Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Bibliothekarin Rita Girardi wird im Wien der 1920er-Jahre mit Morden konfrontiert, die ihrem beruflichen wie privaten Leben immer näher rücken. Als im Arenbergpark ein Toter gefunden wird, ist Rita bestürzt, denn bei dem Mordopfer handelt sich um ihren direkten Nachbarn. Kurz darauf wird eine weitere Leiche entdeckt, diesmal in der Nähe ihres Arbeitsortes. Unverzagt erklärt Rita sich bereit, dem ermittelnden Kommissar Julius Hechter zur Seite zu stehen, und bemerkt dabei gar nicht, dass sie sich in höchste Gefahr begibt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 273
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Michael Ritter
Die Bibliothekarin und der Tote im Park
Wien in den 20er-Jahren
Unerkannte Gefahr Wien in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre. Rita Girardi arbeitet als Bibliothekarin in der »Geologischen Bundesanstalt« und nebenbei als Journalistin und Autorin für diverse Zeitungen. Als sie handschriftliche Notizen in einem Buch findet, ärgert sie sich darüber, schenkt ihnen aber keine weitere Beachtung. Als ein Mord im Arenbergpark geschieht, ist Rita bestürzt, denn bei dem Opfer handelt es sich um ihren direkten Nachbarn, mit dem sie gelegentlich Spaziergänge durch den Park unternommen hat. Wenig später wird eine weitere Leiche entdeckt, diesmal in der Nähe von Ritas Arbeitsort. Wieder stößt sie auf eine Notiz in einem Buch. Ihr kommt der Verdacht, dass ein Zusammenhang zwischen den Notizen und den Morden besteht, doch niemand glaubt daran. Unverzagt erklärt sich Rita bereit, Kommissar Julius Hechter bei seinen Ermittlungen zur Seite zu stehen, und bemerkt dabei gar nicht, dass sie sich in höchste Gefahr begibt.
Michael Ritter wurde 1967 in Wien geboren, wo er als Verleger und Literaturwissenschaftler lebt. Zahlreiche literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen sind von ihm erschienen. Er schreibt historische Kriminalromane und Thriller. Zuletzt erschienen im Gmeiner-Verlag die Krimis rund um den Kriminaloberinspektor Dr. Otto W. Fried »Wiener Hochzeitsmord« und »Wiener Machenschaften«. Mehr Informationen zum Autor unter: www.michael-ritter.eu
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Bilder von: © Gazette du Bon Ton, 1923 - No. 1, Pl. 2: Alcyone / Robe et manteau du soir, de Worth
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gazette_du_Bon_Ton,_1923_-_No._1,_Pl._2_Alcyone_Robe_et_manteau_du_soir,_de_Worth_(titel_op_object),_RP-P-2009-1965-2.jpg
ISBN 978-3-8392-7696-9
»Eine gewissenhafte Bibliotheksverwaltung hat ihr Augenmerk stets darauf zu richten, dass in der Bibliothek Ordnung herrsche und der Bibliotheksbestand vor jedem Schaden möglichst bewahrt werde.«
Ferdinand Grassauer
Was war das für ein lästiger Regen! Den ganzen Tag ging das schon so, und nun stand sie unter dem viel zu knapp bemessenen Vordach des Haupteingangs und blickte auf das glänzende Kopfsteinpflaster der Rasumofskygasse, auf der keine Menschen zu sehen waren. Die hatten sich alle längst an trockene Orte zurückgezogen, und nur wer zwingend musste, setzte einen Fuß ins Freie. Einen sehr bald triefend nassen Fuß.
»Da nützt einem auch ein Schirm nichts«, sprach sie von hinten Adam Wallner an, der stellvertretende Direktor der Geologischen Bundesanstalt.
Rita Girardi hatte die Umwälzungen der zurückliegenden Jahre vor allem hinter diesen Mauern mit der abblätternden schmutzig gelben Fassade erlebt, und die größten Änderungen waren für sie die Umbenennungen ihrer Institution gewesen: von »Reichsanstalt« zu »Staatsanstalt« und seit knapp einem Jahr zu »Bundesanstalt«.
»Da haben Sie leider recht, Herr Hofrat«, seufzte Rita und warf einen traurigen Blick auf ihren dünnen Schirm, der den Eindruck machte, eher Sonnenstrahlen als Regengüsse abwehren zu können.
Der mit seinen inzwischen dreiundsechzig Jahren immer noch sportliche Mann war stolz auf seinen Hofratstitel, den ihm Bundespräsident Hainisch vor zwei Jahren verliehen hatte. Als einer der wenigen Nichtakademiker unter dem wissenschaftlichen Personal der Geologischen Anstalt konnte er ein gewisses Gefühl der Minderwertigkeit nie vollkommen überwinden. Da halfen solche Ehrungen und Auszeichnungen in besonderem Maß, das Selbstwertgefühl auf ein nicht zu niedriges Niveau fallen zu lassen.
»Das erinnert mich an meine letzte Expedition im Erzgebirge«, begann er in lange zurückliegenden Erinnerungen zu schwelgen. Vor etwa vierzig Jahren hatte er zu dem Gebirgszug eine Monografie veröffentlicht, die einen Ehrenplatz in der Bibliothek der Anstalt hatte. »Es regnete damals jeden Tag. Schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Können Sie sich vorstellen, dass man unter solchen widrigen Bedingungen seine Arbeit voranbringen kann, Fräulein Girardi?«
Rita schüttelte den Kopf und blickte den Mann sanft, ja fast liebevoll an. Er hatte etwas Väterliches an sich.
