ich«, erwiderte Sam und schüttelte den Kopf. Seine neue Favoritin. Vicente wechselte seine Begleiterinnen offenbar mittlerweile im Wochenrhythmus. »Ich habe da etwas für ihn.«
»Binkys Tabac i Cigars«, las Mateo die Worte auf der Plane. »Sicher wird Euer Vater erfreut sein, wenn er …« Die Worte erstarben Mateo auf der Zunge, als Krallen die Plane von innen aufschlitzten und zwei geflügelte Gestalten zum Vorschein kamen.
Verdammt, die Vögel schlüpfen, fuhr es Sam durch den Kopf. »Nun, ich bin mir nicht sicher, wie erfreut er wirklich sein wird«, meinte er an Mateo gewandt. Der Junge starrte stumm die Wesen an, die es nicht geben durfte. »Willkommen, Mateo«, flüsterte Sam in den Morgen. »Willkommen in einem Märchen.«
*
Mateo war der Einzige, der Zeuge wurde, wie Sam die beiden geflügelten Wesen durch das Haus lotste. Als sie schließlich den Dachboden erreichten, konnte er selbst kaum glauben, wie viel Glück sie gehabt hatten, dass ihnen niemand begegnet war. Doch es war noch zu früh für die Mitglieder der Ikariq, um von ihren nächtlichen Ausflügen heimzukehren. Und es war erst recht zu früh für Vicente, sich aus seinem Bett zu erheben. Noch dazu, wenn er nicht alleine darin lag.
Der Dachboden war überfüllt mit Vicentes Sammlung. So nannte er die Dutzende Bilder, die er nach diversen Raubzügen für sich behalten hatte und die trotz der Größe des Anwesens keinen Platz in dem vollgestopften herrschaftlichen Haus gefunden hatten. Du musst Ahnung haben von dem, was du stiehlst. Vicentes Weisheiten waren unter den Ikariq legendär. Und die meisten erwiesen sich im Lauf eines Diebeslebens als hilfreich.
Neben den Bildern bot der Dachboden mehrere Fenster, durch die der Himmel lugte, und er erschien Sam daher als der ideale Ort, die beiden Geschöpfe unterzubringen, bis … Ja, bis was? Was hast du nun vor, Sam?, fragte er sich. Hakims Tod rächen? Sabah und Layl und die Iblise töten? Oder sollte er lieber versuchen, alle Fabelwesen aus Paramythia zu befreien? Es war im Grunde nicht sein Kampf. Aber du hast ihn dennoch angenommen, dachte er. »Ich hole euch später«, sagte Sam zu Kelaino, während er heimlich den Asfur beobachtete. Das Wesen, das sie aus Paramythia mitgebracht hatten, schritt über den knarrenden Holzboden wie ein Löwe, der in einen Käfig gesperrt worden war. Nur dass ein Löwe harmlos gegen dieses Geschöpf ist, dachte Sam.
Kelaino folgte Sams Blick. »Lass uns nicht zu lange warten. Das Erwachen verwirrt ihm die Sinne. Sein Hunger mag für den Moment gestillt sein. Aber gerade er sollte schnell wieder etwas essen. Glaub mir, einen hungrigen Asfur willst du nicht in deinem Haus haben.« Kelaino verzog den schnabelgleichen Mund zu einem Grinsen, das ihre nadelspitzen Zähne entblößte.
Sam schenkte ihr ein freudloses Lächeln. »Bleibt einfach unauffällig.« Damit schloss er die Tür zum Dachboden. Er würde Vicente sobald es ging über seine unerwarteten Gäste informieren. Und den Koch der Ikariq anweisen, die Fleischvorräte aufzustocken.
»Soll ich Euch nun zu Eurem Vater bringen?«, fragte Mateo, sichtlich um Fassung ringend.
»Oh, ich schätze, er hat noch mit seiner Begleiterin zu kämpfen. Oder mit den Folgen des Liebestolls.« Soweit Sam wusste, führte eine übermäßige Einnahme dieses Krauts nicht nur zu einer besonderen Standfestigkeit, sondern auch zu einer an Größenwahn grenzenden Euphorie. Ein Zustand, in dem sich Vicente ohnehin oft genug befand. »Nein, bring mich zu ihr.« Als er Mateos fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er hinzu: »Zur Gräfin.« Kani und Shagyra waren als adliges Paar bei Vicente untergekommen.
