Die Brücke der Gezeiten 5 - David Hair - E-Book

Die Brücke der Gezeiten 5 E-Book

David Hair

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Beschreibung

Drei Gefährten. Zwei Kontinente. Ein mysteriöses Artefakt, das die Zukunft der Welt bestimmt.

Die barbarischen Kriegshorden des Reiches von Yuros ziehen ihre blutige Spur durch das ehemals friedliche Antiopia, um es unbarmherzig zu unterwerfen. Doch als die antiopischen Soldaten einen Sieg um die Mauern der mächtigen Stadt Shaliyah erringen können, wendet sich das Blatt. Doch beide Seiten wissen nicht, dass der wahre Schlüssel zum Schicksal der Welt in den Händen des Magiers Alaron und des ehemaligen Marktmädchens Ramita liegt: denn die Skytale des Corineus, ein uraltes Artefakt, verleiht ihrem Besitzer unbegrenzte Macht ...

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DAVID HAIR

Der Zorn des Propheten

DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 5

Übersetzt von Michael Pfingstl

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Unholy War« (Pages 1-392 + Appendix) bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2014 by David HairOriginally entitled UNHOLY WARFirst published in the UK by Quercus Editions Ltd.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Sigrun ZühlkeJB Herstellung: kwSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-18112-3V001www.blanvalet.de

Der vorliegende Band ist Paul Linton gewidmet, meinem Testpiloten für die gesamte bisherige Serie. Paul hat seine geistige Gesundheit riskiert, damit die Ihre, lieber Leser, durch meine Bücher keinen Schaden nimmt. Paul ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Mann von Welt und hat das unbestreitbare Talent, seine Freunde zum Genuss der heftigsten (aber auch besten) Alkoholika zu verführen, die er auf seinen Reisen kennenlernen durfte.

Danke, alter Freund,und schenk mir doch gleich noch einen von diesen Orujos ein.

Inhalt

Karte: Urte c. 927

Karte: Yuros

Karte: Antiopia

Was bisher geschah

Die Geschichte Urtes

Die Ereignisse von 928 (Geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Die Waffen der Wahrheit)

Prolog: Die Plagen Kaiser Constants (Teil drei)

1 Erwachen in einer neuen Welt

2 Auf der Flucht

3 Verlangen

4 Der Bettlerhof

5 Die verschollene Legion

6 Rückzug

7 Verhör

8 Inneres Wachstum

9 Der Krieg beginnt von Neuem

10 Nasettes Schatten

11 Die Schlinge zieht sich zu

12 Schlachtruhm

13 Der lange Weg nach Hause

14 Siegesnachricht

15 Ungewöhnliche Allianzen

16 Das Rätsel der Runen

17 Ardijah

18 Ohne Maske

19 An vorderster Front

Anhang

Danksagung

Was bisher geschah

Die Geschichte Urtes

Auf Urte gibt es zwei bekannte Kontinente, Yuros und Antiopia. In Yuros ist das Klima kalt und feucht, seine Bewohner haben helle Haut; Antiopia liegt näher am Äquator, ist größtenteils trocken und dicht von verschiedenen dunkelhäutigen Stämmen bevölkert. Zwischen den beiden Landmassen tost eine unbezähmbare See, ständig aufgepeitscht von extrem starken Gezeiten, welche die Meere unpassierbar machen, sodass die Völker der beiden Kontinente lange Zeit nichts voneinander wussten.

Vor fünfhundert Jahren änderte sich dies grundlegend.

Auslöser des Ereignisses war eine von Corineus angeführte Sekte. Er gab seinen Jüngern einen Trank, der ihnen magische Kräfte verlieh, die sie Gnosis nannten. Noch in derselben Nacht starb die Hälfte seiner Anhänger und ebenso Corineus selbst, der offenbar von seiner Schwester Corinea ermordet wurde. Corinea floh, dreihundert der Überlebenden begannen unter Sertains Führung, den Kontinent mithilfe ihrer neu gewonnenen Kräfte zu erobern. Die Gnosis verlieh ihnen derart große Macht, dass sie das Reich Rimoni mühelos vernichteten und sich selbst als Herrscher des neu gegründeten Reiches Rondelmar einsetzten.

Dieses Ereignis, bekannt unter dem Namen »Die Aszendenz des Corineus«, veränderte alles. Die Magi, wie sie sich selbst nannten, stellten fest, dass auch ihre Kinder über magische Fähigkeiten verfügten. Die Gabe wurde zwar schwächer, wenn der andere Elternteil nicht ebenfalls ein Magus war, doch die Magi breiteten sich unaufhaltsam aus. Im Namen des rondelmarischen Kaisers brachten sie immer Landstriche und Völker Yuros’ unter ihre Herrschaft.

Von den anderen zweihundert, die die Aszendenz überlebt hatten, versammelte Antonin Meiros einhundert Männer und Frauen um sich, die wie er Gewalt verabscheuten, und zog mit ihnen in die Wildnis. Sie siedelten sich im südöstlichen Zipfel des Kontinents an, wo sie einen friedliebenden Magusorden gründeten, den Ordo Costruo.

Die restlichen hundert Überlebenden schienen keinerlei magische Kräfte entwickelt zu haben, doch stellte sich schließlich heraus, dass sie, um die Gnosis in sich wirksam werden zu lassen, die Seele eines anderen Magus verschlingen mussten; also taten sie es. Der Rest der Magigemeinschaft war darüber so entsetzt, dass sie die Seelentrinker gnadenlos jagten und töteten. Die wenigen, die noch übrig sind, leben im Verborgenen und werden von allen verachtet.

Schließlich entdeckte der Ordo Costruo mithilfe der Gnosis den Kontinent Antiopia, oder Ahmedhassa, wie er bei seinen Einwohnern heißt. Antiopia liegt südöstlich von Yuros. Die vielen Gemeinsamkeiten in Tier- und Pflanzenwelt, die die Ordensmitglieder entdeckten, brachten sie zu der Vermutung, dass die beiden Kontinente in vorgeschichtlicher Zeit einmal miteinander verbunden gewesen sein mussten. Meiros’ Anhänger kamen in Frieden und wurden bald dauerhaft in der großen Stadt Hebusal im Nordwesten Antiopias sesshaft. Im achten Jahrhundert begann der Orden mit der Arbeit an einer gigantischen Brücke, die die beiden Kontinente wieder miteinander verbinden sollte, und diese Brücke löste die zweite Welle epochaler Veränderungen aus.

Der Bau der Leviathanbrücke, wie das dreihundert Meilen lange Bauwerk genannt wird, war nur mithilfe der Gnosis möglich, die vieles bewirken kann, aber nicht alles. Sie erhebt sich nur während der alle zwölf Jahre stattfindenden Mondflut aus dem Meer und bleibt dann für zwei Jahre passierbar. Das erste Mal geschah dies im Jahr 808. Zunächst wurde die Brücke nur zögerlich genutzt, doch nach und nach entwickelte sich ein blühender Handel, und nicht Wenige wurden dadurch reich. Es entstand eine neue Kaste, die Kaste der Händlermagi, die aufgrund ihres Reichtums auf beiden Seiten der Brücke immer mehr Einfluss gewann. Auch der Ordo Costruo gelangte zu beträchtlichem Wohlstand. Nach etwas mehr als einem Jahrhundert und zehn Mondfluten war der Handel über die Brücke der wichtigste politische und wirtschaftliche Faktor auf beiden Kontinenten.

Im Jahr 902 entsandte der rondelmarische Kaiser, der seine Macht durch die Händlermagi bedroht sah, getrieben von Gier, Neid, Bigotterie und Rassenwahn, sein Heer über die Brücke: gut ausgebildete Legionen, die von Schlachtmagi angeführt wurden. Im Namen des Kaisers rissen sie die Kontrolle über die Brücke an sich, plünderten und besetzten Hebusal. Viele gaben Antonin Meiros die Schuld für diese Ereignisse, denn er und sein Orden hätten den Überfall verhindern können – doch dazu hätten sie die Leviathanbrücke zerstören müssen.

916 kam es zu einem zweiten, noch verheerenderen Kriegszug. Die Menschen Antiopias hatten keine Magi in ihren Reihen und waren den Legionen aus Yuros schutzlos ausgeliefert. Dennoch standen die Dinge für den rondelmarischen Kaiser nicht zum Besten, denn seine tyrannische Herrschaft hatte in mehreren Vasallenstaaten zu einer Revolte geführt, am bekanntesten davon die von 909 im in Zentral-Yuros gelegenen Königreich Noros. Als im Jahr 928 die nächste Mondflut naht, hat der Kaiser bereits neue Pläne geschmiedet, um seine Macht auch in Zukunft zu sichern.

Die Ereignisse von 928 (Geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Die Waffen der Wahrheit)

Alaron Merser, Cymbellea di Regia und die mithilfe der Gnosis gezüchteten Lamien kapern ein Windschiff der Inquisition und setzen Segel Richtung Antiopia, dem verheißenen Land der Lamien. Doch die Inquisitoren, unter ihnen auch Malevorn Andevarion, sind ihnen dicht auf den Fersen. Nachdem sie die Lamien an der Küste Javons abgesetzt haben, sendet Cym ihre gnostischen Sinne aus, um ihre Mutter Justina Meiros zu finden. Justina dirigiert sie zur Glasinsel, wo sie sich mit Ramita Ankesharan, Antonin Meiros‘ schwangerer Witwe, versteckt hält. Allerdings erregt Cyms ungeschickter Ruf die Aufmerksamkeit der Inquisitoren und der Seelentrinker. Beide Gruppen machen sich sofort auf den Weg zur Glasinsel – es kommt zu einer verhängnisvollen Schlacht, in deren Verlauf Justina getötet und Cym von den Seelentrinkern gefangen genommen wird. Huriya Makani nutzt die sich bietende Chance und tötet Sabele, die Anführerin der Seelentrinker, und nimmt deren Stelle ein. Sabeles Seele und Kräfte gehen auf Huriya über, die nun die neue Seherin der Seelentrinker ist. Alaron und der hochschwangeren Ramita gelingt es, mit der Skytale zu fliehen, während die Inquisitoren dezimiert mit ihrem zerstörten Windschiff bei der Glasinsel zurückbleiben.

