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Wien 1912. Kurz nach einer Hochzeit in der Wiener Stanislaus-Kostka-Kapelle wird der Priester tot aufgefunden. Schnell stellt sich heraus: Er wurde ermordet. Da eine wertvolle Petrus-Statue verschwunden ist, drängt sich der Verdacht eines Raubmords auf. Kriminaloberinspektor Fried hat als Vater der Braut ein sehr persönliches Interesse daran, den Fall schnell aufzuklären. Seine Ermittlungen entwickeln sich zu einer Reise in die Vergangenheit des Priesters - in jene Zeit, als er noch kein Geistlicher war.
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Seitenzahl: 274
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Michael Ritter
Wiener Hochzeitsmord
Historischer Kriminalroman aus dem Jahr 1912
Wien 1912. Kriminaloberinspektor Dr. Otto W. Fried führt seine Tochter Amalia vor den Traualtar der Stanislaus-Kostka-Kapelle im Herzen Wiens. Doch der schönste Tag im Leben wird zum Albtraum, als der Priester direkt nach der Zeremonie ermordet aufgefunden wird. Dr. Fried entdeckt seine Leiche inmitten einer Blutlache in der Kapelle. Die Suche nach dem Täter beginnt. Zunächst gehen der Inspektor und sein Assistent Anton Novak von einem Raubmord aus, denn eine wertvolle alte Petrusstatue ist aus der Kapelle verschwunden. Im Zuge der Ermittlungen stoßen sie jedoch auf Ungereimtheiten im Leben des Priesters. Der war nicht immer Jesuit, sondern führte einst ein sehr weltliches Leben. Immer tiefer taucht der Inspektor in die Vergangenheit des Geistlichen ein, was für ihn völlig unverhofft zu Gewissensproblemen führt.
Michael Ritter wurde 1967 in Wien geboren und arbeitet als Verleger und Literaturwissenschaftler. Er kann auf zahlreiche literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen zurückblicken, darunter eine Biografie, zwei Romane im Genre der Phantastik, historische Romane und (historische) Kriminalromane mit Wien- sowie Italienbezügen. Ritter lebt und arbeitet in Wien. Sein Krimi »Wiener Hochzeitsmord« rund um den Kriminaloberinspektor Dr. Otto W. Fried ist seine erste Veröffentlichung im Gmeiner-Verlag.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © Österreichische Nationalbibliothek; Wien, 1, Kurrentgasse 2ff, 16.7.1910;
Signatur/Inv-Nr. L 25.567 - B POR MAG
ISBN 978-3-8392-7012-7
Dr. Otto W. Fried saß zufrieden an einem kleinen Ecktischchen in seinem Stammcafé am Graben im Trattnerhof und blätterte unaufmerksam in der Freitagsausgabe der Neuen Freien Presse. Er hatte sein Büro im »Institut der k. u. k. Polizeiagenten« wie jeden Freitag kurz nach 12 Uhr verlassen. Mittag ist Mittag und früher Dienstschluss war am Freitag sowieso. Da führte ihn sein Weg fast immer direkt in sein Café. Dass die österreichisch-ungarische Monarchie nunmehr im Stande war, über zwei Millionen Soldaten in einen eventuellen Krieg zu schicken, überlas er ebenso wie die Meldungen aus dem Reichsrat, wo unter anderem auch ein neues Wehrgesetz debattiert wurde. Recht kriegerische Töne in doch so friedlichen Zeiten. Die Schlagzeilen und Textblöcke zogen an seinen Augen vorüber wie welke Blätter im Herbstwind. Auch wenn er sah, was da vor ihm geschrieben stand, er nahm es nicht bewusst wahr. Zu sehr badete er in dem Gefühl der Zufriedenheit.
Morgen wäre es endlich so weit. Morgen Vormittag würde seine Tochter endlich einen Mann heiraten, den sie verdiente. Sie verdienten sich gegenseitig. Davon war Dr. Fried überzeugt und seine selbstständige, ja eigensinnige Tochter war es erst recht.
Zugegeben, Maximilian Ritter von Becker war knapp drei Jahre jünger als seine künftige Ehefrau, aber Amalia hatte sich eben überdurchschnittlich viel Zeit gelassen, bis sie sich für einen Mann entschied. Dass sie schließlich diesen intelligenten und aufstrebenden Ingenieur in der Generalinspektion der österreichischen Eisenbahnen erhört und ihn eines Tages ihrem Vater vorgestellt hatte, empfand Dr. Fried bis heute als riesiges Glück.
Er hatte sich schon beinahe mit dem Gedanken abgefunden gehabt, dass Amalia unverheiratet bleiben würde. Ihr Studium hatte sie als entschlossene junge Frau relativ zügig absolviert und sich den Titel eines Doctor philosophiae redlich verdient. Doch ein Mann schien weit und breit nicht in Sicht. Bis sie sich mit Maximilian Ritter von Becker zum Nachmittagstee ansagte.
