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Der ehemalige Dieb Sam und die Gelehrtentochter Kani sind erleichtert: Die Fabelwesen konnten erfolgreich aus ihrem Gefängnis - der unterirdischen Bibliothek von Mythia - befreit werden! Doch sie wissen auch, dass sich die dunkle Wüstenhexe Layl nicht so leicht geschlagen gibt. Mit dem Buch der geheimen Namen der Fabelwesen könnte sie ein neues Gefängnis bauen. So schmieden Sam und seine Gefährten einen Plan: Während der Flügelmann Nusar mit seiner Armee die Stadt angreift, soll Sam das Buch stehlen. Doch niemand weiß, wo die Wüstenhexe es versteckt hat ...
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Seitenzahl: 488
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
PROLOG
BESUCH DES NACHTBOTEN
EIN MUTIGER NARR
NEUE ZEITEN
GUT FÜRS GESCHÄFT
WUT
DREI KUGELN
EIN HELD
VERTRAUTES GESICHT
FREMDE ERINNERUNGEN
FLÜGEL
PARAMYTHIAS KÖNIGIN
DER ANBRUCH DER DÄMMERUNG
WOLKENWALE
EIN EINZIGARTIGES TALENT
MYTHIAS MAUER
LIEBE
REBELLENRAT
DER TAG DER DÄMMERUNG
FEUER UND TOD
BESTIMMUNG
EIN FUNKE WIRD ENTZÜNDET
DER LETZTE PFEIL
VERGISS DAS NIE
EINE ALTE SCHULD
DAS SPIEL
VERGEBUNG
NEUE NAMEN
EPILOG
Über das Buch
Der ehemalige Dieb Sam und die Gelehrtentochter Kani sind erleichtert: Die Fabelwesen konnten erfolgreich aus ihrem Gefängnis – der unterirdischen Bibliothek von Mythia – befreit werden! Doch sie wissen auch, dass sich die dunkle Wüstenhexe Layl nicht so leicht geschlagen gibt. Mit dem Buch der geheimen Namen der Fabelwesen könnte sie ein neues Gefängnis bauen. So schmieden Sam und seine Gefährten einen Plan: Während der Flügelmann Nusar mit seiner Armee die Stadt angreift, soll Sam das Buch stehlen. Doch niemand weiß, wo die Wüstenhexe es versteckt hat …
Über den Autor
Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen. Dies spiegelt sich auch in seinen Romanen wider: klassische Fantasy-Geschichten um Drachen und Magie, die ebenso sehr an den »Herrn der Ringe« wie an orientalische Märchen erinnern. Mit seinem ersten Roman »Flammenwüste« war er für mehrere Preise nominiert, er gewann den Seraph Literaturpreis als bestes Fantasy-Debüt des Jahres. Er schreibt zurzeit an einer Fortsetzung der Geschichte.
AKRAM EL-BAHAY
Bücherkrieg
DIE BIBLIOTHEK DER FLÜSTERNDEN SCHATTEN
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Michelle Gyo, Limburg an der LahnEinband-/Umschlagmotive: © Jorge Jacinto; Top Photo Group/Thinkstock; iStock/ThinkstockUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7396-7
www.luebbe.dewww.lesejury.de
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Mit der Morgendämmerung öffnete sich die Welt vor Kani. Der Berg, auf dessen Spitze sie stand, wurde Tor zum Himmel genannt. Der Name war mehr als passend. Kani befand sich so hoch über allem, dass sie in diesem Moment das Gefühl hatte, überall hinblicken zu können. Sie sah aus, als wäre sie kaum älter als zwanzig Jahre, doch ihre Geburt lag viele Jahrhunderte zurück. Sie war kein Mensch. Nicht ganz. Kani spürte die Macht, die ihr der Name versprach, den sie mit farblosem Blut auf dem Arm geschrieben trug. Der Name, der sie zu einer Sahira machte. Zu einer Wüstenhexe.
Er ist nur ein Versprechen, Schwester, hörte sie eine alte Stimme in ihrem Kopf. Du musst es einlösen. Du besitzt diese Macht nicht. Noch nicht.
Kani sah zu der menschenhohen Steinfreske vor sich, von der die Stimme gekommen war. Sie zeigte einen Schlangenkörper, aus dem drei hässliche Frauenleiber wuchsen. Und dahinter erhob sich ein knorriger Baum mit silbergrauen Blättern aus dem Boden. Die drei Weiber hießen Thalia. Wüstenhexen, die allem auf der Welt den richtigen Namen geben konnten.
Warum kommst du zu uns? Diesmal hatte nur eine der drei gesprochen. Es war wohl die Linke gewesen. Mager wie eine Straßenkatze mit einer überlangen Nase sah sie aus.
Ich will wissen, was wir tun sollen. Nusar muss es wissen, antwortete Kani ebenso stumm.
Das kann nur eine Beraterin dem König sagen. Er braucht eine Sahira. Diese Worte hatte die Mittlere von ihnen in Gedanken ausgestoßen. Sie war kahl, und ihr Gesicht war so schmal wie das eines Vogels. Eines ihrer Augen funkelte einem Kristall gleich.
Ihr solltet ihm eure Weisheit schenken. Kani war nun so nahe an die drei Weiber herangetreten, dass sie jede Pore der steinernen Haut erkennen konnte.
Wir sind nicht die richtige Sahira für ihn. Eine neue Zeit bricht an. Es ist die der Dämmerung. Diesmal hatte die Rechte gesprochen. Alt und missgestaltet war sie.
Es ist deine Zeit, riefen sie alle zusammen. Du musst deinen wahren Namen erfahren und endlich die Macht einer Sahira annehmen.
Kani atmete tief durch. Vor nichts fürchtete sie sich mehr. Aber was werde ich dann sein?
Du selbst. Und es gibt einiges, was wir dir zu erzählen haben. Hör also zu, Dämmerung, sonst zieht die ewige Nacht auf.
Sam wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Oder ob er überhaupt richtig geschlafen hatte. Er fühlte sich so erschöpft, als hätte er kaum einige Minuten die Augen zugemacht. Doch Kani, die er an sich gedrückt hatte, als sie sich gemeinsam auf den Boden eines der seltsamen Häuser auf der Bergspitze gelegt hatten, war fort, ohne dass er es bemerkt hatte. Er fuhr sich über das Gesicht, drückte sich dann mühsam hoch und trat aus der Tür des Hauses. Tief sog er die frische Luft ein. Es war schneidend kalt hier oben. Sam hatte nicht mehr am Leib als die Sachen, die er in seiner letzten Nacht als Dieb getragen hatte. Schuhe mit einer so dünnen Sohle, dass man besonders gut in ihnen klettern konnte. Eine Hose und ein Gewand in einer Farbe, die irgendwie mit allem verschmolz und ihren Träger ein klein wenig unsichtbar machen konnte.
Die Nacht, in der er seinem Leben als Mitglied der berühmtesten Diebesgesellschaft Mythias entflohen war, schien Jahre zurückzuliegen. Sein letzter Raubzug. Der Wunsch, in die Wache des Weißen Königs aufgenommen zu werden, um allem davonzulaufen, was ihn an den Tod seines Bruders Jamal erinnerte. Seine erste Schicht als Wächter im gigantischen Bibliothekslabyrinth von Paramythia. Das Aufeinandertreffen mit den Asfura, den Flügelmenschen, die mordend einen Weg aus der Bücherstadt gesucht hatten. Und der Kuss, den Kani ihm unvermittelt auf die Lippen gedrückt hatte. Seit jener Nacht war sein Leben so sehr auf den Kopf gestellt worden, als hätte er sich in die Figur einer Geschichte verwandelt. Zusammen mit Kani und ihrem Vater, dem großen Gelehrten Hakim ed-Din, der sein Leben in den endlosen Gängen der Bücherstadt verloren hatte, war er auf die Suche nach dem Grund dafür gegangen, weshalb Fabelwesen zwischen den Büchern Paramythias zum Leben erwachten. Das Ausmaß der Verschwörung, die hinter all den kaum fassbaren Ereignissen steckte, verblüffte ihn noch immer. Sabah, die Beraterin des Weißen Königs: eine Wüstenhexe. Die maskierten Wächter der Bücherstadt: mörderische Iblise. Und der Weiße König selbst: ein Asfur, der seltsamerweise keine Schwingen auf dem Rücken trug. Das gefährlichste Geschöpf aber war Layl, die dunkle Seite der geheimnisvollen Sabah. Die beiden Sahiras teilten sich einen Leib, und Layl zeigte sich stets nur in der Nacht und wob dann ihre finsteren Pläne.
Sam sah Kani bei den steinernen Hexen stehen, doch als er zu ihr gehen wollte, legte sich eine Hand mit fünf langen Krallen auf seine Schulter.
»Wir haben das gleiche Ziel.« Nusar. Seine Stimme war so dunkel wie die Nacht, die nun in der Dämmerung verging. Die schwarzen Flügel, die ihm aus dem Rücken wuchsen, hatte er angelegt, und das Muster, das seinen Leib zierte, schimmerte im Licht der aufgehenden Morgensonne. Der Asfur trug nicht mehr am Leib als eine Hose. Offenbar war seine Haut weit weniger empfindlich gegen die Kälte als Sams.