In Javon heiratet Francis Dorobon unterdessen Cera Nesti und Portia Tolidi – gegen den Willen seiner Mutter Octa, der Matriarchin der Dorobonen. Cera und Portia werden für kurze Zeit zum Liebespaar, während Octa Gurvon Gyles Einfluss auf Francis zunehmend Sorge bereitet. Schließlich stellt sie Cera und Gurvon eine Falle und lässt beide zum Tod verurteilen. Allerdings ist Octas Henker von Gurvons Komplizen, Rutt Sordell, besessen, sodass am Ende sie es ist, die den Tod findet. Francis ist erfreut, endlich von seiner herrschsüchtigen Mutter befreit zu sein, und glaubt mehr denn je, Gyle stünde auf seiner Seite.

Kazim Makani ruft in dem Glauben, Elena Anborn und die Hadischa könnten Seite an Seite gegen die Kriegszügler kämpfen, seine ehemaligen Kampfgefährten herbei. Die Hadischa weigern sich allerdings, eine Rondelmarerin in ihren Reihen zu akzeptieren, und wollen Elena in ihre Zuchtanstalten verschleppen. Kazim erkennt seinen Irrtum zu spät. Um Elena zu retten, tötet er sämtliche Hadischa – auch seinen Blutsbruder Jamil.

Zur gleichen Zeit marschiert der südliche Heeresflügel weiter Richtung Shaliyah. Ramon Sensini hat es inzwischen mit seinen illegalen Opiumgeschäften zu enormem Reichtum gebracht, doch seine Geliebte, Severine, wird von Visionen geplagt: Sie sieht Seelentrinker und Inquisitoren, wie sie Seite an Seite Unschuldige abschlachten. Als Ramon und Severine der Sache auf den Grund gehen, entdecken sie, dass eine geheime Abteilung der Inquisition die Seelen von gefangen genommenen Keshi in die Körper von Gnosiszüchtungen verpflanzt, die in der Legion zu Kriegszwecken eingesetzt werden. Das Komplott scheint von ganz oben abgesegnet zu sein. Noch bevor sie sich entscheiden können, an wen sie sich mit diesen brisanten Informationen wenden sollen, schnappt in Shaliyah eine von langer Hand vorbereitete Falle über ihnen zu: Die Keshi verfügen nicht nur über eigene Magi, sie haben sich auch mit den Seelentrinkern verbündet, sodass sie nach Jahrzehnten der Unterlegenheit einen ebenbürtigen Gegner für die Schlachtmagi Rondelmars darstellen. Der südliche Heeresflügel wird beinahe restlos aufgerieben. Es ist die schlimmste Niederlage in der gesamten Geschichte Rondelmars. Ramon kann im Schutz eines verheerenden Sturms gerade noch einen Teil seiner Legion in Sicherheit bringen.

Mittlerweile ist es Dekore 928. Ramon sitzt mit zwölftausend Legionären mitten in einer lebensfeindlichen Wüste hinter den feindlichen Linien fest. Elena und Kazim suchen sich einen neuen Unterschlupf und bereiten sich darauf vor, den Kampf gegen Francis Dorobon und Gurvon Gyle aufzunehmen. Cym ist eine Gefangene der Seelentrinker, die nun ebenfalls von der Skytale erfahren – dem einzigen Artefakt, das sie von ihrem Fluch befreien kann. Alaron und Ramita, deren Zwillinge nun jeden Moment zur Welt kommen können, haben zwar die Skytale, treiben nach ihrer Flucht aber hilflos im Ozean.

Prolog Die Plagen Kaiser Constants (Teil drei)

Rimoni: Aufstieg zum Kaiserreich

Rimonis Aufstieg zum Kaiserreich dauerte mehrere Jahrhunderte. Er war blutig und hätte mehr als einmal um ein Haar in die Katastrophe geführt. Die Lektion aus dieser Zeit lautete: Macht kommt nicht von selbst. Sie will umworben und gewonnen werden wie eine Geliebte.

Geschichte des Rimonischen Reiches, Anro Rufius, Lantris 752

Pallas, RondelmarSommer 9271 Jahr bis zur Mondflut

Gurvon Gyle ließ den Blick durch den Raum schweifen, während sein Landsmann Belonius Vult den Anwesenden noch einmal darlegte, wie sie Kesh erobern und sich gleichzeitig Echor Borodium, den Herzog von Argundy und dessen Truppen ein für alle Mal vom Hals schaffen konnten. Zwei Norer, die sich erst vor siebzehn Jahren gegen den Kaiser erhoben hatten, saßen nun im geheimen Ratszimmer ebenjenes Kaisers und unterbreiteten ihm einen Plan, um seine Herrschaft weiter zu festigen. Wer hätte das gedacht?

Kaiser Constant war damals noch ein Kind gewesen. Vielleicht hatte seine Jugend im Schatten all der Mächtigen ihm das Rückgrat gebrochen und ihn zu dem kriecherischen jungen Mann gemacht, der er jetzt war: ein ängstlicher »Kaiser«, der vor jedem Schatten erschrak und sogar Angst vor jenen hatte, die ihm am nächsten standen. Das Gewicht der Krone lastete schwer auf seinen Schultern und ließ ihn stets besorgt blicken. Alle Augenblicke schaute er zu seiner Mutter hinüber, als heische er um ihre Zustimmung.

Wenn unser Plan aufgeht, vernichten wir den Mann, der der weit bessere Herrscher gewesen wäre, und machen eine halbe Million Argundierinnen zu Witwen. Und das alles in deinem Namen, Constant Sacrecour.

Doch es war die Mater-Imperia Lucia, auf die alle Augen gerichtet waren – allerdings nicht, weil sie so schön war. Ihre bloße Anwesenheit, ihre alles durchdringende Präsenz, genügte. Der Ausdruck auf ihrem matronenhaften Gesicht war einer von höchster Konzentration, dennoch schweifte ihr Blick ständig umher. Während sie Vults Ausführungen lauschte, beobachtete sie jede Reaktion der Zuhörer und prägte sich alles genau ein. Ihre eigentliche Aufmerksamkeit allerdings galt anderen Dingen. Nicht dem wie versteinert dasitzenden Kaltus Korion, der den Oberbefehl über die rondelmarischen Legionen übernehmen würde, sobald Echor tot war. Nicht Tomas Betillon, der sich um die unvermeidlichen Zwistigkeiten in den eigenen Reihen kümmern sollte. Nicht Calan Dubrayle, der hier im sicheren Schoße Pallas’ bleiben und über den Kriegsgewinn Buch führen würde, und auch nicht dem Großen Kirchenvater Wurther, der immer da zu finden war, wo es am meisten zu essen gab. Sie musterte Vult und gelegentlich auch Gyle, ab und an begegneten sich ihre taxierenden Blicke, doch am meisten interessierte sie der, der als Letzter hinzugekommen war: der Fremde. Der Feind.

Emir Rashid Mubar von Hallikut war wahrscheinlich der erste Keshi, der diesen Raum je betreten hatte. Sein ganzes Auftreten stand in krassem Gegensatz zu der steifen Förmlichkeit der Rondelmarer. Als er seinen Umhang ablegte, schien es beinahe, als würde ein Pfau seine Schwanzfedern auffächern: Seine Kleidung war schon fast kitschig anzusehen, überall glitzerten Edelsteine auf dem Stoff. Der Blick seiner leuchtend grünen Augen erinnerte Gyle an die Kobras der Schlangenbeschwörer in den Straßen Hebusals. Rashid hörte aufmerksam zu, stellte kluge Fragen und ließ sich geduldig verhören. Er war ein Meister dieses Schlangentanzes und antwortete ohne Umschweife auf die ihm gestellten Fragen, wenn auch nicht auf alle. Die meisten betrafen Organisatorisches: ob er ein Heer ausheben konnte, das groß genug war, um Echor zu vernichten. Wie viele Magi er hatte. Ob er tatsächlich glaubte, Meiros’ Fraktion innerhalb des Ordo Costruo ausschalten zu können.

Natürlich ging er bei seinen Antworten nicht ins Detail. Alles andere hätte Gurvon zutiefst überrascht, denn sie waren keine Verbündeten, sondern Feinde, die eine geheime Absprache trafen. Auch sie verrieten dem Emir nicht alles, nur so viel, wie er wissen musste, um den Herzog zu besiegen. Echor sollte ausschließlich unerfahrene Soldaten und schwachblütige Magi zugeteilt bekommen, außerdem führte sein Auftrag ihn in eine der unwirtlichsten Wüsten Antiopias. Keiner der Anwesenden schien auch nur daran zu denken, dass Rashid eine Bedrohung für Kaltus Korions Legionen darstellen könnte. Korions Kontingent war mit allem ausgestattet, was die rondelmarische Kriegsmaschinerie aufzubieten hatte, und galt als so gut wie unbesiegbar.

Und wenn das erledigt ist, kommt der Rest ganz von selbst … Gurvon lächelte grimmig. Sobald Dhassa, Kesh und Javon in Rondelmars Hand waren, würden die Legionen über ganz Antiopia ausschwärmen und den gesamten Kontinent erobern. Rashids Sieg über Echor wäre vergessen – außer in Argundy, wo der fürchterliche Blutzoll noch über Generationen jede Rebellion unmöglich machen würde. Kaiser Constant wäre Herrscher der gesamten bekannten Welt.

Belonius Vult hatte das Verhör inzwischen mit seinen üblichen geschliffenen Floskeln beendet und wandte sich fragend an den Thron.