Dr. Fried faltete die Zeitung zu einem kleinen Päckchen zusammen und legte es auf dem Nebenstuhl ab. Herr Johann, ein Kellner, von dem Dr. Fried nicht wusste, ob er diesen Namen wirklich trug oder ihn nur als Berufspseudonym verwendete, sah dies aus dem Augenwinkel und zog die Stirn missbilligend in Falten. Dr. Fried faltete die Zeitungen, die er las, stets zu tatsächlich außergewöhnlich kleinen Paketen, ja er drückte und quetschte sogar nach, damit sie ja hielten und sich nicht wieder öffneten. Herr Johann hatte sich fatalistisch damit abgefunden, dass sein Stammgast die Zeitungen aus der Lesehalterung herauslöste und freihändig las. Aber dass er sie dann noch derart malträtierte, ging eindeutig zu weit. Doch wie sagt man es einem Stammgast? Gar nicht. Man bedenkt ihn immer und immer wieder mit einem vielsagenden Blick. Dass das im Falle Dr. Frieds nicht ausreichte, musste Herr Johann in Erweiterung seines Fatalismus einsehen.
Dr. Fried bekam von der Not des Kellners nichts mit, denn er war in Gedanken versunken. Er war sich sicher, Max würde seinen Weg machen. Seine Familie war gut bekannt mit dem Eisenbahnminister Zdenko von Forster zu Philippsberg, dessen zweite Amtszeit Ende des vergangenen Jahres begonnen hatte. Er war es auch gewesen, der den jungen Mann ins Ministerium geholt hatte, wo er ihn der externen Dienststelle der Generalinspektion zuwies. Als technisch versierter Fachmann hatte sich Becker schnell die Anerkennung seiner Kollegen erarbeitet.
Dr. Fried blickte auf seine Taschenuhr, die er in seiner Weste verstaut und mit einer Kette gesichert hatte. Kurz vor 15 Uhr. Er war feierlicher als sonst angezogen, denn er wollte ein abschließendes Gespräch mit dem Priester führen, der morgen die Trauung vornehmen würde. Und die kleine Kapelle wollte er inspizieren, ob alles so vorbereitet war, wie er es bestellt hatte. Der Blumenschmuck, die große Kerze …
Die Kollegen hatten seinen gehobeneren Kleidungsstil an diesem Tag wohl bemerkt, aber niemand hatte es gewagt, nachzufragen. Der Chef wusste solche privaten Vertraulichkeiten nicht zu schätzen.
»Herr Johann!«, rief Dr. Fried mit gedämpfter Stimme und wackelte mit dem Zeigefinger in der Luft.
Herr Johann zog die Nase hoch und blickte auf den Gast hinab. »Sofort, Herr Regierungsrat«, murmelte er, gerade laut genug, dass Dr. Fried ihn hören konnte.
Herr Johann war als Kellner aus dem alten Café Schrangl übernommen worden, das vor dem Abriss des alten Trattnerhofes Dr. Frieds Stammkaffeehaus gewesen war. Nun war es eben das Grabencafé in dem modernen Doppelbau, den sie auf dem altehrwürdigen Graben errichtet hatten. Ja, man musste mit der Zeit gehen, und so hatte Dr. Fried eines Tages für sich beschlossen, dass ihm die neue Architektur des Rudolf Krausz gefiel.
»Da hat uns der böhmische Architekt was dahergestellt«, hatte Dr. Fried sich kritisch gezeigt, als er das Café zum ersten Mal nach der Wiedereröffnung besuchte.
Herr Johann, zu dem er es sagte, hatte nur den Kopf geschüttelt und gemeint: »Hauptsach’, unser Café gibt’s noch!« Damit war eigentlich alles zum Ausdruck gebracht.
»Sofort, sofort«, klang Herrn Johanns Stimme nach, als er mit einigen Tassen und Tellern auf dem Unterarm um die Ecke verschwand. Klirren und Klingen von Porzellan und Besteck stach durch den Gästeraum. Dr. Fried griff noch einmal nach der Neuen Freien Presse, legte sie aber gleich wieder auf den Stuhl zurück, ohne sie geöffnet zu haben. Er konnte sowieso keinen anderen Gedanken mehr fassen als jenen an seine geliebte Tochter im weißen Kleid. Um den Hals das Collier, das er seinerzeit seiner Frau geschenkt hatte. Amalia hatte ihm versprechen müssen, es zu tragen.
Amalias Mutter war eine besondere Frau gewesen. Nicht nur, weil sie die oft ausufernden Arbeitszeiten ihres Mannes stoisch ertragen hatte. Umso bedauerlicher war es, dass sie es jetzt nicht mit ihm miterleben und genießen konnte, dass er als Vorgesetzter einer ganzen Truppe seine festen Bürozeiten hatte, und nicht, wie früher, in den Außendienst geschickt wurde, wann immer die Umstände danach riefen.
Dr. Fried hatte seine Frau geliebt. Bis zum letzten Atemzug, den sie vor nun schon über zehn Jahren in ihrem gemeinsamen Ehebett gemacht hatte. Er hatte den Arzt fortgeschickt, nachdem klar gewesen war, dass dieser nichts mehr für sie tun konnte. Ein alter Schulfreund war der Arzt, von der Anteilnahme selbst ziemlich mitgenommen, aber in seiner medizinischen Zuverlässigkeit unantastbar. Es ergab keinen Sinn, durch die letzten Stunden mussten sie alleine durch, der Ehemann und seine Frau. Die Tochter, die damals an der Schwelle zur jungen Frau stand, hatte er bei einer Tante untergebracht mit dem Versprechen, sie sofort zu holen, wenn es »so weit« war. So weit war es dann irgendwann tief in der Nacht gewesen.