Der fragende Ausdruck blieb auf Mateos Gesicht. »Und was wird der Graf dazu sagen?«
Sam strich sich müde über den Kopf. »Nichts. Ich glaube, sie nächtigen getrennt.«
*
Sam fand Kani schlafend in einem Bett, das groß genug für fünf gewesen wäre. Shagyra, der Nushishan, lag unter einem Fenster auf dem Boden. Er schlief wie ein Pferd und schnaufte laut genug für eine ganze Herde. Wären die Pferdehufe nicht gewesen, die unruhig zuckten, wäre er glatt als dunkelhäutiger Mensch durchgegangen. Sam stieg vorsichtig über ihn, legte Helm und Waffe neben das Bett und setzte sich zu Kani. Durch den Vorhang fiel das träge Morgenlicht und malte ihr ein Muster auf die Stirn. Wie traurig sie aussah. Als säße ihr der Kummer wie eine Krankheit unter der Haut. Selbst jetzt konnte Sam erkennen, wie schwer sie der Verlust ihres Vaters getroffen hatte. Er legte sich neben sie und drückte den Kopf an ihren. Kani regte sich unruhig. Dann schloss er die Augen. Doch trotz der Erschöpfung war sein Herz noch zu sehr von der Aufregung der vergangenen Stunden erfüllt, und sein Kopf so voller Fragen, dass Sam fürchtete, er würde jeden Moment platzen. Irgendwann aber kam er zur Ruhe und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Als er wieder erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Es musste Mittag sein. Sam blinzelte. Und blickte in Kanis dunkle Augen. Für einen Moment sahen sie sich stumm an. Es gab so viel zu erzählen, obwohl einige der Geschehnisse zu furchtbar waren, um sie in Worte zu fassen. Welche sollten Kani die Trauer aus dem Herzen spülen? Ihr den Schmerz nehmen, der es erfüllen musste? Sam wusste, wie weh es tat, zurückzubleiben, wenn jemand für immer ging, den man geliebt hatte. Sein eigener Bruder Jamal war vor einigen Wochen gestorben. Und es schmerzte noch immer. Sam öffnete die Lippen, um etwas zu sagen.
Und Kani legte ihm einen Finger auf den Mund. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie ihm von der Stirn ablesen, was er dachte.
Sam lächelte. Und küsste sie. Vielleicht war ein Kuss genug, wenn Worte nicht mehr halfen.
Shagyra schlief noch immer unter dem nun geöffneten Fenster. Es stand einen Spalt weit offen, und von draußen drang der Lärm des Tages herein. Stimmen, das Wiehern von Pferden und das Poltern der Kutschen auf den unebenen Straßen. Es war Kani, die das Schweigen in dem Zimmer schließlich brach. »Du lebst.« Sie lächelte ihn an. Traurig zwar, aber sie lächelte.
Sam setzte ein schiefes Grinsen auf. »Hast du daran gezweifelt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Und Sabah und die dunkle Schwester, die sie in sich trägt?«
Die Erinnerung an die Ereignisse in Paramythia kehrte wie der Fetzen eines dunklen Traums in Sams Kopf zurück. »Sabah. Oder Layl. Sie lebt. Und Assasil …« Sam stockte. »Auch. Aber ich hatte ihn getötet. Wirklich. Und dennoch hat er uns verfolgt.« Wieso lebte der Herr der Wache noch? Besaßen Iblise mehr als nur ein Leben? Vielleicht neun wie Katzen? Verfluchte Fabelwesen.
Kani runzelte die Stirn. »Wir hatten ihn auch in Paramythia für tot gehalten. Und er ist dennoch wiedergekommen.«
»Ja, aber beim zweiten Mal habe ich ihm meine Klinge so tief in den Hals getrieben, dass kein Leben mehr in ihm stecken sollte.« Er seufzte und erzählte Kani, was in Paramythia geschehen war, nachdem Shagyra sie aus der Bücherstadt gebracht hatte. Er berichtete vom Kampf gegen Assasil. Davon, wie Sabah und Layl miteinander gerungen hatten. Und vom Asfur, der aus einem der Bücher befreit worden war, nachdem sich der Mahfuz daran zu schaffen gemacht hatte.
