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Die Brücke der Gezeiten versinkt bald in den Fluten — aber der Krieg ist noch nicht vorbei ...
Die Mondflut geht ihrem Ende entgegen. Bald wird die Brücke der Gezeiten wieder im Meer versinken und die beiden Kontinente der Welt Urte erneut für zwölf Jahre voneinander trennen. Dem yurischen Kaiser Constant bleibt nur noch wenig Zeit, auch das östliche Antiopia zu unterwerfen, die verlorenen Legionen sind zwischen zwei feindlichen Armeen eingekesselt, und das mächtige Artefakt, das über das Schicksal der beiden Kontinente entscheiden könnte, ist in die falschen Hände gefallen. Können der Magier Alaron und seine Begleiterin Ramita die Skytale zurückerobern, oder wird Urte für immer im Chaos versinken?
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Seitenzahl: 750
Buch
Die Mondflut geht ihrem Ende entgegen. Bald wird die Brücke der Gezeiten wieder im Meer versinken und die beiden Kontinente der Welt Urte erneut für zwölf Jahre voneinander trennen. Dem yurischen Kaiser Constant bleibt nur noch wenig Zeit, auch das östliche Antiopia zu unterwerfen, die verlorenen Legionen sind zwischen zwei feindlichen Armeen eingekesselt, und das mächtige Artefakt, das über das Schicksal der beiden Kontinente entscheiden könnte, ist in die falschen Hände gefallen. Können der Magier Alaron und seine Begleiterin Ramita die Skytale zurückerobern, oder wird Urte für immer im Chaos versinken?
Der Autor
Der neuseeländische Schriftsteller David Hair wurde für seine Jugendromane bereits mehrfach ausgezeichnet. Die Brücke der Gezeiten ist seine erste Fantasysaga für Erwachsene. Nach Stationen in England, Indien und Neuseeland lebt er nun in Bangkok, Thailand.
Dieverlorenen Legionen
DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 7
Übersetzt von Michael Pfingstl
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Unholy War« (Pages 392-784 + Appendix) bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2015 by David HairCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Sigrun ZühlkeJB Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-18114-7V001www.blanvalet.de
Dieses Buch ist meiner Schwester Robyn gewidmet, liebevolle Krankenschwester, hervorragende Köchin und Kuchendekorateurin, und außerdem der Grund, warum es sich lohnt, Crabtree & Evelyn-Aktien zu kaufen.
Robyn wurde meinen Eltern am 6. September übergeben, etwas über ein Jahr, nachdem sie von mir Besitz ergriffen hatten. Der Lieferant war kein Storch, sondern ein Arzt in Te Puke – dass wir adoptiert wurden, war nie ein Geheimnis und nie Grund für Drama oder Trauma. Unter den Fittichen unserer Adoptiveltern wuchsen wir genauso auf, wie auch »normale« Geschwister aufwachsen: Wir haben gespielt und gestritten, konkurriert und zusammengearbeitet, uns umarmt und beschimpft, uns geschlagen und wieder versöhnt. Als Adoptivkind kann man irgendjemanden zur Schwester bekommen – ich bin froh, dass du, Robyn, meine geworden bist.
Inhalt
Karte: Urte c. 927
Karte: Yuros
Karte: Antiopia
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Die Ereignisse von Janun bis Septnon 929 (geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Der unheilige Krieg)
Prolog: Kaiser Constants Plagen (Teil 4)
1 Die Mörderin des Messias
2 Das bestgehütete Geheimnis des Kaiserreichs
3 Die Rückkehr der Königin
4 Zerstörte Brücken
5 Der Schlüssel zur Macht
6 Das Tal der Gräber
7 Neue Allianzen
8 Identität
9 Wider den Kodex
10 Eine Prüfung
11 Manöver
12 Die Flussdünen
13 Überredungskünste
14 Eine neue Aszendenz
15 Moksha
16 Verwerfungen
17 Zuchtanstalt
18 Krokodile
19 Die Schlacht um Forensa
20 Unvollkommen
21 Blutiger Schnee
Anhang
Danksagung
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Auf Urte gibt es zwei bekannte Kontinente, Yuros und Antiopia. In Yuros ist das Klima kalt und feucht, seine Bewohner haben helle Haut; Antiopia liegt näher am Äquator, ist größtenteils trocken und dicht von verschiedenen dunkelhäutigen Stämmen bevölkert. Zwischen den beiden Landmassen tost eine unbezähmbare See, ständig aufgepeitscht von extrem starken Gezeiten, welche die Meere unpassierbar machen, sodass die Völker der beiden Kontinente lange Zeit nichts voneinander wussten.
Vor fünfhundert Jahren änderte sich dies grundlegend.
Auslöser des Ereignisses war eine von Corineus angeführte Sekte. Er gab seinen Jüngern einen Trank, der ihnen magische Kräfte verlieh, die sie Gnosis nannten. Noch in derselben Nacht starb die Hälfte seiner Anhänger und ebenso Corineus selbst, der offenbar von seiner Schwester Corinea ermordet wurde. Corinea floh, dreihundert der Überlebenden begannen unter Sertains Führung, den Kontinent mithilfe ihrer neu gewonnenen Kräfte zu erobern. Die Gnosis verlieh ihnen derart große Macht, dass sie das Reich Rimoni mühelos vernichteten und sich selbst als Herrscher des neu gegründeten Reiches Rondelmar einsetzten.
Dieses Ereignis, bekannt unter dem Namen »Die Aszendenz des Corineus«, veränderte alles. Die Magi, wie sie sich selbst nannten, stellten fest, dass auch ihre Kinder über magische Fähigkeiten verfügten. Die Gabe wurde zwar schwächer, wenn der andere Elternteil nicht ebenfalls ein Magus war, doch die Magi breiteten sich unaufhaltsam aus. Im Namen des rondelmarischen Kaisers brachten sie immer Landstriche und Völker Yuros’ unter ihre Herrschaft.
Von den anderen zweihundert, die die Aszendenz überlebt hatten, versammelte Antonin Meiros einhundert Männer und Frauen um sich, die wie er Gewalt verabscheuten, und zog mit ihnen in die Wildnis. Sie siedelten sich im südöstlichen Zipfel des Kontinents an, wo sie einen friedliebenden Magusorden gründeten, den Ordo Costruo.
Die restlichen hundert Überlebenden schienen keinerlei magische Kräfte entwickelt zu haben, doch stellte sich schließlich heraus, dass sie, um die Gnosis in sich wirksam werden zu lassen, die Seele eines anderen Magus verschlingen mussten; also taten sie es. Der Rest der Magigemeinschaft war darüber so entsetzt, dass sie die Seelentrinker gnadenlos jagten und töteten. Die wenigen, die noch übrig sind, leben im Verborgenen und werden von allen verachtet.
Schließlich entdeckte der Ordo Costruo mithilfe der Gnosis den Kontinent Antiopia, oder Ahmedhassa, wie er bei seinen Einwohnern heißt. Antiopia liegt südöstlich von Yuros. Die vielen Gemeinsamkeiten in Tier- und Pflanzenwelt, die die Ordensmitglieder entdeckten, brachten sie zu der Vermutung, dass die beiden Kontinente in vorgeschichtlicher Zeit einmal miteinander verbunden gewesen sein mussten. Meiros’ Anhänger kamen in Frieden und wurden bald dauerhaft in der großen Stadt Hebusal im Nordwesten Antiopias sesshaft. Im achten Jahrhundert begann der Orden mit der Arbeit an einer gigantischen Brücke, die die beiden Kontinente wieder miteinander verbinden sollte, und diese Brücke löste die zweite Welle epochaler Veränderungen aus.