Adam Wallner war ein Urgestein an der Geologischen Bundesanstalt, ein Wortspiel, das schon viele ihm gegenüber angewendet hatten. Er selbst lachte darüber mehr aus Höflichkeit als aus Amüsement. Irgendwann hatte sich jeder Scherz totgelaufen, auch wenn jeder aufs Neue dem irrigen Glauben anhing, ihn gerade zum allerersten Mal zu machen.
Als Stellvertreter von Georg Geyer, dem Leiter der Anstalt, der sich auf einer mehrere Monate in Anspruch nehmenden Expedition befand, war Wallner einer der gebildetsten Geologen, die Rita je begegnet waren. Sogar auf den bestbesetzten internationalen Kongressen gab es kaum jemanden, der ihm das Wasser reichen konnte. Diejenigen, die das wussten und akzeptierten, unterstützten ihn und arbeiteten oft freundschaftlich mit ihm zusammen. Die anderen – und sie waren weiß Gott in der Überzahl – versuchten alles Denkmögliche, gegen ihn zu intrigieren. Zum Glück hatte das nie richtig gefruchtet, und Wallner war von Geyer zu seinem Stellvertreter erhoben worden.
Seit mehr als dreizehn Jahren arbeitete Rita nun schon in der Geologischen Bundesanstalt und hatte sich so sehr eingelebt, dass die Institution zu ihrem zweiten Zuhause und die Menschen in ihr zu ihrer zweiten Familie geworden waren. Von einzelnen Ausnahmen natürlich abgesehen, wie das immer so ist mit den Mitmenschen.
»Also, so kommen Sie nicht weit, Fräulein Girardi.«
Ihr Regenschirm schien auch auf den Herrn stellvertretenden Direktor erbärmlich zu wirken.
»Ich habe mir ein Taxi gerufen. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit. Sie wohnen ja nicht weit von hier, das ist fast kein Umweg für den Wagen.«
Ritas Wohnung lag in der Barichgasse im dritten Bezirk. Ihr täglicher Weg führte sie durch den Arenbergpark, wenn es noch taghell war, oder um ihn herum, wenn es schon dämmerte. Für sie normalerweise ein willkommener Spaziergang in der Früh zur und am Abend von der Arbeit. In ihrer Kindheit hatte sie oft und gerne im Park gespielt, inzwischen war er durch Umbauarbeiten und neu errichtete Häuser deutlich verkleinert.
»Eigentlich wollte ich noch zur Probe«, überlegte Rita laut.
Wallner zuckte mit den Schultern. »Auch das ist möglich!«
Da war er wieder, dieser väterliche Gesichtsausdruck. Wallner war ein Mann, in dessen Gegenwart man sich behütet und sicher fühlte. Ein Vertrauter, manchmal sogar in privaten Lebensfragen. Jemand, der immer einen Rat wusste, den er bescheiden verpackte und nicht als die große Lösung präsentierte, sondern als kleines Offert, das man annehmen mochte oder eben nicht. Rita hatte seine Ratschläge schon des Öfteren beherzigt.
»Wir haben heute die abschließende Probe vor dem Auftritt«, erklärte Rita und ließ den Blick wieder über die Straße schweifen.
Es war ein unglaublich düsterer, ja fast dunkler Spätnachmittag. Eigentlich hätte man die Straßenbeleuchtung einschalten sollen, aber dafür schien es der Stadt noch zu früh zu sein.
»Geistliche Lieder von Schubert. Unser Chorleiter hat jedes Lied selbst ausgewählt und das Programm zusammengestellt. Damit es zum Ort unseres Auftritts passt.«
»Wieder der Singverein?«, fragte Wallner, und Rita schüttelte den Kopf.
»Nein, nur unsere Gruppe, die immer wieder in der Michaelerkirche auftritt. Dort müsste ich leider jetzt hin.«
Rita war schon als Schülerin Mitglied im Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde geworden, gefördert durch ihre Mutter, die auf eine grundsolide künstlerische Bildung ihrer Tochter stets höchsten Wert gelegt hatte. Und das immer noch täte, fragen würde, ob sie ihre Stimme auch über die Chorproben hinaus trainiere, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Schließlich sollte die Ausbildung am Wiener Konservatorium bei Professor Hans Kirchner keine verlorene Zeit gewesen sein.
»Also mitten hinein ins Herz der Stadt!«, lachte Wallner und streckte den Arm aus. Sein Zeigefinger deutete auf einen Kraftwagen, der sich ihnen laut knatternd näherte. Der Wagen schwamm eher, als dass er fuhr.
Als der Fahrer vor ihnen anhielt, fasste Wallner Rita am Ellenbogen und sagte: »Kommen Sie, ich liefere Sie heil und trocken bei Ihren Gesangskollegen ab.«
Was alles in so einer Maschine quietschen und knarren konnte, war für Rita ein unerklärliches Mysterium. Jedenfalls schienen sich die Klänge zu potenzieren, als der Kraftwagen ruckelnd vor dem Portal der Michaelerkirche gegenüber der Michaelerkuppel und der Hofburg anhielt.
»Sie sind am Ziel«, verkündete Wallner nach einer Fahrt, auf der er erneut seine letzte Expedition im Erzgebirge hatte Revue passieren lassen. Eine sanfte Alterserscheinung, die Rita ihm nachsah. Immerhin verstand Wallner es, auf spannende Weise zu erzählen.