»Ein männlicher Asfur?« Kani wirkte verblüfft. »In den Geschichten über sie heißt es, sie sind selten. Die meisten ihrer Art sind Frauen, die mit den Männern in einem Harem leben. Wo sind sie jetzt?«
Sam wollte antworten, doch dann überlegte er es sich anders und stand auf. Offenbar hatte Mateo von seiner Ankunft berichtet, denn auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lagen frische Sachen für ihn, während an der Tür eines der Kleider hing, die Vicente in der Regel für seine jeweilige Favoritin bereithielt. Ibratan, der Chefrequisiteur von Mythias Theater und Mitglied der Ikariq, hatte Vicente mit einer so reichhaltigen Garderobe ausgestattet, dass es in allen Größen genug Kleider gab, um die Begleiterinnen des Diebesfürsten zufriedenzustellen.
Sam sah an sich herab. Er trug noch immer die schwarze Robe, die er sich in Paramythia übergestreift hatte, um sich als Assasil auszugeben. Rasch zog er sie aus, als könnte er mit dem Kostüm auch die Erinnerung loswerden.
Ein hektisches Klopfen ließ Shagyra aus dem Schlaf fahren. Sam nickte ihm kurz zu und ging zur Tür. Vor ihm stand Mateo, der vor Aufregung hastig atmete. Der Junge zog Sam auf den Flur, kaum dass dieser die Tür geöffnet hatte. »Schnell«, drängte er. »Der geflügelte Mann, er …« Mateo verschluckte sich fast an seinen Worten.
»Was? Was ist mit ihm?« Sam legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Er wird Euren Vater töten.«
*
Für einen verlockenden Moment überlegte Sam, wieder zu Kani ins Zimmer zu gehen und Vicente sich selbst zu überlassen. Doch bei allem Groll gegen seinen Vater war er doch viel zu sehr dessen Sohn, um ihn dem Asfur zu überlassen. Mateo stolperte fast über seine eigenen Füße, als er vor Sam die Treppe zum Dachboden hinauflief. Hinter sich hörte Sam Kanis eilige Schritte. Und die Hufe von Shagyra, der offensichtlich aufgestanden war.
Die Tür zum Dachboden stand offen. Was wollte Vicente hier? Vielleicht seine Bilder begutachten? Von Zeit zu Zeit sah er nach ihnen. Heute war ein denkbar schlechter Zeitpunkt dafür. Sam lugte vorsichtig durch die Tür. Und entging nur mit einer raschen Bewegung Kelainos Hieb. Er stolperte an der Asfura vorbei in den Raum. Sein Vater hing keuchend im Griff des geflügelten, nackten Mannes, der ihn mit einer Hand am Hals gepackt hatte. Vicentes kurze Beine strampelten wild in der Luft.
»Ganz ruhig«, sagte Sam. »Das ist nur ein Missverständnis.«
»Stell dich nicht zwischen uns und unsere Beute«, zischte Kelaino.
»Oh, ich würde sie euch nie streitig machen«, erwiderte Sam und hielt den Blick auf den Asfur gerichtet, der Vicente mit weißen Augen musterte, als sähe er zum ersten Mal einen Menschen. »Aber ich bin sicher, der da schmeckt zäh, und außerdem brauchen wir ihn noch.«
Vicentes angsterfüllter Blick wurde vorwurfsvoll. Kein Wunder. Offenbar wurde ihm gerade klar, dass Sam ihm die beiden Geschöpfe ins Haus gebracht hatte.
Hinter Sam trat Kani in den Raum. Sie stockte für einen Moment, als sie den Asfur sah. Doch sie fasste sich schnell und rief etwas in der Sprache der Vogelmenschen. Das Krächzen, das ihrem Mund entfuhr, klang wie jedes Mal, wenn Sam es hörte, fremd und wundersam.
Der Asfur wandte den Blick von Vicente ab und ließ ihn fallen wie ein erlegtes Tier. Für einen Moment blickten Vicente und er gleichermaßen verblüfft drein. Dann sah Mythias oberster Dieb zu Shagyra, der neben Kani trat, und erbleichte endgültig, als er dessen Hufe bemerkte. »Bei allen Schätzen des Weißen Königs«, murmelte er. »Was seid ihr alle?«
»Teile einer Geschichte«, antwortete Sam. »Willst du sie hören?«
Vicente runzelte die Stirn und riss mit offensichtlicher Mühe den Blick von Shagyra los. »Ja, aber ich weiß nicht, ob sie mir gefallen wird.« Sams Vater war ein wenig wacklig auf den Beinen, als er voranging und die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinabstieg.
