Die Blender - Martin Keune - E-Book

Die Blender E-Book

Martin Keune

3,7

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Hellseher, Wunderheiler und germanische Geheimbündler: Im Berlin des Jahres 1931 hat Okkultes Hochkonjunktur. Sándor Lehmann glaubt nicht an übernatürliche Geschehnisse. Dennoch taucht er bald tiefer in das spiritistische Milieu ein, als ihm lieb ist. Wahnwitzig inszenierte Morde, Sinnsucher, Hochstapler, Nazis und vor allem die eigenwillige Journalistin Rosalind Hossrow - zu der Sándor sich mehr und mehr hingezogen fühlt - stellen den harten Hund aus der Mordkommission vom Alexanderplatz vor ungeahnte Herausforderungen. Die Zeit drängt, denn der Täter ist nur allzu real …

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Seitenzahl: 354

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Martin Keune

Die Blender

Ein Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im berlin.krimi.verlag im be.bra verlag, 2014

© berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2014

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37

10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Umschlag: Martin Keune (Foto: © bpk)

ISBN 978-3-8393-6135-1 (epub)

ISBN 978-3-89809-533-4 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

DEMUT

ERNST

GRÖSSENWAHN

ANGST

HOCHMUT

EKSTASE

GEDULD

SELBSTÜBERSCHÄTZUNG

GLAUBEN

GESCHMACK

EIFER

ÜBERFORDERUNG

HALTUNG

GLEICHMUT

ERSCHÜTTERUNG

VERSCHWIEGENHEIT

UNSCHULD

EINFALT

RACHSUCHT

ENTSETZEN

UNSCHLÜSSIGKEIT

HEITERKEIT

ENTTÄUSCHUNG

WEISHEIT

WARMHERZIGKEIT

HABGIER

NACHWORT

DEMUT

Im Wedding konnte man nicht leben, aber hier, im noblen Grunewald, wollte er nicht mal beerdigt sein, da war sich Sándor Lehmann sicher. Als kleiner Junge hätte er alles dafür gegeben, den nach Kohleofen und Kohlsuppe riechenden Arbeiterbezirk verlassen zu können, hierher zu dürfen wenigstens für einen einzigen Nachmittag. Doch vielleicht musste man etwas nur lange genug herbeisehnen, bis irgendwann die Sehnsucht in kalte Gleichgültigkeit umschlug. Jetzt waren ihm die Straßen zu breit, die Gaslaternen zu verschnörkelt – konnten sie nicht ganz normale Gaslaternen haben wie überall in Berlin? –, und die Villen und Paläste, die sich hinter akkurat gestutzten Hainbuchenhecken und Wachholder versteckten, wirkten abweisend und einsam. Die Welt der Mächtigen und Erfolgreichen sah für den Kommissar der Mordkommission zumindest im Vorbeifahren nur noch wenig begehrenswert aus. Aber sie war ja auch nicht für ihn gemacht, diese Welt. Kein Wunder, dass sie ihn nicht mit offenen Armen empfing.

Immerhin rollte er mit einer Limousine vor, die den Vergleich mit den meisten anderen Droschken in den diskret verschlossenen Garagen sicher nicht zu scheuen brauchte. Der »Mordbereitschaftswagen« der Mordkommission war eine monströse Sonderanfertigung von Daimler-Benz, die Gennat, der Chef, hatte bauen lassen, um bei Ermittlungen gleich die ganze Technik vor Ort zu haben und bei Spurensicherung und Beweisfeststellung keine Zeit zu verlieren. Sándor Lehmann machte mit seiner hochgeschossenen, kräftigen Statur und dem düsteren Blick über einer etwas schief gehauenen Nase wie immer den Eindruck, als wüsste er den großen Auftritt mit grimmigem Wohlwollen zu schätzen. In Wirklichkeit hasste er diese rollende Werkzeugkiste, so wie er reitende Herolde mit Trompeten gehasst hätte, die seine Arbeit auch nur unnötig plakativ und auffällig gemacht hätten. Er arbeitete anders, tauchte ein in die Szenerie, bemühte sich um Mimikry: Das war mit diesem fünfsitzig ausgestatteten Automobil nicht möglich.