»Sofort!« Herr Johann eilte an Dr. Fried vorbei, als wäre ein bissiger Hund hinter ihm her. Auf einem Tablett balancierte er ein Wiener Schnitzel mit dem obligatorischen Erdäpfel-Vogerl-Salat und ein großes Bier. »Gleich bei Ihnen, Herr Regierungsrat!«
Obwohl sich alles verändert hatte – der Häuserblock, das Kaffeehaus, ja die ganze Stadt –, war neben der Bedienung die Küche im Grabencafé die alte geblieben. Gut wie eh und je. Auch das hatte Dr. Fried die Umstellung und die Akzeptanz der neuen Zeiten erleichtert. Wien war ja längst nicht mehr das, was es noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen war. Dr. Fried hatte die Stadt von Kindesbeinen an als sich stetig wandelnde Baustelle kennengelernt. Er war etwa zwei Jahre alt gewesen, als der inzwischen hochbetagte Kaiser die Stadtmauern hatte schleifen lassen. Baustellen sind Abenteuerplätze für Kinder, zugleich sind sie verbotene Zonen – zu gefährlich, wie einem die Eltern und die Obrigkeit mit der ernsten Miene der Untersagung sagten. Seit damals wuchsen eindrucksvolle Gebäude auf den frei gewordenen Flächen und auch vor dem Herzen der Stadt machte der Umbruch nicht halt. Ja, Dr. Fried hatte sich daran gewöhnt und wehrte sich zugleich innerlich dagegen – eine echte Wiener Seele eben.
»Herr Johann!«, rief er erneut, als der Kellner an ihm vorbeihuschte, diesmal ließ er seine Stimme etwas vorwurfsvoll klingen.
»Herr Regierungsrat wollen zahlen?«, fragte Herr Johann, machte aber keine Anstalten, an Dr. Frieds Tisch zu kommen.
»Jjjjjja«, schickte Dr. Fried seinen Wunsch gedehnt hinter dem schon wieder im Küchenbereich verschwindenden Kellner her.
Die Baustellen seiner Kindheit. Sie waren ihm Reiz und Gefahr zugleich gewesen. Vielleicht hatten sie ihn dazu gebracht, sich für den Beruf des Polizisten zu begeistern? Seine Eltern hatten sich zwar eine Beamtenlaufbahn für ihn vorgestellt, aber vielleicht nicht gerade so eine. Keine mit Kontakt zu kriminellen Elementen. Als Jurist in einem Ministerium, ja, das hätte seinem Vater gefallen. Und Dr. Fried wäre damit wohl eine genaue Kopie von ihm geworden. Aktenpapier auf Aktenpapier stapelnd.
Gut, inzwischen hatten seine Dienstjahre ihn in eine ähnliche Situation gebracht. Schreibtischakteur. Denker hinter den Berichten, die seine Kollegen aus dem Außendienst lieferten und aus denen er jene Schlüsse zog, die ihn die folgenden Schritte der Polizeibeamten anordnen ließen. Die Kriminalpolizei kann nicht ohne das Gehirn im Inneren funktionieren, das hatte er im Laufe der Jahrzehnte gelernt. Nun durfte er eines dieser Gehirne sein.
»Bitte, Herr Regierungsrat!« Herr Johann stand vor ihm und hatte seine große schwarze Geldtasche aufgefaltet. Die Erwartung eines anständigen Trinkgeldes war sein stetiger Begleiter.
»Mittagsmenü … Und dann eben die Jaus’n!«
Dr. Fried ließ seinen Blick über den kleinen Tisch schweifen, den Herr Johann schon bis auf das halb geleerte Glas Wasser frei geräumt hatte.
»Ja, wie immer also«, kommentierte der Kellner und überschlug hinter zuckenden Augenlidern die Summe, die er seinem Gast zu verrechnen hatte.
Dr. Fried legte ein Zwei-Kronen-Stück auf den Tisch. Der kahle Kopf des Kaisers glänzte ihm im Profil entgegen. »Stimmt so«, sagte Dr. Fried klar und deutlich.
»So großzügig heute, Herr Regierungsrat?« Strahlend steckte Herr Johann die Münze in die Geldtasche.
»An manchen Tagen soll man die eigene Freude an seine Mitmenschen weitergeben«, erklärte Dr. Fried und streckte den Rücken durch. »Meine Tochter wird morgen heiraten, das ist ein wahrer Grund zur Freude.«
»Ja, wenn der Herr Schwiegersohn ein anständiger Kerl ist …«, dachte Herr Johann laut nach. »Und wenn er dem Herrn Schwiegerpapa gefällt … Ja, dann schon.«
Herr Johann grinste breit und Dr. Fried grinste genauso zurück. Der Schwiegerpapa war zufrieden.
Langsam stand Dr. Fried auf und legte die Handflächen auf seinen Rücken. Ja, das Alter forderte da und dort bereits ein wenig Tribut. Außendienste waren da definitiv keine gute Idee mehr. Er musste unumwunden zugeben, dass das österreichische Beamtensystem eine ausgeklügelte Angelegenheit war. Besser konnte man es eigentlich nicht ausrichten. »Jetzt muss ich noch rüber zur Stanislauskapelle und nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Man hat ja schließlich seine Vorstellungen. Wenn man schon alles bezahlt …«
Als Brautvater lag es an ihm, die Hochzeit auszurichten. Und es machte ihm nicht das Geringste aus. Zum einen, weil sowieso nur im engsten Kreis geheiratet wurde, zum anderen, weil die Familie des Bräutigams nicht sehr wohlhabend war. Maximilian Beckers Kapital lag in seinem Talent, die Früchte würden er und seine künftige Frau in einigen Jahren ernten.