Sam blickte zu Mateo hinüber. Sein Blick war voller Unglauben, und er sah aus, als stände er auf einem von Mythias Marktplätzen und sähe einem Zauberer zu. Wie sollte man auch begreifen können, dass Wesen mit Hufen und Federn ebenso echt waren wie Geschöpfe aus Fleisch und Blut? So sehr Sam den Jungen mochte, es stand zu befürchten, dass bald Gerüchte über die Fabelwesen die Runde unter den Ikariq machten. Sam musste Vicente einschärfen, dafür zu sorgen, dass kein Wort hiervon nach außen dringen durfte. Layl, die dunkle Wüstenhexe, würde nicht zögern, sie alle zu töten, wenn sie herausfand, dass der Asfur hier war.
Als er die Schwelle zu seinem Arbeitszimmer überschritt, schien Vicente seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen. Er schickte Mateo los, um etwas zu essen zu holen, und deutete mit seinem geschäftsmäßigsten Lächeln auf die Polstermöbel, auf denen er üblicherweise seine Gäste empfing. Der Asfur und Kelaino ignorierten ihn und traten an eines der großen Fenster, als wollten sie sicherstellen, dass sie jederzeit Zugang zum Himmel hatten.
»Herzlich willkommen.« Vicente tat, als begrüßte er alte Freunde, und taxierte die geflügelten Wesen mit einem abschätzenden Blick. Den Schock, dass es Geschöpfe wie diese gab, hatte er überraschend schnell überwunden. Ebenso wie den, dass sie ihn als ihre Beute ausgewählt hatten.
Sam war froh, dass Vicente nicht ein paar bewaffnete Männer herbeigerufen hatte. Auch unter den Dieben gab es einige, die mit einer Klinge umgehen konnten. Gegen die Asfura indes hätten sie keine Chance gehabt.
Vielleicht überlegte sich Vicente bereits, wie er sie für die Ikariq nutzen könnte. Geflügelte Diebe für die Elstern.
»Wie kommst du dazu, solche … Gäste in mein Haus zu bringen?«, raunte er Sam zu, als der sich mit Kani und Shagyra zu ihm gesellte.
»Nun, du sagst doch immer, nur die Mutigen wagen es, die schwierigsten Aufträge anzunehmen«, erwiderte Sam. »Und du bist doch der Mutigste von allen, oder?«
Vicente sah ihn einen Moment lang durchdringend an, dann lachte er laut los. »Oh, sogar der Allermutigste. Aber ich werde in der Regel entlohnt. Wer bezahlt mich in diesem Fall? Sag, wolltest du nicht einen Bibliothekar stehlen?«, fragte er, als Sam ihm keine Antwort auf die erste Frage gab.
Sam nickte stumm. Einen Bibliothekar stehlen. Vicente spielte auf die missglückte Rettung von Kanis Vater aus Paramythia an. Sam hatte Jacobus, den eulengesichtigen Bücherhirten, dazu gebracht, ihnen zu helfen.
»Sie können Platz nehmen. Ich bin nicht nachtragend.« Vicente deutete auf die dicken Polster, auf die mit hauchdünnem Faden das Bild eines Vogels gestickt war.
Sehr passend, dachte Sam.
»Nein«, erwiderte Kelaino krächzend. »Mit Flügeln sitzt es sich schlecht.«
Vicente konnte die ungerührte Fassade nicht mehr aufrechterhalten und sein Blick wanderte zu den Schwingen, die zwei seiner Gäste auf dem Rücken trugen. »Natürlich«, murmelte er. »Wie dumm. Dann bleiben wir wohl besser alle stehen. Wie ich sehe, seid ihr verletzt.« Er ließ seinen Blick über die Schnittverletzungen auf den Körpern der Asfura wandern. »Ich könnte nach einem Arzt schicken. Meine kleine Organisation …«
»Es ist nicht nötig«, krächzte Kelaino. »Schmerz ist nicht wichtig. Nur Freiheit zählt.«
Vicente zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Sicher. Eine hübsche Weisheit, wenn ich das bemerken darf. Nun, wollt ihr etwas zu … essen oder trinken? Selbst wenn Schmerz nicht wichtig ist, so sind Hunger und Durst doch höchst unangenehm, nicht?«
»Wir sind sehr wählerisch, was unsere Mahlzeiten betrifft«, erwiderte Kelaino und schenkte Vicente ein freudloses Lächeln.