»Sieht so aus«, erwiderte Sam. Wie vertraut Nusar ihm schon war. Als Layl ihn aus Paramythia befreit hatte, war Nusar nicht mehr als ein Tier gewesen. Und nun? Ein Freund. Ausgerechnet er, den die dunkle Layl mehr als alles andere begehrte. Ihre Schwester Sabah und der Weiße König hatten die Fabelwesen einst in Geschichten gesperrt, um sie nach einem verlorenen Krieg vor dem Tod zu bewahren. Doch Layl hatte heimlich nach einem Weg gesucht, ihren Geliebten Nusar aus den Worten zu befreien, die ihn wie Ketten gebunden hatten. Nusar, der sich einst Schwarzer König genannt hatte. Anführer eines Heeres, das vor vielen Generationen gegen Mythia gekämpft und verloren hatte. Nusar, der keine Erinnerung mehr an diese Zeit besaß und der nach den Jahren der Gefangenschaft zwischen den Seiten eines Buches auch seine Dunkelheit verloren hatte. Wer wäre Nusar, wenn er sie noch immer in sich spüren würde? Frag lieber nicht, Sam. Er war einst der Schwarze König. Der geflügelte Tod.
Der Morgen mischte schmutziges Grau in die Nacht, doch schon bald würde der Tag endgültig beginnen und Entscheidungen fordern. »Du willst Kanis Rat«, stellte Sam fest, als sie gemeinsam auf Kani und die steinernen Hexen zugingen. »Aber sie ist keine Hexe. Sie hat ihren geheimen Namen noch nicht gehört.« Ja, der geheime Name war der Schlüssel. Alle Fabelwesen besaßen ihn. Er gehörte untrennbar zu ihnen. Ein Name, der nur in ihrem Herzen stand. Es war nicht der, den sie offen für jeden trugen. Ihren geheimen Namen kannten sie alle nicht. Er war ihnen einst von der Wüstenhexe Thalia aus dem Herzen gelesen und in ein Buch geschrieben worden. Ein Buch, dessen Seiten in Paramythia geblieben waren. Las die besondere Stimme eines Mahfuz, eines weiteren Fabelwesens, sie einmal vor, so erlosch der Zauber, der die Wesen in die Bücher sperrte. Wurde er aber ein zweites Mal vorgelesen, so kehrten auch die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit zurück in die Welt. Das Herz entsann sich wieder der Gefühle, die es einst in sich getragen hatte. Hass oder Liebe? Sanftheit oder mörderische Wut? Alles kam dann zurück.
»Sie muss mir dennoch einen Rat geben. Wir haben noch nicht alle aus Paramythia befreit.«
Die Gefangenen der Bücherstadt. Tausende Geschöpfe. Kein Mensch hatte von ihnen gewusst. Zuletzt hatten Sam und die anderen dafür gesorgt, dass die Gefangenen in die Freiheit entlassen wurden. Asfura. Und auch Bahriden, die Wasserfrauen. Nushishans, die Menschen, die statt Beinen Pferdehufen trugen. Iblise, die rotgesichtigen, gehörnten Krieger. Nicht einmal Kanis Vater hatte das ganze Geheimnis Paramythias gekannt und es erst im Moment seines Todes gelüftet. Nun aber wussten die Menschen Bescheid. Die Fabelwesen waren zurück. Und die einstigen Gefangenen harrten jetzt an diesem Berg aus und warteten. Warteten darauf, dass Nusar, ihr König, entschied, was mit ihnen geschehen sollte. Er aber dachte offenbar daran, auch noch die letzten Gefangenen zu befreien. Mit Widerwillen erinnerte sich Sam an die Tür in Paramythia. Die dunkelsten Geschöpfe waren dort in Büchern gefesselt. Die treuesten Soldaten des Schwarzen Königs. »Du willst die Monster retten?«
»Sie sind wie ich«, erwiderte Nusar.
Sam war nicht sicher, ob er dem zustimmen konnte. »Du kannst nicht alleine gehen«, sagte er entschieden.
»Soll ich sie etwa zurück zu ihrem Gefängnis führen?« Nusar deutete über die Kante des von Säulen getragenen Platzes, den sie überquerten. Dorthin, wo unter ihnen die befreiten Fabelwesen schliefen.
»Nein«, sagte Sam. »Aber du hast nicht nur ein Volk, sondern auch Freunde.«
Der Blick des Asfur zeigte Sam, dass Nusar der Sinn dieses Wortes manchmal noch neu war. »Du meinst, ich soll mit dir und einer halben Hexe in das Herz Paramythias spazieren und dort gegen die antreten, die mich in eine Geschichte sperren wollen?«
»Oh, deine dunkle Geliebte will dich bloß auf den Thron setzen. Und bei deiner Aufzählung hast du die wirre Alte vergessen, die mit ihren Urinfässern durch die Stadt fährt. Und die Eule, die einer Sahira mit eigenen Händen den Hals umdrehen würde, wenn sie in einem der Bücher dort unten auch nur eine Seite verknickt.« Sam konnte nachvollziehen, dass Nusar mit dem Wort Freunde Probleme hatte. Er selbst war immer gut alleine zurechtgekommen. Es hatte niemanden gegeben, den er als Freund bezeichnet hätte. Und auch die Frauen, die in den gut fünfundzwanzig Jahren seines Lebens seinen Weg gekreuzt hatten, waren kaum mehr als kurzweilige Begleiterinnen gewesen. Doch nun drängten immer mehr Menschen und Fabelwesen in sein Leben. Kani, deren Kuss scheinbar eine Tür geöffnet hatte. Nusar. Umm, die Urinsammlerin aus der Universität von Mythia. Jacobus, der eulengesichtige Bibliothekar.
»Und du hast mich vergessen.«
Sam fuhr herum und erblickte Shagyra.
»Ihr wollt meinen Bruder und die anderen befreien«, sagte der Nushishan und sog die kalte Morgenluft so aufgeregt ein, als wollte er jeden Moment gen Mythia laufen.
Sein Bruder. Er war eines der dunklen Wesen hinter der Tür. Und der sanfte Shagyra hatte ebenfalls zu ihnen gehört. Er hatte zur Verwunderung aller eine finstere Vergangenheit. Als Nusar vor Generationen noch als Schwarzer König Tod und Vernichtung über Mythia gebracht hatte, war Shagyra sein ergebenster Diener gewesen. Der Nachtbote. Es hatten lediglich einige Andeutungen der drei Hexen am Ende des Platzes gereicht, um Shagyra das Grauen über sich selbst ins Herz zu pflanzen. Auch er wollte offenbar nach Paramythia zurückkehren und die retten, die hinter der Tür gefangen waren. Zumindest seinem Bruder, der ebenfalls dort war, wollte er die Freiheit bringen. Dabei kannte Shagyra nicht einmal dessen Namen. Oder vermochte nicht, sich an ihn zu erinnern. Shagyra besaß wie alle Fabelwesen, die ihren geheimen Namen kein zweites Mal gehört hatten, nur die Erinnerungen, die sie seit ihrer Befreiung sammelten. Und doch schien sich Shagyras Herz daran zu entsinnen, dass er einen Bruder hatte. Und er wollte ihn unbedingt retten. Wie töricht. Töricht, Sam?, fragte er sich. Was würdest du tun, wenn du Jamal von den Toten zurückbringen könntest? Alles.
»Ich werde niemanden zwingen, mir zu folgen«, sagte Nusar und musterte Shagyra, als suchte er in dem lang gezogenen, dunklen Gesicht des Nushishans etwas, das ihm aus einer längst vergangenen Zeit bekannt vorkam.
»Das macht es einfacher, dir freiwillig zu folgen.« Shagyra entblößte seine großen, strahlend weißen Zähne. Die Aussicht, seinen Bruder retten zu können, gab ihm offenbar einen Teil seiner Zuversicht zurück, die er verloren zu haben schien, als er von der eigenen mörderischen Vergangenheit erfahren hatte. Sam konnte kaum glauben, dass er neben den dunkelsten Geschöpfen stand, die Mythia vor einigen Jahrhunderten gekannt hatte. »In diesem Fall …« Sam verstummte, als sich unter den Fabelwesen am Hang des Berges Unruhe ausbreitete. Die Sonne malte ein helles Muster auf die zerklüfteten Felsen, doch dort, wo ein Pfad sich hinauf zur Spitze schlängelte, schienen die Schatten nicht weichen zu wollen.
Einige Iblise tauchten auf. Sie kletterten geschickt an den scharfkantigen Felsen vorbei auf Wegen, die anderen verwehrt waren, und sahen hinab. Von unten kam einer von ihnen und tauschte mit einem anderen einige Worte. Dieser machte sofort kehrt und erklomm mühelos den steilen Hang, ebenfalls ohne den angelegten Weg zu nutzen. Dann zog er sich an einem der Pfeiler in die Höhe, die den Platz trugen.
