Knock Out - Martin Keune - E-Book

Knock Out E-Book

Martin Keune

4,6

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Berlin, 1932. Ein Leichenfund in der Boxerkneipe Fliegerbombe gibt der Polizei Rätsel auf. Bei den Ermittlungen zwischen Halbweltgrößen, Nazischlägern und Revuegirls gerät Kommissar Sándor Lehman immer tiefer in einen Strudel mysteriöser Ereignisse. Gleichzeitig steht die Weimarer Republik vor dem politischen Knock-out. Als die Reichswehr vor dem Polizeipräsidium aufmarschiert, ist Sándor erstmals in seiner Karriere versucht, das Handtuch zu werfen … "Es gewinnt ja nicht der bessere Mensch, sondern der Stärkere; im Boxen wie im Leben. Das ist die einzige Wahrheit, die der Boxkampf kennt." Die Zigarre brannte wieder; Brecht paffte damit, stieß eine bläuliche Rauchwolke aus. "Und für welche Seite der ›Wahrheit‹ kämpfen Sie, Kommissar?"

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Seitenzahl: 353

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Martin Keune

Knockout

Kriminalroman

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Umschlaggestaltung: Martin Keune (Foto: © bpk)

ISBN 978-3-8393-6141-2 (epub)

ISBN 978-3-89809-540-2 (print)

www.bebraverlag.de

FLIEGERBOMBE

Wahrscheinlich gab es lohnendere Orte, um eine Bombe explodieren zu lassen; Orte, wo mehr Menschen die Detonation hören würden, wo Bäume entlaubt werden konnten und Mauern zum Einsturz gebracht. Doch wenn man in dieser riesigen Stadt Berlin einen Ort gesucht hätte, wo man am wenigsten mit einer Bombe rechnen würde, dann wäre es hier; hier in den menschenleeren Gassen mit den Backsteinhäusern westlich der Friedrichstraße, wo selbst in dieser besonderen Nacht des Jahres Stille herrschte. Und es machte keinen großen Unterschied, ob die Bombe ein solider Sprengkörper mit Stahlmantel war – oder eine überfüllte Eckkneipe, die nur einen explosiven Namen trug und sich in dieser verlassenen Ecke der Stadt um etwas Bombenstimmung bemühte. Der Laden, auf den Sándor Lehmann in dieser Silvesternacht des Jahres 1931 zusteuerte, hieß Fliegerbombe, und als er, in einen dunklen Wollmantel gehüllt, den verschneiten Karlsplatz überquerte und rechts in die Luisenstraße abbog, deren Trottoirs mit Schneewehen zugedeckt waren, sah nichts im Viertel östlich der Charité nach einer Kneipe aus, die noch geöffnet hatte.

Doch Sándor wusste, wohin er wollte; die Bombe war ein, zwei Jahre lang sein zweites Zuhause gewesen – eigentlich sein erstes eigenes, richtiges Zuhause. Damals hatte er noch schräg gegenüber im 106er-Revier gearbeitet. Als Polizeianwärter hatte er die Arbeit unglaublich ernst genommen; als er zum ersten Mal einen der eben erst hopsgenommenen Ganoven am Tresen sein Bier trinken gesehen hatte, war das ein regelrechter Schock für ihn gewesen. Doch er hatte sich daran gewöhnt; er hatte sich überhaupt an vieles gewöhnt inzwischen – und besonders diese Ecknneipe machte es einem leicht, sich an sie zu gewöhnen und alles, was man sah, für normal zu halten. Sein Chef, Ernst Gennat, der legendäre Leiter der Mordkommission drüben am Alexanderplatz, hasste Schuppen wie die Fliegerbombe. Gennat wusste genau, dass sich hier die Halbwelt traf und dass es mit den Jungs vom 106er eine ganze Menge Berührungspunkte gab, die er lieber vermieden hätte – Berührungspunkte jeder Art. Manchmal berührten Fäuste Kinnspitzen oder Magengruben, manchmal berührten zwei Hände denselben Stapel Geldscheine, und beides war Ernst Gennat alles andere als recht.