»Gut«, erwiderte der Fürst der Diebe etwas fahrig, und Sam wusste nicht, ob er noch immer verblüfft über seine unerwarteten Gäste war oder beunruhigt darüber, dass sie vielleicht Menschen Mythias Spezialitäten vorziehen könnten. Hinter ihm öffnete sich langsam die Tür, und Mateo trat ein. Er balancierte ein Tablett mit Pa amb Tomàquet. Das geröstete Brot mit Tomaten und Knoblauch war vermutlich noch vom vergangenen Abend übrig geblieben. Doch als der würzige Duft Sam in die Nase stieg, merkte er erst, wie hungrig er im Grunde war.
»Bitte«, sagte Vicente und deutete auf das Tablett, das Mateo auf einem Tischchen zwischen den Sesseln abstellte. Die Miene des Jungen offenbarte Angst und … Begeisterung. Sam verstand ihn nur allzu gut. Man fühlte sich voller Leben, wenn die eigene Welt plötzlich so viel weiter wurde.
Shagyra griff gleich mehrfach zu, doch Kani hielt sich an nur einem Brot fest und biss so zaghaft hinein, als müsste sie sich dazu zwingen, etwas zu essen. Auch wenn sie keine erkennbare Wunde davongetragen hatte, der Tod ihres Vaters hatte sie mitten ins Herz getroffen und es in zwei Teile zerschnitten.
Vicente räusperte sich. »Ihr, Herr Graf, seid offensichtlich kein … ganzer Mensch. Und unsere neuesten Gäste sind ebenfalls bemerkenswert … einzigartig. Ich will euch versichern, dass ihr keine Angst haben müsst. Dieses Haus ist euer Haus. Unter den Ikariq haben wir die Gastfreundschaft schon immer hochgehalten.«
Kelaino sah ihn an wie ein Kaninchen, das sich in die Nähe eines Falken gewagt hatte. »Angst? Wir? Die Menschen sind es, die sich fürchten müssen. Vor uns. Und vor dem, was in Paramythia verborgen ist.«
Vicentes Lächeln verrutschte nur kurz. »Nun, ich denke, es wäre nun Zeit für die Geschichte, die ich hören soll.«
Wer sollte sie ihm erzählen? Sam sah zu Kani und Shagyra. Die Frau, die sich als Dienerin in die Bücherstadt geschmuggelt hatte, war noch viel zu sehr in die Trauer um ihren toten Vater versunken. Hakim ed-Din, der große Gelehrte der Universität von Mythia. Er hatte sein ganzes Leben lang versucht, das Geheimnis von Paramythia zu lüften. Ein Geheimnis, das ihm zuletzt dieses Leben genommen hatte. Und Shagyra wusste noch immer nicht, wer er wirklich war. Ein Fabelwesen, das zwischen den Seiten eines verzauberten Buches gefangen und dessen bisheriges Leben nichts als eine Erzählung gewesen war. Sam seufzte. Er würde von allem alleine berichten müssen. Er begann mit der Nacht, in der er in Paramythia einen Schrei gehört hatte. Damals hatten Kelaino und ihre Schwester Aello, die zusammen erwacht waren, einen Bücherdoktor getötet. Dessen Todesschrei war für Sam nichts anderes als der Ruf in das größte Abenteuer seines Lebens gewesen. Er fühlte sich wie einer der Erzähler aus der Wüste, die gelegentlich in die Stadt kamen und in den Kaffeehäusern ihre Märchen zum Besten gaben. So wenig die Menschen von der anderen Seite des Gebirges, dort, wo sich die Wüste an Mythia schmiegte, in der Stadt gemocht wurden, ihre Geschichten liebte man in Mythia. Sams Mutter stammte ebenfalls aus der Wüste. Nun, dachte er, als er die Haut auf seinen Armen anblickte, die aussah, als hätte man Kakao in Milch gestoßen, vielleicht existiert ja etwas Erzählerblut in deiner Familie. Sam berichtete, wie er auf der Suche nach den geflügelten Frauen in den alten Uhrenturm der Universität gelangt war. Wie er dort auf Kani und ihren Vater getroffen war. Und auf ein halbes Dutzend Asfura, die sie unter dem Turmdach versteckt hatten. Der Versuch, mehr über alles herauszufinden und der Beraterin des Weißen Königs, Sabah, ein geheimnisvolles Buch zu stehlen, hatte damit geendet, dass sie erst den Pferdemenschen Shagyra aus Paramythia befreit und später Sams Cousin Majid verloren hatten. Er war nicht der erste und auch nicht der letzte Tote, den das Geheimnis von Paramythia gefordert hatte. Hakim hatte sein Leben verloren, als er gefangen genommen und von der Wüstenhexe verhört worden war.