»Vielleicht kommen Sie ja am Samstag zu unserer Aufführung?«, fragte Rita und streckte ihrem stellvertretenden Direktor breit lächelnd die Hand entgegen. »Um 19 Uhr, nach der Abendandacht. Eintritt gegen eine kleine Spende, der Pfarrer braucht auch etwas für seine Kirche.«
Wallner brummte und nickte. Seine Kirche war die Natur, waren die Berge, die Gesteinsarten. Sie zeigten am deutlichsten die Kraft eines gestaltenden Gottes, die Vielfalt der Schöpfung. Aber auch die Kunst, natürlich.
»Sie sind morgen Vormittag in der Bibliothek?«, fragte er, als wollte er von Ritas Frage ablenken.
»Ja.«
»Dann sage ich Ihnen morgen, ob ich mit meiner Frau komme. Vielleicht könnten Sie zwei Plätze für uns reservieren?«
Rita nutzte die Samstagvormittage regelmäßig dazu, die Bestände der Bibliothek zu kontrollieren und die Neuzugänge der zurückliegenden Woche einzuordnen und zu katalogisieren. Zum Glück waren es nicht so viele wie in großen Bibliotheken, aber doch genug, um ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen ausreichend Arbeit zu bereiten.
Die Samstagnachmittage widmete sie für gewöhnlich ihren literarischen Bemühungen und Aufgaben als Kritikerin und verbrachte sie manchmal in der Redaktion der Reichspost, wo immer wieder Gedichte oder kurze Geschichten sowie Buchrezensionen von ihr erschienen. Morgen würde es anders sein, da war die Schlussprobe angesetzt, zu der alle zu erscheinen hatten. Rita wusste: Sollte jemand die letzte Probe schwänzen, musste er damit rechnen, bei den nachfolgenden Auftritten des Chors vorerst nicht dabei zu sein. Da war der Chorvorstand streng.
Mit Recht, mit Recht, erinnerte sich Rita eines Vorfalles vor wenigen Wochen, als Albrecht Huber, ein junger Arzt mit besten Karriereaussichten, eine halbe Stunde verspätet bei der Probe eintraf. Er hatte etwas von einem medizinischen Notfall gestammelt, dann von Müdigkeit, Zeitkollision – den Chorleiter hatte seine Erklärung nicht interessiert. Er erwartete dieselbe Professionalität beim Chorgesang wie im Brotberuf. Und das galt ausnahmslos – ob Arzt, ob Bibliothekarin.
Sie nahm nicht den Haupteingang, sondern betrat den kleinen Durchgang, der den Michaelerplatz mit der hinter dem Gebäudekomplex aus Kirche und den angrenzenden Häusern liegenden Habsburgergasse verband. Gleich links gab es eine grüne Tür, die sich nur mit viel Kraft aufdrücken ließ. Rita schlüpfte durch den Spalt, den sie sich mit viel Mühe erkämpft hatte, und stand schließlich in dem kleinen seitlichen Vorraum, von dem aus man direkt ins Hauptschiff der Kirche gelangte.
Die meisten Kolleginnen und Kollegen waren bereits anwesend, alle klagten sie über das schreckliche Wetter. Rita konnte sich vorstellen, dass an diesem Abend wieder jemand zu spät kommen würde, diesmal mit der guten Begründung der widrigen Wetterlage. Albrecht Huber wäre dafür jedoch sicherlich nicht der richtige Kandidat, der hatte seine Lektion gelernt.
»… und dann ist ihm das Skalpell doch tatsächlich auf den Boden gefallen und mit der Spitze nur einen Zentimeter vor seiner Fußspitze im Boden stecken geblieben!«, vernahm sie seine hohe Stimme, die aus dem Gemurmel der Anwesenden hervorstach.
Albrecht Huber liebte es, lustige und oft übertriebene Geschichten zu erzählen. Sein schluckaufartiges Lachen holperte durch den Kirchenraum, als hätte es nicht einmal vor den entlegensten Nischen mit ihren Heiligen Respekt. Natürlich war der gut aussehende junge Mann wie zumeist von einigen jüngeren Frauen umringt. Und nicht nur von den jüngeren. »Wenn ich wollte, könnte ich an jeder Hand …«, war die Ausstrahlung, mit der er sich gerne umgab, aber Rita wusste, dass das nur Show war. Dr. Albrecht Huber, Facharzt der Gynäkologie, war alles andere als ein Draufgänger und Fraueneroberer.
Rita ging auf die Gruppe zu und nahm Albrechts Winken mit einem milden Lächeln zur Kenntnis. In der letzten Reihe der Kirchenbänke saß Hochwürden Karl Straniak, um der Probe zu lauschen. Allerdings schien er geistig nicht ganz anwesend zu sein, denn er hielt ein Brevier aufgeschlagen auf seinem Schoß und sein Kinn ruhte fast auf der Brust. Er schien zu schlafen.
Ein kräftiges Händeklatschen riss ihn aus seinem geträumten Paradies. Der Chorleiter ließ den Blick über die Gruppe, die sich vor dem Altartisch versammelt hatte, wandern. Er zählte wohl, ob sie vollständig waren. Auch er erwartete anscheinend nicht, dass es bei diesem Wetter alle pünktlich hierher schaffen würden. Doch der Chor war vollständig.