Das rothäutige Wesen kam schnell zu ihnen hinauf. Die leere Augenhöhle wies es als den Iblis aus, der in Paramythia rasch zum Anführer der Gehörnten geworden war. Die Schnittverletzung, die er sich beim Kampf gegen die Soldaten des Königs zugezogen hatte, bereitete ihm offenbar keine Beschwerden mehr. »Jemand kommt«, sagte er an Nusar gewandt, ohne Shagyra oder Sam auch nur zu beachten.
»Wer?«, fragte der Asfur.
Der Iblis nickte zu Shagyra. »Einer von dieser Art.«
»Es gibt Hunderte Nushishans dort unten«, meinte Sam. »Wir haben sehr viele befreit, weißt du?«
Der Gehörnte sah Sam an, als hätte er ein unerfreuliches Insekt entdeckt. »Das stimmt, Mensch.« Er sprach das Wort aus, als wäre Sam hier das ungewöhnlichste Geschöpf von allen.
Ja, weil es genau so ist, Sam. Du bist der einzige Mensch unter Tausenden Fabelwesen.
»Aber dieser eine kam nicht mit uns.«
»Ein Nachzügler?«, fragte Shagyra.
Das wäre möglich, dachte Sam. Immer wieder waren einige Fabelwesen zurückgeblieben und hatten die gewaltige Gruppe auf ihrem Weg durch die Wüste gezwungen, Rast zu machen. Meistens waren es Bahriden gewesen. Die Wasserweiber verfielen nicht nur allzu leicht jedem Menschenmann, dessen Weg sie kreuzten, sie waren auch unglaublich neugierig. Jedes Wasserloch, das sie passierten, war von ihnen genauestens inspiziert worden. Aber hatten die Fabelwesen tatsächlich einen Nushishan unbemerkt hinter sich gelassen, der nun endlich aufgeschlossen hatte?
»Vielleicht«, meinte Nusar und sog tief die Luft ein, als würde er eine Fährte aufnehmen. »Aber unwahrscheinlich.« Er wandte sich um. »Wer immer da auch kommt, sollte von uns begrüßt werden.« Mit diesen Worten entfaltete er seine gewaltigen Flügel und legte seine Arme um Sam und Shagyra. Dann schwang er sich mit ihnen empor.
Für einen Moment konnte Sam das ganze Tor zum Himmel überblicken. Die Häuser auf dem Platz und den darunterliegenden Berghang. Die Säulen, die das Ende des Weges markierten, der sich wie eine Schlange auf seiner steinernen Haut hinaufzog. Und Kani, die vor der furchtbaren Steinfreske stand. Die hässlichen Weiber mit dem gemeinsamen Schlangenkörper. Sie nannten sich ebenso schön wie weise. Nun, Schönheit lag offenbar allzu sehr im Auge des Betrachters.
Vielleicht hast du nur den falschen Blick, mein Hübscher, glaubte er in Gedanken jemanden sagen zu hören. Sam schüttelte verwirrt den Kopf, als müsste er ein Insekt von seiner Nase verscheuchen. Er wurde wohl langsam verrückt unter all den Fabelwesen. Selbst Kani war im Grunde kein Mensch. Er liebte sie dennoch.
Oh, das junge Glück, erklang die Stimme wieder. Aber falls du es einmal mit ein wenig Erfahrung versuchen willst … Der Satz endete im gackernden Lachen dreier Frauen. Sam starrte irritiert zu der Steinfreske hinunter. Himmel, dachte er bei sich, als er verstand, von wem die Worte stammten. Er hatte bislang nur davon gehört, dass Thalia zu anderen in Gedanken sprach. Sollte die weise Wüstenhexe so reden? Sie klang fast wie die alte Umm. Nusar sank tiefer, und Sam verlor Kani und die Hexenweiber aus den Augen. Sie schwebten bis zu den beiden Säulen, an denen der Weg endete. Wenigstens ein Dutzend Iblise hatten sich dort postiert. Der Einäugige erreichte die Säulen nur wenige Augenblicke, nachdem Nusar gelandet war.
Er und die anderen Gehörnten waren unbewaffnet. Doch das war kein Grund, sie zu unterschätzen. Sam hatte gesehen, welche Kraft in ihnen steckte.
Die Sonne schien nun hell auf den Weg, als wollte sie ihn für den, der da kam, golden färben. Dennoch überkam ihn ein Frösteln, als wäre die Nacht zurückgekehrt. Die Iblise verdeckten den Blick auf den Ankömmling einen Lidschlag lang. Doch dann traten sie zur Seite, und einen Moment darauf sah Sam den Nushishan. Verflucht, er kannte ihn. Unwillkürlich blickte Sam zu Shagyra. Wie ähnlich sie sich waren. Sam hatte den Nushishan, der wenige Schritte vor ihnen stehen geblieben war und sich misstrauisch umblickte, schon einmal getroffen. Zusammen mit Shagyra. In der Nacht, in der sie den Nushishan, ihren Freund, gerettet hatten. Damals war ihm die Ähnlichkeit nicht so deutlich aufgefallen. Kein Wunder. Er hatte in jenem Moment zum ersten Mal Nushishans gesehen. Doch die Erinnerung daran hatte er noch deutlich im Kopf. Im Lesekreis im Herzen Paramythias waren Kani und er auf die beiden Pferdemenschen gestoßen. Und während Shagyra bei ihnen geblieben war, hatte der andere einen falschen Schritt gemacht und war den Iblisen in die Hände gefallen. Das Bein, das er sich dabei gebrochen hatte, war offenbar wieder verheilt. »Ich glaube, du musst deinen Bruder nicht hinter der Tür suchen«, raunte Sam. »Er ist schon hier.«
Der Nushishan sah von einem zum anderen. Dann blieb sein Blick an seinem Bruder hängen. Shagyra wollte auf ihn zulaufen, doch Nusar hielt ihn zurück.
Für einen Moment verdüsterte sich das Gesicht des Ankömmlings, dann beugte er den Kopf. Als er ihn wieder hob, war seine Miene ernst und kalt. »Ich grüße Euch, Schwarzer König.«
»Es gibt hier niemanden, der diesen Namen trägt«, erwiderte Nusar wenig freundlich.
Das Gesicht von Shagyras Bruder färbte sich dunkel. »Es ist der Titel, den Ihr einst getragen habt.«
Hier stimmte etwas nicht, dachte Sam. Woher kam Shagyras Bruder? Wer hatte ihn befreit? Weshalb …
»Kommst du, dich uns anzuschließen?« In Nusars Stimme schwang dasselbe Misstrauen, das auch Sam empfand. Shagyra aber sah seinen Bruder sehnsüchtig an.
»Ich komme mit einer Botschaft.« Der Nushishan trat einen Schritt vor und stand nun genau auf der Schwelle des Weges, der die beiden Säulen passierte. Sofort erhob sich ein harter Wind, und Sam glaubte, Worte in dem Rauschen zu hören. Wir haben dich an unserem Trugkraut vorbeigelassen, weil wir die Nachricht in dir fühlen. Du darfst sie überbringen. Doch weiter kannst du nicht gehen.Dieser Ort ist dir versperrt.
»Von wem stammt diese Botschaft?« Nusar gab sich nun keine Mühe mehr, seinen Widerwillen zu verbergen.
»Von Eurem Bruder.«
Sam sah zu Nusar und versuchte, in dem Gesicht mit den völlig weißen Augen zu lesen. Was fühlte er? Es lag noch nicht lange zurück, dass Nusar erfahren hatte, wer sein Bruder war. Der Weiße König.
»Ich rieche den Gestank der Nacht an dir.«
Die Augen des Nushishans blitzten wütend auf. »Es ist ein Duft, den auch Ihr an Euch tragt. Auch Ihr gehört der Nacht.«
»Ich gehöre niemandem«, grollte Nusar, ließ Shagyra los und trat auf dessen Bruder zu. »Nenn deinen Namen.«
»Ich bin der Nachtbote.«
Shagyra stieß ein gequältes Stöhnen aus, das klang, als wäre ihm eine Klinge ins Herz getrieben worden.
»Dann war sie es, die dich befreit hat.«
Sam wusste, wen Nusar meinte. Layl, die dunkle Sahira.
»Sie sorgt sich um Euch«, sagte der Nachtbote.
»Ich bin sicher, sie sorgt sich nur um sich selbst«, gab Nusar zurück. »Wie aber lautet die Botschaft meines Bruders?«
»Er wird Euch und die Befreiten aus Paramythia in seiner Stadt willkommen heißen. Der Weiße König bietet Euch Freiheit und Frieden.«
Sam blickte sich um. Die Iblise lauschten aufmerksam jedem Wort. Und in einiger Entfernung drängten sich einige Dutzend Fabelwesen den Weg hinauf. Ein leises Wispern umspielte jetzt den Berg. Vermutlich wanderten die Worte, die hier gesprochen wurden, bereits hinab bis an den Fuß des Berges.