Sándor Lehmann klappte den Mantelkragen herunter und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Manches sah der Chef zu eng; die Bombe war eine Kneipe, wie es sie in dieser Stadt Dutzende gab, und wenn die Mauscheleien zwischen den Guten und den Bösen nicht hier am Tresen stattfanden, dann fanden sie eben woanders statt, geheimer und versteckter und auch schlechter zu beobachten. Er selber hatte die Fliegerbombe – eben tauchte der schmale Eingang mit dem langen Flur dahinter im Schneetreiben auf – damals gern besucht, weil immer was los war. Denn für Berlins Boxszene war Rosis verräucherte Stehbierhalle der Anlaufpunkt Nummer eins, und irgendwer hatte immer gerade einen Überraschungssieg zu feiern, irgendeiner hatte immer Anlass, sein frisch zerknautschtes Gesicht in ein paar Eimer Bier zu tauchen und anschließend mit irgendeinem Fremden einen Streit anzuzetteln, um wenigstens nach dem Kampf noch etwas Brass loszuwerden. Eigentlich hatte das Lokal wohl einmal »Rosis Tanzbar« geheißen, aber zu einem der Boxer, dem sie auf der anderen Straßenseite in der Charité das Gesicht wieder zusammengenäht hatten, hatte der Chirurg angeblich gesagt: »Mann, was ist Ihnen denn passiert? Sind Sie von einer Fliegerbombe getroffen worden?« Ob das stimmte oder nicht: Der Satz hatte in der Kneipe mehrere Abende die Runde gemacht und immer grölende Heiterkeit erregt. Seitdem hatten alle Rosis kleines Lokal nur noch »Fliegerbombe« genannt, bis Rosi dem Druck der Massen nachgegeben und das neue Namensschild über die Tür geschraubt hatte; einen schnörkeligen Jugendstil-Schriftzug mit einer Pin-up-Vignette, einer jungen Frau, die auf einer riesigen Bombe ritt und Rosi nicht ganz unähnlich war.

Sándor wischte sich den Schnee von den Schultern und trat ein. Er war nicht immer so entspannt durch diese Tür gegangen; in die Bombe kam er in letzter Zeit vor allem, wenn er genervt war, wenn ein Fall klemmte, er einen Anschiss gekriegt hatte – oder wenn er eine Information brauchte, die nicht in den Akten stand, und er ein paar Fühler ausstrecken musste, ein paar Schnäpse spendieren, sich umhören. Manchmal machte er auch einen Bogen um den Laden, um Rosi nicht zu treffen, weil er Rosi nichts vormachen konnte, seitdem sie damals … egal. Manchmal ging er auch genau deshalb hin. Die Bombe, das war Nostalgie, die Rückkehr in seine ersten Jahre als Berliner Polizist. Es gab Abende, da erinnerte er sich gern an diese Vergangenheit, und Abende, da wich er ihr aus. Der Vergangeneheit – und Rosi.

Heute kam er nur auf eine Stippvisite hierher; ein schneller Besuch auf ein, zwei grüne Escorial, die Taschen voll mit lästig schwerem Kleingeld, das er von den Kollegen in der Mordkommission gesammelt hatte. Denn die Männer – und Gennats Sekretärin, Gertrud Steiner – hatten zusammengeworfen, um dem Chef zum Zweiundfünfzigsten (morgen, am Neujahrstag, kein Mensch hatte an Neujahr Geburtstag außer dem Chef) ein paar Eintrittskarten für einen großen Boxkampf zu schenken, und die bekam man hier in der Fliegerbombe zuverlässiger und meist auch preiswerter als an der Abendkasse im Spichernring.

Ja, es gab noch große Boxkämpfe, auch wenn die Zeiten schlecht waren; Jakob Domgörgen war ein Leichtgewicht mit Elan, eine Stahlfeder mit Sprungkraft, aber Phil Nefzger würde es ihm im Spichernring trotzdem schwer machen. Die Berliner Boxgemeinde fieberte dem ersten Kampf des neuen Jahres entgegen; Begegnungen wie diese waren selten geworden. Ernst Gennat, der Leiter der Mordkommission, war eigentlich kein Mitglied dieser enthusiastischen Gemeinde. Er wog mehr als die beiden Boxer zusammen, und dass er mal bei einer Festnahme handgreiflich geworden wäre, daran konnte sich niemand im Präsidium erinnern. Trotzdem liebte der dicke Mann vom Alexanderplatz das Boxen aus einer intellektuellen Distanz heraus; die schnellen Bewegungen, das Kalkül, das strategische Einsetzen der eigenen Kräfte reizten ihn wie ein kniffeliger Kriminalfall. Meist war der Chef zu knauserig mit seiner eigenen Zeit, um sich wirklich mal einen Kampf anzusehen – und vielleicht auch zu träge, den geliebten Plüschsessel im Büro zu verlassen –, aber wenn’s ein Geburtstagsgeschenk war, würde er sich den Spaß sicher gönnen.