»Ich gratuliere Ihnen, meine Damen und …«, er fixierte Albrecht Huber, »… Herren. Sie haben die Unbill der äußeren Umstände erfolgreich bewältigt, da wird es Ihnen ein Leichtes sein, unsere heutige Probe mit Fehlerlosigkeit zu krönen.«
Sie nahmen vor dem Altartisch Aufstellung, geordnet nach Stimmlagen, und als die ersten Töne erklangen, hätten die Sänger einen verzückten Priester in der letzten Reihe sitzen sehen können. Hätte da nicht zwischen ihm und dem Chor eine dicke Säule gestanden, die seine selige Zufriedenheit vor den Sängerinnen und Sängern verbarg.
Er war zufrieden. Nicht dass er diesen Umstand mit explizitem Lob zum Ausdruck gebracht hätte. Alles über sein gemurmeltes »sehr in Ordnung« hinaus wäre ein Wortschwall gewesen. Professor Walter war kein Mann der großen Worte und der kleinen auch nur selten.
Rita suchte unter den Schirmen, die auf dem Boden vor der ersten Sitzreihe lagen, ihren schmächtigen Begleiter. Alle waren durch und durch nass, und sie musste den ihren unter zwei breiten Herrenschirmen hervorziehen, die sich über ihm ein wenig aufgefaltet hatten. Er hatte also keine Chance gehabt, auch nur annähernd trocken zu bleiben.
Einer dieser Schirme gehörte Albrecht Huber.
»Dominant, so wie wir Männer eben sind«, kommentierte er frech, aber ironisch. Er nahm seinen Schirm an sich und schüttelte ihn ein wenig, damit die Stofffalten nicht mehr so stark aneinanderklebten. Es war ein elegantes Exemplar, dessen erstklassige Verarbeitung man schon an den Nahtstellen erkennen konnte. Die Spitzel an den Enden der Speichen waren aus glänzendem Messing, ebenso die Stockspitze, die eine kleine Delle aufwies.
»Ein Erbstück meines Vaters«, erklärte Albrecht, als er Ritas inspizierenden Blick bemerkte. »Aber keine Sorge, mein Vater lebt noch!«
Er lachte über den vermeintlich gelungenen Scherz und zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der Innentasche seines Sakkos. Die ersten Sängerinnen und Sänger verabschiedeten sich, die eine oder andere mit einer kurzen Umarmung bei Rita, mancher Kollege mit kumpelhaftem Schulterklopfen bei Albrecht.
»Wenn das so weitergeht, werden Sie noch eine Berühmtheit«, deutete er an und schlug mit der gefalteten Zeitung auf die offene Handfläche.
Rita erkannte an einem Teil des Titelschriftzuges, den sie lesen konnte, dass es sich um die Reichspost handelte. Vermutlich um die gerade herausgekommene Ausgabe.
»Bestechend und exakt«, urteilte Albrecht und faltete die Zeitung auf. »Eine Rezension, wie sie im Buche steht.« Und wieder lachte er über sein Wortspiel.
Meistens zwischen den Seiten sechs und acht befand sich die Rubrik »Unsere Bücherschau«. Hier erschienen mit einer gewissen Regelmäßigkeit Ritas Buchbesprechungen.
»Chateaubriand«, schmunzelte Albrecht. »Romantische Erzählungen. Soso.«
Manchmal benahm er sich auf eine Weise, dass Rita ihn am liebsten am Revers seines Sakkos gepackt und durch das nächstbeste Fenster auf die Straße hinausbefördert hätte. Nur gab es in der Kirche kein dafür geeignetes Fenster.
»Herausgegeben von Stefan Zweig«, setzte Rita hinzu, als wollte sie damit die literarische Bedeutung des Buches und somit ihre Befassung damit in bedeutendere Sphären erheben.
»O ja, ich weiß, ich weiß«, gab sich Albrecht sanft. »Und ich fand den Schlusssatz geradezu herrlich treffend!« Er legte die Zeitung vor sich auf dem Sitz ab, um sie besser lesen zu können, und kniete nieder. »Da«, rief er aus. »Einmalig!«
Und dann las er laut den Abschlusssatz der Rezension vor, sodass alle Umstehenden nicht anders konnten, als ihn zu hören: Rita formulierte einen geschliffenen Seitenhieb gegen marxistisch tendenziöse Literatur genauso wie gegen Sensationshascherei und lobte die vorliegende Ausgabe als Ruhepol für Geist und Seele. Er blickte zu Rita auf. »Touché, Fräulein Girardi!« Er deutete einen Applaus an, schlug aber die Handflächen nicht zu fest zusammen, um die Stille des Kirchenraums nicht zu stören.
Hochwürden Straniak kam auf die Verbliebenen zu, und auf sein Gesicht war immer noch die Glückseligkeit gemalt, die ihn während der Probe eingenommen und seitdem nicht mehr verlassen hatte. »Das wird ein wundervolles Konzert morgen«, sagte er zu einer Frau mittleren Alters. »Die Menschen werden danach beglückt nach Hause gehen. Und wir werden gewiss eine schöne Spendensumme für unsere schöne Kirche zusammenbekommen.«
Die Frau mittleren Alters ließ sich in ein Gespräch mit dem Priester verwickeln, während Albrecht Rita in ihren dünnen Mantel half und sich danach seinen eigenen überzog.
»Ich darf Sie doch nach Hause begleiten?«, fragte er. »Es ist spät geworden. Und das Wetter …« Er klopfte auf seinen Schirm, als wolle er andeuten, dass der besser sei als jener Ritas.