»Bei unserem letzten Treffen hat er mir den Krieg erklärt«, entgegnete Nusar. »Und Freiheit finden wir auch hier in unserer Stadt. Ich lehne dieses Angebot ab.«
Der Nachtbote blickte sich abfällig um. »Eine Stadt nennt Ihr diesen Haufen dreckiger Steine? Und Freiheit diese armselige Existenz?«
»Das sind wenig höfliche Worte für einen Boten, selbst wenn er der Dunkelheit dient.« Nusar trat nun zu ihm hin.
Der Nachtbote wich zischend einen Schritt zurück und senkte den Kopf wie eine Katze vor dem Sprung.
»Aber sie klingen in meinen Ohren mehr wie die Wahrheit als die Lügen meines Bruders und seiner finsteren Hure. Was hat er dir für Worte mitgegeben, falls ich sein sogenanntes Friedensangebot nicht annehme?«
Nusars Gegenüber richtete sich wieder auf. »Er wird alle, die seine großzügige Offerte ablehnen, wieder binden lassen. Die geheimen Namen befinden sich in seiner Obhut. Und die Geschichten, in die ihre Träger eingesperrt werden, sollen dunkler als die tiefste Nacht sein.«
»Dunkler als die Nacht, in die du noch immer gesperrt bist?« Nusar lachte freudlos. »Ich bleibe dabei und lehne ab. Doch was die anderen betrifft, so will und werde ich sie nicht zwingen, mir zu folgen. Geh, Nachtbote. Berichte meinem Bruder oder der Sahira oder wem auch immer, dass ich nicht zurückkehren werde. Weder will ich meinem Bruder dienen, noch erneut in ein Buch gesperrt werden oder den Titel des Schwarzen Königs wieder annehmen.«
Der Nachtbote sah Nusar feindselig an. »Ich werde die Nachricht überbringen. Doch ihr alle hier habt nicht viel Zeit. Der Weiße König erwartet euch in seiner Stadt, um den Frieden zwischen Menschen und Fabelwesen zu schmieden. Ihr habt eine Woche, um zurückzukehren.« Er sah sich noch einmal abfällig um. »Und länger werdet ihr hier auch kaum überleben ohne Wasser und Nahrung für so viele. Wahrscheinlich werden die Iblise als Erstes den Hunger nicht mehr aushalten. Und die Bahriden werden ihr Futter sein. Dann …« Der Nachtbote verstummte, als er von einem Stein am Kopf getroffen wurde. Überrascht stellte Sam fest, dass Shagyra ihn geworfen hatte.
»Du hast den König gehört«, rief der Pferdemensch. Sam konnte wütende Verzweiflung in seiner Stimme hören. »Geh nun, Bruder. Und richte deinem Herrn eine weitere Botschaft aus. Sag ihm, dass ich einen Weg finden werde, die Dunkelheit aus deinem Herzen zu tilgen. Dass ich deinen geheimen Namen finden und dich in eine Geschichte lesen lassen werde. Und dann, wenn du wieder aus ihr befreit bist, wird die Nacht nicht länger in dir nisten. Sag ihm das. Sag ihm, dass wir den Krieg nicht suchen. Aber dass wir ihn gewinnen werden.«
Einen Augenblick standen sich die Brüder wortlos gegenüber. Es schien, als würde Shagyra in ein finsteres Spiegelbild blicken.
»Du hast den Mund des Königs gehört, Nachtbote. Nun geh. Und erinnere den Weißen König, dass nicht nur er eine Sahira an seiner Seite hat.«
Shagyras Bruder beugte höhnisch den Kopf. »Das werde ich. Doch wer weiß, wie lange Ihr noch ihren Rat hören werdet.« Er schlug sich die Hand vor den Mund, als wollte er die Worte zurückholen. Dann sah er sie der Reihe nach an. »Der Weiße König wird alles erfahren. Alles. Sollte es zum Krieg kommen, werdet ihr verlieren. Und die ewige Nacht wird aufziehen.«
Sam hatte seinem Freund vom Gesicht ablesen können, wie sehr es ihn schmerzte, seinen Bruder wieder ziehen zu lassen. Auch wenn sich dessen Herz an die eigene nachtdunkle Vergangenheit erinnert hatte. »Wieso?«, fragte er mehr sich selbst, als an Nusar gewandt.
Es war dennoch der Asfur, der die Antwort gab. »Weshalb ich ihn gehen ließ?«, meinte er und sah noch immer den Weg hinab, auf dem der Nachtbote die Spitze des Berges wieder verlassen hatte, auch wenn der Nushishan nun außer Sicht war. »Weil wir ihn gegen seinen Willen festgehalten hätten. Und dies wäre ebenso ein Unrecht wie die Gefangennahme in den Worten.«
»Das mag sein«, erwiderte Sam und warf einen Blick auf Shagyra, der sich abgewandt hatte und mit versteinerter Miene in den Himmel sah, über den einige Asfura glitten.
»Er ist gefangen«, sagte der Nushishan. »Von Layl. Sie hat offenbar die geheimen Namen in ihren Besitz gebracht. Oder zumindest einige von ihnen. Und einen der Mahfuz gefunden, der nicht nur die Gefängnisse aus Worten geöffnet, sondern den Gefangenen auch ihre Vergangenheit wiedergegeben hat. Immer wieder Layl. Sie …« Shagyra stockte mit einem Mal. Tief sog er die Luft ein und verzog das Gesicht, als wäre da ein Duft, der ihm nicht gefiel.
»Ich rieche es auch«, stieß Nusar hervor. Er entfaltete seine breiten Schwingen, kaum dass er losgelaufen war. Dann stieß er sich in die Luft und schlug kräftig mit seinen Flügeln, die ihn hinauf zu dem erhöhten Platz trugen. Die Iblise, die bei ihnen standen, waren längst in Bewegung geraten. Einer kletterte schon an einer Säule empor, um Nusar zu folgen, und die Übrigen machten Anstalten, es ihm gleichzutun.
»Nehmt uns mit«, rief Sam dem Einäugigen zu und hielt ihn am Arm fest. Dass es unter Umständen tödlich sein konnte, einem Iblis Befehle zu erteilen, wurde ihm erst bewusst, als er den in Jagdfieber getränkten Blick in dem verbliebenen Auge erkannte.
Der Iblis aber störte sich kaum an Sams Hand. Er packte ihn mit einem Arm grob wie ein Kind, das nicht mehr laufen wollte, und sprang dann auf eine der Säulen zu.
Sam hasste es, von einem Fabelwesen getragen zu werden, gleich ob sie mit ihm herumflogen oder ihn auf eine Kletterpartie mitnahmen. Verlasse dich nur auf deine eigenen Beine. Eine der Weisheiten seines Vaters. Vicente, der Fürst der Diebe Mythias, liebte es einfach, alle um sich herum mit seiner Lebensklugheit zu beglücken. Vor allem bekamen sie die Mitglieder seiner Organisation zu hören, die er Ikariq getauft hatte, was in der Sprache der Wüstenvölker Elstern bedeutete. Mit dieser Weisheit machte er einem jungen Dieb stets klar, dass man im Ernstfall keinem trauen durfte. Er verknüpfte sie gerne mit dem Zusatz: Und auf den Fürsten der Diebe. Dabei spuckte er jedes Mal sein Lachen so ungestüm in die Luft wie ein Drache sein Feuer.
Aus den Augenwinkeln sah Sam, dass ein anderer Iblis seinen Arm um Shagyra legte. Sie holten schnell auf. Trotz seines Vorsprungs war Nusar nicht weit vor ihnen, als die Iblise und ihre beiden Begleiter den Platz erreichten.
Sam schlug den Arm des Einäugigen weg und lief los, während sich die anderen noch umsahen. Einen Augenblick später war auch Shagyra unterwegs. Sich beim Rennen zu orientieren war eine Kunst, die er in vielen Jahren zur Meisterschaft gebracht hatte. Ein Dieb, der auf der Flucht nicht klar denken und die richtigen Entscheidungen treffen konnte, wurde nicht sehr alt. Doch wer weiß, wie lange ihr noch ihren Rat hören werdet? Was hatte der Nachtbote damit gemeint? Und was hatten Nusar und Shagyra gewittert? Nur die Fährte des Nachtboten, die noch in der Luft gehangen hatte oder …
Sam erkannte Kani. Vor der Steinfreske. Seine Aufmerksamkeit aber wurde an den Himmel gelenkt. Die Asfura trieben noch immer darüber. Nun aber waren sie in Aufruhr. Witterten sie ebenfalls die Gefahr? Sam nahm wahr, dass die anderen ihm folgten. Sie schlossen schnell zu ihm auf, während Sam an den Himmel deutete. Da war … Unruhe. Er wusste nicht, wie er es besser beschreiben sollte. Die Luft war in Bewegung geraten. Eine Stelle des Himmels war nicht so, wie sie sein sollte. Es schien, als würde dort ein kleiner Sturm toben, dem die Asfura ausweichen mussten. Kaum sichtbar, wenn man nicht danach Ausschau hielt. Was war das?