Der Bau der Leviathanbrücke, wie das dreihundert Meilen lange Bauwerk genannt wird, war nur mithilfe der Gnosis möglich, die vieles bewirken kann, aber nicht alles. Sie erhebt sich nur während der alle zwölf Jahre stattfindenden Mondflut aus dem Meer und bleibt dann für zwei Jahre passierbar. Das erste Mal geschah dies im Jahr 808. Zunächst wurde die Brücke nur zögerlich genutzt, doch nach und nach entwickelte sich ein blühender Handel, und nicht wenige wurden dadurch reich. Es entstand eine neue Kaste, die Kaste der Händlermagi, die aufgrund ihres Reichtums auf beiden Seiten der Brücke immer mehr Einfluss gewann. Auch der Ordo Costruo gelangte zu beträchtlichem Wohlstand. Nach etwas mehr als einem Jahrhundert und zehn Mondfluten war der Handel über die Brücke der wichtigste politische und wirtschaftliche Faktor auf beiden Kontinenten.
Im Jahr 902 entsandte der rondelmarische Kaiser, der seine Macht durch die Händlermagi bedroht sah, getrieben von Gier, Neid, Bigotterie und Rassenwahn, sein Heer über die Brücke: gut ausgebildete Legionen, die von Schlachtmagi angeführt wurden. Im Namen des Kaisers rissen sie die Kontrolle über die Brücke an sich, plünderten und besetzten Hebusal. Viele gaben Antonin Meiros die Schuld für diese Ereignisse, denn er und sein Orden hätten den Überfall verhindern können – doch dazu hätten sie die Leviathanbrücke zerstören müssen.
916 kam es zu einem zweiten, noch verheerenderen Kriegszug. Die Menschen Antiopias hatten keine Magi in ihren Reihen und waren den Legionen aus Yuros schutzlos ausgeliefert. Dennoch standen die Dinge für den rondelmarischen Kaiser nicht zum Besten, denn seine tyrannische Herrschaft hatte in mehreren Vasallenstaaten zu einer Revolte geführt, am bekanntesten davon die von 909 im in Zentral-Yuros gelegenen Königreich Noros. Als im Jahr 928 die nächste Mondflut naht, hat der Kaiser bereits neue Pläne geschmiedet, um seine Macht auch in Zukunft zu sichern.
Die Ereignisse von Janun bis Septnon 929 (geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Der unheilige Krieg)
In dem abgelegenen Kloster Mandira Khojana arbeiten Alaron und Ramita mit dem Zain-Meister Puravai daran, die Skytale des Corineus zu enträtseln. Wie sie herausgefunden haben, ist sie ein verschlüsseltes Rezeptbuch, das es ermöglicht, die Ambrosia so exakt auf den Empfänger abzustimmen, dass er die Einnahme überlebt. Die Arbeit gestaltet sich allerdings schwierig. Sie können zwar viele der Zutaten bestimmen, die für jeden Mönch und jeden Novizen die richtigen sind, doch einige bleiben ein Mysterium.
Ihr zweites Projekt dreht sich um eine Theorie, die Meister Puravai einst mit Antonin Meiros entwickelte: Lange vor seiner Hochzeit mit Ramita hatte Meiros das Kloster oft besucht und war zu dem Schluss gekommen, dass junge Magi lernen sollten, alle sechzehn Affinitäten der Gnosis zu gebrauchen statt nur eine Handvoll, wie es an den yurischen Arkana der Fall ist. Um diesen Pfad zu beschreiten, müssen Alaron und Ramita alles vergessen, was sie bisher gelernt haben. Dazu bleibt ihnen nicht viel Zeit: Sie werden gejagt und fürchten, ihre Feinde nach Mandira Khojana zu locken. Außerdem hatte Meiros Ramita angewiesen, nach Teshwallabad zu gehen und dort Hanouk, den Wesir von Lakh, aufzusuchen, der ihr und ihren Söhnen Zuflucht gewähren würde.
In Begleitung des Zain-Novizen Yash fliegen sie mit einem Skiff nach Teshwallabad, wo Hanouk und dessen Sohn Dareem sie aufnehmen. Hanouk ist der oberste Berater des jungen Moguls von Lakh, Tariq – und außerdem der geheim gehaltene Enkel von Antonin Meiros und selbst ein Magus. Würden seine Fähigkeiten entdeckt, käme das einem Todesurteil gleich, doch gelingt es ihm seit Jahrzehnten, sein gefährliches Doppelleben am Mogulnhof aufrechtzuerhalten. Hanouk bittet Ramita, Tariq zu heiraten und damit die Gnosis in das lakhische Herrscherhaus zu bringen.
Alarons Erzfeind Malevorn Andevarion, der mittlerweile Gefangener von Huriyas Seelentrinkerrudel ist, findet heraus, dass das Rudel Jagd auf Alaron und Ramita macht. Huriya glaubt, dass Ramita versuchen wird, zu ihrer Familie zurückzukehren, und führt das Rudel nach Lakh. Als sie merkt, wie wertvoll Malevorns gnostische Fähigkeiten sowie sein Wissen über die Skytale sind, macht sie ihn zu einem Seelentrinker. Malevorn gehört nun zu Kores Verstoßenen – ihm bleibt gar nichts anderes übrig, als Huriya zu dienen.
Cym rettet den schwer verletzten ehemaligen Rudelführer Zaqri vor dem sicheren Tod, obwohl sie einen Eid geschworen hat, ihn für den Mord an ihrer Mutter Justina zu töten. Sie beginnt, sich zu ihm hingezogen zu fühlen, und dieses moralische Dilemma quält sie. Die beiden beschließen, die Suche nach Alaron und Ramita ohne das Rudel fortzusetzen, auch wenn das Unterfangen hoffnungslos erscheint. Sie machen sich auf den Weg nach Lakh, geben schließlich ihren Gefühlen nach und schlafen miteinander, und Cym wird schwanger.
Die Verlorene Legion hat sich in der an der Grenze zwischen Kesh und dem Emirat Khotri gelegenen Stadt Ardijah verschanzt. Jenseits der Stadtmauern lauert ein riesiges, von Sultan Salim persönlich angeführtes Heer auf sie. Doch Ardijah liegt auf einer Insel mitten in einem Fluss, der einzige Zugangsweg ist eine Brücke, die leicht zu verteidigen ist. Salim bittet um eine Unterredung und einen Gefangenenaustausch; Seth Korion, General der Überlebenden des Zweiten Heeresflügels, stimmt zu, doch sein eigenwilliger Berater Ramon Sensini stellt dem Sultan eine Falle und nimmt ihn gefangen. Der behauptet nun allerdings, er sei lediglich ein Doppelgänger namens Latif. Das mag stimmen oder auch nicht, aber die Angriffe der Keshi hören auf, was Ramon Zeit verschafft, einen Fluchtplan auszuarbeiten.