Der Kaiser suchte wie immer den Blick seiner Mutter, dann nickte er. Rashid war das selbstverständlich nicht entgangen, und Gurvon konnte förmlich sehen, wie der Emir seine Schlüsse zog: dass der Herrscher von Yuros am Rockzipfel seiner Mutter hing.

»Emir Rashid«, begann Lucia, »habt Ihr Eurerseits Fragen an uns?«

Der Emir neigte unmerklich den Kopf. »Keine, edle Dame. Die Worte des Magisters waren überaus klar.« Der Klang seiner Stimme war so melodisch, dass jede Nonne Kores ihm sofort verfallen wäre.

»Dann befremdet es Euch also nicht, wenn wir uns gegen die eigenen Verbündeten verschwören?«, fragte Lucia möglichst beiläufig.

Rashid lächelte. »Gestattet mir, Eure Frage mit einer kleinen Geschichte zu beantworten. Mein Großvater lud einst alle seine Brüder und Vettern, also alle, die außer ihm Anspruch auf den Thron von Hallikut hatten, zu einem großen Festmahl ein. Eine Woche lang überschüttete er sie mit Gastfreundschaft und Geschenken. Dann, in der letzten Nacht, als auch noch der Misstrauischste von ihnen Vertrauen gefasst hatte, entließ er zehntausend Giftschlangen, die er eigens für diesen Zweck hatte sammeln lassen, in die Schlafgemächer seiner Gäste. Er löschte fast seine gesamte Verwandtschaft aus, um sich den Thron zu sichern. Nur die unmittelbare Familie blieb verschont.«

Korion und Dubrayle musterten den Emir mit einer Mischung aus Skepsis und offener Verachtung. Betillon hingegen sah beeindruckt aus – ein Komplott ganz nach seinem Geschmack. Nur die Kaiserinmutter schien aufrichtig erfreut, als hätte sie in Rashid einen Seelenverwandten erkannt.

Gurvon schüttelte innerlich den Kopf. Was für eine Verschwendung. Er selbst hätte mit Sicherheit eine wesentlich elegantere Lösung gefunden.

»Wie wird Euer Volk den Sieg über Herzog Echor aufnehmen?«, fragte er.

Rashids smaragdfarbene Augen blitzten. »Mit größter Freude.«

»Es wird Euer einziger Sieg bleiben«, warnte Korion.

Der Emir lächelte verhalten. »Euer Ruf ist weithin bekannt, General Korion.«

»Seid gewarnt: Wir reichen Euch den kleinen Finger, mehr nicht«, fuhr Korion auf. Seine Lippen formten stumm das Wort »Dreckhaut«, er hatte jedoch Verstand genug, es nicht laut auszusprechen. Rashid war einer der wenigen Keshi-Magi, ein Dreiviertelblut und berüchtigt für seine Kampfkraft.

»Der Krieg wird seinen Verlauf nehmen, ganz wie es Ahm gefällt«, antwortete der Emir gemessen. »Wir werden Euren Feind, den Herzog von Argundy, vernichten, und damit endet unsere Zusammenarbeit. Was danach kommt, weiß Ahm allein.«

»Ganz recht«, warf Lucia ein. »Wir danken Euch für Euren Besuch, Emir Rashid. Wir werden Euch über jede von Echors Bewegungen unterrichten und ihn mit falschen Informationen nach Shaliyah locken. Wir verlassen uns darauf, dass Ihr die Situation zu nutzen versteht.«

Rashid erhob sich und machte eine elegante Verbeugung. »Der Sieg ist unser, so Ahm will.«

Lucia erhob sich ebenfalls und ließ den Emir ihre Hand küssen. Dann verließ Rashid begleitet von halbherzigen Glückwünschen die Ratskammer.

Gurvon folgte ihm.

»Nun, Magister Gyle«, fragte Rashid, als sie allein im Vorraum waren, »ist alles nach Euren Wünschen verlaufen?«

»Voll und ganz, Emir«, erwiderte Gurvon und streckte die Hand aus.

Rashid musterte sie erst, dann schüttelte er sie langsam. »Dieses rondelmarische Händeschütteln ist eine eigenartige Geste«, merkte er an. »Sehr unpersönlich. Sie sagt viel über Eure Kultur: ein kaltes Land mit kalten Herzen.«

»Ich glaube, unsere Völker sind gar nicht so verschieden, Emir. Die Herrscher herrschen, und das Volk folgt. Letztendlich sind es immer die Fähigen, die sich über die anderen erheben.«

Rashid blinzelte. »Da bin ich anderer Meinung. Die Rondelmarer sind streitsüchtige Zweifler. Sie kennen keinen Respekt vor denen, die über ihnen stehen. Eben in der Ratskammer habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie die Mutter den Sohn überstimmt, Generäle mit Priestern streiten und Diebe wie Ihr – verzeiht, aber das ist es, was Ihr seid: ein Dieb – über die Zukunft des Kaiserreichs entscheiden. Wo ich herkomme, sind die Könige von Ahm selbst gesalbt, und sie sprechen mit einer Stimme. Ihr hingegen streitet unentwegt, und das macht Euch schwach.«

»Ganz im Gegenteil, Emir. Unsere Uneinigkeit ist unsere Stärke.«

»Es ist die Gnosis, die Euch stark macht. Alles andere ist gottlose Schwäche.« Rashid tätschelte Gurvons Wange. »Eines Tages wird Ahm Euch niederstrecken, dann werdet Ihr auf ewig in Shaitans Feuer schmoren. So steht es geschrieben.«

Gurvon lachte leise. »Glaubt Ihr das wirklich? Ich hatte Euch nicht für einen Fanatiker gehalten, Emir.«

»Ich bin Pragmatiker, Magister Gyle. Nichtsdestotrotz diene ich Ahm.« Rashid verneigte sich. »Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, Gurvon Gyle, dann als Feinde.«

»Ein Jammer.«

Rashid zog eine Augenbraue hoch. »Glaubt Ihr das wirklich?«

Er verneigte sich noch einmal, dann ließ er sich von einem Palastbediensteten zu seinem Windschiff bringen, um Pallas noch innerhalb der nächsten Stunde zu verlassen.

Gurvon kehrte zurück in die totenstille Ratskammer. Die Stimmung war gedrückt, als wäre mit dem schillernden Emir alles Leben aus dem Raum gewichen. Der Große Kirchenvater Wurther saß stumm und verdrießlich da. Der Kleriker war strikt dagegen gewesen, Echor während des kommenden Kriegszugs in eine Falle zu locken. Seiner Ansicht nach verstieß es gegen die Gebote Kores, sich der Dienste heidnischer Keshi zu bedienen, um den Herzog zu vernichten. Dem verhassten Feind in Fleisch und Blut begegnet zu sein, hatte ihn kein bisschen milder gestimmt.

»Ist er weg?«, fragte Wurther mit einem leichten Aufstoßen. »Am besten sollten wir ihn direkt zum Richtplatz schaffen und die Sache hier und jetzt zu Ende bringen. Er wird uns noch Ärger machen, das verspreche ich Euch.«

»Sobald sich die Nachricht von Echors Niederlage verbreitet, werden die Keshi sich erheben«, stimmte Dubrayle zu. »Das können wir nicht riskieren.«

»Wir riskieren gar nichts«, bellte Korion. »Oder wollt Ihr Echors Bauernheer etwa mit meinen Legionen vergleichen? Sollen die Keshi sich nur erheben. Ich werde sie zertreten.«

Betillon kicherte. »Wir wissen, wie wir mit aufmüpfigen Nooris umzugehen haben.«

Wieder senkte sich Schweigen über die Runde, bis Constant es nicht mehr aushielt. »Mir gefällt dieser Dunkelhäuter nicht. Er zieht sich an wie eine Frau. Vielleicht ist er ja eine?«

Gurvon hörte, wie alle pflichtschuldig auflachten, und fing Lucias Blick auf. Seht Ihr, womit ich mich tagtäglich herumschlagen muss?, schienen ihre Augen zu sagen. Sie sind Kinder, nichts als Kinder.

Laut sagte sie: »Zeit für den nächsten Punkt der Tagesordnung. Schatzmeister Dubrayle, ich denke, Ihr seid an der Reihe.«

Gurvon schaute hinüber zu Vult. In diesen Teil des Plans war er nicht eingeweiht, Vult hatte ihn allein mit Dubrayle ausgearbeitet. Es ging um den Sklavenhandel mit Antiopia. Lucia wollte ihn unterbinden – nicht aus Gründen der Menschlichkeit, sondern weil sie der Meinung war, dass die Dunkelhäuter in Yuros zahlenmäßig überhandnahmen. Um dem abzuhelfen, wollte sie von nun an wieder Sklaven aus den yurischen Vasallenstaaten Sydia und Verelon einführen.

Der Schatzmeister ordnete seinen Stapel Papiere und setzte sich auf. »Durchlauchter Kaiser, verehrte Mater-Imperia, werte Herren«, begann er und schaute hinüber zu Lucia. »Dürfte ich einen weiteren Experten hinzuziehen?«

Die Kaiserinmutter nickte, und Constant tat es ihr eilig nach.

Dubrayle stand auf und holte aus einem Nebenraum einen Greis in einer verdreckten Robe hinzu, der so gebeugt einherschlurfte, als hätte er sein gesamtes Leben damit verbracht, unleserliche Schriftrollen zu entziffern. Begleitet wurde er von einem Mann in einer einfachen Tunika. Sein Schädel war kahlrasiert, und auf der Stirn prangte ein Brandmal: der yothische Buchstabe Delta. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, als stünde er unter Drogen oder wäre nicht recht bei Verstand. Auf seinem Unterarm saß ein Falke, der laut kreischend mit den Flügeln schlug, doch das war es nicht, was Gyles Aufmerksamkeit erregte: Es war Deltas Aura. Allen in der Ratskammer fiel sie sofort auf, dunkel und unruhig wie eine Gewitterwolke. Keiner der Anwesenden hatte je etwas Derartiges erlebt.