Nusar stieß sich in die Luft, während Shagyra an Sam vorbeirannte. Der Sturm, oder was immer das da auch war, kam schnell auf das Tor zum Himmel zu. Als spürte er, dass er bemerkt worden war, beschleunigte er wie ein Pferd, das vom Trab in den Galopp wechselte. Der Sturm wurde stärker. Die Asfura in seiner Nähe wurden beiseitegewirbelt. Ihre Flügel verloren den Halt in der Luft, und sie begannen zu trudeln. Selbst Nusar vermochte nicht, sich ihm zu nähern. Wohin wollte er?
Zu Kani.
Die Antwort war in Sams Kopf erklungen. Thalia. Noch ehe Sam auch nur den halben Weg zurückgelegt hatte, erreichte der Sturm den Platz. Die Luft verdichtete sich vor seinen Augen, und dann erkannte er einen Körper in dem Chaos. Der Sturm gebar einen Arm. Ein Bein aus Luft. Einen Kopf, der sich hob. Und der Kani ansah. Das Wesen ähnelte einem Menschen. Die Haut aber war so grau wie ein trüber Herbsthimmel, die langen Haare weiß wie Wolken.
Noch wenige Schritte, bis Shagyra bei ihm war. Schneller, Sam. Er glaubte, Augen zu erkennen. Einen Blick, der die Lust am Töten zeigte. Hinter ihm näherte sich Nusar mit wilden Flügelschlägen.
Kani aber rührte sich nicht. Verflucht, schlief sie? Sie stand unbewegt vor der Steinfreske, während der Sturm endgültig Gestalt annahm. Sam kam unwillkürlich ein Märchen in den Sinn, das er fast vergessen hatte. Ein Märchen, das er als Kind gehört hatte. Verdammt, Sam. Kani wird angegriffen, und du gehst in deinen Erinnerungen spazieren? Es war gleich, wer oder was das da war. Es wollte Kani töten.
Endlich war der Nushishan da. Ungestüm sprang er dem Sturmwesen entgegen. Doch ehe er es erreichen konnte, löste sich das Geschöpf einfach auf, und Shagyra stürzte mit einem Schrei vom eigenen Schwung getrieben über die Kante des Platzes.
Sam spürte die Angst um seinen Freund in sich aufsteigen. Nusar war nicht mehr weit entfernt und tauchte in die Tiefe.
Der Sturm aber gab sich wieder einen Körper, direkt vor Kani. Versuchte er sie zu töten? Sie war eine Sahira. Oder, dachte Sam, während er den Griff seiner silbernen Waffe aus der Tasche seines Gewands zog, er will sie entführen. Gleich was er war, diese Klinge konnte ihn töten. Sie hatte einst Sabah gehört. Und Sam war sicher, dass es kein Wesen gab, das ihr widerstehen konnte.
Kanis lange, dunkle Locken wirbelten durch die Luft, doch sie schien es nicht zu bemerken. Einige Asfura schossen auf das Wesen zu, doch einer der Iblise war noch vor ihnen bei dem Angreifer. Er hielt eine Klinge in der Hand. Sam erkannte sie als eine Waffe aus Paramythia. Vermutlich hatte der Iblis auch dort schon gekämpft und sie einem der Wächter während der Flucht entrissen. Iblise waren ebenso starke wie grausame Kämpfer. Menschen vermochten ihnen wenig entgegenzusetzen. Doch das Sturmwesen war kein Mensch.
Der Iblis hieb mit seiner Klinge nach einem der Arme, mit denen das Geschöpf nach Kani griff. Für die Iblise schien Kani fast noch bedeutender zu sein als Nusar. Vielleicht spürten sie die Sahira in ihr.
Die Klinge traf.
Und trennte dem Geschöpf eine Hand vom Arm.
Es … schrie. Wie das wütende Tosen eines Orkans klang es. Es ließ von Kani ab. Der Arm aber kehrte nur einen Augenblick später wieder an seine ursprüngliche Stelle zurück, und der Angreifer schlug nach dem Iblis. Dort, wo der Sturm die blutrote Haut traf, riss sie auf. Der Anblick zog Sam den Magen zusammen. Noch während der Iblis zu Boden fiel, war einer der Asfura bei ihm. Er hielt einen Nushishan im Arm.
Nusar.
Er landete direkt vor dem Sturmwesen. Und der Angreifer erstarrte. »Herr«, rief er, und Sam glaubte Glück in der Stimme zu hören.
Dann war Sam endlich da.
Seine Wut brannte so heiß wie noch nie. Paramythia hatte mehr als einmal versucht, ihm Kani zu nehmen. Und dieses Wesen kam aus der Bücherstadt. Dessen war Sam sich sicher.
Die Klinge in seiner Waffe schmeckte die Gefahr und fuhr heraus. Silber traf Luft. Und was immer da auch im Herzen des Sturms lebte, riss auseinander. Sam wurde von den Füßen gefegt, schlug hart mit dem Kopf auf dem Boden auf, und alles um ihn wurde dunkel.
*
Sam musste einen Moment lang die Besinnung verloren haben, denn als er wieder die Augen aufschlug, kniete Nusar über ihm und blickte ihn prüfend an. Mit Mühe gelang es Sam, sich auf die Beine zu stemmen.
»Du solltest liegen bleiben«, ermahnte ihn Nusar, doch Sam stolperte schon auf Kani zu. Sie stand noch reglos im Angesicht der drei Hexenweiber.
Er rief ihren Namen, doch sie wandte sich nicht um. Starr und steif stand sie da, als wäre sie ebenso aus Stein wie Thalia. Er trat auf sie zu und glaubte, in den Augen der drei Weiber ein ärgerliches Funkeln zu entdecken.
Sie muss zuhören, kleiner Mensch, erklang es in seinem Kopf. Die Stimme einer alten Frau. Eines der drei Weiber im Stein hatte gesprochen. Vorbereitet werden für die, die sie sein kann. Da war etwas in der Stimme, das Sam nicht gefiel. Eine leichte Drohung. Es war ein Diener der Nacht, hörte Sam die Stimme in seinem Kopf. Ein Ruh. Selbst für uns ein seltener Anblick.
»Selten oder nicht ist mir gleich«, grollte Sam. »Ich nehme Kani mit und beschütze sie.« Er wollte sie packen, doch in diesem Moment erwachte der Baum zum Leben, der hinter der Freske aus dem Boden wuchs. Er begann mit den Ästen zu schlagen, kaum dass Sam in die Nähe der Hexen und Kani kam. Die Triebe peitschten umher, als versuchten sie, ihn zu treffen. »Was soll das?«, rief er laut.
Sie ist noch nicht bereit. Die Dämmerung muss erwachen.
»Lasst sie in Ruhe!«, schrie Sam, dann traf ihn ein Ast im Gesicht. Er spürte den Schmerz, als er von den Füßen gerissen wurde. Das eigene Blut rann ihm aus dem Mund. Neben ihm versuchte Shagyra ebenfalls, Kani zu packen. Der Nushishan war schneller als eine Raubkatze, doch auf der kurzen Strecke vermochte selbst er nicht genug Tempo aufzunehmen. Er wich gerade noch einem der Äste aus, doch ehe seine Finger Kani berühren konnten, hatte ihn ein weiterer Trieb erwischt, und er fiel wenige Schritte von Sam entfernt zu Boden.
Die Äste des Baums verflochten sich ineinander und bildeten eine Wand um Kani und Thalia. Silbergraue Blätter sprossen und verbargen sie vor Sams Blicken. Er schrie ihren Namen, während er sich erhob.
Nusar, der unbewegt zugesehen hatte, strich mit seinen Krallen über die Äste. »Ihr hättet euch auch in jener Nacht so verteidigen sollen, als euch der Tintenjäger die Zungen herausgerissen hat«, meinte er. Offenbar verstand nicht nur Sam die stummen Worte. Nusar versuchte, einen der Äste fortzudrücken. Doch nicht einmal er vermochte die Triebe zu bewegen.
Wir haben einen Feind unterschätzt. Das passiert uns nicht noch einmal, farbloser König.
Farbloser König. Ein passender Name, dachte Sam, während er sich erhob
»Wenn ihr Kani etwas antut, dann …«, begann Nusar. Doch wieder erklangen Worte, die keine Zunge geformt hatte.
Wir geben ihr etwas, das ihr gestohlen wurde.
»Und was?«, rief Sam aufgebracht. All die Wut auf ihre Feinde und die Sorge um Kani ließen sein Herz in diesem Moment überlaufen.
Ihr Leben.
Die Worte verklangen in Sams Kopf, und es folgten keine weiteren mehr, gleich was er den Hexen auch entgegenschrie. Er wusste nicht, wie lange er in der unerfüllten Hoffnung, dass Kani freigegeben würde, vor der Wand aus Ästen stand. Er schrak auf, als er Shagyras Hand auf der Schulter fühlte. Nusar und die Iblise waren fort. Sam hatte sie nicht einmal weggehen hören. Nur Shagyra war bei ihm geblieben.