»Ja, Herr Regierungsrat, so ist das eben: Heiraten kostet a Menge Geld.«
Herr Johann reichte Dr. Fried den Staubmantel und den Hut. Der warf den Mantel über den Arm und nahm den Hut bei der Krempe.
»Dann bis nächste Woche, Herr Johann!«
Der Kellner deutete eine Verneigung an und sah dem Stammgast nach, wie er das Lokal verließ und auf den Graben hinaustrat.
Die Sonne entfaltete jetzt ihre volle Kraft. Die Wettervorhersage war auch für den kommenden Tag ausgezeichnet, das Brautpaar würde in ihrem Schein glänzen, und die Festtafel direkt im Anschluss an die Hochzeitszeremonie könnte im Freien stattfinden, wie Dr. Fried es sich wünschte.
Er setzte den Hut auf und wechselte den Mantel auf den anderen Arm. Recht viele Menschen zogen an ihm vorüber, manche geschäftig, andere flanierend. Wer weiß, dachte sich Dr. Fried, wenige Jahre nur mehr und auch er würde zu den Flanierern zählen, ein Kriminaloberinspektor im Ruhestand mit einer wohlbemessenen Pension. Eigentlich konnte er sich das ganz gut vorstellen.
Es waren sicher nicht die Akten und die dazugehörigen Notizen, die er vermissen würde. Da eher schon das Tüfteln und Knobeln gemeinsam mit dem Novak, der für ihn von einer Schreibkraft zu so etwas wie einer rechten Hand geworden war.
Der Novak war schlau. Er blickte blitzschnell hinter die Kulissen, lüftete die Vorhänge, hinter denen raffinierte Verbrecher ihre Geheimnisse verbargen, zog Türen auf, die niemandem sonst aufgefallen wären. Anton Novak war ein gewiefter Kerl, und wenn er das Glück gehabt hätte, zu studieren, wäre ihm sicher eine beachtliche Karriere beschieden gewesen. So aber war der Novak Dr. Fried zugefallen – oder eher umgekehrt, denn Anton Novak war bereits Schreibkraft bei der Kriminalpolizei gewesen, als Dr. Fried in seine jetzige Abteilung versetzt worden war. Also befördert. Das war nun auch schon an die dreißig Jahre her. Wenn man jemanden dauerhaft an einen Schreibtisch setzte, galt das immer als Beförderung. Wegen des höheren Soldes, der ruhigeren Kugel, die man schieben konnte, wegen der größeren Zahl an Untergebenen, die man in der Wiener Weltgeschichte umherschicken durfte.
Dr. Fried schritt durch das Gässchen, das den Graben mit der dahinterliegenden Goldschmiedgasse verband. Auch so eine Neuerung, die dem Architekten hier eingefallen war. Statt den alten Trattnerhof wiederzuerrichten, hatte er ein zweigeteiltes Gebäude konzipiert, sodass ein Durchgang entstanden war. Na ja, jedem das Seine. Dr. Fried fand es schon ganz in Ordnung so, mehr oder weniger eben.
Ja, der alte Novak. Er war das einzige Nichtfamilienmitglied, das er zur Hochzeit eingeladen hatte. Er mochte den Novak. Und der Novak fand auf diese Weise Anschluss. Eine eigene Familie war ihm nie vergönnt gewesen. Irgendwie war das Schicksal in Gestalt einer Frau immer an ihm vorübergezogen. Und somit hatte er auch keine Kinder und keine Enkel, wie es für sein Alter nicht ungewöhnlich gewesen wäre.
Enkel! Dr. Fried ertappte sich, wie er auf offener Straße laut auflachte. Zum Glück hörte es niemand, denn im Durchgang befand sich gerade keine andere Person. Ob ihm seine Tochter schon bald den ersten Enkel schenken würde? Ob er es überhaupt als Geschenk betrachten würde? War er nicht doch zu jung für … Nein, das war wohl übertrieben. Mit sechsundfünfzig Jahren war man höchst reif, überreif vielleicht sogar für die Rolle des Großvaters. Was konnte er dafür, dass sich im Leben seiner Tochter alles verzögert hatte? Es war wohl der Tod ihrer Mutter, seiner geliebten Frau, der alles nach hinten verschoben hatte. Zum Glück hatte Dr. Fried schnell gelernt, das zu akzeptieren und seine Tochter nicht zu bedrängen – nicht im Privaten, nicht in der Schule, wo die Lernschwierigkeiten ihr mit einem Schlag sehr zusetzten.
Dr. Fried schritt zügig von der Goldschmiedgasse zur Peterskirche hinüber. Die grüne Kuppel lag satt in die Sonne getaucht da. Einige Gläubige betraten das Gotteshaus oder verließen es gerade, in dieser Kirche gab es immer ein reges Kommen und Gehen.