»Edle Herren«, sagte der Greis »gestattet mir, mich vorzustellen: Ich bin Ervyn Naxius, treu zu Diensten.«

Gurvon kannte ihn. Naxius war das Oberhaupt des Ordo Costruo in Pontus gewesen, Aufseher des Turms am Nordpunkt und des nördlichen Teils der Brücke. Das Volk glaubte, Antonin Meiros habe den ersten Kriegszüglern damals erlaubt, die Leviathanbrücke zu überschreiten, doch das stimmte nicht. Naxius hatte den Nordturm einfach räumen lassen, als die rondelmarischen Legionen anrückten. Im Gegenzug durfte er nun wieder seinen Forschungen nachgehen, die Antonin Meiros verboten hatte. Mehr war nicht bekannt, denn Ervyn Naxius und seine Anhänger waren seither wie vom Erdboden verschwunden gewesen.

»Seid uns willkommen, Magister Naxius«, erwiderte Lucia. »Das Kaiserreich hat Euch viel zu verdanken.«

»Und Ihr habt es mir überreich entlohnt«, gurrte Naxius. »Die Freiheit, ohne Fesseln zu forschen, ist unbezahlbar.« Mit einer geradezu kindlichen Freude wandte er sich seinem Begleiter und dem Falken zu. »Ich habe etwas ganz Wunderbares, das ich Euch zeigen möchte.«

Mit diesen Worten zog er einen großen, seltsam trüb wirkenden Kristall aus seiner Kutte. Einen derartigen Stein hatte Gurvon noch nie gesehen.

»Erkennt Ihr ihn?«, fragte Naxius in die Runde.

Alle schüttelten den Kopf.

»Dies ist ein Solarus, einer der Kristalle, die wir im Ordo Costruo züchteten, um die Leviathanbrücke gnostisch zu verstärken. Er nimmt die Strahlen der Sonne auf – wir nennen sie Sonnenkraft – und wandelt sie in gnostische Energie um. Ein Solarus kann wesentlich mehr Energie speichern als jedes Amulett.«

Die anwesenden Magi runzelten skeptisch die Stirn.

»Wenn sie stärker sind als ein Amulett, warum tragen wir dann nicht alle so einen?«, warf Vult ein. »Eine solche Erfindung wäre allen, die ihrer würdig sind, überaus dienlich.«

»Wenn es nur so einfach wäre …«, entgegnete Naxius seufzend. »Doch leider ist die Energie der Sonnenkristalle so stark, dass ein Magus ihr nicht gewachsen ist. Wie Ihr, verehrte Anwesende, sicherlich wisst, ist die Strahlung der auf der Leviathanbrücke installierten Sonnenkristalle für Menschen tödlich. Selbst ein durch entsprechende Wächter geschützter Magus kann sich ihr nur wenige Minuten aussetzen. Ein mit Sonnenkraft aufgeladener Solarus lässt sich nicht einmal anfassen. Wir haben durchaus versucht, sie als Amulette zu verwenden. Doch wenn der Kristall nicht von einer abschirmenden Bleischicht umgeben ist, verschmutzt er die Körpersäfte und führt zu einem qualvollen, sich über Monate hinziehenden Tod. Und das Blei zerstört dazu noch die Kraft des Kristalls.«

»Wozu sind sie dann überhaupt gut?«, bellte Korion.

Naxius strahlte. »Ganz recht, wozu? Ihr werdet erstaunt sein, großer General, sehr erstaunt! Für einige Exemplare, so wie für dieses hier, fanden wir eine Verwendung, von der kein Magus je zu träumen gewagt hätte.«

»Dann rückt endlich heraus damit«, knurrte Betillon.

Das ehemalige Mitglied des Ordo Costruo hob die Hand. »Zuerst lasst mich meinen Begleiter vorstellen.« Er wandte sich dem Mann in der Tunika zu. »Dies ist Delta.« Naxius deutete auf das Brandmal und streckte stolz die Brust vor. »Das dürfte zwar kaum sein Geburtsname sein, dafür scheint er mir umso passender: Er ist ein Seelentrinker.«

Alle schnappten laut nach Luft, Betillon, Korion und Wurther sprangen entsetzt von ihren Stühlen auf. Sogar Belonius Vult schien verwirrt, und selbst Gyle musste sich zusammenreißen. Ein Dokken in Pallas? Unfassbar!

Die Aszendenz des Corineus hatte der Welt die Gnosis gebracht und sie für immer verändert, doch einige von Corineus’ Schülern waren nicht zu Magi geworden, obwohl sie die Ambrosia getrunken hatten. Ihre Gnosis ließ sich nur erwecken, wenn sie die Seele eines sterbenden Magus einatmeten, und sie mussten sie beständig mit weiteren Seelen füttern, um sie zu erhalten. Die Reaktion auf diese schreckliche Tatsache war umgehend erfolgt: Die Magi hatten gnadenlos Jagd auf die Seelentrinker gemacht und sie getötet, wo immer sie sie fanden.

Mittlerweile gab es nicht mehr viele, doch waren sie immer noch die meistgehassten Feinde der rondelmarischen Magi. Und ihre einzigen Rivalen.

»Seid ohne Sorge, werte Herren, bitte!«, rief Naxius, als Korion, Betillon und Wurther ihre Schilde aufflammen ließen, und Dubrayle fiel sogleich ein: »Delta kann Euch nichts anhaben. Seine Kräfte wurden gebannt, er ist unser Sklave.«

Der greise Magus lachte vergnügt. »Ich habe ihn mit so mächtigen Bannrunen belegt, dass er ohne meine Erlaubnis kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann.«

Die Augen des Dokken wirkten in der Tat erschütternd leer. Gurvon warf Lucia einen Blick zu, die die Szene in aller Seelenruhe beobachtete. Offensichtlich war sie vorab informiert worden und hatte keine Bedenken, was immer Naxius da trieb. Auf ein Zeichen von ihr lehnte Gurvon sich wieder zurück, auch Korion und Betillon setzten sich zögernd, nur Wurther blieb unbeirrt stehen. »Edle Dame, ich muss protestieren. Die Anwesenheit eines Amteh in diesem Raum war schon schlimm genug, doch das hier geht zu weit. Es ist Blasphemie!«

Lucia bedachte den Kleriker mit einem gelangweilten Blick. »Es steht Euch jederzeit frei zu gehen, Großer Kirchenvater, doch diese Besprechung wird fortgesetzt. Ob mit oder ohne Euch.«

Wurthers Entschluss geriet ins Wanken. »Kaiserinmutter, unter diesen Umständen muss ich wohl oder übel bleiben. Aber nur unter Zwang …«

»Setzt Euch, alter Schwätzer«, knurrte Betillon. »Wir haben Euch alle gehört.«

»Spart Euch die Frömmeleien für die Kirchenfeste auf«, fügte Korion verächtlich hinzu.

Wurthers Miene verfinsterte sich, dann setzte er sich widerstrebend. Sein Stuhl knarrte hörbar unter dem Gewicht.

Naxius fuhr unterdessen mit beinahe kindlicher Freude fort. »Werte Herren«, flötete er geradezu, »edle Dame, ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit. Mit größter Freude werde ich Euch nun unsere Entdeckung demonstrieren.«

Er klatschte laut in die Hände, woraufhin ein Soldat einen hellhäutigen, abgemagerten jungen Mann in zerrissenen, schmutzigen Kleidern hereinschleifte. Naxius legte dem Jungen stolz eine Hand auf die Schulter. Seine Finger gruben sich wie Klauen in das Fleisch.

»Lasst mich Euch Orly vorstellen, einen Dieb, wie ich traurigerweise hinzufügen muss.« Zur Verdeutlichung hob er Orlys linken Arm an, der oberhalb des Handgelenks in einem Stumpf endete. »Dem jungen Orly hier wurde vor zwei Jahren wegen Diebstahls eine Hand abgehackt. Vor wenigen Tagen wurde er erneut auf frischer Tat ertappt und gestern verurteilt. Nächste Woche wird sein Leben am Galgen enden.«

Die Augen des Jungen weiteten sich vor Entsetzen, dann sank er auf die Knie. »Nein, habt Gnade!«, flehte der junge Palacier, doch Naxius brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

»Fürchte dich nicht«, sagte der Magus mit zuckersüßer Stimme. »Du sollst deine Gnade bekommen – auf eine Weise, die du dir niemals hättest erträumen lassen.« Mit diesen Worten reichte er Delta den trüben Solarus.

Der Junge blickte sich verängstigt um. Ganz offensichtlich wusste er weder, wo er sich befand, noch wer all die Menschen um ihn herum waren. »Danke, hohe Herren«, begann er zu schluchzen, »danke, hohe Dame, dankedankedanke …«

Der Wortschwall endete erst, als Naxius ihm mit seiner Gnosis das Genick brach.

Orly sank zu Boden, in seinen Augen stand erst Schock, dann Überraschung und schließlich das Bewusstsein des Verrats. Dann verloschen sie.

Selbst Gurvon erschrak, dabei hatte er gewusst, in welchem Ruf Naxius vor seinem Verschwinden gestanden hatte. Zumindest hat er jetzt unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit …

Delta kniete sich hin, beugte sich über den Leichnam und küsste den toten Jüngling auf die Lippen.

Die Zuschauer schreckten angewidert zurück, doch Gurvon verspürte auch eine gewisse Neugierde. Er hatte noch nie einen Seelentrinker gesehen und die anderen anscheinend ebenfalls nicht.

Der Kristall in Deltas Hand begann zu glimmen, dann hob Naxius theatralisch die Stimme, als spreche er zu einer Gruppe Schüler.