»Komm«, sagte sein Freund. »Sie ist nicht in Gefahr.« Shagyra hielt die Nase in den Wind, als könnte er riechen, ob Kani bedroht wurde.
Für einen Moment war Sam versucht, seine silberne Klinge einzusetzen. Die Waffe, die Sabah gefertigt hatte, um sich im Notfall selbst und damit auch ihrer Schwester das Leben aus dem Leib zu schneiden, würde sicher auch Thalia einige Schmerzen bereiten.
Denk nicht einmal daran, du Hübscher, hörte er in seinem Kopf. Wir würden es hassen, wenn unser Baum dir dein schönes Gesicht mit einem Muster verzieren müsste.
Die Waffe schwang er dennoch drohend. Seine Hoffnung, dass die Klinge in dem Baum eine Gefahr für Sam erkennen würde, erfüllte sich jedoch nicht. Sie war wieder eingefahren. Er hielt sie indes drohend in die Höhe, auch wenn er nicht wusste, ob die Hexen ihn überhaupt sehen konnten. »Ihr werdet ihr nichts antun«, rief er und hoffte, dass seine Stimme nicht allzu verzweifelt klang.
Oh, sie klingt mehr als verzweifelt.
Durch die Wand aus Ästen erkannte Sam wenigstens die mittlere Sahira mit dem schmalen Kopf. Sie zwinkerte ihm mit dem trüben Auge zu. Das andere funkelte wie ein Edelstein. Aber keine Angst. Geh, kleiner Dieb. Du hast einen interessanten Duft. Du bist der, der ein Versprechen auf Veränderung bringt. Du musst hier nicht ausharren. Wir kümmern uns um deine Freundin. Bereiten sie darauf vor, sie selbst zu sein. Du aber hast andere Aufgaben.
Nie hatte sich Sam machtloser gefühlt.
»Wir sollten Nusar folgen«, sagte Shagyra zu ihm. »Er braucht uns.«
Ja, ständig brauchte ihn jemand. Und er wollte nur bei Kani sein. Dennoch nickte Sam. Er würde sich töricht vorkommen, wenn der Baum sie irgendwann freigab und er Kani erzählen musste, dass er die ganze Zeit wie ein kleiner Hund auf sie gewartet hatte.
Sam machte kehrt und folgte dem Nushishan, auch wenn es ihm schwerfiel. Vielleicht hatte er etwas in der Stimme Thalias gehört, das ihn beruhigte. Es schien wirklich, als wollten die Hexen Kani kein Leid zufügen. Doch er würde zurückkehren. Und wenn sie dann nicht frei war, würde er sie aus den Ästen herausschneiden.
Ein Mann mit Temperament. Unsere Schwester hat wirklich Glück.
*
Auf dem Weg hinab sprach einzig Shagyra. Sam hörte nur mit einem Ohr zu. Tief war er in Gedanken versunken. Es gab zu viel, das ihm im Kopf herumging. Vor allem Kani. Aber auch Paramythia. Layl. Der Ruh. Sam konnte sich nur mit Mühe an ein Märchen über diese Wesen entsinnen. Was hatten die drei Hexen noch gesagt? Selbst für uns ein seltener Anblick. Kein Wunder, dass Sam dieses Wesen nahezu unbekannt war. Es stammte sicher aus dem Raum hinter der Tür in Paramythia. Aus dem Raum, in dem Nusars dunkelste Krieger gefangen gehalten wurden. Ein ehemaliger Diener des Schwarzen Königs. Was beherbergte die Bücherstadt noch für Geschöpfe?
Den einäugigen Iblis nahm Sam erst wahr, als sie den Fuß des Berges erreichten. Wann er sich ihnen angeschlossen hatte, vermochte Sam nicht zu sagen.
»Layl«, Shagyras Stimme klang ungewohnt dunkel, »muss sterben.«
»Jemandem den Tod zu bringen, der unsterblich ist, scheint nicht ganz einfach«, meinte Sam. »Auch wenn ich als Dieb nicht viel von diesem Geschäft verstehe.«
»Vielleicht ist es sogar ganz einfach«, erwiderte Shagyra. »Deine Waffe könnte es. Wurde sie nicht geschaffen, um Sabah und damit Layl das Leben aus dem Leib zu schneiden?«
»Aber wer soll die Klinge führen?«, fragte Sam. »Zaubern können sie beide. Und sterben will sicher keine. Sabah wird nicht freiwillig in den Tod gehen, nur weil wir es für eine gute Idee halten.«
Shagyra stieß energisch den Atem aus. »Ich wäre schnell genug.«
»Du wärst schnell tot«, sagte der einäugige Iblis.
Sam fragte sich, wo die übrigen Gehörnten waren. Vielleicht verfolgten seine Brüder den Nachtboten. Warum war er wohl hier gewesen? Um sie abzulenken, damit dieser Ruh leichter an Kani herankam? Falls ja, hätte es beinahe geklappt.
»Ich habe sie in jener Nacht in dem Garten gesehen, als sie ihre Magie beschworen hat. Zu mächtig für dich, kleines Pferd.«
Sam musste Shagyra festhalten, sonst hätte sich der Nushishan wohl auf den Iblis gestürzt. Er funkelte den Iblis wütend an. Verdammt, sie standen alle auf derselben Seite. Layl und der Weiße König waren ihre Feinde. Sie hatten keine Zeit, sich gegenseitig zu bekriegen. Wie hieß der Einäugige noch? Sam konnte sich nicht erinnern, ob er seinen Namen gehört hatte.
»Lass ihn, Malak.«
Sam wirbelte herum. Nusar kam auf sie zu. Seine Stimme klang streng wie die eines Vaters, der seine Kinder zurechtwies.
Wieso kannte er den Namen des Iblis? Sam hatte mitbekommen, dass er schon viele der Fabelwesen mit ihren Namen ansprach. Mit den Namen, an die sie sich erinnerten. Er war wirklich ihr König, dachte Sam bei sich. Er sorgte sich um sie.
»Es gibt einen besseren Weg«, sagte Nusar. »Mein Bruder hat sich offenbar mit Layl verbündet. Hinter dem Rücken Sabahs. Nur sie stand seinem Plan im Weg, wieder als der Weiße König von damals über die Asfura, Iblise und alle anderen Fabelwesen zu herrschen. Vermutlich täuscht er sie nun. Erzählt ihr Lügen, um sie glauben zu machen, ihre Schwester wäre die alleinig Schuldige. So zumindest würde ich es machen, wenn ich an seiner Stelle wäre. Sicher glaubt Sabah, dass Layl alles tun würde, um mich zurückzubekommen. Und versucht daher, das Schlimmste zu verhindern.«
»Sie irrt nicht«, meinte Sam. »Liebe. Oder Rache. Das eine reimt sich allzu schnell auf das andere, wenn Herzen enttäuscht werden.«
Nusar schenkte ihm ein Lächeln, das seine nadelspitzen Zähne zeigte. »Aber sie ist nicht die Einzige, deren Liebe verraten wurde. Wir wissen, dass mein Bruder einst Sabah liebte. Und sie ihn. Wenn er also das Weib gewechselt hat, gibt es noch eine Enttäuschte in diesem Spiel.«
»Ich verstehe«, sagte Malak. »Der Feind meines Feindes ist mein Freund. So sagt man unter uns Iblisen. Zumindest erinnere ich mich dunkel an solch eine Weisheit, auch wenn ich nicht weiß, ob sie aus meinem echten Leben oder der verfluchten Geschichte stammt, in der ich gesteckt habe.«
Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Eine Weisheit, die Vicente unbedingt hören sollte, dachte Sam bei sich.
»Ich würde eher sagen, die betrogene Frau meines Feindes ist sein Ende«, erwiderte Nusar, und sein Lächeln zog sich in die Breite. Er führte sie zu einem Platz am Rand des Berges. Gut zwei Dutzend Fabelwesen hatten sich dort versammelt. Sie vertraten offenbar all die Arten von Geschöpfen, die Sam und die anderen aus Paramythia befreit hatten. Nur die Karkadan, die vierbeinigen Kolosse mit dem spitzen Horn auf der Nase, waren nicht vertreten. Kein Wunder, es waren die einzigen Wesen aus den Büchern, die nicht sprechen konnten.
Der Gedanke, Kani dort oben zu lassen, versetzte Sam einen Stich. Bereiten sie darauf vor, sie selbst zu sein. Sam hatte die Worte der Hexen noch im Ohr. Würde Kani ihn noch lieben, wenn sie sich entschied, den geheimen Namen zu hören, der ihr mit unsichtbarem Blut auf den Arm geschrieben war? Wenn sie tatsächlich zu einer Sahira wurde? Er wusste es nicht. Und er wusste nicht, wie es eigentlich mit ihnen allen weitergehen sollte. Für sie alle war es ein langer Weg gewesen. Und viele der Fabelwesen schienen nicht in der echten Welt angekommen zu sein. Einige blickten sich noch immer so fragend um, als erwarteten sie, dass sie im nächsten Moment aus einem Traum aufwachen würden. Vermutlich verstand kaum einer von ihnen, was wirklich geschehen war.