In der Fliegerbombe ging es auch jetzt, fast zwei Stunden nach dem Jahreswechsel, noch hoch her. Andere Sportsmänner mochten ihre Körper mit Askese schonen; die Boxer und alle anderen, die den kleinen Laden heute rappelvoll machten, hielten nicht viel von Abstinenz. Sándor drückte dem Faktotum an der Tür, einem zahnlosen ehemaligen Seemann namens Geert, den Mantel in die Hand und sondierte die Lage. Er war oft genug hier gewesen, um noch immer mit einem einzigen schweifenden Blick zu erfassen, wer gerade da war. Im Grunde war es leicht zu erkennen: Die Boxer zum Beispiel ruderten bei ihren Erzählungen mit den Armen, schoben die Schultern vor oder nahmen die Fäuste vors Gesicht. Sie schwadronierten über ihre Kämpfe, erlebte oder erträumte, und ihre Muskeln schwadronierten mit. Die Polizeibeamten hatten schnelle Augen; während sie ihrem Gegenüber noch das Gesicht zuwandten, zuckten ihre Blicke hin und her. Sie wollten kontrollieren, ob sie gesehen wurden – und selber sehen, was es zu sehen gab. Die richtig harten Burschen oder jedenfalls – Sándor hatte zu viele von ihnen schon in der Mangel gehabt, um mit dem Adjektiv noch allzu verschwenderisch umzugehen – solche, die sich für hart hielten, saßen reglos vor ihren Getränken; sie taten entspannt, wollten nicht auffallen, versuchten, niemanden anzusehen, gleichgültig vor sich hin zu starren, während sie auf einen Lieferanten, einen Schuldner, einen Kumpan warteten. Alle anderen schrien durcheinander, lachten, klopften sich auf die Schultern.

Hinterm Tresen stand lächelnd Rosi, und Sándor fletschte die Zähne in ihre Richtung, ein Lächeln, das abgebrüht wirken sollte, aber ihm nicht gut gelang. Lächeln war keine seiner besten Übungen, und dass Rosis Anblick ihm noch immer jedes Mal einen kleinen Stich versetzte, ging ihm entschieden gegen den Strich. Rosi! Die viel zu große, viel zu ungelenke Person – in dieser aufgeregten Boxerkneipe hätte man eher einen resoluten Muttertyp erwartet, fand Sándor – stand mit verschränkten Armen an ihren vernickelten Zapfhähnen, großäugig, wachsam, mit einem ironischen Zug um den Mund. Diese Ironie, dieses fast geringschätzige Schmunzeln, mit dem sie quittierte, was um sie herum geschah: Das hatte Sándor vom ersten Tag an erstaunt. Verstand sie, was sie sah, durchschaute sie wirklich jeden einzelnen ihrer Kunden, und brachte sie wirklich ausnahmslos alldem diese typische Rosi-Mischung aus Wohlwollen und lächelnder Distanz entgegen? Er hatte es nie herausgefunden.

Rosies Lächeln veränderte sich kaum merklich, als sie ihn sah; vielleicht ging ein Hauch von Schmerz über ihr Gesicht, ein Anflug nur, wie wenn man ein paar Nüsse kaut und eine etwas bitterer schmeckt. Das war er, die etwas bitterere Nuss, er wusste es genau, auch wenn sie nie darüber gesprochen hatten. »Darüber sprechen«, das war gleich nach dem Lächeln seine zweitschlechteste Übung.

Aber da hatte ihn auch schon der Trubel verschluckt; Bekannte schlugen ihm auf die Schulter, alte Kollegen aus dem 106er, die an ihrem Posten festgewachsen waren und jetzt eifrig neue, junge Kollegen vorstellen wollten, denen sie eine große Kariere prophezeiten, wenn nur er, Sándor, seine schützende Hand über sie legte. Oder Boxer, die mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren – mit ihm, Sándor, als Arm des Gesetzes – und die nicht nachtragend waren und dieser Tatsache bei jeder sich bietenden Gelegenheit spendabel Ausdruck verleihen wollten.