In Javon bereitet Königin Cera Nesti ihre Flucht aus der Hauptstadt Brochena vor. Mit Unterstützung der emotional gebrochenen Gestaltwandlerin Münz versucht sie, gleichzeitig ihrer Zwangsehe mit dem Usurpator Francis Dorobon zu entfliehen, doch Münz geht dabei zu weit: Kurz bevor Cera den Palast verlässt, tötet sie König Francis. Die Leiche wird entdeckt, Gurvon Gyle und sein Gehilfe Rutt Sordell fangen die Flüchtigen wieder ein. Gyle übernimmt das Kommando über die rondelmarischen Besatzungstruppen und macht den religiösen Führern Javons weis, Cera habe Francis ermordet – schlimmer noch: Er behauptet außerdem, sie habe ein Verhältnis mit ihrer Dienerin. Die Religionsführer verdammen Cera und verurteilen sie zum Tod durch Steinigung. Ein aufgepeitschter Mob führt das Urteil bereitwillig aus.
Gyle gelingt es außerdem, sich vom Kaiserlichen Rat in Pallas als vorübergehender Gouverneur Javons einsetzen zu lassen. Der Rat gibt ihm Zeit bis Ende Septnon, um Javon unter seine Kontrolle zu bringen und Elena zu finden. Er schickt eine Karawane in die entlegene Stadt Lybis und lässt das Gerücht streuen, ein Kurier mit wichtigen Informationen befände sich in einer der Kutschen. Mit diesem Trick hofft er, Elena aus ihrem Versteck zu locken.
Elena und ihr Partner (und mittlerweile Liebhaber) Kazim Makani verfolgen die Karawane tatsächlich, doch Elena wittert die Falle. In Lybis sieht sie die vielen Trauerumzüge zu Ceras Ehren. Im Gegensatz zu Elena, die Ceras Verrat schwer getroffen hatte, hatte das gewöhnliche Volk Cera aufrichtig geliebt. Elena bereitet ihrerseits eine Falle vor, tötet eine von Gyles Attentäterinnen, doch Rutt Sordell kann entkommen und dreht den Spieß um: Mithilfe eines Kirchen-Ritters und Geisterbeschwörers treibt er Elena und Kazim bis in die Berge, wo Elena augenscheinlich den Tod findet. Sordell ist zufrieden, doch Gyle besteht darauf, den Leichnam zu finden, und kommt persönlich nach Lybis.
In Teshwallabad wird Ramita von Hanouk dem jungen Mogul Tariq vorgestellt, doch keiner der beiden ist sonderlich beeindruckt von seinem Gegenüber: Der unreife Tariq findet Ramitas Äußeres zu schlicht und ihre Haut zu dunkel; Ramita wiederum empfindet den jugendlichen Tariq als kindisch und ungehobelt. Doch die Verlockung, Magusblut in das Mogulngeschlecht zu bringen, ist groß, weshalb Tariq der Verlobung zustimmt. Alaron, der sich immer stärker zu Ramita hingezogen fühlt, ist bestürzt und konzentriert sich voll und ganz auf die Entschlüsselung der Skytale. Hanouk bemerkt die entstehende Liebe zwischen Alaron und Ramita und warnt sie, einander zu vergessen. Keiner der Beteiligten ahnt etwas davon, dass Huriya mit ihrem Rudel bereits auf dem Weg nach Teshwallabad ist.
Zaqri und Cym entdecken auf ihrer Suche nach Alaron und Ramita ein Sklavenlager der rondelmarischen Inquisition. Einer der Gefangenen ist ein Seelentrinker, und Zaqri ist fest entschlossen, ihn zu befreien. Die beiden schleichen sich in das Lager und stellen entsetzt fest, dass es sich in Wahrheit um ein Todeslager handelt und die Seelentrinker den Inquisitoren helfen, die Seelen der getöteten Flüchtlinge zu binden. Zaqri wird entdeckt und einem Arbeitstrupp zugeteilt, der das Lager verlässt, während Cym allein zurückbleibt. Sie verliert den Kontakt zu ihm, mehrere Tage vergehen, und sie beginnt, das Schlimmste zu fürchten.
In Ardijah verhandelt Ramon mit den Khotri. Unter Ausnutzung seiner Liebesbeziehung zu Amiza, der Kalifin von Ardijah, gelingt es ihm, der Verlorenen Legion die Flucht zu ermöglichen. Sie lassen den Gefangenen Salim (oder dessen Doppelgänger Latif) frei und setzen ihren Marsch nach Westen fort.
In einer weiteren Unterredung kommen Seth Korion und Latif – oder Sultan Salim – überein, dass Seths Truppen den Tigrates bis Ende Septnon überschritten und Kesh verlassen haben müssen. Die Zeit ist denkbar knapp, da entdecken sie auf ihrem Marsch das Todeslager, wo Cym immer noch auf Zaqris Rückkehr wartet. Ihnen wird klar, dass der Zweck des Lagers ist, den Gnosiszüchtungen der rondelmarischen Schlachtmagi Menschenseelen einzupflanzen. Ramon und Seth vertreiben die Inquisitoren, befreien die Gefangenen und entdecken Cym. Als Zaqri schließlich zurückkehrt, stellt Ramon entsetzt fest, dass er ein Seelentrinker ist und Cyms Schwangerschaft somit illegal. Er beschließt, die beiden gehen zu lassen, und wünscht ihnen alles Gute für ihre Suche nach Alaron.
Cym findet endlich eine Möglichkeit, den Tod ihrer Mutter zu rächen, und treibt Zaqris Kind ab. Um ein Haar verliert sie dabei selbst das Leben, und eine tiefe Kluft entsteht zwischen den beiden. Zaqri lässt sie allein bei den anderen Flüchtlingsfrauen zurück, während Ramon und die Verlorene Legion feststellen müssen, dass die Brücke, auf der sie den Tigrates überschreiten wollten, zerstört wurde.
In den Bergen östlich von Lybis werden Elena und Kazim von Wesen gerettet, die halb Mensch, halb Schlange sind – den Lamien, die Elenas Neffe Alaron vor über einem Jahr nach Javon führte. Aufgrund von Elenas Verwandtschaft zu Alaron, ihrem Helden, stimmen die Lamien zu, ihr gegen Gurvon Gyle zu helfen. Als Gyle mit mehreren Hundert berittenen Söldnern eintrifft, um Elenas Tod zu verifizieren, wird er überwältigt und gefangen genommen. Er kann seinen Kopf nur retten, indem er Elena anbietet, ihr Cera und Timori Nesti zu überlassen. Gyle enthüllt, dass es Münz war, die gesteinigt wurde. Sie hatte Ceras Gestalt angenommen, Cera selbst hat Gyle als Faustpfand behalten, falls die Dinge schlecht für ihn laufen sollten. Elena stimmt dem Gefangenenaustausch zu, der Ende Septnon in der Nähe von Lybis stattfinden soll.