Rita blickte ihm lange und tief in die Augen. »Aber Sie wohnen nicht in meiner Nähe.«
»Wir haben jedoch denselben Weg, wenigstens von hier dieselbe Richtung.«
»Dann bin ich einverstanden, dass wir jenen Teil des Weges gemeinsam zurücklegen, den wir auch gemeinsam haben. Und unsere Wege trennen sich, wo jeder in seine Richtung weitermuss. Einverstanden?«
Sie hielt ihm zum Einschlagen die Hand entgegen, als hätten sie einen mündlichen Vertrag abgeschlossen. Albrecht lächelte und nickte, ergriff die zarte Rechte und führte sie in Andeutung eines Kusses an seine leicht gespitzten Lippen. Anschließend nahm er die Zeitung, faltete sie zusammen und wollte sie eben einstecken, als Rita ihn fragte: »Darf ich die haben? Ich habe nämlich kein Exemplar der Ausgabe und sammle meine Rezensionen.«
Albrecht strahlte und händigte ihr die Reichspost aus. Rita verstaute sie in ihrer kleinen Handtasche. Sie würde die Buchbesprechung zu Hause lesen, um zu überprüfen, ob man ihren vollständigen Text abgedruckt oder ihn gekürzt hatte.
»Ich würde mich allerdings wohler fühlen, wenn ich Sie bis nach Hause bringen dürfte«, fing Albrecht wieder an, als sie durch den Haupteingang auf den Michaelerplatz hinaustraten.
Es hatte zu regnen aufgehört. Die Straßen und Häuserdächer waren glänzend nass, der Himmel bedeckt und ohne Sterne. Nicht einmal der Mond konnte sich durch die dicke Wolkenschicht kämpfen. Die funzelige Straßenbeleuchtung spendete allerhöchstens unzureichendes Licht. Der frühe Abend war düster und so ungemütlich, wie er nur sein konnte.
»Wieso das?«, fragte Rita.
»Weil ich nicht allein Ihre Rezension gelesen habe, Fräulein Girardi.«
Sie schritten zügig die Reitschulgasse entlang und passierten den kleinen Josefsplatz. Menschen fanden sich keine in der Gasse.
»Ihre Zeitung macht auf Seite eins mit einem großen Fall auf«, erläuterte Albrecht. »Und da dachte ich mir, ich lasse Sie besser nicht alleine nach Hause gehen.«
Rita sagte nichts und ließ ihn erzählen.
»Erschrecken Sie bitte nicht. Es wurde im Arenbergpark ein Toter gefunden. Also nicht einfach ein Toter, sondern ein Mordopfer. Sie wohnen doch in der Nähe des Arenbergparks, nicht wahr?«
Rita nickte. Sie nahm die Mitteilung Albrechts mit derselben Unberührtheit entgegen wie andere Nachrichten, die in den Zeitungen standen. In Zeiten wie diesen gab es viel Übles und viel Elend. Die Menschen waren nicht geläutert und gebessert aus dem Krieg zurückgekehrt.
»Mein lieber Herr Huber«, sagte sie und ließ seinen Doktortitel bewusst weg. »Wenn Sie mich für ein kleines, hilfloses, beschützenswertes Ding halten, haben Sie sich in mir getäuscht.«
Albrecht schüttelte abwehrend den Kopf. »So habe ich das doch nicht gemeint!«
Rita lachte auf, als sie in seinem Gesicht echtes Erschrecken erkannte. »Ich auch nicht«, beschwichtigte sie sogleich. »Aber glauben Sie mir, ich kenne meine Wohngegend seit meiner Kindheit. Ich fühle mich dort sicher. Es wird mir nichts geschehen.«
Nun wiegte Albrecht den Kopf hin und her. »Davon würde ich mich gerne persönlich überzeugen. Vielleicht wollen wir uns morgen Nachmittag auf einen Kaffee treffen? Wir können ja danach gemeinsam zur Aufführung in die Michaelerkirche weitergehen.«
Rita blickte ihn seitlich von unten her an. »Warum nicht?«, antwortete sie und lächelte.
Die resolute kleine Person mit dem modischen Kurzhaarschnitt betrat den Vorraum der Bibliothek, wo breite, schulterhohe Holzkästen aufgestellt waren, die den modernen Zettelkatalog enthielten, der schon vor vielen Jahren die alten Katalogbücher abgelöst hatte. Der dunkelgraue Rock war glatt gespannt und reichte selbstverständlich deutlich über die Knie, die helle Bluse, deren Farbton nicht wirklich zu bestimmen war, war bis zum Hals hinauf zugeknöpft. Alles nett und adrett, wie es sich für eine anständige junge Frau in ihrer Position gehörte. Und eigentlich für jede Frau.
Wie zu erwarten, war an diesem Samstagvormittag außer ihr kein Mensch in der Anstalt. Der kleine Lesesaal war geschlossen, außerdem durfte man am Samstag keine Bücher entleihen oder zurückbringen, weshalb es die ideale Zeit war, um in Ruhe und Beschaulichkeit jene Arbeit zu verrichten, die sie immer als Bücherpflege bezeichnete.