Allerdings schien der Fall, für den der Chef ihn vom Alexanderplatz aus hierher beordert hatte, sowieso keine große Sache zu sein. Ein toter Einbrecher in einer Villa, wahrscheinlich Notwehr, eine Gelegenheit zum Blattschuss, auf die ein bis an die Zähne bewaffneter Hausherr und Kriegsveteran nur gewartet hatte: Das hatten sie häufiger mal. Der Fahrer kannte die Adresse, und zweifellos wurden sie erwartet. Wahrscheinlich war das Tor des Anwesens schon weit geöffnet, um ihren Wagen zu verschlucken und kein Aufsehen zu erregen.

Doch Sándor irrte sich. Als der Wagen in die Brahmsstraße abbog, pfiff er mit gespitzten Lippen. Das Palais Pannwitz kannte in Berlin jedes Kind, der Kaiser selbst war bei rauschenden Bällen hier zu Gast gewesen, zu mondänen Teegesellschaften hier über den englischen Rasen promeniert. Graf von Pannwitz, ein Münchner Prominentenanwalt und Rechtsberater seiner Exzellenz höchstpersönlich, hatte hier ein Leben in Saus und Braus geführt, über das die Zeitungen nur zu gern geschrieben hatten. Doch in den letzten Jahren war das Haus in Vergessenheit geraten; von Pannwitz war vor elf Jahren, 1920, gestorben, und die Witwe Catalina Roth bewohnte das Haus seitdem nicht mehr. Imposant war das Gemäuer immer noch, und offenbar war auch ein Gärtner angestellt, der gerade jetzt aufgeregt vor dem verschnörkelten Tor auf sie wartete – doch der Verwahrlosung von Haus und Garten konnte er offensichtlich nicht viel entgegensetzen. Die dunkle Fassade mit den von innen verhängten Fenstern wirkte leblos und deplatziert. Das Haus hatte jeden Glanz verloren; es sah aus wie ein Tuberkulose-Hospital, nicht wie ein Anziehungspunkt für den deutschen Hochadel.

Der wild gestikulierende Mann hieß Sickert, war tatsächlich der Gärtner und – wie Sándor, der den vollkommen aufgelösten Burschen um anderthalb Köpfe überragte, schnell erfragte – nur einmal pro Woche hier. Im Haus selbst hatte er nichts zu tun, er war für den Garten zuständig. Da gab es weit mehr Arbeit, als an dem halben Wochentag zu schaffen war.

Doch diesmal hatte die Tür des Hauses offen gestanden, und weil er Anweisung hatte, etwaige Einbrüche an Catalina Roth zu melden und notfalls die Polizei zu verständigen, hatte Sickert allen Mut zusammengenommen und war durch die hohe Eingangshalle gegangen, hatte einen der meterhohen Damastvorhänge aufgezogen, damit etwas Licht hereinfiel, und war die Treppe hinaufgestiegen in den großen Salon. Und da – Sickert schüttelte es am ganzen Körper, als er sich an den Augenblick erinnerte: Da hatte er ihn gefunden.

»Ihn?«, wollte Sándor wissen, aber Sickert hatte die Augen aufgerissen und druckste nur noch schockiert herum, also nickte Sándor den Kollegen zu, und während Schmitzke und Hansen den zitternden Mann zum Mordbereitschaftsauto führten, wo wahrhaftig eine Sekretärin mit Schreibmaschine für eine eingehendere Befragung bereitstand, ging er selbst mit dem dicken Plötz unter den Eingangssäulen hindurch und betrat das Haus. Sofort umgab die beiden Männer ein trübes Licht von Vergänglichkeit. Weiße Hussen waren über alle Möbel gestülpt; wie in einem Kalksteinbruch durchquerten sie ganze Felder von weißen Kuben, die wegen der verhängten Fenster nur diffus beleuchtet waren. Der dicke Plötz war bei jeder Prügelei ganz vorne dabei, aber dieses milchige Zwielicht war ihm offenbar unheimlich. Er entsicherte nervös seinen Revolver, während sie die große Treppe erreichten, auf die der vom Gärtner Sickert aufgezogene Vorhang einen schmalen Streifen Zickzacklicht blitzen ließ. Doch Sándor legte dem Hauptwachtmeister die Hand auf den Arm, und Plötz ließ die Waffe sinken, als sein Vorgesetzter vor ihm die ersten Stufen betrat und geräuschlos und schnell über einen schweren Teppich die blütenweiße Marmortreppe hinaufstieg. Mit Treppen hielt Sándor Lehmann sich nicht lange auf, die musste man schnell hinter sich bringen, um einem Angreifer kein leichtes Ziel zu bieten und möglichst bald wieder stabil auf beiden Beinen zu stehen. Plötz sicherte seitwärts und nach hinten, doch da hatte Sándor schon den großen Salon betreten, eine Nebentür geöffnet – und sah die Bescherung. Mit einem Angriff mussten sie hier kaum noch rechnen; das Verbrechen, das in der Mitte des Raums stattgefunden hatte, lag offensichtlich schon ein paar Stunden zurück. Jedenfalls schien das verschnürte menschliche Paket, das da tot in der Raummitte lag, schon eine ganze Weile in dieser unbequemen Haltung hier auszuharren; die Stahlseile oder Klaviersaiten, mit denen es in eine aberwitzige Pose geschnürt worden war, hatten sich bereits tief in Haut und Fleisch eingeschnitten, und der Körper hatte längst jede Spannung verloren. Kein Zweifel, dieser Mann war tot, und nicht erst seit eben.