»Seht genau hin!«, verkündete er. »Delta hat soeben die Seele dieses jungen Mannes eingeatmet, sie aber nicht in sich aufgenommen. Die besondere Macht des Solarus und die Banne, mit denen ich Delta belegt habe, bewirken, dass Orlys Geist stattdessen auf den Kristall übergegangen ist.«

Großer Kore! Gurvon merkte, wie seine Augen immer größer wurden.

»Seht!«, rief Naxius und breitete die Arme aus.

Delta hielt den Kristall auf Kopfhöhe des Falken, dann begann der Solarus zu leuchten. Zwei weiße Lichtstrahlen schossen aus dem Stein und bohrten sich in die Augen des Raubvogels, der sich mit einem erbärmlichen Kreischen wild flatternd in die Luft erhob und schließlich auf die Ratstafel stürzte, wo er reglos liegen blieb. Alle außer Lucia und Dubrayle zuckten entsetzt zurück.

»Was habt Ihr getan?!«, keuchte Korion. »Wenn dem Kaiser auch nur ein Haar gekrümmt wird, werde ich …«

»Beruhigt Euch, Kaltus«, gurrte Lucia. »Glaubt Ihr im Ernst, ich würde meinen geliebten Sohn einer Gefahr aussetzen?«

Naxius stupste den leblosen Falken an. »Steh auf, mein Vögelchen«, flüsterte er gut gelaunt.

Der Falke rührte sich tatsächlich, richtete sich auf und begann, so unglaublich es schien, sein Gefieder zu putzen.

Die Magi starrten fassungslos, bis Vult das Schweigen brach. »Ist das wirklich das, wonach es aussieht?«

Naxius kicherte entzückt. »Aber ja! Ihr seht es doch selbst, nicht wahr? Die Seele des Diebes Orly ist nun in diesem Vogel.« Naxius streckte die Hand aus. »Orly, tippe drei Mal mit dem linken Bein auf.«

Vor den Augen der verdutzten Magi führte der Falke die Anweisung exakt aus.

»Jetzt fliege drei Mal durchs Zimmer und setze dich dann auf den Kronleuchter.«

Keiner rührte sich, während der Vogel auch diesem Befehl fehlerlos folgte.

Naxius grinste zufrieden. »Wie wir feststellen konnten, ist eine auf diese Weise verpflanzte Seele sehr fügsam und gehorcht schon bald ohne den geringsten Widerspruch.«

An dieser Stelle ergriff Calan Dubrayle das Wort, der Naxius’ Forschungen offensichtlich finanziert hatte: »Stellt Euch eine Kavallerieeinheit vor, deren Reittiere jeden auch noch so komplizierten Befehl befolgen können. Stellt Euch geflügelte Venatoren vor, ausgestattet mit der Intelligenz eines Menschen! Stellt Euch Lasttiere vor, die keinen Treiber brauchen, sondern lediglich Anweisungen, wohin sie ihre Fracht bringen sollen. Stellt Euch Ackergäule vor, die ein Feld selbstständig pflügen. Stellt Euch Vögel vor, die das Land Meilen voraus erkunden und den Offizieren Bericht erstatten. Stellt Euch Ratten und Schlangen vor, die die Verteidiger einer Festung im Schlaf überraschen. Mit anderen Worten: Stellt Euch das Unvorstellbare vor!« Er klopfte auf die Karte Nordantiopias, die auf dem Ratstisch ausgebreitet lag. »Alles, was wir brauchen, um diese Wunder wahr werden zu lassen, sind Tiere, egal ob Gnosiszüchtungen oder Vieh – und eine Unmenge menschlicher Seelen.«

Constants Lippen bewegten sich, aber es kam nur eine Art Wimmern heraus. Korion und Betillon waren leichenblass, hin- und hergerissen zwischen Entsetzen und Gier. Wurther war außer sich, nur Vult schien restlos fasziniert. Leise und langsam trommelten seine Finger auf den Tisch, während ihm bereits die zahllosen Einsatzmöglichkeiten solcher Tiere durch den Sinn gingen. Und die Mater-Imperia sah aus, als hätte sie soeben eine köstliche Praline verspeist.

Und wie stehe ich zu all dem? Es ist klug, sehr klug sogar … und gleichzeitig das Entsetzlichste, was ich je gesehen habe.

»Nun, die Keshi sind ohnehin nur Tiere«, sagte Kaiser Constant schließlich. »Wahrscheinlich werden sie es nicht einmal merken!«

Leises Gelächter hallte durch den Raum, und Gurvon beeilte sich miteinzustimmen, während er weiter das Geschöpf namens Delta anstarrte. Denn nun glaubte er, doch etwas in dessen leerem Blick zu erkennen: grenzenloser Selbsthass und Verzweiflung.

»Konnten wir Euch erfreuen, Hoheit?«, fragte Naxius.

Lucia lächelte. »Magister Naxius, Ihr habt Euch selbst übertroffen.«

Erwachen in einer neuen Welt

Das Licht, das die Dunkelheit für immer vertrieb

Die Rondelmarer nennen ihn das Licht, das die Dunkelheit für immer vertrieb, jenen Morgen, an dem die Gesegneten Dreihundert erwachten und begriffen, welches Geschenk ihnen zuteilgeworden war. Stellt euch vor, wie es gewesen sein muss, als sie merkten, dass ihnen ganz Urte zu Füßen lag! Doch der Schein trog. Die Dreihundert haben die rimonischen Unterdrücker lediglich vertrieben, um sich selbst an ihre Stelle zu setzen. Die Dämmerung, die alle Dunkelheit für immer vertreiben wird, bricht hier erst an, und zwar jetzt!

General Arkimon Robler am Vorabend der Noros-Revolte, 909

Ostdhassa, AntiopiaZulhijja (Dekore) 928Sechster Monat der Mondflut

Die Pferde tänzelten schnaubend zur Seite, und Vann Merser fuhr hoch. Als er die Zügel annahm, um sie zu bändigen, und sich danach umsah, was sie erschreckt haben mochte, musste er nicht lange suchen: Ein Bote war neben seinem Wagen erschienen und musterte Vann.

»Vannaton Merser?«, fragte der Mann. Sein Akzent verriet ihn als Norer.

Die Stimme erinnerte Vann an seine Heimat, an schneebedeckte Berggipfel, üppige Wälder und unberechenbare Stürme, an saftiges Gras und reißende Flüsse. Im Moment waren all diese Erinnerungen so weit weg, dass es regelrecht wehtat. Der Horizont hier war schnurgerade, das Land bretteben und braun. Wenigstens waren die Temperaturen erträglich. Hier im Osten begann gerade der »Winter«, kalt, für hiesige Verhältnisse, aber mindestens so warm war wie ein Frühlingstag in Noros.

»Wer will das wissen?«

»Mein Name ist Relik Folsteyn. Ich stamme aus Knebb. Ihr werdet Euch nicht an mich erinnern, Herr, aber ich war damals im Jahr Neunhundertzehn mit Langstrits Legion oben auf dem Berg.«

Vann lächelte traurig. Die Veteranenbruderschaft … »Schön, dich zu sehen, Folsteyn.«

»Ist mir eine Ehre, Hauptmann.« Folsteyn musterte Vanns Ladung. »Ein bisschen heiß hier, um ausgerechnet Wolle zu verkaufen, Herr.«

»Was anderes habe ich nicht anzubieten, aber du wirst es nicht glauben: Die Weber reißen sie mir nur so aus den Händen.« Vann nahm den Umschlag entgegen, den Folsteyn ihm reichte. Sah nach einem offiziellen Schreiben aus: Das Siegel der Stadtwache von Norostein prangte darauf, und es war ungebrochen. Die Handschrift war Jeris Muhrens. Vann beschlich ein ungutes Gefühl.

»Dürfte ich etwas Wasser haben, Hauptmann?«, fragte Folsteyn. »Es war ein langer und trockener Ritt.«

Vann deutete auf das Fass, das er an die Seite seines Wagens gebunden hatte. »Bedien dich. Ich habe genug.«

»Danke«, erwiderte der Reiter und bedachte Vann mit einem besorgten Blick. »Wenn Ihr das gelesen habt, werden wir reden müssen.«

Vann war nicht allein. Seine Karawane bestand aus zwei Dutzend Händlern, die gemeinsam die Brücke überquert hatten, nachdem die Legionen durch waren. Hier in Ostdhassa, wo die Kriegszügler nicht hinkamen, konnte man noch gute Geschäfte machen. Vanns Zukunft und die seiner Familie hing davon ab, dass er genug Geld von seiner Unternehmung mit nach Hause brachte. Seine Gedanken wanderten zu seiner Frau Tesla und seinem Sohn Alaron, die geduldig zu Hause in Norostein auf ihn warteten. Tesla und er hatten sich einander entfremdet, waren sich im Zuge der jüngsten Ereignisse jedoch wieder nähergekommen. Trotz allem, was vorgefallen war, liebte er sie immer noch, hielt sich an der Erinnerung an den Menschen fest, der sie einmal gewesen war. Und sein Sohn, der naive und ungestüme, aber von Grund auf ehrliche Alaron, war der Mittelpunkt seines Lebens.

Vann lenkte seinen Wagen an den Straßenrand und rief seinen Begleitern zu, sie sollten sich keine Sorgen machen, er würde gleich wieder zu ihnen aufschließen. Nachdenklich betrachtete er den Umschlag. Das ungute Gefühl verstärkte sich.

Vielleicht lasse ich ihn besser zu. Dann ist das, was darin steht, nie geschehen …

Vann schalt sich für seine Kindsköpfigkeit und brach das Siegel. Der Brief war im Juness verfasst – vor sechs Monaten. Selbst wenn die Reise durch Verelon und Sydia drei Monate in Anspruch genommen hatte, hatte Folsteyn verdammt lange gebraucht, um ihn zu finden. Andererseits hatte Vann auch sein Bestes getan, um unterwegs möglichst wenig aufzufallen.