Drüben am Platz vor dem Neuen Tor hatte Sándor eine SA-Truppe im schweigenden Trott Richtung Charité marschieren sehen; wahrscheinlich die Nachtwache für einen verletzten Kameraden, dem bei einer Wirtshausprügelei ein Barhocker über den Schädel gezogen worden war. Außer dem Tratt-tratt-tratt der Stiefel war die Nacht still gewesen, der Schnee hatte alle Geräusche geschluckt. Vor der Anatomie hatte ein Kutscher besoffen auf dem Kutschbock geschlafen; das dürre Bimmeln der Gnadenkirche war nur schwach aus der Ferne zu hören gewesen. Aber hier, in der Fliegerbombe – hier verstand man sein eigenes Wort nicht. Drei Kerle redeten gleichzeitig auf ihn ein, während Sándor mit dem Kartenabreißer aus dem Spichernring noch einen guten Preis aushandelte. Rosi hatte er bisher nicht mal »Guten Abend« gesagt; auf Förmlichkeiten hatte sie aber auch noch nie sonderlich Wert gelegt. Also ließ er sich in den Trubel fallen, wunderte sich nicht, als plötzlich ein eiskalter grüner Escorial vor ihm stand, ein süßer, bitterer Schock, der ihm die Schulterblätter wohlig zusammenzog, während auf der mikroskopisch kleinen Bühne gegenüber der Bar jemand hinters Schlagzeug geklettert war und ein paar Takte probierte, dsch dsch dmmp, dmmp. Das war der Rhythmus, den er an dieser Stadt liebte – nicht den Gleichschritt der Stiefel draußen im Schnee, sondern dieses harte, trockene Tappen der Tom, das Sirren der Becken.

Eine ganze Weile hatte Sándor ein Doppelleben im nächtlichen Berlin geführt. Tagsüber hatte er den harten Bullen gemimt, nachts war er, versteckt hinter einem monströsen Schnurrbart, mit der Klarinette auf die Jazzbühnen der Stadt geklettert. Der große Fremde mit der Tröte hatte mit Leuten wie Julian Fuhs, Lud Gluskin oder James Kok gespielt – für einen Jungen aus dem Wedding eine unglaubliche Erfahrung. Vom Arbeiter-Schalmeien-Orchester an der Panke in den wilden Swing der funkelnden Tanzpaläste: Er hatte sich nie angestrengt für diese Ehre, nie geübt und nur immer darauf geachtet, dass der Schnurrbart richtig saß. Dabei war das Unsinn gewesen; in dieser entfesselten Zeit hätte er nackt in Kriegsbemalung auf den Tischen tanzen können, und niemand hätte daran Anstoß genommen. Niemand nahm Anstoß daran, dass ein großer, düster blickender Bulle mit blondem Krauskopf und schief gehauener Nase in eine viel zu klein wirkende Klarinette blies. Also tat er es noch immer ab und zu, und er tat es auch heute.

»Some of these days, you’ll miss me, honey«, plärrte sein Instrument die Gesangsstimme von Sophie Tucker nach, und wer den Song kannte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen über die synkopische, geradezu betrunken wirkende Parodie des Vaudeville-Klassikers von 1911. Schlagzeug und Klarinette blieben nicht lange allein, hinter dem Vorhang stand wahrhaftig ein zerkratztes, aber gut gestimmtes Klavier, und eine Stunde lang schepperte und schunkelte die Fliegerbombe ausgelassen durch die Nacht. Vielleicht vollführte der SA-Trupp draußen einen Wachwechsel und marschierte ignorant swinglos und zähneknirschend auf der anderen Straßenseite vorbei; das war egal: Die Bombe war noch nie das Ziel irgendwelcher Naziübergriffe gewesen, weil man wahrscheinlich wusste, dass hier drin eine ausgelassene Zweidutzendpackung Berliner Boxer, Bullen und Bösewichte nur darauf wartete, jemanden bis zur Neun und darüber hinaus auf die Bretter schicken zu können.