In Teshwallabad rückt der Tag von Ramitas Hochzeit mit dem Mogul immer näher, da greift Huriya mit ihrem Seelentrinkerrudel den Wesirspalast an und tötet Dareem, den Sohn von Wesir Hanouk. Alaron kämpft tapfer und kann erfolgreich die Techniken einsetzen, die er in Mandira Khojana erlernt hat. Als Hanouk ebenfalls den Tod findet, flieht er mit Ramita durch den Geheimtunnel in den Mogulnpalast. Huriya und Malevorn nehmen die Verfolgung auf und stellen die beiden in einem durch mächtige Zauber geschützten Raum, in dem nur Aszendenten Zugang zu ihrer Gnosis haben, und selbst das nur eingeschränkt. Während Huriya und Ramita miteinander kämpfen, bringt Malevorn Ramitas Zwillingssöhne in seine Gewalt. Alaron kauft Dasra frei, indem er Malevorn die Skytale überlässt. Malevorn und Huriya verschwinden mit dem Artefakt und Nasatya als ihrer Geisel.
Halb verrückt vor Trauer und Wut suchen Alaron und Ramita Zuflucht in einem Zain-Kloster, wo ihnen eine Frau unerwartet ihre Aufwartung macht: Sie behauptet, die leibhaftige Corinea zu sein – die von den Kore als »Königin des Bösen« verunglimpfte Mörderin des Corineus.
Es ist Septnon 929, nur noch neun Monate vor dem Ende der Mondflut. Um der Vernichtung durch Salims Heer zu entgehen, muss die Verlorene Legion irgendwie den Tigrates überschreiten; in Javon müssen Elena und Kazim Gurvon Gyle und seine Söldner endgültig besiegen; Alaron und Ramita müssen Dasra und die Skytale zurückholen, bevor Huriya und Malevorn das Artefakt für ihre finsteren Zwecke einsetzen können.
Prolog Kaiser Constants Plagen (Teil 4)
Solarus-Kristalle
Die Leviathanbrücke ist das erste Beispiel eines unbelebten gnostischen Artefakts, das sich vollständig selbst erhält: Sie bezieht Energie von der Sonne und wandelt sie in gnostische um, sodass sie den enormen Kräften des Ozeans widersteht. Die Sonnenenergie wird von großen Trauben spezieller Kristalle in den Kuppeln der fünf Türme gesammelt. Diese Kristalle weisen – mehr noch als die Brücke selbst – die Richtung für künftige Entwicklungen in den gnostischen Künsten.
ARKANUM DES ORDO COSTRUO, PONTUS 877
Pallas, RondelmarSommer 927Ein Jahr bis zur Mondflut
Ein Falke saß verängstigt auf dem Kronleuchter und kreischte in Richtung der Leiche, die in der Mitte des Zimmers lag, während die Ratsmitglieder nur mit offenen Mündern sprachlos darauf starrten. Gurvon Gyle presste sich gegen die Lehne seines Stuhls und versuchte zu verdrängen, was er soeben gesehen hatte. Die Vernichtung eines ganzen Heeresflügels der eigenen Armee zu planen war das eine. Zu sehen, wie der Kaiser illegalen Gebrauch der Gnosis sanktionierte – in diesem Fall die Verpflanzung einer menschlichen Seele in einen Tierkörper –, war etwas ganz anderes. Selbst hier in Pallas, wo die Reinblutmagi unumschränkt herrschten und Normalsterbliche kaum mehr waren als Nutztiere, war so etwas mit Sicherheit noch nie vorgekommen.
Ich habe soeben gesehen, wie ein Dokken in der Kaiserlichen Ratskammer eine Seele gestohlen hat! Diesen Moment darf ich nie vergessen … auch wenn Kore allein weiß, wem ich es je erzählen sollte.
Sein Blick wanderte von dem Falken zu dem Mann, der verantwortlich für dieses Grauen war. Der Seelentrinker war ihnen als Delta vorgestellt worden, benannt nach der lantrischen Rune, die man ihm auf die Stirn gebrannt hatte. Dieser Delta schien allerdings nur das Werkzeug zu sein. Der eigentliche Täter war sein Meister, Ervyn Naxius. Der alte Magus sonnte sich kichernd im Beifall der Anwesenden wie ein Betrunkener, der in einer Gassenschenke einen Witz zum Besten gegeben hatte. Selbst Gyle applaudierte und überschüttete den Greis mit Lobpreisungen.
Gyles Mitverschwörer Belonius Vult, der gleich neben ihm saß, strahlte triumphierend. Und recht hatte er: Immerhin war dies sein Beitrag zur Unterwerfung Antiopias.
Was hast du sonst noch für Trümpfe im Ärmel, Bel?
Vult nahm Mater-Imperia Lucias anerkennendes Nicken gnädig zur Kenntnis. Die matronenhafte ehemalige Kaiserin war mittlerweile zur lebenden Heiligen aufgestiegen und die eigentliche Herrscherin Rondelmars. Ihr Wort galt weit mehr als das ihres Sohnes, des Kaisers, der im Moment in die Ferne starrte und die Schwerthand ballte, als wollte er jeden Moment in den Sattel springen, um gegen Antiopia zu reiten. Der offizielle Titel des Mittzwanzigers mochte »Kaiser« lauten, aber in einem vertraulichen Gespräch hätte keiner der Anwesenden bestritten, dass Constants Verhalten eher dem eines verzogenen Höflings entsprach.
Die anderen Ratsmitglieder, von denen einige zu den mächtigsten Männern im ganzen Reich gehörten, gaben ebenfalls ihr Bestes, Naxius’ Vorstellung in den Himmel zu loben. Gyle spürte dennoch ihre Vorsicht. Calan Dubrayle, der Kaiserliche Schatzmeister, der sich für Vults Vorschlag stark gemacht hatte, hatte noch am meisten Grund zur Freude über den soeben bezeugten Erfolg. Die Freude des großen Kaltus Korion über die neuen Gnosis-Züchtungen für seine Legionen hingegen schien erheblich getrübt, weil soeben ein anderer in der Wertschätzung der Kaiserinmutter gestiegen war. Tomas Betillon, Gouverneur von Hebusal, war ebenfalls nicht erfreut; sein Lächeln war säuerlich, sein Lob für Naxius fiel verhalten aus.
Der Einzige im Raum, der nicht applaudierte, war Erzprälat Dominius Wurther. Der fette Kirchenmann erhob sich gar aus seinem Stuhl, um Naxius und dessen Sklaven in aller Deutlichkeit zu verdammen.
»Mein Kaiser, das ist Blasphemie! Die Abscheulichkeit, die Naxius soeben verübt hat, verstößt gegen das Gesetz Kores! Ich muss protestieren!«
Kaiser Constant wandte den Blick ab, doch in seinem Gesicht war keinerlei Reue zu lesen.
Schließlich richtete sich der Erzprälat an Lucia und hob beschwörend die Hände. »Mater-Imperia, die Seelentrinker sind unser ältester Feind. Unser Gesetz verlangt den sofortigen Tod dieses ›Delta‹. Seine bloße Existenz ist ein Affront gegen Kore.«
Lucia blieb gelassen. »Dominius, Ihr liegt uns doch ständig damit in den Ohren, dass Kore für alles, was er tut und in diese Welt lässt, seine Gründe hat. Ist es nicht so? Daraus kann nur folgen, dass auch die Dokken Teil seines Plans sind.«
Wurthers Hängebacken bebten. »Mater-Imperia, das mag eine mögliche Interpretation sein, aber unsere Theologen …«
»Bitte lasst nicht zu, dass er uns wieder mit Theologie langweilt«, stöhnte Betillon.