Werter Freund, ich bete, dass diese Nachricht dich zügig erreicht und du nicht schon aus anderer Quelle davon erfahren hast: In tiefster Trauer unterrichte ich dich hiermit von Teslas Tod. Sie starb am 11. Juness eines natürlichen Todes. Alaron ist wohlauf und kümmert sich inzwischen um deine Angelegenheiten in Norostein. Er wird dir schreiben, sobald er kann, aber sorge dich nicht, wenn es noch eine Weile dauert, bis du von ihm hörst. Er lässt dich herzlich grüßen, und sei auch von mir ganz herzlich gegrüßt. Geh den kaiserlichen Truppen aus dem Weg, so gut du kannst, auf dass wir uns bald wiedersehen. Das Glück sei mit dir.

In Eile, Jeris Muhren, 12. Juness, Norostein

Vann las den Brief ein zweites Mal, dann schloss er die Augen. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch sie weigerten sich zu fließen.

Tesla, meine geliebte Tesla. Der Tod muss eine Erlösung für dich gewesen sein.

Als er wieder aufblickte, sah er, wie Relik Folsteyn ihn nachdenklich musterte. »Muhren und Euer Sohn haben Norostein noch am selben Tag verlassen, Hauptmann«, sagte er mit rauer Anteilnahme.

»Wie bitte?«, fragte Vann verdattert. »Warum denn das?«

»Wir wissen es nicht, Herr. Wir wissen nur, dass man auf der gesamten Kaiserstraße vom Brekaellental bis Pontus nach ihnen sucht – und nach Euch ebenso.«

Trotz der Hitze bekam Vann eine Gänsehaut. »Ursprünglich hatte ich gar nicht vor, die Brücke zu überqueren. Doch als ich nach Pontus kam, merkte ich schnell, dass dort kein Geld zu machen war.« Er schluckte. »Warum sucht man nach mir?«

»Wir wissen es nicht, Hauptmann. Aber es waren immerhin Inquisitoren, die nach Euch gefragt haben.«

Die Inquisition? Großer Kore! »Wer hat dich geschickt, Relik?«

»Die Händlergilde. Als die Kirche so reges Interesse an Eurem Verbleib zeigte, beschloss man, den Inquisitoren zuvorzukommen, wenn möglich. Jean Benoit persönlich hat den Befehl gegeben. Er hat gesagt, wir sollten Euch in Sicherheit bringen.«

Die Benoits waren vor über vierzig Jahren wegen Veruntreuung beim Kaiser in Ungnade gefallen. Man hatte ihnen alle Titel und Ländereien entzogen, so dass ihnen gar nichts anderes übrig geblieben war, als Händler zu werden. Der damals sehr junge Jean, ein Reinblutmagus, hatte sich in Pallas schnell zum Gildemeister hochgearbeitet und allen reichen Kaufleuten geraten, in verarmte Magusfamilien einzuheiraten. Die Familien vermischten sich wieder, und die Kaste der Händlermagi entstand. Benoit verfügte mittlerweile über beträchtlichen Einfluss, für den die kaisertreuen Magi ihn hassten. Für sie war er ein Verräter.

Vann leckte sich über die Lippen. Benoit war weder ein Freund Noros’ noch der unabhängigen Händler, auch wenn er nach der Revolte entscheidend am Friedensschluss mitgewirkt hatte – Krieg war nun mal schlecht fürs Geschäft. Die Gilde tyrannisierte die unabhängigen Händler seit Jahrhunderten, und unter Benoit war es noch schlimmer geworden. »Sieht nicht aus, als hätte ich eine Wahl«, sagte er schließlich.

»Es sei denn, Ihr würdet lieber der Inquisition Rede und Antwort stehen«, erwiderte Folsteyn mit einem Nicken.

»Mein Schicksal liegt in deinen Händen.« Vann hob den Blick und schickte ein stummes Gebet für Tesla zum Himmel, für seine verstümmelte und gebrochene Frau, die endlich Ruhe gefunden hatte – und für Alaron, wo auch immer auf Urte er jetzt sein mochte.

Javonische Küste, nahe der Glasinsel, AntiopiaZulhijja (Dekore) 928Sechster Monat der Mondflut

Alaron träumte von zu Hause und von seinem Vater. Sie lachten und waren glücklich. Selbst seine Mutter hatte gute Laune, ihre Brandnarben waren verschwunden, sie war wieder jung und schön. Das allein hätte ihm sagen sollen, dass er träumte, aber es fühlte sich alles so wirklich an. Dann rüttelte ihn eine Hand aus dem Schlaf und riss ihn zurück in eine grausame Wirklichkeit.

Er erwachte neben einer winzig kleinen Frau mit dunkler, kaffeebrauner Haut und beinahe schon grotesk gerundetem Bauch. Gemeinsam lagen sie im Heck eines kleinen Skiffs, das über dem Ozean schwebte. Die Sonne prügelte durch die Gischt auf sie herunter, und die Wellen brüllten.

»Das Meer steigt wieder«, sagte das Mädchen.

Alaron starrte sie einen Moment lang begriffsstutzig an, da fiel es ihm wieder ein: Sie war Ramita Meiros, die siebzehnjährige schwangere Witwe des großen Antonin. Gemeinsam waren sie in dem Skiff von der Glasinsel geflohen, vor Malevorn Andevarion, seinem alten Widersacher vom Arkanum, vor der Inquisition und einem Trupp unwirklicher Gestaltwandler. Eine weitere Erinnerung kehrte zurück, und Alaron griff nervös in die Tasche seines Umhangs. Als er den schlanken Köcher spürte, seufzte er erleichtert.

Die Skytale des Corineus.

Dann folgte der ganze Rest: Sie waren in die See hinabgestürzt, er und Ramita. Alaron war sicher gewesen, dass sie ertrinken würden, doch ihr kleines Skiff Sucher war mit mächtigen Zaubern ausgestattet, es hatte sich eine schützende Luftblase gebildet, und sie waren wieder aufgetaucht.

Sie hatten einen wahren Höllenritt hinter sich. Durchgefroren und nass bis auf die Knochen waren sie immer wieder von den Wellen überspült worden, hatten sich aneinandergeklammert und verzweifelt versucht, den Kiel mit Luftgnosis zu füllen, damit sie sich aus dem tobenden Meer erheben konnten. Irgendwie hatten sie es schließlich geschafft, aber die Wellen hatten sie inzwischen so weit von der Glasinsel fortgetragen, dass sie nirgendwo mehr zu sehen war. Es musste gegen Mitternacht gewesen sein, doch ohne Mast und Segel konnten sie keine Fahrt aufnehmen und schwebten daher an Ort und Stelle. Es war die letzte Verschnaufpause und eine willkommene Gelegenheit, endlich etwas Schlaf zu bekommen.

Die Lakhin kroch schwerfällig an den Rand des Rumpfs und spähte nach unten. »Die Wellen werden immer höher«, sagte sie. Trotz ihrer Erschöpfung hörte Alaron keinerlei Furcht in ihrer Stimme. »Wir müssen hier weg.«

Es war kein Land in Sicht, und die schwarz-grünen schäumenden Berge unter ihnen türmten sich in der Tat bedrohlich hoch auf. Alaron dachte zurück an die letzte Nacht. Auf ihrer Flucht hatten sie den Großteil der im Kiel gespeicherten Gnosis aufgebraucht. Sucher hielt sie gerade noch so in der Luft, mehr nicht. Ohne Antrieb konnten sie nicht mehr tun, als das Unvermeidliche ein wenig hinauszuzögern. »Meine Affinität ist zwar nicht besonders stark, aber ich kann den Kiel zumindest wieder etwas aufladen«, sagte er zu Ramita. »Trotzdem brauchen wir einen Mast und ein Segel.«

Alaron betrachtete die Verankerung, in der einst der Mast gesteckt hatte. Jetzt steckte er auf der Glasinsel – im Brustkorb einer Inquisitorin mit leuchtend blondem Haar und den Augen einer eiskalten Killerin. Er verspürte keinerlei Mitleid, immerhin hatte sie ihn umbringen wollen, aber er hätte alles dafür gegeben, um wenigstens den Mast wiederzuhaben.

Ramita sah sich kurz um und brach dann kurz entschlossen eine der Verstärkungsplanken aus dem Rumpf.

Ihre Kraft ist unfassbar,schoss es Alaron in den Kopf. Oder auch nicht. Immerhin hat sie den Mast dreißig Ellen weit geworfen und damit die Schilde eines Reinbluts durchschlagen.

»Wir müssen …«, begann Ramita und verstummte. Anscheinend suchte sie nach dem passenden rondelmarischen Wort, und als sie es gefunden hatte, sprach sie es aus wie eine Zauberformel. »Wir müssen improvisieren.«

Alaron nickte. Er war froh, sich etwas anderem zuwenden zu können als der Erinnerung an die Ereignisse auf der Glasinsel, wo Cymbellea di Regia nun eine Gefangene war oder vielleicht längst tot. Er blinzelte die Tränen weg, beschwor seine Gnosis und machte sich daran, den Kiel wieder aufzuladen.

Als Ramita wusste, was zu tun war, ging alles ganz schnell. Holz und überhaupt alles Pflanzliche gehörten zu ihren größten Stärken.

Meine Affinitäten. Das Wort gefiel ihr. Es klang so magisch. Anfangs hatte die Gnosis ihr Angst gemacht, doch jetzt konnte sie sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Ihre Familie würde Ramita kaum wiedererkennen: schwanger vom mächtigsten Magus Urtes und allein mit einem halbwüchsigen Ferang trieb sie mitten im Ozean und verspürte dennoch kein bisschen Angst. Ich bin die Dame Meiros. Nichts kann mich aufhalten.