Wahrscheinlich war es drei, halb vier, als der Radau nachließ, und wahrscheinlich hatte Sándor von Anfang an gewusst, dass es so weitergehen würde: Rosi und er am Tresen, er schweigend, sie lächelnd. Manchmal schüttelte sie den Kopf, sah zu ihm rüber, öffnete kurz den Mund, um etwas zu sagen, und schwieg dann doch. Goss ihm stattdessen aus der halb leeren Flasche Genever, den er hasste, noch einen nach. Als das Schweigen zu lange gedauert hatte, war doch er es, der sprach.

»Wer ist denn eigentlich der Kerl da drüben?«

Rosi lachte auf, als hätte Sándor sich diesen Themenwechsel nur ausgedacht, um gar nicht erst zum Thema kommen zu müssen – aber richtig, ein Gast hatte die letzten zwei Stunden offenbar intensive Innenschau betrieben, war über dem Glas Mampe eingenickt und saß mit vornübergesunkenem Kopf auf einem Stuhl neben der Tür. Ein Boxer war das nicht, dafür war der Mann zu korpulent. Rosi seufzte, rutschte vom Hocker und stakste, selbst ein bisschen wackelig, zum Tisch des Gastes hinüber.

»He, Männeken, hier ist Feierabend. Ich kassiere!«

Der Mann antwortete nicht, und Rosi gab ihm einen freundschaftlichen, aber doch beherzten Klaps auf den Rücken. Der Kopf des Mannes klappte, als hätte Rosi einen geheimen Hebel umgelegt, langsam und ungesteuert in den Nacken, und die offenen Augen starrten an die wie ein Boxring mit alten Showscheinwerfern und Gerüststangen geschmückte Decke. Der rundliche Körper verlor den Halt auf dem Stuhl, und der Mann rutschte polternd vom Stuhl unter den Tisch, während Rosi aufschrie und Sándor fluchend vom Hocker sprang und neben sie trat.

ÜBERRASCHUNG, ÜBERRASCHUNG

Der Chef war wirklich hocherfreut über das geschmackvoll ausgesuchte, passende Geschenk, und die Kollegen, die mehr oder weniger verkatert am Neujahrstag Dienst schoben und zum Gratulieren vorbeischauten, wurden vom unermüdlichen Trudchen mit extrastarkem Kaffee und wahren Bergen von Neujahrpfannkuchen überhäuft – und mit selbst eingelegten sauren Heringen aus einem Fünf-Liter-Glas, für die die meisten noch dankbarer waren als für den Süßkram. Hansen, Schmitzke und der dicke Plötz sahen pflichtbewusst beim Alten vorbei; Sándor ließ sich – schließlich hatte er das Geschenk besorgt – sogar auf das staubige Plüschmöbel plumpsen, das das Büro des Chefs schon eine Weile zierte und normalerweise unter Schrumpfköpfen, Aktenordnern, beschlagnahmten und der Länge nach zu ballistischen Untersuchungen auseinandergesägten Waffen fast verschwand. Trudchen Steiner hatte aufgeräumt, und auch der Chef selbst machte einen gut sortierten, aufgeräumten Eindruck und legte eine Spannkraft an den Tag, hinter der Sándors nicht mal vierzig Jahre heute weit zurückblieben. Sándor brauchte zwei Tassen, zwei sehr große Tassen Kaffee, um zu begreifen, dass der Boss gar nicht so sehr von den Eintrittskarten zum Leichtgewichts-Boxkampf entzückt war, sondern vielmehr von der rätselhaften toten Männergestalt, die Sándor dankenswerterweise noch als Zugabe aus der Fliegerbombe mitgebracht hatte und die für Ernst Gennat offenbar das schönste Geburtstagsgeschenk war, das man ihm nur machen konnte. Natürlich hatte Sándor die Leiche nicht durch den Neuschnee geschleppt, obwohl das Leichenschauhaus mit den Sezierräumen der Kripo gleich um die Ecke in der Hannoverschen Straße lag, sondern genervt vom Eingang der Charité aus – dort gab es Telefon – Verstärkung gerufen. Die herbeitretenden SA-Männer hatte er angeschnauzt, sie sollten sich um ihren eigenen Kram kümmern, und Rosi, die mit ihren verschränkten Armen und der über die Schultern gelegten Lederjacke ernst und erwachsen ausgesehen hatte, hatte er nach Hause geschickt, statt sie als Zeugin mit aufs Präsidium zu nehmen.

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