Vicentes Gesicht blieb so ausdruckslos, als berichtete Sam von einem Raubzug der vergangenen Nacht und nicht davon, dass es in Paramythia Fabelwesen wie die Iblise gab. Die gehörnten, rotgesichtigen Kämpfer waren die idealen Wächter der anderen Geschöpfe, die in den Büchern gefangen waren. Außerhalb des Herzens Paramythias trugen sie Helme und wagten sich sogar in die Stadt vor. Assasil hatte sie befehligt. Der Iblis, der tot sein sollte. Eigentlich.
Sam sah zu dem Asfur, der aufmerksam jedem Wort lauschte. Er war das vielleicht größte Geheimnis von allen. Sabahs dunkle Schwester Layl, die sich mit der Beraterin des Weißen Königs den Leib teilte, hatte diesen Asfur um alles in der Welt befreien wollen. Allein dies machte den geflügelten Mann zu einem Feind. Und doch hatte er bei aller Wildheit, die in ihm steckte, bislang keinen Versuch unternommen, Sam oder Kani oder einen anderen zu töten. Weil er nicht weiß, wer er ist, Sam, sagte er sich. Keines der Fabelwesen wusste es, sobald es sein Buchgefängnis verlassen hatte. Sie hatten einen Namen und bestenfalls verschwommene Erinnerungen an ein Leben, das sich als Geschichte herausstellte. Erdacht von den Mahfuz, den Schreibern, die unter Sabahs Befehl standen. Ebenfalls Fabelwesen.
Nachdem Sam geendet hatte, sah er einen nach dem anderen an. Tiefes Schweigen hatte sich in Vicentes Arbeitszimmer ausgebreitet. Der Fürst der Diebe hatte eine seiner langen Zigarren entzündet und war in grauen Dunst gehüllt, als sei er ein Drache. Nun, wenigstens die waren nur Märchenfiguren geblieben. Ganz im Gegensatz zu den Nushishans und den Asfura.
»Und nun?« Vicente musterte Sam aus dem Rauch heraus.
Woher bei allen Büchern der Welt sollte Sam das wissen? Es gab einige Sklaven, die wegen einer Lüge von Sam zum Tode verurteilt worden waren. Sie befanden sich in diesem Moment auf einem Marsch ohne Wiederkehr durch die Wüste. Kelaino würde sie befreien. Das zumindest hatte sie ihm versprochen. Doch vor Anbruch der Nacht konnte sie nicht losfliegen. Nicht, ohne entdeckt zu werden. Und mehr wusste Sam nicht. Er wollte den Weißen König warnen. Assasils Helm, der seinem Träger drohende Gefahren zeigte, und Sabahs silberne Klinge, die immer dann aus dem Griff fuhr, sobald ein Kampf anstand, waren sicher Beweis genug, dass Sam nicht log, wenn er Mythias Herrscher von den Fabelwesen erzählte, die unter seinem Palast gefangen waren. Bis zu der verhängnisvollen Nacht, in der sie Hakim verloren hatten, war Sam davon ausgegangen, dass die Fabelwesen um Sabah Mythia übernehmen wollten. Doch offenbar wachte die Wüstenhexe über die Gefangenen. Warum? Und weshalb wollte ihre dunkle Schwester diesen einen Asfur? Je mehr Sam darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass der Mann mit den dunklen Schwingen der Schlüssel zu allem war. Dumm nur, dass er ebenso wenig weiß wie du, Sam. »Ich habe keine Ahnung«, beantwortete er Vicentes Frage. »Das, was in Paramythia vorgeht, verstehe ich noch immer nicht ganz. Kanis Vater hätte aus dem, was wir herausgefunden haben, vielleicht seine Schlüsse ziehen können. Buchgefängnisse und eine Sahira mit zwei Seelen. Doch …« Er stockte, als er zu Kani hinübersah. Die Trauer lag wie eine Maske über ihrem Gesicht.