Aus der Planke ließ sie einen neuen Mast wachsen, dann formte sie das Leintuch, mit dem der Proviant abgedeckt war, zu einem Segel um. Nicht dass sie viel Proviant hatten. Ein bisschen Trinkwasser, das war alles. Sie hatten nicht damit gerechnet, so bald aufbrechen zu müssen, und ihre fast erschöpften Vorräte nicht wieder aufgefüllt. Ein schwerer Fehler.

Alaron, der wusste, wie so etwas ging, vertäute das neue Segel, dann richteten sie den Mast auf, und schließlich half Ramita ihm, den Kiel wieder aufzuladen. Sie waren es beide nicht gewohnt zusammenzuarbeiten, und Ramita spürte, dass ein Großteil ihrer aufgewendeten Energie verloren ging, dennoch reichte es.

Endlich stieg das Skiff höher und nahm Fahrt auf. Sie orientierten sich an der Sonne und wendeten sich Richtung Süden, wo sie bald auf Land stoßen würden, wenn Ramita sich die Karten richtig eingeprägt hatte.

Danke, Große Göttin.

Danke, Schöpfer und Beschützer.

Danke Darikha-ji, dass du uns vor den Handlangern des Todes gerettet hast.

Ramita rief sich schaudernd den schrecklichen Moment ins Gedächtnis, als Huriya, ihre ehemals beste Freundin und jetzige Todfeindin, Justina Meiros’ Schilde mit Worten zerschmettert hatte. Die simple Enthüllung, dass Antonin Meiros gestorben war, weil Ramita ihn verraten hatte, hatte nun auch Justina das Leben gekostet. Ramita hatte all das nicht gewollt, doch was geschehen war, war geschehen. Sie hatte ihr Bestes gegeben, eine pflichtbewusste Ehefrau zu sein, und dennoch hatte sie Meiros’ Familie ins Verderben gestürzt. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, aber es ging nicht.

Vishnarayan, Herr des Lichts, sag mir, was ich tun soll. Schick mir ein Zeichen.

Javonische Küste, nahe der Glasinsel, AntiopiaZulhijja (Dekore) 928Sechster Monat der Mondflut

Cymbellea di Regia erwachte mit Tränen in den Augen. Immer noch sah sie das Gesicht ihrer Mutter Justina vor sich, den Ausdruck von Stärke, der sich zu fassungslosem Entsetzen wandelte, während die Worte der klein gewachsenen Seelentrinkerin Huriya auf sie niederprasselten wie Knüppelschläge. Was, bei Hel, hat sie zu ihr gesagt?

Schon im nächsten Moment hatte Zaqri, der Gestaltwandler mit dem Löwenhaupt, Justina mit einem Prankenhieb die Kehle durchtrennt und ihr beinahe den Kopf vom Rumpf geschlagen. Mutter!

Cym hob den Kopf und merkte, dass sie bäuchlings in einem zerwühlten Bett lag. Sie wollte sich bewegen, doch etwas Schweres drückte sie nieder. Sie drehte das Gesicht zur Seite, so gut es ging, und erstarrte: Direkt neben ihr lag ein Löwe, der ihr eine Pranke ins Kreuz drückte. Er musterte sie knurrend. Justinas Blut hatte er sich inzwischen vom Fell geleckt, und seine Zähne glänzten bedrohlich weiß im Zwielicht. Zaqri. Der Mörder meiner Mutter.

Cym erinnerte sich an ihren inbrünstigen Schwur von letzter Nacht, Zaqri Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ich werde ihn töten, Mutter. Ich schwöre es.

In der Tür sah sie einen Schakal mit dunkel geflecktem Fell und vernarbtem Gesicht, der sie aufmerksam beobachtete und dabei missbilligend jaulte.

Zaqri knurrte erneut, lauter diesmal, und der Schakal verschwand.

Cym versuchte noch einmal sich aufzurichten, aber es ging nicht. »Ich muss pinkeln«, sagte sie in der Hoffnung, dass der Löwe Rondelmarisch verstand.

Binnen eines Wimpernschlags verwandelte Zaqri sich. Nackt und in Menschengestalt sah er aus wie der Inbegriff eines lantrischen Helden: golden schimmernd, wunderschön und schrecklich zugleich, wie ein Gott, der leibhaftig auf Urte wandelte. »Ich werde dich begleiten«, krächzte er mit einer Stimme, die sich erst wieder an menschliche Sprache gewöhnen musste. »Ohne mich ist es zu gefährlich.«

»Mit dir erst recht«, erwiderte Cym ängstlicher, als sie beabsichtigt hatte, und wandte mit einiger Mühe den Blick von seinem prächtigen Körper ab.

»Nein. Ich habe schon die ganze Nacht über dich gewacht.«

Cym wollte widersprechen, aber sie konnte nicht. Der Löwenmensch machte ihr Angst. Sie befand sich tief im Innern der Felsnadel, die Antonin Meiros zu seinem geheimen Unterschlupf ausgebaut hatte. Der Kleidung nach zu urteilen, die überall herumlag, musste dies Alarons Zimmer gewesen sein. Dass man sie gefunden hatte, war allein Cyms Schuld: Ihre Unvorsicht hat sie verraten. Nur weil die beiden Gruppen, die ihnen auf den Fersen waren, gleichzeitig eingetroffen waren, war Cym überhaupt noch am Leben. Alaron und Meiros’ Witwe Ramita waren anscheinend entkommen, und die Inquisitoren schienen ebenfalls fort zu sein. Offensichtlich hatten die Seelentrinker die Schlacht gewonnen.

Cym stand auf und ging eilig zur Tür. Vor dem Schlafzimmer, das sie ohne ihr Wissen mit Zaqri geteilt hatte, wartete der Rest des Rudels. Die meisten waren wieder in Menschengestalt, und auch der dunkle Schakal von vorhin verwandelte sich jetzt – in eine hoch aufgeschossene Lokistanerin mit kantigem Gesicht, Adlernase und kurz geschorenem Haar. Sie hieß Hessaz und war die Schwester von Zaqris toter Gefährtin Ghila. Hessaz hatte ihren Mann in dem Kampf verloren, und nun schien sie Ghilas Stelle einnehmen zu wollen. Genau das war es auch, was das Rudel zu erwarten schien.

»Warum lebt sie noch?«, fauchte Hessaz und funkelte Cym dabei wütend an.

»Sie steht unter meinem Schutz«, knurrte Zaqri. »Wer ihr auch nur ein Haar krümmt, bekommt es mit mir zu tun.«

»Sie ist eine Magi«, brummte einer der Männer. »Wir beschützen keine Magi.«

»Einer meiner Söhne wurde noch nicht erweckt«, fügte ein anderer hinzu. »Gib sie ihm, damit er seine Gnosis nähren kann.«

»Wenn wir wieder in unserem Dorf sind, vielleicht«, erwiderte Zaqri so emotionslos, dass Cym erschauerte. »Bis dahin rührt niemand sie an.«

»Du hast mit ihr geschlafen!«, rief Hessaz. »Wenn du dich über sie hermachen darfst, warum dann wir anderen nicht auch? Komm zu mir, wenn du Trost brauchst. Ich bin Ghilas Schwester. Es ist nur recht und billig, dass ich ihre Stelle einnehme.«

»Ich habe mich nicht über sie hergemacht, und Ghila ist noch nicht einmal einen Tag lang tot. Darf ich nicht angemessen um meine Gefährtin trauern?«

»Lass mich dich trösten«, beharrte Hessaz, doch ihre Worte klangen alles andere als tröstlich.

»Respektiere meine Trauer, wie ich die deine respektiere«, entgegnete Zaqri und drehte sich weg. Die Luft zwischen den beiden war zum Zerreißen gespannt.

»Wie edel von dir«, kicherte ein gerade einmal eine Elle großes Mädchen mit erstaunlich üppigen Rundungen. »Wir alle trauern mit dir, Zaqri.«

»Seherin Huriya«, erwiderte Zaqri und beugte das Haupt.

Huriya schlenderte heran und stellte sich mitten in die Gruppe. Sie schien einen hohen Rang zu bekleiden, doch obwohl sich alle Rudelmitglieder vor ihr verneigten, blieben ihre Augen fest auf Zaqri gerichtet.

Cym wurde nicht recht schlau aus der Hierarchie ihrer Häscher. Sie schienen mehr Tier als Mensch zu sein, und jedes davon schaute sie mit hungrigen Blicken an.

»Trauer passt nicht zu uns«, verkündete die Seherin. »Der Tod ist unser ständiger Begleiter, aber wir geben uns ihm nicht hin. Wir gehen weiter ohne zurückzublicken, und das weißt du, Zaqri.« Mit wiegenden Hüften schritt sie auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Trauere nicht zu lang.«

Zaqri wand sich. »Seherin, Ghila und ich … wir waren eins. Ohne sie bin ich nur noch halb.«

»Wenn eine von uns dir helfen kann, wieder ganz zu werden, brauchst du es nur zu sagen«, erwiderte Huriya lasziv.

Cym war froh, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, als die Erinnerung an das entsetzliche Schlachten von letzter Nacht mit aller Wucht zurückkehrte. Ihre Mutter, die sie ohnehin kaum gekannt hatte, war tot, und die anderen … Wo Alaron und Ramita jetzt wohl sind?

»Sie sind fort«, antwortete das Keshi-Mädchen, als hätte Cym die Frage laut ausgesprochen. Rondelmarisch kam ihr nur schwer über die Lippen, als spreche sie es zum ersten Mal. »Alaron?«, fügte sie kichernd hinzu. »Al’Rhon ist Lakhisch für Ziege! Was für ein lächerlicher Name. Aber wie auch immer: Er ist fort und Ramita ebenfalls. Im Augenblick können wir sie nicht verfolgen, wir sind zu erschöpft und haben zu viele Verwundete.« Sie musterte Cym kurz. »Was sollen wir mit dir machen, Streunerin? Gibt es jemanden, der Lösegeld für dich bezahlen würde?«

Cym schluckte. Lösegeld? Heißt das, ich kann mich freikaufen? Zu ihrer Schande merkte Cym, wie sehr sie immer noch an ihrem jämmerlichen Leben hing. »Mein Name ist Cymbellea di Regia-Meiros«, erwiderte sie schließlich.