»Genau«, stimmte Korion mit ein. »Seit wann kümmert Euch die Moral, alter Schwätzer? Eure Kirche verdient ein Kopfgeld an jedem verkauften Sklaven, wie alle hier wissen. Ihr fürchtet doch nur, dass diese neuen Geschöpfe Euch um Euren Anteil bringen könnten.«
»Nicht jeder denkt so gierig wie Ihr, General Korion! Wir dürfen dieses verabscheuenswürdige Vorhaben nicht gutheißen – es verstößt in jeder Hinsicht gegen das heilige Gesetz!« Wurther deutete gen Himmel, als rufe er Kore höchstselbst zum Zeugen. »Ich kann Euch jeden einzelnen Psalm rezitieren, der solchen Gebrauch der Gnosis untersagt! Die Kirche muss ihre Unterstützung verweigern.«
Gurvon war gelinde beeindruckt. Er hatte Wurther immer für durch und durch eigennützig gehalten, aber dieser Ausbruch deutete tatsächlich auf so etwas wie Moral hin. Dass solche Charakterzüge sich in den höchsten Kreisen des Klerus über Jahrzehnte hinweg gehalten hatten, überraschte ihn.
»Ich habe Eure Einwände gehört und verstehe Eure Bedenken, Dominius«, erwiderte Lucia gemessen. »Ich bin sogar dankbar, dass Ihr sie zum Ausdruck gebracht habt, doch lasst mich Euch den ehernen Grundsatz dieser Zusammenkunft ins Gedächtnis rufen: Wenn der Kaiser etwas gutheißt, wird es zu unser aller Willen. Jeder von uns hat die Wünsche meines Sohnes bedingungslos zu unterstützen, wenn er diesen Raum verlässt.«
»Aber Mater-Imperia, es muss eine Grenze geben. Das Gesetz Kores steht über uns allen!«
»Aber wir sind seine Gesegneten, der lebende Ausdruck seines Willens«, warf Vult ein. »Worauf wir uns einigen, muss sicherlich mehr Gewicht haben als ein Buch, das vor langer Zeit geschrieben wurde. Damals ahnte man noch nichts von den Möglichkeiten und Gefahren, denen wir heute gegenüberstehen.«
Gurvon verdrehte innerlich die Augen. Damit lässt sich nun wirklich alles rechtfertigen, Bel.
Dubrayle seufzte. »Nicht schon wieder die Moral-versus-Pragmatismus-Diskussion. Die hatten wir doch schon zur Genüge.«
»Ich denke nicht, dass wir uns noch einmal mit diesen alten Zwistigkeiten beschäftigen sollten«, erklärte Gurvon. Wie mein Vater immer sagte: Wenn du schon mit dem Wind segelst, dann mit dem Großsegel.
Wurther warf ihm einen vernichtenden Blick zu und setzte sich. »Ihr alle wisst, dass ich nicht vorhabe, diesen Rat zu spalten«, murrte er. »Selbstverständlich werde ich den gleichen Standpunkt vertreten wie Ihr, wenn es der Wille meines Kaisers ist.«
»Ich unterstütze den Vorschlag voll und ganz«, erklärte Constant nach einem kurzen Blick zu seiner Mutter.
Damit wäre das also geregelt.
Der Dokken Delta verneigte sich vor dem Kaiser und rief den Falken zu sich, dann verließ er den Raum.
Naxius setzte sich, während zwei Wachen herbeieilten und mit unbeteiligter Miene den toten Dieb wegschafften.
Naxius bleibt …? Gurvon war nicht erfreut. Das hier war sein und Vults Plan. Am Ende stahl die alte Schlange ihnen noch den Ruhm.
»Macht es Euch bequem, Magister Naxius«, sagte Lucia nur. »Ihr seid über unsere Pläne mit Javon und dem Herzog von Argundy informiert?«
»Gouverneur Vult hat mich in alles eingeweiht, Euer Heiligkeit«, erwiderte Naxius unterwürfig. »Ich kann das Vorhaben nur empfehlen.«
Kaltus Korion hob die Hand. »Einen Moment bitte. Was hat er hier zu suchen? Für mich bleibt ein Verräter immer noch ein Verräter, selbst wenn der Verrat dem Wohl des Kaiserreichs dient. Wie können wir ihm vertrauen?«
Constant öffnete den Mund, schien aber keine Worte zu finden, also sprang Vult in die Bresche. »Magister Naxius’ Wissen über die Leviathanbrücke ist unverzichtbar. Gurvon hat ihn ausfindig gemacht, ich habe ihn in diese Runde gebracht.«
»Und das genügt mir«, erklärte Lucia entschlossen. Damit war Korions Moment vorüber.
Ich mag diesen Naxius nicht, aber wir können nicht ohne ihn auskommen. Für ihr Vorhaben brauchten sie jemanden, der genau wusste, wie die Brücke funktionierte, und gleichzeitig den Ordo Costruo hasste. Doch alle, auf die beide Kriterien zutrafen, standen fest auf der Seite Antiopias. Bis auf Ervyn Naxius.
Als sich vor dreiundzwanzig Jahren, im Jahr 904, die Leviathanbrücke aus dem Ozean erhoben hatte, war Constants Vater Magnus mit seinen Truppen nach Osten marschiert, um Antiopia zu plündern. Antonin Meiros, der Gründer des Ordo Costruo, hätte die Brücke damals zerstören können, doch er hatte zu lange gezögert. Bis heute hasste ihn ganz Antiopia dafür, und nur wenige wussten, dass Naxius damals für Meiros’ Zögern verantwortlich gewesen war.
Naxius war Gnosis-Forscher und früher ein Idealist gewesen, doch Jahrhunderte der Forschung im Grenzbereich der Gnosis hatten jegliches Mitgefühl in ihm erstickt. Die Fesseln der Moral kümmerten ihn schon lange nicht mehr. Insgeheim hatte er sich längst von Meiros und dem Ordo Costruo losgesagt. Als dann der Erste Kriegszug kam, bot sich ihm die Gelegenheit, in die Dienste eines Gönners mit schier grenzenlosen Ressourcen zu treten. Er schlug sich auf Magnus’ Seite, versorgte Meiros mit falschen Informationen über den Truppenaufmarsch vor Pontus’ Toren und verriet den Orden an die kaiserlichen Magi, sodass sie die Brücke unter ihre Kontrolle bringen konnten. Als Meiros dahinterkam, war es längst zu spät. Der Kriegszug hatte begonnen, und Meiros’ Ruf war zerstört.
Zur Belohnung bekam Naxius einen kaiserlichen Freibrief zu forschen, woran auch immer er wollte. Gurvon hatte die Früchte dieser Arbeit während der Noros-Revolte kennenlernen dürfen: ganz besonders bösartige Zauber, die in unscheinbaren Gegenständen und Talismanen versteckt waren. Nach der Revolte machte er sich auf die Suche nach dem Ursprung der Todesfallen und fand schließlich Naxius’ verstecktes Labor. Und nun stand der abtrünnige Magus hier.