Die Tausenden Geschöpfe, die sie befreit hatten, mochten keine Erinnerung an die Leben haben, die sie einmal geführt hatten. Doch sie alle wurden von ihrer eigenen Art angezogen. Während die Asfura die verlassene Stadt oben auf dem Tor zum Himmel für sich beanspruchten, hatten die anderen Völker in und um den Berg herum ihre Lager errichtet. Die meisten Nushishans waren auf den einzigen Flecken in dieser von Wüstensand und Stein beherrschten Welt gezogen, auf dem ein wenig halbverdorrtes Gras wuchs. Auch wenn die kleine Hochebene nicht besonders bequem aussah, die Nushishans hatten sich auf ihr wie eine Herde Pferde niedergelassen.
Die Bahriden hingegen hatten zwischen den Bergen einen schmalen Fluss entdeckt, der von mehreren kleineren Wasserläufen gespeist wurde, die alle ihren Ursprung in den Dutzenden Bergmassiven hier nahmen. Sam hatte bis auf eine Bahride, die bei Nusar gestanden hatte, seit Tagen keine mehr gesehen. Kunststück. Sie vermochten sich unsichtbar zu machen, und Sam erwischte sich immer wieder dabei, dass er sich misstrauisch umsah, wenn er irgendwo ein Geräusch hörte, das er niemandem zuordnen konnte.
Den seltsamsten Platz aber hatten die Iblise für sich entdeckt. Der Berg, dessen Spitze die Stadt der Flügelmenschen trug, war an einer Seite von zahllosen Höhleneingängen und schroffen Vorsprüngen übersät. Vermutlich hätte nicht einmal der geschickteste Steinbock dort einen Weg hingefunden. Die Iblise aber bewegten sich so flink über die Seite, als hätte jemand eine Straße für sie angelegt.
Alle verschieden. Und doch band sie nicht nur das gemeinsame Schicksal des Verlorenseins aneinander. Sie alle folgten Nusar. Denn auch wenn er, wie sie alle, keine Erinnerungen mehr an sein altes Leben hatte, war der König in ihm für jeden klar zu erkennen. Selbst für Sam. Und wir lebten glücklich um den Berg herum bis an das Ende unserer Tage, dachte er bei sich. »Wir werden hier nicht ewig bleiben können«, meinte Sam laut.
Der Asfur nickte. »Ja. Wohl nicht einmal mehr für eine kleine Weile. Der Nachtbote hatte in einem Punkt recht. Die Vorräte werden bald zur Neige gehen. Wir werden einige Entscheidungen zu treffen haben. Auch über das Angebot meines Bruders, des Weißen Königs, gleich für wie vergiftet ich es halte.«
»Du suchst eine Heimat für sie.« Sam sah in die Ferne. Um sie herum reckten sich noch weitere Bergspitzen in die Höhe. Ein Wald aus steinernen Gipfeln. Und zwischen ihnen trieben Geschöpfe, die selbst unter den Fabelwesen wie Wunder wirkten. Riesenhafte Leiber, die über den Himmel glitten. Kani hatte ihm ihre Namen zugeraunt, als Sam sie das erste Mal gesehen hatte. Wolkenwale. »Hier ist es ein wenig ungemütlich«, meinte Sam.
»Keiner weiß, wo sie alle einmal gelebt haben«, erwiderte Nusar. »Nur, dass wir Asfura hierhergehört haben, scheint sicher. Doch mehr wissen wir nicht. Und die drei Hexen aus Stein haben bislang geschwiegen. Ich war einmal der Schwarze König«, sagte der geflügelte Mann. Er sprach den Namen aus, als sträubte sich seine Zunge, ihn zu formen. »Aber diesen Titel will ich nicht mehr. Und wer sonst kann ich sein, wenn ich wieder herrschen sollte?«
Sieh mal einer an. Er fürchtet sich vor sich selbst, dachte Sam. »Du wirst der sein, dem sie folgen. Denn sie folgen dir schon jetzt. Du bist längst ihr König.« Sieh mal einer an, Sam, und du bist sein Löwe. Die Löwen des Königs. So nannten sich die Wächter Mythias. Nach dem Tod Jamals hatte Sam keinen anderen Titel als diesen tragen wollen. Er hatte ein Wächter werden wollen, um dem Leben als Dieb davonzulaufen. Um dem Schmerz zu entgehen, der es durchdrang. Und nun war er tatsächlich ein Löwe geworden.
»Ich habe einige der Befreiten zu mir gerufen, die für ihre eigenen Völker sprechen«, sagte Nusar und deutete zu den Geschöpfen auf dem Platz am Rand des Berges. »Wir werden reden. Und dann entscheiden.«
Reden. Sam hatte das Gefühl, die Zeit würde ihnen knapp. Es gefiel ihm nicht, herumzusitzen. Nicht, wenn etwas mit Kani geschah, das er nicht recht verstand. Unwillkürlich sah Sam hinauf. Die Spitze des Berges wurde von einigen tiefliegenden Wolken verdeckt. Als wollten die drei Hexen verhindern, dass jemand ihnen dabei zusah, wie sie Kani darauf vorbereiteten, eine von ihnen zu werden.
»Sie ist in Sicherheit«, sagte Nusar, als hätte er ihm die Sorgen vom Gesicht abgelesen. Der Asfur sog tief die Luft ein. »Keine Bedrohung«, sagte er so bestimmt, als hätten die Hexen ihm ihr Wort darauf gegeben.
»Das riechst du?« Sam stieß wütend die Luft aus. Was sollte er nun tun? Er war … was? Ein Dieb? Nicht mehr. Ein Wächter? Nie wieder. Ein Held? Das Wort fühlte sich wie ein schlechtsitzendes Kleidungsstück an. Sam seufzte und sah zu Shagyra. »Komm. Ich will mich hier ein wenig umsehen und wäre froh, wenn du mich begleitest.« Und an Nusar gewandt fügte er hinzu: »Ich hoffe, ihr redet nicht allzu lange. Da liegt etwas in der Luft. Etwas, das sich wie ein Sturm anfühlt, der an Kraft gewinnt.«
»Ja«, erwiderte Nusar. »Das ist der Krieg, Sam.«
*
Sam fühlte sich furchtbar unnütz. Die Angelegenheiten der Fabelwesen erschienen ihm unwichtig, nun da sich seine Gedanken allein um Kani drehten. Wenigstens schien sie in Sicherheit. Nicht nur der Baum schützte sie. Nusar hatte auch einige Wachen nach oben geschickt.
Sam ging wohl eine Stunde lang mit Shagyra am Lager der Fabelwesen entlang, das sich um den Berg wand. Er wollte Ausschau nach weiteren Dienern der dunklen Sahira halten. Doch bald schon wurde ihm klar, dass es andere Augen gab, die sich weitaus besser darauf verstanden als seine eigenen. Die Asfura waren ausgeschwärmt und zogen über den Himmel. Der Anblick wäre atemberaubend gewesen, wenn Sam dafür in diesem Moment einen Sinn gehabt hätte. Kein Feind würde sich zwischen den Wolken nähern können, ohne von ihnen entdeckt zu werden. Am Boden hielten die Nushishans Wache. Sam hörte das Donnern ihrer Hufe, als sie Späher in die Berge schickten, um nach möglichen Eindringlingen zu suchen.
Shagyra war zu höflich, um ihn darauf hinzuweisen, wie sinnlos es war, so zu tun, als könnten sie beide mehr wahrnehmen als all diese Wächter. Angesichts des Ruh, der so unverhofft aufgetaucht war, schien jeder argwöhnisch und alarmiert. Aber was hätten sie sonst tun sollen? Am liebsten wäre Sam direkt wieder zu Kani hinaufgegangen. Doch mehr als vor dem Vorhang aus Ästen und Blättern zu sitzen, hätte er nicht leisten können. Nein, er musste etwas tun. Irgendetwas.
Der junge Nushishan, der im Galopp angelaufen kam und seinen Namen rief, wäre in Menschenjahren wohl kaum älter als zwölf gewesen. Die Aufregung auf dem dunklen Gesicht war dieselbe wie bei einem Jungen. »Ihr Herren«, rief der junge Pferdemensch. Seine Stimme zitterte vor Ehrfurcht, als er Sam und Shagyra mit leuchtenden Augen anblickte. Sam mochte es nicht, wenn man ihn so ansah. Geschweige denn hatte er viel dafür übrig, Herr genannt zu werden. Seiner Erfahrung nach war Herren in etwa so sehr zu trauen wie den Meuchelmördern, die gegen gute Bezahlung dafür sorgten, dass sich Mythias Totenäcker füllten. »Wir haben zu tun«, versuchte Sam ihn abzuwimmeln.
Der Junge aber schien seinen Einwand kaum gehört zu haben. »Der König ruft Euch zu sich.« Er atmete so heftig, als würde er die Worte kaum aus der Kehle bekommen. »Die Beratung neigt sich dem Ende zu und er will, dass Ihr nun dabei seid.«
Die Beratung. Das Letzte, was Sam gerade gebrauchen konnte, war Reden und Sitzen. Andererseits würde er sich an der Seite Nusars vielleicht weniger fehl am Platz vorkommen als hier zwischen den Fabelwesen.