Rita nahm an ihrem kleinen Schreibtisch Platz und streifte die Schuhe mit höheren Absätzen als gewöhnlich von den Füßen. Letzten Abend war sie nass geworden, als sie nach der Probe den Nachhauseweg angetreten hatte. Zunächst hatte alles ruhig ausgesehen, als sie mehr als den halben Weg in Begleitung von Albrecht Huber zu Fuß zurückgelegt hatte. Es hatte aufgehört zu regnen, wenngleich die Wolken sich dunkel am Himmel bauschten. Aber dunkel war alles in der Nacht, da mussten diese Wolken nicht zwingend weitere Regenmengen enthalten, nachdem sie sich schon zuvor stundenlang geleert hatten. Doch weit gefehlt! Nachdem sie sich von Albrecht verabschiedet hatte, der immer noch darauf bestanden hatte, sie bis vor die Haustür zu geleiten, was sie als überzogene Ritterlichkeit aus dem vergangenen Jahrhundert abgelehnt hatte, hatte ein sanfter Dauerregen eingesetzt, der eher nach Salzburg als nach Wien gepasst hätte.
Der kleine Schirm hatte sein Bestes getan, doch das war nicht viel gewesen. Gerade mal den Kopf und lediglich einen Teil der Schultern konnte sie damit trocken halten, der Rest ihres Körpers war durchnässt. So fühlte sie sich in ihre kleine Wohnung hineingespült, wo sie sich zuallererst der gesamten Kleidung entledigte, die sie bereits im Vorzimmer abstreifte.
Natürlich war sie sicher und wohlbehütet angekommen. Hatte Albrecht tatsächlich gedacht, der Mörder würde bei ihr um die Ecke auf sie lauern? Schließlich und endlich konnte so etwas überall passieren, das bedeutete nicht, dass es sich an einem Ort gleich wiederholte.
Splitterfasernackt war sie mit dem Haufen abgestreifter Kleidung ins Badezimmer gegangen, hatte die Wäsche in die Badewanne geworfen und ihren Körper mit einem großen Handtuch trocken gerieben. Das hatte den Blutfluss angeregt und ihr war wärmer geworden. Richtiggehend babyrosa zeigte sich ihre Haut nun und fühlte sich angenehm an.
Die Frisur saß zum Glück perfekt wie immer. Die Haare waren auf Kinnhöhe geschnitten und fielen gerade herab. Ein Pony fand seine Grenze etwa einen Zentimeter über den Augenbrauen, die dicht und auffällig über ihren Augen ruhten. Würde sie sich nicht so züchtig kleiden, hätten Frisur und ihre leicht frechen Gesichtszüge sie lasziv wirken lassen können.
Eine Liste der Neuzugänge der zurückliegenden Woche lag auf ihrem Tisch. Es waren noch nicht alle im Zettelkatalog verzeichnet, das würden Hilfsbibliothekare übernehmen. Rita hatte sich vorgenommen, zu jedem neuen Buch selbst die Verschlagwortung vorzunehmen, damit sie bei einer professionellen Suche gut gefunden werden konnten.
Dr. Maluschka verließ sich da voll und ganz auf sie. Der Oberbibliothekar hatte er sie zu einem seiner Liebkinder auserkoren und meinte, dass es höchste Zeit war, dass eine Frau die Position eines Oberbibliothekars erlangen konnte. Zum Beispiel als seine Nachfolgerin. Wie beim Leiter der Geologischen Bundesanstalt Georg Geyer stand seine Pensionierung in nicht mehr ganz zwei Jahren an.
Rita nahm sich die Liste heran und begann, in der rechten Spalte neben jedem Buchtitel Schlagwörter einzutragen. Sie hatte eine sehr schöne, geschwungene Handschrift, mit deren Lesbarkeit die Mitarbeiter keinerlei Probleme hatten. Man musste an jeder Stelle Fehlerquellen ausschließen.
Die Füße entspannten sich. Die Schuhe, die sie abgestreift hatte, waren neu und entsprechend noch etwas eng. Aber sie waren elegant, und sie hatte seit Langem ein neues Paar für die Auftritte im Chor gebraucht. Nicht gerade billig, doch dafür würden sie lange halten. Wenn man den Kaufpreis auf jedes Jahr umrechnete, das sie diese Schuhe vermutlich tragen könnte, waren sie geradezu preiswert gewesen.
Rita arbeitete sich die Liste hinunter und stockte, als sie auf einen Buchtitel stieß, der verriet, dass der Verfasser sich mit dem Erzgebirge beschäftigt hatte. Hofrat Wallners Spezialgebiet. Oder vielleicht besser Lieblingsgebiet, denn Spezialgebiete hatte er wahrlich mehr als nur eines.
Rita lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die langen Ärmel rutschten etwas nach unten und entblößten schlanke, zarte Handgelenke. Am linken hing ein dünnes goldenes Kettchen mit einem kleinen Kreuz als Anhänger. Es war ein Schmuckstück, das ihrer Mutter gehört hatte, seit sie ein Kind gewesen war. Sie hatte es noch vor ihrem Tod ihrer Tochter geschenkt und gemeint, dass diese es eines Tages ihrer Tochter weitergeben würde. Doch eine solche Tochter war nicht in Sicht, nicht einmal ein Ehemann, der für das Projekt Familiengründung geeignet gewesen wäre. Rita bedauerte das nicht. Es gab so viele Dinge im Leben, für die sie sich engagierte, dass für die Rolle als Ehefrau und Mutter derzeit kein Raum blieb.