Gurvon wandte seine Aufmerksamkeit wieder Vult zu. »Kommen wir zum letzten Teil unseres Vorhabens. Vorausgesetzt, alles läuft nach Plan, werden wir Javon und die dortigen Ressourcen bald unter Kontrolle haben. Was bedeutet, dass wir General Korions Armeen noch lange nach dem Ende der Mondflut versorgen können. Herzog Echor von Argundy wird so geschwächt sein, dass ihm nur noch der Rückzug bleibt. Die neuen Gnosiszüchtungen werden uns die Überlegenheit auf dem Schlachtfeld sichern. Das Einzige, worum wir uns dann noch kümmern müssen, ist die Brücke selbst.«
Alle im Raum horchten auf. Den kaiserlichen Magi war die Leviathanbrücke verhasst, doch die Gesamtheit der Gnostiker war geteilter Meinung. Die Brücke hatte die Händlergilde unfassbar reich gemacht. Sie hatten Ländereien erworben und sich damit – sehr zur Verärgerung der Krone – nicht nur einen höheren Status erkauft, sondern auch Ehen mit Magifrauen. Dass das Kaiserhaus die Brücke nun unter seiner Kontrolle hatte, änderte daran nichts. Die Wirtschaft war immer noch von den Mondfluten abhängig: zwei Jahre Ernte und dann zehn Jahre Warten. Es war sogar schlimmer denn je.
»Wir alle wissen, dass der Zweite Kriegszug ein finanzielles Desaster war«, fuhr Vult fort. »Wurde nicht sogar hier in diesem Raum darüber debattiert, die Brücke nach dem Kriegszug zerstört werden sollte?«
»Die Brücke ist ein notwendiges Übel«, brummte Betillon. Hebusal war die größte Stadt in Westantiopia; sein Gouverneursposten hatte auch ihn über die Maßen reich gemacht. »Sie zu zerstören wäre unser Tod.«
Deiner zumindest, dachte Gurvon.
Vult sprach gelassen weiter, als spürte er nicht, auf welch dünnem Eis er sich bewegte. »Die Gründe, die gegen eine Zerstörung der Brücke sprechen, sind unvermindert gültig. Obwohl die Kriegszüge mit jeder Mondflut kostspieliger werden und jedes Mal weniger einbringen, lähmen sie doch den Handel, und das schwächt die Gilde und stärkt die Krone. Durch die Kriegszüge dominieren und schwächen wir Antiopia. Gefährlichen Männern wie Rashid Mubar mehr Macht zukommen zu lassen, als sie ohnehin schon haben, kann nicht in unserem Interesse sein.«
»Exakt«, warf Korion ein. »Wir müssen ihnen auch weiterhin das Messer an die Kehle halten.«
»Ganz recht«, sprach Vult weiter. »Dank Magister Naxius und seiner hervorragenden Kenntnisse über die Brücke haben wir nun eine neue Lösung für das Problem.«
»Und die wäre?«, fragte Betillon ungeduldig.
»Ihr alle wisst, dass Urtes Oberfläche aus einzelnen großen Landmassen besteht, die Kontinentalplatten genannt werden?«, fragte Vult in die Runde.
Die Anwesenden nickten einmütig.
»Dann wisst Ihr also auch, dass die Leviathanbrücke auf einem Meeresrücken erbaut wurde, der von Pontus nach Dhassa führt. Was jedoch für viele neu sein dürfte, ist, dass es sich bei diesem Meeresrücken um die Überreste einer Landbrücke handelt, die Yuros einst mit Antiopia verband. Nun, der Ordo Costruo hat ausführliche Forschungen über die versunkene Landbrücke angestellt und ist zu dem Schluss gekommen, dass sie vor gerade einmal zweitausend Jahren von einem Meteor getroffen wurde. Der Einschlag löste schwere Erdbeben und Fluten aus. Die Mythen Dhassas und Sydias erzählen bis heute davon. Außerdem zerstörte er die Landbrücke und trennte die beiden Kontinente voneinander.«
»Das Werk Kores«, kommentierte Wurther fromm.
»Möglich«, räumte Vult ein, »aber auch ein Ärgernis. Rondelmar verfügt über die Macht, ganz Antiopia zu unterwerfen, doch die Brücke ist nur alle zehn Jahre für zwei Jahre passierbar. Wir haben nicht genug Windschiffe, um eine Besatzungsarmee, die groß genug wäre, die Nooris zu unterwerfen, dauerhaft in Antiopia zu stationieren und zu versorgen. Sie sind derart in der Überzahl, dass wir Hebusal halten können, mehr nicht. Wäre es da nicht sehr viel besser, wenn wir die Landbrücke wieder aus dem Meer heben könnten und dauerhaften Zugang zu Dhassa und den dahinter liegenden Ländern hätten? Mein Kaiser wäre damit in der Lage, ganz Antiopia zu besetzen und zum Herrscher der gesamten bekannten Welt zu werden.«
»Ihr wollt einen Meeresrücken heben?«, höhnte Korion. »Seid Ihr endgültig größenwahnsinnig geworden? Ein Erdmagus kann einen Felsen heben, aber nicht einen Gebirgszug den Tiefen des Ozeans entreißen! Selbst wenn Ihr alle Magi Urtes zusammenzieht, habt Ihr nicht die …«
»Aber ja doch, wir haben die Macht«, fiel Naxius ihm ins Wort. Seine Stimme troff nur so vor Selbstgefälligkeit. »Sie liegt in der Brücke selbst.«
»In der Brücke? Die ist doch nur ein Haufen Steine.«
»Genau genommen, General, ist die Leviathanbrücke das größte gnostische Reservoir, das je erschaffen wurde«, widersprach Naxius. »Die Kuppeln der fünf Türme sind mit Trauben aus Kristallen besetzt, wie Delta gerade einen verwendete. Sie wandeln Lichtenergie, die wir Solarus nennen, in gnostische Energie um. Diese Energie wird benötigt, um die Brücke instand zu halten, solange sie unter dem Meeresspiegel liegt. Wenn wir sie anzapfen, könnten wir damit eine ganze Stadt auslöschen.«
Korion wirkte schon weniger abgeneigt. »Ist das wahr?«
»Alle unsere Erkenntnisse unterstützen die Theorie«, antwortete Vult.
»Und warum bauen wir dann nicht Waffen aus Solarus-Kristallen?«, fuhr der General auf.
Gurvon musterte Dubrayle und Betillon. Mit Sicherheit überlegten sie gerade, wie sie die Kristalle zu Geld machen konnten. Wurther fragte sich wahrscheinlich, ob sie zum Kochen zu gebrauchen waren.
»Das Problem liegt in der Handhabung«, erwiderte Vult. »Ein einzelner Kristall speichert zu wenig Energie. Man bräuchte so viele, dass sie nicht mehr transportierbar wären. Außerdem sind sie selten, ihr Gebrauch ist kompliziert, kräftezehrend und gefährlich. Ohne ausreichenden Schutz ist er sogar tödlich.«
»Magister Vult hat ganz recht«, stimmte Naxius mit ein. »Dennoch lässt sich ihre Energie freisetzen. Der Turm in der Mitte der Brücke ist der Knotenpunkt, von dem aus die Energie auf die anderen Türme verteilt wird. Dieser Vorgang wird von Thronen in den fünf Türmen gesteuert, und zwar von ranghohen Reinblutmagi des Ordo Costruo. Sie wandeln das Solarus in Erdgnosis um, mit der sie die Brücke speisen. Ohne diese ständige Energiezufuhr würde die Brücke von den Fluten zerstört. Die Aufgabe erfordert erhebliche Macht und Erfahrung – ich war einst selbst damit betraut«, brüstete er sich.