Dr. Fried hatte für die Hochzeit bewusst die Stanislaus-Kostka-Kapelle ausgewählt. Sie war ein wahrer Ort der Stille, bescheiden in ihren Ausmaßen, denn sie überschritt nicht die Größe von zwei Zimmern. Für Dr. Frieds und Max Beckers Familie war die Bestuhlung gerade ausreichend. Besser ein gut gefüllter kleiner Raum als ein leer wirkender großer, war sein Credo. Und, ja, zugegeben: Die Kapelle barg die besondere Eigenschaft in sich, dass seinerzeit auch er und seine Frau dort geheiratet hatten.
Amalia hatte darauf bestanden. Ihre Mutter würde vom Jenseits herüberschauen und sich freuen. Und noch mehr würde sie sich darüber freuen, dass ihre Tochter in ihrem damaligen Kleid heiratete und auf jener Bank vor Gott knien würde wie sie seinerzeit. Es war nicht Dr. Fried gewesen, der seine Tochter auf diese Idee gebracht hatte.
Amalia war ein gutes Mädchen. Eine junge Frau inzwischen, natürlich. Aber welcher Vater gewöhnte sich schon an den Gedanken, dass sein kleines Mädchen keines mehr war. Dass es sich zu einer eigenständigen jungen Frau gemausert hatte. Wie man es als Eltern ja erstrebte und worauf man hinarbeitete.
Sie würden eine ganze Messe feiern. Und Anton Novak würde eine der Lesungen vornehmen. Dr. Fried hatte seine Tochter gebeten, dass er den Novak danach fragen dürfe. Amalia war sofort einverstanden gewesen. Auch sie kannte »Onkel Novi« gut, oft war er früher zu Besuch bei ihnen zu Hause gewesen und hatte ihr etwas mitgebracht. Die Besuche waren nie privater Natur gewesen, sondern immer im Zeichen eines Falles gestanden, den ihr Vater gerade zu lösen hatte. Und zu Hause konnten er und Onkel Novak besonders gut nachdenken. Aber das hatte sie damals nicht gewusst, für sie war der Onkel einfach zu ihr gekommen, um ihr etwas zu schenken.
Dr. Fried ging die Milchgasse hinunter, querte die Tuchlauben und folgte der Steindlgasse bis an ihr Ende. Das Haus rechts an der Ecke war die Kurrentgasse 2, in dessen erstem Stock sich die Kapelle befand. Es diente als Pfarrhof für die Jesuitenkirche Am Hof und war entsprechend ruhig und unbewohnt.
Dr. Fried zog die schwere Holztür auf und trat in einen dunklen Hausgang, der zur Linken mit einer Treppe den Weg nach oben wies. Bedächtig nahm er den Hut vom Kopf.
Das einzige Geräusch, das an sein Ohr drang, war das langsame Ziehen der Tür, die sich dem Schloss annäherte, und abschließend das harte Klicken, als sie in selbiges fiel. Danach war es still. Von einem Fenster oben am Ende der Stiege drang schwaches Tageslicht ins Innere. Dr. Fried hätte den Hausgang eher als halbdunkel denn als halbhell bezeichnet.
Als er zum ersten Gespräch mit dem Priester hier gewesen war, vor einigen Monaten, war ihm eine ältliche Frau in grauer Schürze und mit einem Wischmopp in den kralligen und fleckigen Händen entgegengekommen. Ihr Rücken war krumm gewesen und sie hatte schief zu ihm hinaufgeblickt. Es war schwierig gewesen, ihr die Information zu entlocken, die er damals benötigte, nämlich die Antwort auf die Frage: »Wo ist der Herr Pater?«
»Herbata? Herbata?«, hatte die Frau ein paarmal kopfschüttelnd wiederholt, bis Dr. Fried nach einigen weiteren Versuchen seinerseits bemerkte, dass die Frau kaum oder gar nicht Deutsch sprach und wohl aus dem slawischsprachigen Raum stammte. Herbata – war das nicht das polnische Wort für Tee? Der Priester, den er gesucht hatte und der für die Stanislaus-Kostka-Kapelle zuständig war, war ein gebürtiger Pole und hatte sich wohl Unterstützung aus der alten Heimat geholt.
Dr. Fried hatte sich auf Gesten und andere Worte verlegt. »Priester«, »Pfarrer«, hatte mehr Kreuzzeichen geschlagen, als er es normalerweise während einer Messe tat, und war erleichtert gewesen, als er endlich ein Lachen über das Gesicht der alten Frau huschen sah.
Sie hatte mit zitterndem ausgestrecktem Arm die Stufen hinaufgewiesen, den Stiel mit dem Wischmopp am Ende gegen ihren dürren Körper gelehnt.
»Na górze«, hatte sie mit ihrer kratzigen Stimme gesagt, und Dr. Fried hatte verstanden: »Na gusche.« Oben, hatte das wohl geheißen, denn sie hatte ja in das obere Stockwerk gewiesen. Abgesehen davon, dass es sowieso keinen anderen Weg ins Innere des Hauses gab, hatte Dr. Fried beschlossen, die Stufen hinaufzusteigen und dort nach einem Pfarrbüro zu suchen.