»Doch ohne ihn kann dieses Geheimnis nicht gelüftet werden«, beendete Vicente den Satz. »Nun, in diesem Fall ist es ganz einfach. Das, was im Palast geschieht, sollte auch dort bleiben. Solange die Märchenfiguren in ihren Geschichten stecken, wüsste ich nicht, wovor ich mich fürchten sollte. Offenbar sind sie schon länger dort, als ich auf der Welt bin. Und bisher bin ich gut durchs Leben gekommen. Wir alle sind das. Machen wir weiter wie bisher. Und was unsere Gäste betrifft, könnte ich mir gut vorstellen, dass sie in unseren Reihen einen Platz finden. Diebe, die fliegen können.« Er sah zu Shagyra. »Oder so schnell laufen können wie der Wind, wenn mein Sohn in seiner Geschichte nicht übertrieben hat.«
»Das ist dein Rat?«, fuhr Sam seinen Vater an. »So zu tun, als sei nichts geschehen?«
Vicente zuckte mit den Schultern. »Was geschehen ist, ist geschehen. Sieh zu, dass du den Vorteil unter den Nachteilen findest.« Den Vorteil unter den Nachteilen finden. Der Fürst der Diebe lächelte über seine neueste Weisheit. Vicente verbreitete sie nur allzu gerne unter den Mitgliedern der Ikariq.
»Nein«, sagte Sam entschieden. »Wir müssen mehr herausfinden. Ich lasse nicht zu, dass Kanis Vater umsonst gestorben ist. Es muss jemanden geben, der uns helfen kann.« Er sah zu Kani.
Und sie … nickte. »Es gibt tatsächlich jemanden, der vielleicht etwas weiß.« Sie gab sich alle Mühe, gefasst und zuversichtlich zu klingen. »Mein Vater hatte sich gelegentlich mit jemandem ausgetauscht.«
Himmel, es gibt noch einen zweiten Gelehrten, der nach Märchenfiguren sucht?, dachte Sam. »Ich vermute, wir finden ihn ebenfalls in der Universität. Wie heißt er?«
Kani zuckte mit den Schultern. »Ich weiß weder, wo er wohnt, noch, wie er heißt. Mein Vater und er haben sich immer nur geschrieben.«
»Geschrieben?« Die Vorstellung, sich mit jemandem durch Worte aus Tinte zu unterhalten, erschien Sam absurd. Vielleicht, weil du nicht mal deinen eigenen Namen richtig schreiben kannst, Sam, dachte er dann.
»Dieser Gelehrte … er wollte immer unerkannt bleiben. Mein Vater hat vermutet, dass er ein anderer Professor ist, der sich nur heimlich mit den Geschichten in Paramythia beschäftigt.«
Sam nickte. So viel hatte er bereits gelernt. Märchen galten unter Bibliothekaren und Gelehrten wenig. Als wären sie nicht so viel wert wie die übrigen Bücher.
»Meinem Vater wurde immer vorgeworfen, er würde sich in Fantasiewelten flüchten, wenn er die Märchen untersuchte.« Kani sah vor sich auf den Boden, und ihre Stimme wurde lauter, als müsste sie Hakim verteidigen. »Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Märchen geben der Wirklichkeit ein neues Kleid und lenken den Blick vom Gewohnten, das nicht mehr als eine Schale ist, auf das Wesentliche. Auf den Kern der Dinge. Wer das nicht erkennt, sieht immer nur auf die spiegelnde Oberfläche des Sees, aber nie tiefer in den See hinein.« Sie blickte auf und lächelte beinahe beschämt. Es war nur ein flüchtiges Lächeln, doch es fügte ihrer Maske aus Trauer feine Risse zu. »Das hat mein Vater zumindest immer gesagt. Es gab da einen Jungen mit feuerroten Haaren, der in der Universität Botengänge erledigt. Er hat meinem Vater vor einem Jahr den ersten Brief gebracht, mit dem der geheimnisvolle Gelehrte Kontakt zu ihm aufgenommen hat. Mein Vater war ganz außer sich, dass es noch jemanden gab, der seine Leidenschaft teilt. Seither haben sie sich regelmäßig geschrieben. Ich glaube, sogar noch kurz vor …« Sie stockte, als säßen ihr die Worte wie Splitter in der Kehle. »Noch am Tag seiner Entführung durch Assasil hat er dem verwandten Geist, wie er ihn nannte, geschrieben.«
Sam sah zu Vicente und las dem alten Dieb die eigenen Gedanken von der Stirn ab. Eine Falle? Jemand, der herausfinden wollte, wie viel Hakim wusste? Vielleicht. Assasil hatte, als die Iblise in Hakims Turm eingedrungen waren, etwas von einem Informanten gesagt. Wer immer auch hinter den Briefen steckte, konnte durchaus ein Spitzel der Wüstenhexe sein.