Die Ratsmitglieder musterten den greisen Magus unbehaglich, bis Lucia fragte: »Und wie lautet Euer Vorschlag?«
Als wüsstet Ihr die Antwort nicht schon längst …
Naxius zeigte politisches Geschick und überließ die Bühne seinem Fürsprecher. »Das soll Magister Vult erklären, schließlich war er es, der diesen Plan ersonnen hat. Ich habe lediglich mein Wissen über die Brücke und die darunterliegende Landmasse beigetragen.«
Schlau genug, um den Ruhm zu teilen, dachte Gurvon. Und natürlich das Risiko.
Vult sprach voller Eifer weiter. »Die Magi auf den Thronen sind in der Lage, der Brücke ihre Kraft zu entreißen und sie in eine beliebige Form der Gnosis umzuwandeln. Allerdings ist die Reichweite begrenzt. Sie ließe sich beispielsweise nicht verwenden, um Feuer auf das dreihundert Meilen entfernte Hebusal regnen zu lassen. Unser Vorhaben allerdings ist machbar: Genau unter der Mitte liegt ein Felsen von der Größe eines Hügels zwischen den Kontinentalplatten eingekeilt – ebenjener Himmelskörper, der die Landbrücke einst unter den Ozean drückte. Wenn wir ihn zerstören, würde sie sich wieder heben.«
Calan Dubrayle beugte sich nach vorn. »Sagt das noch mal, Magister.«
»Wenn wir den Himmelskörper zerstören, würde die Landbrücke sich wieder heben. Für immer.«
»Eine bleibende Verbindung zwischen Yuros und Antiopia? Eine Straße von Pontus nach Dhassa, die das gesamte Jahr passierbar ist?«
»Und die es uns ermöglicht, unseren Herrschaftsbereich über ganz Urte auszudehnen«, fügte Lucia leise hinzu. »Das Reich meines Sohnes – unser Vaterland.«
Gurvon hob die Hand. »Wenn wir diesen Plan in die Tat umsetzen, wird es ein Erdbeben geben wie keines zuvor. Jedes Gebäude in Pontus und Dhassa wird einstürzen. Die Auswirkungen werden wahrscheinlich noch bis ins Brekaellental in Yuros und bis in die Gebirge zwischen Dhassa und Kesh zu spüren sein. Dhassa und Pontus werden von Flutwellen überspült. Nicht eine Menschenseele dort wird überleben. Millionen werden sterben, viele davon Yurer.«
Selbst Kaltus Korion sah etwas erschrocken aus, nachdem Gurvon geendet hatte. Gut, dachte er. Ihr alle müsst die volle Tragweite dessen begreifen, was wir hier planen. Das sind Entscheidungen, wie sie sonst nur Götter fällen.
Und vergesst nicht, mich hinterher zu bezahlen.
»Tun wir’s, jetzt!«, schnaubte Betillon, dem sein Gewissen noch nie Probleme bereitet hatte.
Naxius schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Solange die Brücke unter dem Meer versunken ist, verlieren die Solarus-Kristalle beständig an Energie. Zu Beginn der Mondflut sind sie praktisch leer. Erst wenn die Brücke sich aus den Wellen erhebt, füllen sich ihre Speicher wieder auf. Um den Meteor zu zerstören, müssen sie randvoll sein, und das wird erst am Ende der nächsten Mondflut der Fall sein, im Juness 930, also in drei Jahren.«
»Was ist mit meinem Heer?«, warf General Korion ein. »Wo befinden sich meine Truppen, wenn der Hammer fällt?«
»Mein Rat lautet, sie gegen Ende der Mondflut nicht nach Yuros zurückzuholen. Sie sollten weit im Osten in Zhassi oder Kesh bleiben, sagen wir: auf jeden Fall östlich der Ebensar-Höhen. Damit befänden sie sich auf einer anderen Kontinentalplatte und somit – abgesehen von ein paar kleineren Erdstößen – in Sicherheit. Wenn Eure Versorgungsroute nach Javon noch offen ist, wärt Ihr am idealen Ort, um die Katastrophe auszusitzen und danach den Kriegszug fortzusetzen.«
»Klingt gut«, erwiderte Korion. Dann runzelte er die Stirn. »Was ist mit Echor?«
»Dank der anderen Vorbereitungen, die wir bereits getroffen haben, werden die Keshi bis dahin sein Heer so gut wie ausradiert haben«, antwortete Gurvon. »Wahrscheinlich wird er die Überreste gerade über die Brücke führen, wenn es passiert, oder er ist bereits in Pontus und leckt seine Wunden.«
»Wo die Flutwelle ihn wie eine Ratte ersäufen wird!«, rief Betillon und klopfte sich vor Lachen auf den Schenkel.
»Danach«, meldete Vult sich wieder zu Wort, »kann Rondelmar nichts mehr davon abhalten, ganz Antiopia für immer zu erobern, ja, die gesamte Welt. Der einzig limitierende Faktor wird die Zahl der zur Verfügung stehenden Soldaten sein.«
»Wenn sie die Zerstörungen sehen und merken, welch reiche Beute auf sie wartet, werden unsere Vasallenstaaten sich bedingungslos unterwerfen«, fasste Lucia mit einem zufriedenen Lächeln zusammen. »Der Ordo Costruo wäre mit einem einzigen Streich ausgeschaltet, und die Händlergilde könnte keinen Profit mehr aus der Brücke schlagen. Jeglicher Profit würde durch die Hände unserer Gouverneure fließen, die Heiden wären unterjocht und müssten endlich vor Kores Thron niederknien. Ein neues, nie endendes goldenes Zeitalter für Rondelmar.«
Was wir hier schmieden, ist nicht nur ein Plan, überlegte Gurvon. Wir erschaffen eine neue Welt.
Die Mörderin des Messias
Der Mord an Corineus
Wehe, tausendmal wehe! Wie konnten wir die Schlange nur übersehen, die giftige Viper in Gestalt eines Weibes, die sich in unsere Mitte geschlichen hatte, um dort auf den richtigen Moment für ihr Verbrechen zu warten? Stellt euch das Paradies vor, zu dem Urte hätte werden können, hätte Corineus nur überlebt!
DAS BUCH KORE
Nach fünfhundert Jahren wissen wir immer noch nicht mehr darüber, warum Lillea Selene Sorades, bekannt als Corinea, inmitten der Aszendenz der Gesegneten Dreihundert Johan Corin ermordete. Sie verschwand, bevor die meisten überhaupt wussten, was passiert war, und wurde nie wieder gesehen. Was geschah in jener wirren Nacht, das sie zu dieser Tat veranlasste? Vielleicht werden wir es nie erfahren.
ANTONIN MEIROS, ORDO COSTRUO, 880 (500. JAHRESTAG DER ASZENDENZ)
Teshwallabad in Nordlakh, AntiopiaRami (Septnon) 929Fünfzehnter Monat der Mondflut
Alaron Merser saß auf der feuchten Tempeltreppe und starrte auf den Fluss Imuna hinaus, der an seinen Zehen leckte. Ein paar Schritte von ihm entfernt spielte der Zain-Novize Yash mit dem sieben Monate alten Dasra Meiros. Beide waren klatschnass und sahen quietschvergnügt aus.