»Wir sollten den König nicht warten lassen«, sagte Shagyra und lächelte den jungen Nushishan an, der daraufhin eilfertig vorauslief. »Langsam, langsam«, rief Shagyra ihm lachend hinterher. »Wir haben einen Menschen bei uns.«
Der junge Pferdemensch blieb stehen und wartete, bis Sam und der Nushishan zu ihm aufgeschlossen hatten. »Was genau ist ein Mensch, Herr?«, fragte er und betrachtete Sam interessiert. »Ich habe nur Gerüchte gehört.«
»Und was genau hat man dir über uns erzählt?«, fragte Sam.
»Dass einige Menschen uns gefangen hatten«, erwiderte der junge Nushishan, und seine Miene verdüsterte sich. »Böse Wesen. Aber Ihr seid anders, Herr. Ihr gehört zu der Frau.«
Sam musste nicht fragen, wen er meinte. Auf der Reise hierher waren ihm die Blicke, die viele der Fabelwesen Kani zuwarfen, nicht entgangen. Selbst unter den Märchengeschöpfen war sie etwas Besonderes. Eine Sahira. Wussten die einstigen Gefangenen, was Kani war? Vielleicht hatten einige von ihnen Worte aufgeschnappt, die zwischen Kani, Nusar, dem Weißen König und Layl gewechselt worden waren. Gerüchte haben schnelle Beine. Vicentes Weisheit galt offenbar auch für das Reich der Fabelwesen.
Der Platz, an dem Nusar seine Beratung abhielt, war an drei Seiten von den Ausläufern des nächsten Berges geschützt. Davor hatten sich zahlreiche Fabelwesen versammelt. Es wunderte Sam nicht, dass einige Iblise vor dem einzigen Eingang standen und allzu neugierige Besucher daran hinderten, der Beratung zu nahe zu kommen und womöglich zu berichten, was genau dort besprochen wurde. Malak war einer von ihnen. Die Luft war von einem angespannten Wispern erfüllt, das klang, als würde die Beratung inmitten eines Bienenstocks stattfinden.
Die Iblise wollten auch Sam und Shagyra fortschicken, doch der Einäugige gebot ihnen mit einem Wink, die beiden durchzulassen.
»Danke, Malak«, sagte Sam.
Der Blick, den der Iblis ihm mit seinem Auge zuwarf, war schwer zu lesen. Dann aber lachte der Gehörnte. »Du gefällst mir langsam, Mensch. Merkst dir meinen Namen. Am Anfang hätte ich dir nur allzu gerne die weiche Schneckenhaut vom Leib gezogen. Aber jetzt würde es mir fast schon reichen, dir nur den Kopf abzureißen.«
»Ich Glückspilz«, meinte Sam trocken. Shagyra und er ließen den Nushishan stehen, der sie hergeführt hatte, und traten in die Mulde. Ein Dutzend nicht menschlicher Gesichter wandte sich ihnen zu, unter ihnen Nusar. Das Wort führte in diesem Moment ein Pferdemensch mit grauer Mähne. Er verstummte indes, als er die beiden Besucher erblickte. Vor allem Shagyra erregte seine Aufmerksamkeit.
»Sprich ruhig weiter«, sagte Nusar. »Die beiden dort sind meine«, er hob eine Augenbraue, als er Sam ansah, »Freunde.« Er schenkte ihnen ein kurzes Lächeln.
»Jeder von uns kennt den heldenhaften Shagyra«, sagte der Alte und beugte den Kopf, als würde er seinen König begrüßen. »Nicht wenige von uns hätten sich für ihn als einen unserer Repräsentanten ausgesprochen.«
Der heldenhafte Shagyra? Und ihn beachtete keiner? Sam merkte, dass die Worte des alten Pferdemenschen seinen Stolz verletzt hatten. Ärgere dich nicht, Sam, sagt er sich. Du bist ein Mensch, und sie alle wissen, dass sie in einer Stadt der Menschen gefangen waren. Ja, Nusar hatte versucht, unter den Fabelwesen die Wahrheit zu verbreiten. Aber die Wahrheit war so kompliziert, dass sie schnell für eine Lüge gehalten wurde. Ihr wart von einer Wüstenhexe gefangen genommen worden. Ein Asfur gibt sich als Menschenkönig aus, und eine weitere Wüstenhexe hat versucht, ihren dunklen Geliebten zu befreien. Ach ja, und der Mensch, dem ihr alle so gerne mit Misstrauen begegnet, hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um euch zu retten. Da war es wohl viel einfacher, wenn sich die Fabelwesen erzählten, dass sie alle von den Menschen gefangen gehalten worden waren. Von Menschen, die mit einem abtrünnigen Asfur und einer dunklen Hexe paktierten. Sam hatte sogar mitbekommen, dass einige Fabelwesen der Ansicht waren, der Weiße König und Layl seien von den Menschen versklavt und einst dazu gezwungen worden, die Buchgefängnisse zu erschaffen.
»Wir Nushishans meinen offenbar, dass Alter mit Weisheit gleichzusetzen ist.« Der Alte warf seinen beiden Begleitern, die wenigstens ebenso betagt waren wie er, einen nach Zustimmung heischenden Blick zu. »Wir sprechen uns wie auch die anderen Völker gegen das Angebot des Weißen Königs aus. Keiner von uns wird sich ihm unterwerfen. Das Volk der Nushishans wird, ehrenvoll wie es schon immer war, in den Krieg ziehen, wenn es sein muss. Nur eines wollen wir für uns: Wissen, wer wir einmal waren. Keiner, so scheint es, kann sich an das Leben erinnern, das er oder sie einmal geführt hat. Keiner weiß, wen er einmal geliebt hat. Wer ist die Mutter, wer der Vater welches Kindes? Wir kümmern uns alle zusammen umeinander. Doch die Frage nach der eigenen Vergangenheit muss beantwortet werden, wenn wir eine Zukunft haben wollen.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den Fabelwesen. Sam konnte es ihnen nicht verdenken. Während der Flucht hatte vor allem Nusars Überzeugungskraft die Fabelwesen dazu gebracht, ihm aus dem Gefängnis heraus zu folgen. Dies und die Anwesenheit einer Sahira an seiner Seite. Doch nun war ihnen bewusst geworden, dass sie gar nichts besaßen. Keine Heimat. Keinen Namen. Kein Leben. Nur eine Existenz, die am seidenen Faden hing.
»So wie es ist, hätte es nicht sein sollen«, erwiderte Nusar, und alle Augen richteten sich auf ihn. »Der Plan hatte anders ausgesehen. Alle zu befreien. Und ihnen später die Gelegenheit zu geben, selbst die Entscheidung zu treffen, wer oder was sie sein wollen. Die, die sie einmal waren, oder jemand, den sie noch nicht kennen. Ich wollte die Namen und diejenigen, die sie aussprechen können, mit uns nehmen. Nun«, er lächelte freudlos, »die Dinge sind anders gekommen, wie ihr mittlerweile wisst. Wir konnten fliehen, doch die Namen mussten wir zusammen mit den Mahfuz in Paramythia zurücklassen. Selbst Nagib hat uns nur einen Teil des Weges aus der Bücherstadt begleitet. Am Tor Mythias hat er uns verabschiedet und ist wieder zurückgegangen, um die anderen seiner Art zu suchen. Wenn es ihm gelungen wäre, sie alle zusammenzutreiben und vor Layl zu verbergen, würde Hoffnung bestehen. Doch ich fürchte, die dunkle Hexe hat zumindest einen von ihnen unter ihrer Kontrolle. Anderenfalls hätte sie unsere beiden ungebetenen Besucher nicht befreien können. Und wenn Layl noch mehr gefunden hat, besteht die Gefahr, dass sie und der Weiße König sie missbrauchen, um uns erneut zu binden. Vermutlich reicht es, sie auf Layls Befehl hin auszusprechen.«
»Warum sollte uns der Weiße König, von dem Ihr erzählt habt, wieder einsperren wollen?«, fragte der Nushishan, der sein Volk vertrat.
»Weil er euch so wieder befreien und dann vorgaukeln könnte, dass er es war, der euch die Freiheit zurückgegeben hat. Ihr würdet ihm alle folgen.«
»Und du?«, fragte Sam. Er bemerkte die Blicke der Fabelwesen. Ein Mensch duzte ihren König.
Nusar wiegte den Kopf hin und her. »Es gibt zwei Möglichkeiten, die ich sehe.« Auf einmal legte sich eine gespannte Stille über die Runde. »Entweder wird der Weiße König seinen Willen durchsetzen und mich dann vermutlich auf ewig in einer Geschichte gefangen halten. Oder die Dunkle an seiner Seite hintergeht ihn und ersetzt den Weißen durch den Schwarzen König. Denn dieser steckt noch immer in mir, und ich fühle seine Gegenwart in jeder Sekunde.«