Sie stand auf und ging schuhlos auf den niedrigen Schrank in der Nähe des Bibliothekseingangs zu, in dem die speziellen Bücher aufbewahrt wurden. Er hatte Glastüren, um die darin stehenden Bestände besser zu schützen. Natürlich durften diese Bücher genauso wie alle anderen von den Bibliotheksbenutzern entnommen und gelesen werden, allerdings in diesem Fall ausschließlich im Lesesaal.
Rita setzte ihre Schritte vorsichtig. Sie wollte vermeiden, dass raue Stellen des Parketts ihre Stümpfe aufrissen. Es knarrte da und dort unter ihr, aber nur leise, sehr dezent, als wäre sich der Boden bewusst, dass er sich in einer Bibliothek befand. Behutsam öffnete Rita die Glastüren und griff zielgerichtet nach einem rund 300 Seiten starken Buch, das eine sehr niedrige Signaturzahl trug. Der Einband war abgegriffen und es ließ sich leicht aufschlagen, leistete keinen Widerstand, wie es bei neuen Bücher mit ihrer frischen Bindung der Fall war.
Das gibt wieder staubige Finger, dachte sich Rita, doch das war geradezu Teil des Berufsbildes Bibliothekar. Daran durfte man sich nicht stören.
Rita traute ihren Augen nicht. Sie hatte Hofrat Wallners Buch, das am Beginn der 1880er-Jahre erschienen war, auf Seite eins aufgeschlagen, wo die Einleitung begann, und da war doch tatsächlich ein Satz mit einer welligen Bleistiftlinie unterstrichen: »Das Erzgebirge zu begehen, mag beschwerlich sein und anstrengend, doch was entschädigt uns die Natur für unsere Mühen! Welch ein Ort der Schönheit!«
Und daneben, als Randnotiz, stand in geschwungenen Buchstaben geschrieben: »Ach, wär’ er doch nie dort gewesen, auch andere Orte sind sehr schön!«
Wer hatte sich das erlaubt! Es war explizit in der Bibliotheksordnung vermerkt, dass Notizen in Büchern nicht gestattet waren. Eine solche Rücksichtslosigkeit, eine solche Missachtung! Wer hatte hier so wenig Respekt vor Büchern? Wenn sie nur wüsste, wer das gewesen sein konnte …
Natürlich war das nicht herauszufinden. Das Buch gehörte zur Freihandaufstellung, jeder konnte es entnehmen und an seinen Platz zurückstellen, wenn er sich in der Bibliothek aufhielt. Es würde wohl auch nicht viel bringen, sich die Listen derer durchzusehen, die in der vergangenen Woche die Bibliothek aufgesucht hatten. Oder vielleicht vor zwei Wochen … Sie wusste ja nicht einmal, wann dieses Gekritzel entstanden war.
Rita nahm das Buch mit zu ihrem Schreibtisch und suchte nach einem weichen Radiergummi. Sie wollte dieses Sakrileg beseitigen und hoffte, dass der Schreiber nicht zu fest aufgedrückt und somit Druckspuren auf der Seite hinterlassen hatte.
Unfassbar! Wer machte so etwas nur? Und wozu? Die Randnotiz ergab ja nicht einmal Sinn. Rita war verärgert, zornig. Wenn sie diese Person in ihre Finger bekam, dann …
»Sie sind heute aber elegant gekleidet«, überraschte die Stimme Hofrat Wallners sie, und sie schlug das Buch zu.
Ihr Gesichtsausdruck musste vergrämt wirken, denn Wallner blieb abrupt stehen und hielt eine größere Distanz zu Rita.
»Wir haben ja am Abend unseren Auftritt«, erklärte Rita, »und vorher habe ich keine Gelegenheit mehr, mich zu Hause umzukleiden.« Auch ihre Stimme war härter, als sie eigentlich beabsichtigte. Immer noch war sie verärgert wegen der Randnotiz in Wallners Buch. »Werden Sie kommen? Mit Ihrer Frau?«
Wallner bejahte und näherte sich Rita. Sie entspannte sich langsam, und ihre missliche Laune war ja sichtlich nicht gegen ihn gerichtet gewesen.
»Dann werde ich Ihnen zwei Plätze in der ersten Reihe reservieren.«
Wallner lächelte dankbar. »Haben Sie das gelesen?«, fragte er und legte eine Zeitung auf ihren Schreibtisch. Es war wieder die Reichspost, diesmal die Morgenausgabe.
»Sie meinen meine Buchbesprechung?«
Wallner schüttelte den Kopf, dann nickte er umso eifriger. »Die natürlich auch! Aber ich meine den Bericht auf Seite eins.«
Rita erinnerte sich. Der Tote im Arenbergpark. Jetzt kam also Wallner als Nächster mit dieser Geschichte. Fehlte nur noch, dass er sie ebenfalls auf einen Kaffee einladen wollte.
»Das ist unmittelbar in Ihrer Nähe!« Wallner faltete die Zeitung vor Rita auf und tippte mit dem Zeigefinger auf die Schlagzeile. »Toter Mann vor dem Gartenpavillon im Arenbergpark gefunden. Mord!«
Rita kannte den Kollegen, der den Artikel geschrieben hatte. Er neigte zur Dramatisierung und ließ kein Mittel aus, um Spannung zu erzeugen – oder was er eben für Spannung hielt. Für Rita war er eher ein Übertreibungsjournalist.
Wallner versuchte, die Seite glatt zu streichen, die sich über das darunterliegende Buch wölbte.