Nun kannte er den Weg natürlich. Er wusste, dass Pater Anzelm Szczepczyk ein kleines Büro hinter den Räumlichkeiten der Kapelle zugewiesen bekommen hatte. Offiziell gehörte das alles zur »Kirche zu den neun Chören der Engel« am Hof, von deren Altane aus im Jahre 1804 das Erbkaisertum Österreich proklamiert worden war. Dr. Frieds Vater hatte ihm oft davon erzählt, so lebhaft und begeistert, als ob er selbst dabei gewesen wäre. Als Kind war es Dr. Fried nicht klar gewesen, dass sich das rechnerisch mit dem Geburtsjahr des Vaters gar nicht ausgegangen wäre.
Die Stufen waren in der Mitte deutlich abgetreten. Es war ein altes Haus aus dem 15. Jahrhundert, dessen Grundsubstanz in den Jahrhunderten kaum verändert worden war. Das war zweifelsohne auch dem Umstand geschuldet, dass hier ein späterer Heiliger seine Wohnstatt gefunden hatte. Pater Anzelm hatte Dr. Fried die Geschichte des heiligen Stanisław Kostka ausführlich erzählt, nicht ohne eine gewisse Portion Nationalstolz, wie Dr. Fried amüsiert feststellen musste. Einmal hatte Pater Anzelm sogar die Formulierung »unser Heiliger« verwendet. Nun gut, jeder, wie es ihm gefällt. Dr. Fried hatte die Geschichte des heiligen Stanislaus natürlich bereits gekannt, nicht in allen kleinen Details, wie der Priester sie ihm darstellte, aber wer wusste schon, wie vieles davon erfunden war und der Begeisterung eines Polen für einen anderen entsprang.
Stanisław Kostka hatte gemeinsam mit seinem Bruder im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts zwei Zimmer in diesem Haus bewohnt. Sie waren Söhne aus einem polnischen Adelsgeschlecht und der junge Stanisław besuchte in Wien das Jesuitenkolleg. Seine Frömmigkeit war schon zu seinen Lebzeiten legendär, und nachdem er im Alter von nur achtzehn Jahren in Rom verstorben war, wurde er wenige Jahrzehnte danach selig und bald darauf heiliggesprochen. Die ehemaligen Wohnräume in Wien wurden zu einer Kapelle umgestaltet, in der man ihn seitdem verehrte.
Pater Anzelm war ein alter Mann. Hager, fast ausgemergelt war sein Körper, als würde er sich kasteien und nur der Verehrung »seines« Heiligen widmen. Sein Gesicht war von einem voluminösen Rauschebart bedeckt, sodass man dessen Formen kaum erahnen konnte. Eigentlich begann es erst so richtig ab der Nase und reichte über schmale Augen und eine breite Stirn hinauf bis zu einem wirren und dichten Gestrüpp von Haupthaar. Trotz seines höheren Alters befanden sich kaum graue Haare in seinem Bart oder auf seinem Kopf.
Sympathisch war der Mann Dr. Fried von Anfang an nicht gewesen. Aber das war letzten Endes egal, denn er sollte ja nur die Zeremonie leiten. Eigentlich hatte es lediglich zwei Themen gegeben, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren, um abzuklären, ob eine Hochzeit in der Kapelle überhaupt möglich wäre: die breit erzählte Lebensgeschichte des heiligen Stanislaus und die Frage des Geldes. Weil, so Pater Anzelm, die Erhaltung der Kapelle sei eine kostspielige Aufgabe! Seine Lebensaufgabe. Und ein Auftrag Gottes, natürlich. Und wenn die Menschen das Geld hätten, um sich nach der Hochzeit eine feierliche Festtafel mit dem besten Essen zu leisten, dann wäre es nur recht und billig, wenn eine entsprechende Summe für die Kirche abfiele. Denn wieso sollte nicht auch der Ort des Segens Gottes seinen Wert haben?
Dr. Fried hatte den Eindruck gehabt, dass der Geistliche bereit gewesen war, zu feilschen. Jede Krone mehr, die er heraushandeln konnte, wäre ihm stundenlanges Reden und Argumentieren wert gewesen. Doch die großzügig bemessene Zeit eines Priesters hatte ein Kriminaloberinspektor nicht. Dr. Fried hatte schnell nachgegeben und sich eine Summe nennen lassen, die der Priester für den Ort und den Anlass als angemessen befand.
»Alles für die Kapelle, natürlich. Alles!« So seine Worte. Die schmalen Augen waren noch schmaler geworden, nur mehr erahnbare Striche. Dr. Fried hatte ihm kein Wort geglaubt.
Das Misstrauen war bei ihm zu einer Berufskrankheit geworden, die manchmal bis in sein Privatleben drang. Oder zumindest gewisse Symptome hervorrief. Vielleicht war es auch einfach ein geschärfter Spürsinn. Oder er hatte Überempfindlichkeiten entwickelt, wenn er auf einen gewissen Typus Mensch stieß – den unangenehmen, den, der etwas zu verbergen hatte. Als solcher Typus erschien ihm Pater Anzelm. Aber vielleicht lag seine Abneigung einfach daran, dass er Priestern generell nicht mit Sympathie gegenüberstand. Damals hatte er nur möglichst schnell einig werden wollen mit dem Mann und alle anderen organisatorischen Fragen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Jetzt lag fast alles hinter ihm. Die morgige Hochzeit würde der Höhe- und zugleich Endpunkt all dessen sein, worum er sich in den vergangenen Monaten gekümmert hatte. Und heute war der Tag der letzten Kontrolle.
»Herr Regierungsrat!« Die Stimme war unverkennbar jene von Pater Anzelm.