Sándor ließ den dicken Plötz alle Vorhänge und die Verbindungstür zum Salon öffnen, aber vom Wannsee her war eine Regenfront aufgezogen, und es wurde zwar etwas heller im Raum, doch die unwirkliche, kalkige Atmosphäre blieb und nahm den Dingen und Räumen ihre Kontur. Sándor umrundete den verschnürten Leichnam, der wie ein Betender oder ein zusammengekauertes Tier auf dem Boden hockte, setzte sich schließlich nur einen knappen Meter von dem Toten entfernt auf das von Staub und Abnutzung stumpfe Parkett und starrte das von einer gewaltsamen Strangulierung verzerrte Gesicht an. Auch wenn er einen Mord wie diesen, einen Leichnam wie den hier noch nie gesehen hatte, lag etwas irritierend Vertrautes in der gespenstischen und bizarren Szenerie: Er kannte den Mann.

Vielleicht zehn Jahre machte Sándor Lehmann seinen Job jetzt schon, und noch länger war er abends und nachts in Berlin unterwegs, streunte durch Spelunken, Spielsalons und Kaffeeklappen. Vor allem zog es ihn in die boomenden Musiklokale dieser unendlich großen Stadt, die Tanzpaläste und Kellerbars: Wo auch immer Jazz gespielt wurde, war er dabei. Als aufmerksamer Beobachter mit Tresenplatz – oder als Klarinettist auf der Bühne. Ein paar Jahre hatte er sogar in Julian Fuhs’ prominenter Jazzband mitgespielt; eine Ehre für einen Musiker, die ihm in Berlins Musikszene alle Türen geöffnet hatte. Dass er im Hauptberuf bei der »Schmiere« war, Leichen aufstöberte wie diese im Palais Pannwitz, das wusste von den Nachtschwärmern und Kollegen keiner. Auf der Bühne schützte ihn ein absurd großer roter Schnurrbart vor dem Erkanntwerden, ein antiquierter männlicher Bartschmuck, der seine Physiognomie so vollkommen veränderte, weg von seinen sonst eher etwas expressionistischen Gesichtszügen, dass ihm fast noch nie jemand auf die Schliche gekommen war.

Sein nächtliches Doppelleben hatte den Vorzug, dass er all die Hehler, Zocker und Zechpreller, die die Stadt durch die Etablissements schwappen ließ, ganz ungestört beobachten konnte – in freier Wildbahn sozusagen und nicht durch das polizeiliche Streifenmuster von Gitterstäben. Und diesen hier, diesen zu Tode geschnürten und strangulierten Mann, den kannte er genau aus solchen Zusammenhängen. Der Name fiel ihm nicht mehr ein; aber den würde das Fotoalbum unten im rollenden Untersuchungsbüro oder im Präsidium schnell zutage fördern. Doch das Gesicht hatte er nicht vergessen, und er erkannte es auch jetzt trotz der Grimassen der Gewalttat: den dürren Zickenbart, den hervortretenden Kehlkopf, die Augen mit den immer halb geschlossenen dicken Augenliedern. Der Bursche war ein kleiner Trickbetrüger aus Neukölln, ein Hausierer, der mit Wundertinkturen durch die Kneipen getingelt war, ab und zu mal einem in die Manteltasche gegriffen hatte, wenn die Gelegenheit günstig war, mal draußen auf der Straße einen Betrunkenen ausgenommen hatte, wenn der sich nicht wehren konnte. Ein kleiner Fisch, ach was, nicht mal das: eine kleine Kanalratte vom östlichen Landwehrkanal, ein falscher Doktor mit blühender Fantasie, der staunenden Reisenden vom Dorf spektakuläre Heilung von ihren Wehwehchen versprach – und dann nur gestrecktes Rizinusöl verkaufte.