»›Ein etwa dreißigjähriger Mann wurde brutal zusammengeschlagen und erstochen vor dem Eingang des Pavillons aufgefunden‹«, las er laut. »›Seine Identität ist zur Stunde noch unbekannt. Es wird ein Gewaltverbrechen aus Habgier vermutet.‹ Wird das Leben in Wien gefährlicher?«
»Das Leben ist immer gefährlich«, winkte Rita ab und zog das Buch unter der Zeitung hervor. »Und überhaupt in Zeiten wie diesen, wo die wenigsten wissen, wie sie das Geld für die nächste Woche zusammenkratzen sollen.«
»Wenn ich mir vorstelle, dass dieser Verbrecher Sie erwischt hätte, Fräulein Girardi …«
»Ich gehe zu gewissen Zeiten nie durch den Park, Herr Hofrat.«
»Schon, ja, das ist auch sehr vernünftig von Ihnen. Aber ist Ihnen bewusst, dass die größten Gefahren in unmittelbarer Nachbarschaft lauern können?« Er machte ein sehr ernstes Gesicht. »Ich will Ihnen natürlich keine Angst einjagen, Fräulein Girardi!«
Rita lachte. »So schnell macht mir nichts Angst!«
Sie hielt Wallner das Buch entgegen, das dieser sofort erkannte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als träfe er eine frühere Geliebte aus alten Tagen wieder und stellte nun fest, dass es ihr immer noch gut ging.
»Sehen Sie sich mal Seite eins an!«, forderte Rita ihn auf, und ihre schlechte Laune kehrte zurück.
Wallner schlug die Seite mit der Überschrift »Einleitung« auf, ließ den Blick kurz auf den Zeilen ruhen und blickte dann zu Rita, als verstehe er nicht, was sie von ihm wollte.
»Das Gekritzel!«, stieß Rita spitz hervor.
Erneut spürte sie die Empörung in sich hochsteigen, wie bittere Galle, die sich ihren Weg über die Speiseröhre nach oben bahnte und brannte. Sie sah einen fiktiven Bibliotheksbesucher vor sich, wie er mit einem übergroßen Bleistift dicke Striche über ganze Buchseiten zog. Eine Horrorvorstellung.
»Ach«, war der schwache Kommentar Wallners. »Ja, unschön, ich kann Ihre Reaktion natürlich nachvollziehen. Als Bibliothekarin. Als Frau, die Bücher liebt. Ich als Naturmensch hingegen … Verstehen Sie mich nicht falsch, liebes Fräulein Girardi!« Er klappte das Buch zu und reichte es ihr zurück.
»Jedenfalls werde ich dieser Schande mit einem Radiergummi zu Leibe rücken«, zeigte sich Rita kämpferisch.
Sie knallte das Buch zornig auf den Tisch, sodass die Zeitung darunter flatterte. Wallner räusperte sich, ihm schien im Augenblick etwas zu viel dicke Luft im Büro der Bibliothek zu herrschen. Er ging zu einem Fenster und öffnete es.
»Wenigstens ist heute ein schöner Tag«, wechselte er das Thema. »Geradezu einladend für eine Klettertour.«
Trotz seines Alters und seiner Position ließ Wallner es sich nicht nehmen, immer wieder in die Berge zu fahren, um dort zum Teil sehr schwierige Touren zu gehen oder zu klettern. Eine Leidenschaft, die ihn mit seinem Vorgesetzten Geyer verband. Sein Körper war kräftig, auch wenn er das unter einem weit geschnittenen Anzug verbarg, der locker an ihm herunterhing. Doch weder Wissenschaftler noch Bergsteiger waren je zu exquisiter Garderobe gezwungen gewesen. Die inneren Werte machten es aus.
»Meine Frau bestand jedoch darauf, dass ich sie heute zu Mittag ausführe. Nun ja, das gibt uns wenigstens die Gelegenheit, Sie heute Abend zu bewundern, Fräulein Girardi.«
Rita beugte sich über die aufgezogene Schreibtischlade und tastete mit der flachen Hand nach hinten. Als hätte sie eine widerborstige Beute erlegt, hielt sie wenig später einen weißen Radiergummi vor sich.
»Dann werde ich mal«, verabschiedete sich Wallner, als er bemerkte, dass Rita mit ihren Gedanken längst bei der Bewältigung eines anderen Problems war.
Seine Schritte entfernten sich mit festen Schlägen der Absätze, umso behutsamer und leiser zog er die Tür des Büros zu.
In dem sanften Luftzug, der durch das Fenster hereinwehte, bewegten sich die Ecken der Zeitungsseiten. Rita schlug das Buch auf und betrachtete noch einmal mit Widerwillen die Verunstaltung. Wie hatte Hofrat Wallner gesagt? Verbrecher! Ja, genau so einer war der Kerl. Denn davon auszugehen, dass es sich um eine Täterin handelte, war für Rita denkunmöglich.
Sie vollbrachte ihr Werk mit Behutsamkeit und der notwendigen Zeit, um keinen Schaden am Papier anzurichten. Und es gelang ihr in einem Maße, das sie mit Zufriedenheit erfüllte und mit der Welt versöhnte. Den Abrieb des Radiergummis schob sie mit dem Handballen auf der Zeitung zu einem kleinen Haufen zusammen und entsorgte ihn im Papierkorb, der neben dem Schreibtisch stand. Dann stellte sie das Buch, fast schon liebevoll, an seinen angestammten Platz zurück.
Der Kollege von der Reichspost