Gepresst kamen die Worte hervor und Dr. Fried konnte sich gut vorstellen, dass der unter dem Bart verborgene Mund ein ebenso schmaler Strich war wie die beiden Augen. Akzent war fast keiner zu hören, lediglich ein etwas anderer Klang, als man ihn vom Wiener Zungenschlag gewohnt war.
»Herr Regierungsrat!«, wiederholte er, lauter als beim ersten Mal, und eilte mit großen Schritten und ausgestreckter Hand auf den Oberinspektor zu.
Pater Anzelm war die übertriebene Freundlichkeit in Person. Dr. Fried hatte die vereinbarte Summe für den Tag vor der Hochzeit zugesagt, also für heute. Vielleicht war Pater Anzelms Laune deswegen so gut? Manchmal sah Dr. Fried nur das Schlechteste in einem Menschen.
»Ein schöner Tag heute«, stellte Pater Anzelm fest, und es war Dr. Fried nicht klar, ob er das Wetter meinte oder den Umstand seines geldversprechenden Erscheinens.
Pater Anzelm ergriff Dr. Frieds Hand und schüttelte sie bedächtig. Er hielt sie lange fest, Dr. Fried wollte sie ihm nicht brüsk entreißen, es wäre ihm als ein doch zu unfreundlicher Akt erschienen. In Pater Anzelms schmalen Augen zeigte sich ein Glanz, den Dr. Fried nicht einer seligen Entrückung zuschrieb.
»Sie wollen sicher die Kapelle besichtigen?«, fragte der Geistliche eher rhetorisch.
»Darum bin ich hier«, antwortete Dr. Fried und erhielt endlich seine Hand zurück.
Sie standen in einem kurzen Gang, an dessen Ende eine dunkelbraune Holztür einen Spalt geöffnet war. Dahinter, so wusste Dr. Fried von seinen früheren Besuchen, lagen ein paar kleine Räumlichkeiten, eine davon das Büro des Paters.
Links an der Längsseite des Ganges gab es zwei weiß lackierte Türen. Die erste stand weit offen, die zweite war geschlossen. Es waren die Türen zu den beiden ehemaligen Wohnräumen Stanisław Kostkas und seines Bruders, die später zu einem Raum zusammengelegt worden waren, um eine Kapelle von halbwegs ausreichender Größe zu gestalten. Sie war im 18. Jahrhundert mit viel Stuck, Marmor und Goldplattierungen ausgestattet worden und wirkte seitdem protziger, als ihre übersichtlichen Ausmaße es eigentlich zuließen. Dr. Frieds verstorbene Frau war von Kindesbeinen an in diese Kapelle verliebt gewesen und hatte die Gottesdienste dort regelmäßig besucht. Als nicht intensiv religiöser Mensch hatte Dr. Fried ihren Wunsch, dort zu heiraten, von vornherein respektiert, und seine Schwiegereltern hatten mit viel Freude das Aufgebot übernommen.
Mit ähnlicher Freude war nun Dr. Fried als Brautvater am Werke. Der Blumenschmuck sollte üppig sein, das würde er gleich zu sehen bekommen, weiße Rosen in rauer Menge. Dazu – ebenfalls reichlich – großflächige tiefgrüne Blätter, vor allem seitlich vom Altar. Jede der Stuhlreihen war mit einem zarten Bukett geschmückt, hier dominierte die Farbe der Liebe: ein inniges, ein tiefes Rot.
Ja, Dr. Fried konnte auch kitschig sein. Wer behauptete, dass ein Kriminaloberinspektor nicht in der Lage war, romantische, gefühlvolle Saiten zum Klingen zu bringen, hatte keine Ahnung. Seine Frau – Gott hab’ sie selig – hatte das immer gewusst.
»Nach Ihnen, Herr Regierungsrat«, sagte Pater Anzelm und ließ Dr. Fried den Vortritt durch die offen stehende Tür. Der erste Eindruck erschütterte Dr. Fried, aber in positiver Weise. Schon allein der Duft, der den kleinen Raum erfüllte, umschmeichelte ihm das Vaterherz und trieb ihm beinahe Tränen der Rührung in die Augen, als er sich Amalia und Max vor dem Altar kniend vorstellte.
Die Bestuhlung war schlicht. Auf der Sitzfläche jedes mit weinrotem Plüsch bezogenen Stuhles lag eine cremeweiße Karte aus stärkerem Papier, auf die in goldenen Lettern ein passendes Zitat aus der Bibel gedruckt war sowie die Namen des Brautpaares und das Hochzeitsdatum. Max Becker und Amalia hatten sich gemeinsam für Johannes 15,12 entschieden:
Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.
Wiederholte sich alles im Leben von Generation zu Generation? Oder waren das nur die sentimentalen Gefühle und Interpretationen eines alt werdenden Vaters? Dr. Fried sah vor seinem geistigen Auge sich selbst in jungen Jahren durch diese Tür schreiten, seine Braut am Arm, die Musik kam von einer mobilen Orgel, wie er sie auch für morgen organisiert hatte.
Das Instrument stand ganz hinten in dem Raum, unter dem von außen mit einem Schmiedeeisengitter geschützten Fenster, das auf die Kurrentgasse hinauswies. Er hatte dafür auf die letzten beiden Stuhlreihen verzichtet, aber angesichts der überschaubaren Festgemeinschaft war das kein Problem. Es gab ausreichend Sitzplätze für alle.