Wie kam dieser falsche Fuffziger zu einer derartig arbeitsintensiven Art des Ablebens? Sándor zuckte die Achseln. Es waren seltsame Zeiten. Und in seltsamen Zeiten schienen traditionelle Formen der gegenseitigen Geringschätzung – eine Kugel in den Kopf, ein Totschläger in den Unterkiefer, ein grundsolider Messerstich – nicht mehr hoch im Kurs zu stehen. Es wurde mehr gestorben als früher, und auch der plumpe Totschlag draußen auf den Straßen hatte mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen von Kommunisten und Nationalsozialisten explosive Ausmaße angenommen – aber vor allem wurde anders gestorben, moderner. Sein Chef Gennat und der Mordbereitschaftswagen kamen mit der technologischen Nachrüstung gar nicht mehr hinterher, so viel Verrücktheiten passierten alle naselang in dieser großen, bösen Stadt Berlin.

Wer machte so was? Sándor hatte keine Ahnung, nicht die geringste. Nach einem simplen Raubmord, einer Abrechnung unter Kriminellen, weil einer im falschen Revier gewildert hatte, roch die Sache nicht. Manchmal wurden Leute stückweise umgebracht, wenn jemandem ihre Qual Genugtuung verschaffte oder sexuelles Vergnügen. Danach sah es hier nicht aus. Die Medizinmänner am Alexanderplatz würden das verschnürte Paket behutsam auspacken, doch Sándor war sich schon jetzt sicher, dass der Mann bereits tot gewesen war, bevor man ihn in diese unbequeme Anbetungspose gezwungen hatte. Er bekam eine Gänsehaut – ein ungewohntes Gefühl. Leichen waren ihm egal, die sah er in großen Mengen immer wieder. Arme Teufel, die ihren Körper gegen ihren Willen verlassen mussten, und die Körper selbst: schlaffe Hüllen, unbrauchbar, zurückgelassen. Das war hier anders, hier hatte einer mit dem toten Körper noch einen grausamen Mummenschanz veranstaltet, und das berührte bei Sándor eine tief vergrabene Scheu aus Kindertagen, ein Tabu, an dem es nichts zu rütteln gab: Mit Leichen spielte man nicht.

Vor allem: Was wollte der Täter, was wollten die Täter, wenn es mehrere waren, mit der blödsinnigen Demutspose sagen? Vielleicht gar nichts. Vielleicht hatte ein Geisteskranker hier die Inszenierung besorgt, hatte im Drogenrausch irgendeinen wirren Gedanken verfolgt. Die Villa Pannwitz stand seit elf Jahren leer: Für wen sollte hier jemand dieses makabre Marionettenspiel veranstalten?

Sándor hatte eine Idee; er bewegte sich seitlich um den Toten herum und legte sich flach auf den Boden. Volltreffer. Unter der filzigen schwarzen Hose und den dürren Beinen war das Holz zerkratzt. Der Tote hockte auf Splittern, Rissen im Parkett; einer Botschaft oder einer Signatur.

Wo steckte Plötz? Sándor sah sich um. Der korpulente Polizist schien mit dem seltsamen Fundstück ebenso wenig anfangen zu können wie er selbst; doch im Unterschied zu Sándor war er daraufhin nicht in konzentrierte Betriebsamkeit verfallen, hatte die Leiche nicht neugierig und mit angehaltenem Atem von allen Seiten untersucht, ohne sie zu berühren. Plötz war ratlos in der Verbindungstür zum Salon stehen geblieben, eine schlaffe Statue, und hatte einfach nur zugesehen, was sein Vorgesetzter da machte, während seine eigene Gesichtsfarbe das angestrengte Rot langsam verlor und sich dem fahlen Hellgrau der Möbelhussen annäherte.