Huriya neigte den Kopf. »Du bist eine Meiros? Wie schön für dich. Trotzdem bist du nutzlos.« Sie wandte sich einem der Rudelmitglieder zu. »Töte sie und stärke dich an ihr.«

Ehe Cym begriff, was geschah, schlug eine klauenbewehrte Hand nach ihrer Kehle, doch Zaqri packte den Kerl mit einer blitzschnellen Bewegung am Arm. »Sie gehört mir!«, knurrte er.

Huriya warf ihm einen gereizten Blick zu. »Ich habe gesagt, er darf sie töten.«

»Und ich sage, wir verhören sie zuerst. Danach werden wir entscheiden, ob ihre Seele eines unserer Kinder erwecken soll. Denkt daran, was wir zu gewinnen haben, Seherin.«

»Nun gut, Zaqri. Einstweilen gehört sie dir«, erwiderte Huriya gemessen. Mit einem Blick auf Cym fügte sie hinzu: »Mach mit ihr, was du willst. Aber wenn sie nicht fliegen kann, wenn wir von hier aufbrechen, muss sie sterben. Ich gebe dir drei Tage.«

Cym erbleichte. Die Glasinsel lag Hunderte Meilen vom Festland entfernt – viel weiter, als sie mit ihrer Luftgnosis fliegen konnte. Das ging nur in Vogelgestalt, doch Cym hatte ihren Körper noch nie verwandelt. Sie wusste nicht einmal, ob sie es konnte.

»Drei Tage?«, keuchte sie. »Warum tötet ihr mich nicht gleich!?«

»Halt den Mund, Mädchen«, fauchte Zaqri. Führe sie nicht in Versuchung. Er durchbohrte sie regelrecht mit seinem Blick, und Cym spürte, wie er all ihre geistigen Schutzmechanismen einfach überrannte. Setz dich nicht zur Wehr. Ich muss deine Gnosis erforschen.

Cym versuchte sich ein letztes Mal aufzubäumen. Du hast meine Mutter getötet!

Und deine Begleiter meine Gefährtin.

Sie starrten einander stumm an, bis Cym nicht mehr anders konnte, als endlich zu fragen: Ist … ist meine Mutter in dir?

Zaqri schüttelte den Kopf. Lediglich ihre Kraft. Die Erinnerungen und das Wesen derer, die wir verschlingen, bleiben uns verschlossen. Sein Blick sprang zu Huriya. Normalerweise.

Weiß meine Mutter, was mit ihr passiert ist?, fragte Cym zitternd.

Sie ist tot, antwortete Zaqri unumwunden, und Cym spürte, wie er noch tiefer in sie eindrang. Öffne dich, Mädchen, sonst machst du alles nur noch schlimmer.

Wenn Cym sich widersetzte, würde ihr Geist irreparablen Schaden nehmen, also ließ sie ihn gewähren. Zaqris Präsenz leuchtete in ihrem Innern wie eine Fackel in einer fensterlosen Kammer, wie die Sonne erstrahlte sein Löwenhaupt in ihrem Bewusstsein und erfüllte auch noch den letzten Winkel. Cyms intimste Erinnerungen wurden offenbar, Abende mit ihrer Familie, Freunde, ihr erster Kuss …

Dann riss er plötzlich die Augen auf und verschwand aus ihrem Geist. »Seherin!«, sagte er mit zitternder Stimme.

Huriya drehte sich um und ging gemessenen Schrittes auf ihn zu. »Ja?«

Cym konnte seine Worte gerade noch verstehen, so nahe beugte Zaqri sich an Huriyas Ohr. »Ihr habt Sabeles Erinnerungen, also werdet ihr wissen, was die Skytale des Corineus ist. Dieses Mädchen hier hat sie in der Hand gehalten!«

Javonische Küste, nahe der Glasinsel, AntiopiaZulhijja (Dekore) 928Sechster Monat der Mondflut

Das Windschiff trieb ziellos am Himmel dahin, als die Faust erwachte. Malevorn Andevarion hörte, wie sich etwas in der Dunkelheit bewegte: Dominic, der die Kajüte mit ihm teilte, zog sich gerade an und machte sich bereit für seine Wache. Der arme, eifrige Dom war verstört wie ein verirrtes Schaf, jetzt da die vermeintlich unbezwingbare Faust so drastisch dezimiert war. All seine Illusionen, die Inquisition sei ein Werkzeug der Macht und Gerechtigkeit, Tugend würde belohnt und Sünde bestraft, waren zerstört. Was Malevorn schon mit zehn gewusst hatte, hatte Dominic erst jetzt begriffen: Das Leben war alles andere als gerecht.

Doch er hatte keine Lust auf Unterhaltung und stellte sich schlafend. Lieber wartete er, bis Dom verschwunden war, und lauschte auf die nächtlichen Geräusche draußen, das Ächzen der Rumpfplanken, das Heulen des Windes, der vergeblich an den geborstenen und verbrannten Masten zerrte. Keiner der verbliebenen Inquisitoren war gut genug im Sylvanismus, um den Schaden in der gebotenen Eile zu reparieren. Sie waren hilflos und würden es auch bleiben, bis Rettung kam.

Weit unter ihnen tobte der Ozean. Das Mondlicht schien durch das gerade einmal tellergroße Bullauge, während Malevorn an die Ereignisse auf der Glasinsel zurückdachte und über den Fragen brütete, die seither an ihm nagten.

Wie hatte Alaron Merser entkommen können? Wer war diese unfassbar starke Dunkelhäuterin? Und wer waren diese Gestaltwandler – gehörten sie wirklich zu den gefürchteten Dokken? Waren sie etwa auch hinter der Skytale her?

Dominic war kaum gegangen, da ging die Kabinentür erneut auf, und Raine Caladryn schlüpfte mit einem schelmischen Grinsen auf dem koboldhaften Gesicht herein.

Malevorn beobachtete, wie sie sich entkleidete. Ihre Brüste waren eigentlich nur etwas vergrößerte Muskeln, die Hüfte breit und der Hintern flach. Ihre Schultern waren genauso mächtig wie ihre Oberschenkel, und das Gesicht war nicht gerade hübsch. Sie war die unweiblichste Frau, mit der er je geschlafen hatte, doch etwas an Raines glühendem Hass auf die Welt brachte eine Saite in ihm zum Klingen. Darin waren sie gleich: beide getrieben von rücksichtsloser Gier und grenzenlosem Verlangen.

Schönheit ist ein kitschiger Mythos, sagte er sich. Zusammenpassen ist das, was zählt. Es gefällt mir, wie sie schmeckt, wie sie riecht und wie sie denkt. Sein Schwanz war hart, noch bevor sie sich zu ihm gelegt hatte und ihn schnurrend wie eine Katze umfasste. Ihre Lippen schmeckten süß, sie liebkosten einander, und Malevorn streichelte ihre feuchte Scheide. Dann kletterte er auf sie und drang in sie ein. Schnaubend und grunzend bewegten sie ruckartig ihre Becken, bis Raine die Fingernägel in seinen Rücken grub und unter ihm zu zucken begann. Dann kam auch er. Erschöpft ließ er sich auf sie fallen, seine Haut genauso schweißnass und gerötet wie die ihre.

»Ich kann’s immer noch nicht fassen, dass Virgina, diese dumme Kuh, Keuschheit tatsächlich für etwas Göttliches gehalten hat«, keuchte Raine ihm ins Ohr.

»Die Noori-Frau hat sie mit einem Mast aufgespießt«, erwiderte Malevorn immer noch staunend. »Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen: ein gewaltiger Wurf, der ihre Schilde und den Harnisch einfach durchschlagen hat. Unglaublich.«

»Ordo Costruo?«, überlegte Raine.

»Nein. Selbst die dunkelsten Mitglieder des Ordo Costruo haben zumindest zur Hälfte yurisches Blut. Aber sie war schwarz wie eine antiopische Bauernmagd.«

»Abstoßend. Hast du je eine von ihnen gevögelt?«

Malevorn schüttelte vehement den Kopf. »Bei Kore, nein! Allein der Gedanke widert mich an.«

Raine lachte schallend. »Spar dir die Mühe. Ihr Männer vögelt doch alles, was ein Loch hat.« Sie blickte an sich hinunter. »Mein Glück.«

»Ich würde dich jeder anderen vorziehen.«

»Lügner! Sobald wir dem ersten hübschen Ding begegnen, hast du mich vergessen.«

»Stimmt nicht. Du und ich sind aus dem gleichen Holz, Raine. Wir wollen das Gleiche und wir denken das Gleiche. Wir sind seelenverwandt.« Er warf ihr einen leicht spöttischen Blick zu. »Du wirst dich bald in mich verlieben. Jede, mit der ich schlafe, tut das.«

»Liebe!«, schnaubte Raine. »Fahr nach Hel, Schönling. Ich glaub dir kein Wort.« Sie kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Dieser Alaron Merser hat also die Skytale des Corineus.«

»Nicht mehr lange.« Malevorns Blick verfinsterte sich. »Er ist ein Trottel. Wir werden sie ihm bald abnehmen.«

»Und dann?«

»Geben wir sie dem Kaiser zurück. Hinterher …«

»Nach was?«

»Nachdem wir sie benutzt haben. Ich will ein Aszendent werden, und du auch. Und wir werden es schaffen, werden genauso stark werden wie die wahrhaft Mächtigen. Und dann werde ich dafür sorgen, dass die Schweine, die gejubelt haben, als mein Vater sich umbrachte, wünschen, sie wären nie geboren worden.«