»Nun?«, fragte Pater Anzelm. Er stand mit gefalteten Händen neben Dr. Fried und dünstete geradezu eine unerträgliche Selbstzufriedenheit aus. Als ob das alles hier sein Verdienst wäre.
Dr. Fried nickte. Sollte der Priester sich doch in seinem Wohlgefühl baden. Im Grunde war er die unwichtigste Person von allen, wenngleich er sie nicht völlig ausschließen konnte. Auch zur Festtafel direkt nach der Trauung würde er ihn einladen. Er musste ihn ja nicht gerade neben sich platzieren. Vielleicht neben Amalias Tante, der Schwester seiner verstorbenen Frau? Sie führte gerne Gespräche mit Geistlichen.
»Es ist genau so, wie es sein soll«, stellte Dr. Fried fest.
»Das war nicht anders zu erwarten«, bestätigte Pater Anzelm. »Ich habe auf alles höchstpersönlich geachtet. Als der Blumenschmuck geliefert wurde … Ach, übrigens: Dürften wir diesen nach der Zeremonie in der Kapelle behalten? Sozusagen als Spende. Er würde unseren geweihten Ort noch wenigstens eine Woche lang schmücken.«
Der Priester grinste Dr. Fried an, der, ohne eine Miene zu verziehen, nickte. Was sollte er mit dem vielen Blumenzeug auch zu Hause anfangen?
»Wie gesagt, ich habe alles überwacht. Der Bursche vom Floristen hat den Schmuck pünktlich gebracht heute Früh und ich habe ihn genauestens angewiesen, wie die Blumenpracht zu arrangieren ist.«
Wenn man ihm länger zuhörte, bemerkte man, dass Deutsch nicht seine Muttersprache war. Er sprach perfekt, kein Zweifel, aber Vokale, die lange ausgesprochen gehörten, gerieten bei ihm regelmäßig etwas zu kurz.
Wiederum nickte Dr. Fried. »Gute Arbeit, wirklich«, stellte er fest und meinte nicht Pater Anzelms Überwachungstätigkeit.
»Bald darauf kam die junge Dame von der Druckerei, die Sie beauftragt haben. Ich bin die ganze Zeit hier gestanden«, Pater Anzelm deutete auf den Türrahmen hinter ihnen, »während die junge Dame gewissenhaft jede Karte einzeln aufgelegt hat. Ich war so frei, mir eine zu nehmen. Als Erinnerung sozusagen.« Wieder grinste er. »Und ich war ebenfalls so frei, dem Burschen und der jungen Dame jeweils ein angemessenes Trinkgeld zu geben …« Seine Augenbrauen schossen in die Höhe, die plötzlich groß gewordenen Augen waren starr auf Dr. Fried gerichtet.
Der verstand, was dies zu bedeuten hatte, und erinnerte sich an das Kuvert, das er in der Innentasche seiner Jacke verwahrte. Bei dieser Summe sollte sich das Trinkgeld locker ausgehen, dachte er sich, ließ sich aber nichts anmerken. Wichtig war einzig und allein, dass das Fest morgen gelang.
»Dann wollen wir vielleicht …« Pater Anzelm zögerte.
Dr. Fried ließ noch einmal den Blick wandern. Das Altarbild war eine der vielen kleinen Besonderheiten der Kapelle. Es war auf Goldgrund gemalt und stellte die Kommunion des heiligen Stanislaus aus der Hand eines Engels dar. Auf diesem als Wunder deklarierten Ereignis basierte seine spätere Heiligsprechung. Und hier, in diesen Räumen, in Dr. Frieds Heimatstadt Wien, hatte sich dieses Wunder ereignet. Wenn man denn daran glaubte.
Dr. Fried jedoch war ein nüchterner Mann. Insofern beeindruckte ihn der Raum nur als Ort der Erinnerung an seine eigene Hochzeit, seine jungen Jahre. Auch der an Girlanden erinnernde Stuck an der Decke war sicherlich beachtenswert, Dr. Fried aber nahm ihn schlicht und ergreifend als gegeben hin.
Der Stuck umrahmte zwei Deckenmedaillons, die Szenen aus dem Leben des Heiligen darboten. Das eine zeigte die aufregende Flucht Stanisław Kostkas aus Wien vor den Jesuiten, die ihn aus Angst vor seiner Familie nicht in ihren Orden aufnehmen wollten. Das andere stellte seine Aufnahme in den Jesuitenorden in Rom durch den damaligen General Francisco de Borja dar.
Als Dr. Fried sich gerade zum Gehen umwandte, fiel sein Blick erneut auf den Altar. Unscheinbar standen dort zwei hölzerne Statuen. Ein Petrus, einige Jahrhunderte alt, etwa sechzig Zentimeter hoch und braun. Von seinem Heiligenschein waren ein paar Strahlen abgebrochen. Daneben war eine aus Holz geschnitzte Darstellung der Taufe Christi durch Johannes aufgestellt. Dr. Fried näherte sich dem Petrus, der fein gearbeitet war und doch ausgesprochen massiv wirkte, und besah ihn sich genauer.
»Eindrucksvoll«, murmelte er so leise, dass Pater Anzelm ihn wohl nicht hörte.