»Mann, stehn’se da nicht nur rum, los, anpacken!«

Plötz zuckte zusammen und kam zögernd näher, auf Zehenspitzen, als könnte ein fester Tritt die ganze Inszenierung ins Wanken bringen. Sándor hatte sich suchend umgesehen, eine breite Schärpe, die um einen der Vorhänge gewickelt gewesen war, abgenommen und vorsichtig um den Toten gelegt. Er nahm das eine Ende in die Hand und reichte Plötz das andere. Zusammen zogen sie den Leichnam zentimeterweise vom Fleck. Sándor achtete nicht auf den Hauch von Schweiß und Zigarrenrauch, der den ärmlich gekleideten Mann noch immer umgab; er bemühte sich, an der ursprünglichen Pose nichts zu ändern. Schließlich gab der dünne Hintern des Mannes den Blick auf den Holzboden frei; und tatsächlich, dort hatte jemand ein krakeliges, eckiges Zeichen in die dicke Politur gekratzt, eine Rune oder ein geometrisches Symbol, Sándor wusste es nicht.

Als unten die Verstärkung eintraf, Scheinwerfer aufgebaut wurden und die Tatortfotografen an die Arbeit gingen, wanderte er noch immer schweigend durch die hohen Räume, die abweisend waren wie eine verlassene Kirche ohne Gläubige. Das rätselhafte Zeichen hatte er sorgfältig abgezeichnet, doch wenn das leere Palais Pannwitz eine verschlüsselte Auflösung für dieses Rätsel barg, dann kam er ihr nicht auf die Spur. Eine verlassene Prachtvilla, Hallen voller verschnürter Möbel – und ein verschnürter Kleinkrimineller, der nicht hierher gehörte: Sándor war mit Verbrechen groß geworden, die Hand und Fuß hatten; zum Rätselraten hatte er keine Zeit und keine Lust.

ERNST

Sickert, der Gärtner, musste früher im Schulchor ein wahrer Wunderknabe gewesen sein, denn er lernte offenbar im Nu auch längere Lieder auswendig. Nur konnte Sándor Lehmann ihm dafür hier im Polizeipräsidium am Alexanderplatz keine Fleißkärtchen überreichen, denn dass der Gärtner das wenige, was er der rollenden Sekretärin im Mordbereitschaftswagen schon in die Maschine diktiert hatte, nun wieder und wieder stereotyp wiederholte, das brachte seine Ermittlungen kein bisschen weiter. Sickert kam einmal die Woche einen halben Tag, das wusste Sándor schon; er schnitt die Hecken, fegte Laub zusammen, beseitigte Wespen- und Vogelnester.

»Einen Schlüssel fürs Haus haben Sie nicht?«, fragte Sándor zuletzt gelangweilt, und Sickert verneinte.

»Und Ihr Werkzeug – den Laubwagen, die Leitern –, wo bewahren Sie das auf?«

Diese Frage war neu. Sickert schien aus dem Trott des auswendig Gelernten nur mühsam zu erwachen, oder er hatte den Polizeibeamten nicht verstanden. Sándor Lehmann, der ihm in einem einfachen Straßenanzug mit zerknitterter Weste am Vernehmungstisch gegenübersaß, wiederholte sie.

»Im …«, Sickert schien zunächst nach einem Wort zu suchen, abzuwägen, sich umzuentscheiden und sagte schließlich, nachdem er sich noch mal geräuspert hatte: »Im Geräteschuppen.«

Sándor, der das Haus zweimal umrundet hatte und wusste, dass es nur ein Nebengebäude gab, vergewisserte sich.

»Niedriger Sandsteinbau, Efeu, Kupferdach?« Der Gärtner nickte.

Sándor atmete hörbar aus und sah in die dünne Handakte, die es zu dem Fall schon gab.

»W 876.«

»Wie bitte?« Der Gärtner verstand nicht.

»W 876 steht auf dem Schlüssel des Geräteschuppens, den Sie in Ihrer Jackentasche haben. Wollen wir wetten? Wir haben uns die Schlösser vom Hoftor, dem Nebengebäude und dem Haus selbst angesehen, Mann. Das ist polizeiliche Routinearbeit. Alles das gleiche Schloss, Registriernummer W 876, und alle Schlösser waren unbeschädigt. Sie haben einen Schlüssel für die Villa selbst, und natürlich wissen Sie das, denn Sie haben diese Leute da ja eigenhändig hineingelassen, also erzählen Sie mir hier keinen Scheiß, Sie Zaunkönig, Sie!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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