»Wir werden Kontakt zu dem Jungen aufnehmen«, entschied Sam. »Je mehr wir über Paramythia und all das«, er sah zu den beiden geflügelten Wesen, die jedem gesprochenen Wort aufmerksam lauschten, »wissen, desto besser. Dieser Bote soll uns zu dem Gelehrten führen.«
Vicente zuckte mit den Schultern. »Deine Entscheidung, mein Junge. Und dein Fehler. Du solltest dich lieber ums Geschäft kümmern, als auf so einen idealistischen Kreuzzug zu gehen.« Mythias Diebesfürst sah zu den beiden geflügelten Wesen. »Und was machen unsere Gäste, während ihr nach dem Urheber geheimnisvoller Briefe fahndet?«
»Kelaino hat mir ein Versprechen gegeben.« Sam sah zu der Asfura und versuchte in ihrem vogelhaften Gesicht zu lesen, ob sie die Sklaven wirklich befreien würde, die wegen Sam zum Tode verurteilt worden waren. Sie nickte zu seiner Erleichterung. Nun, vermutlich war sie froh, im Schatten der Nacht umherfliegen zu können, anstatt hier im Haus wie in einem Käfig zu sitzen. »Und für ihn solltest du genug frisches …«
»Ich komme mit.« Die Stimme war tief wie ein bodenloser Brunnen, und doch klang sie überraschend menschlich. Der Asfur sah von Sam zu Shagyra, und zuletzt blieb sein Blick an Kani hängen.
Sam sah die eigene Verblüffung auf den Gesichtern seiner Freunde gespiegelt. Warum überrascht es dich, dass er sprechen kann, Sam?, fragte er sich. Die anderen Fabelwesen können es auch. »Du würdest ein wenig … auffallen«, meinte er. »In den Straßen dieser Stadt findet man überraschend wenig Menschen mit Flügeln. Nein, du musst…«
»Ich muss?« Die Drohung mischte noch mehr Dunkelheit in die tiefe Stimme des Asfur. »Ich komme mit. Ich will wissen, wer ich bin. Und wenn ich gefangen war, wie du erzählt hast, will ich wissen, weshalb. Und von wem.«
Na wunderbar, dachte Sam. Warum sollten sie eine komplizierte Angelegenheit nicht noch ein wenig komplizierter machen? Prüfend sah er den Asfur an. Das Gesicht war ausreichend menschlich. Ein wenig schmaler als üblich, doch immerhin besaßen männliche Flügelmenschen nicht den Schnabelmund ihrer Frauen. Und das Muster, das seinen Körper zierte, endete an seinem Hals. Seine weißen Augen hingegen waren ungewöhnlich. Aber er könnte sich als Blinder ausgeben. Blieben nur noch seine schwarzen Flügel, Sam.
»Ich habe eine Idee, wie wir dich unter die Leute bringen«, sagte Vicente, als hätte er Sams Gedanken geteilt. »Du … du hast doch einen Namen, oder?«
Der Asfur runzelte die Stirn, als wäre er sich nicht sicher. »Nu… Nusar.« Es schien, als müsste er den Namen erst kosten.
»Gut, Nusar«, sagte Vicente. »Wir helfen dir.«
Sam sah seinen Vater fragend an. Was wollte er von dem Asfur? Was wohl, Sam? Ihn zu seinem Verbündeten machen. Zu einem geflügelten Dieb.
»Aber vorher müssen wir noch etwas erledigen.« Vicentes Blick fuhr an dem nackten Mann herab. »Ich denke, wir müssen nicht nur die Flügel verbergen.«
Sabah erwachte inmitten der toten Bücher. Die Dunkelheit erfüllte diesen Ort wie eine Krankheit. Sabah hatte sie schon oft geschmeckt, wenn sie erwacht war. Eine Erinnerung an ihre Schwester. Zwei Herzen in einer Brust.
Sabah erhob sich und blickte auf die Buchdeckel, die verstreut auf dem Boden lagen. Jeder Name stand für ein Geschöpf. Für ein verlorenes Leben. Iblise, Asfura, Nushishans, Bahriden und ein Karkadan. Nur ein Buch war unbeschädigt. Es kostete Sabah nur einen Wink mit einem ihrer langen Finger, und das Buch schwebte ihr wie ein zahmer Vogel in die Hand. Das Buch der geheimen Namen. Die Seite, auf der es aufgeschlagen war … Nein!