»Ich kümmere mich um ihn, wenn du mal eine Pause brauchst!«, rief er Yash zu. Der junge Zain hatte ein gutes Wort für sie eingelegt, als Alaron mit Ramita und Dasra im Kloster um Zuflucht ersucht hatte.
Yash warf ihm einen beleidigten Blick zu. »Al’Rhon, seit ich hier bin, habe ich mich noch nie so gut amüsiert wie jetzt.« Er hatte noch nie zu den Asketen gehört.
Alaron war froh, dass ein anderer sich um den Kleinen kümmerte. Er konnte Dasra nicht einmal ansehen, ohne an dessen Zwillingsbruder Nasatya zu denken, den Huriya Makani und Malevorn Andevarion vor zwei Tagen entführt hatten. Alle Versuche, sie durch Hellsehen aufzuspüren, waren fehlgeschlagen, und Alaron zerfleischte sich in Selbstvorwürfen.
Ich hatte Nasatya auf den Armen und habe ihn verloren. Ich hatte die Skytale in meinen Händen und habe sie verloren. Ich habe mit Malevorn gekämpft und verloren. Zum hundertsten Mal.
Er senkte den Kopf und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Last seines Versagens war kaum zu ertragen.
Nach dem Gemetzel, das Ramitas ehemalige Blutsschwester und ihre Seelentrinker im Mogulnpalast angerichtet hatten, hatte er sich mit Ramita in Yashs Kloster geflüchtet, während Mogul Tariq in der Stadt Jagd auf sie machen ließ. Sie mussten bald wieder von hier verschwinden.
Warum Malevorn an Huriyas Seite kämpfte, war ihm unbegreiflich: Er gehörte zur Kaiserlichen Inquisition, deren oberste Aufgabe es war, die Seelentrinker zu vernichten. Es ergab einfach keinen Sinn. Nichtsdestotrotz war es ihnen gelungen, Alaron und Ramita in die Enge zu treiben. Mit Ramitas Kindern als Geiseln hatten sie schließlich einen Austausch erzwungen: einer der Zwillinge gegen die Skytale.
Ich habe sie im Stich gelassen … Ramita muss mich hassen!
Was sein Versagen noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass er sich hoffnungslos in Ramita verliebt hatte. Die Erkenntnis hatte ihn im denkbar ungünstigsten Moment getroffen, mitten in der Schlacht gegen die Dokken. Aber das änderte nichts: Die Liebe zu ihr war genauso Teil seines Wesens wie die Elemente Wasser und Luft. Während all der Monate, die sie miteinander verbrachten, sich gemeinsam in der Gnosis übten, unvorstellbare Wunder und Gefahren erlebten, war sie beständig gewachsen, um endlich ans Licht zu treten, als sie gemeinsam dem Tod gegenüberstanden. Ramita war der Pulsschlag seines Herzens.
Genauso klar war ihm, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte. Sie hatte ihn sogar im Rahmen einer lakhischen Zeremonie, genannt Rakhi, zu ihrem Bruder gemacht. Wahrscheinlich um zu verhindern, dass er auf dumme Gedanken kam. Ramita mochte ein einfaches Mädchen vom Aruna Nagar Markt sein, doch sie war auch die Witwe von Antonin Meiros – Mitglied der Gesegneten Dreihundert und einer der mächtigsten Magi seiner Zeit.
Wer bin ich schon, dass ich mir einbilde, von ihr träumen zu dürfen?
Yash war sein Freund, seit sie sich im Mandira Khojana begegnet und dann gemeinsam nach Teshwallabad gereist waren. Er war es, der die Klostervorsteher dazu bewegt hatte, sie aufzunehmen. Doch mit jeder Stunde, die sie blieben, brachten sie ihre Gastgeber in größere Gefahr. Sie hatten schon so viel Tod und Zerstörung über andere gebracht und durften es nicht noch einmal tun.
Seit ihrer Ankunft hatte er Ramita kaum gesehen. Sie hatte die letzten beiden Tage fast ausschließlich mit Gebeten an ihre Omali-Gottheiten verbracht. Für die Zain waren alle Götter gleich, doch da sie ursprünglich aus Lakh stammten, unterhielten sie in ihren Tempeln auch stets einen Omali-Schrein.
Als Ramitas leicht zitternde Stimme aus dem Tempel zu ihm herüberdrang, sprang er sofort auf.
»Al’Rhon? Kannst du kurz kommen?«
Etwas in ihrem Tonfall schrie geradezu: Gefahr! Alaron packte seinen Kon-Stab und spannte einen Gnosisschild auf. »Lass das nicht aus den Augen«, sagte er zu Yash. »Vielleicht ist ja gar nichts, aber …«
Aber vielleicht sind Huriya und Malevorn gekommen, um zu Ende zu bringen, was sie begonnen haben.
»Vishnarayan-ji, Beschützer der Menschen, erhöre mich! Hilf mir! Darikha-ji, Königin des Himmels, hilf mir! Höre mich, Kaleesa-ji, Dämonentöterin, komm und steh mir bei! Makheera-ji, Göttin des Schicksals, überdenke deinen Plan und rette meinen Sohn!«
Seit dem schrecklichen Kampf im Mogulnpalast vor zwei Tagen hatte Ramita die meiste Zeit damit verbracht, die Götter auf Knien anzuflehen, das geschehene Unrecht rückgängig zu machen, hatte mit Gedankenkraft und Gnosis um Gnade und Gerechtigkeit gefleht. Immerhin war sie eine Magi, die Götter mussten sie hören. Bestimmt würden sie Ramita zu ihrem verschollenen Sohn führen.
Doch die Götter schwiegen beharrlich.
Schließlich gab sie gedemütigt auf. Sie erhob sich, ihre Knie schmerzten, da fielen ihr die Worte ihres Vaters wieder ein. »Die Götter helfen nur denen, die sich selbst helfen«, hatte er immer gesagt. Sie wandte sich gerade zum Ausgang, als sie wie versteinert innehielt – die Statue der Schicksalsgöttin Makheera-ji bewegte sich und trat von ihrem Podest herunter.
Ramitas Herz setzte einen Schlag lang aus.
Die lebensgroße Statue war blau bemalt, ihr dickes, gelocktes Haar sah aus wie ein Schlangennest. In ihren sechs Händen hielt sie die Symbole des Wissens und der Macht, aber es war der Blick ihrer goldenen Augen, der Ramita lähmte.
»Makheera-ji?«, keuchte sie.
Die Göttin lachte nur und verwandelte sich erneut …
Alaron blieb vor der schmalen Tür stehen und spähte in den Tempel. Das Innere wurde vom sanften Schein der Öllampen erleuchtet, flackernde Schatten tanzten über die blau bemalten Steingesichter der Omali-Gottheiten. Manche schauten grimmig, andere weise. Einen schrecklichen Moment lang glaubte er, sie wären lebendig geworden und hätten Ramita umzingelt, die in ihrem weißen Witwengewand reglos in der Mitte stand. Sicher lag es nur an der schummrigen Beleuchtung.
»Was ist?«, fragte er, während seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnten.
»Wir haben eine Besucherin«, antwortete Ramita in eigenartigem Tonfall. Normalerweise war sie sich ihrer Worte immer sicher; wenn sie etwas nicht verstand, überließ sie es einfach ihren Göttern. Doch im Augenblick wirkte sie vollkommen ratlos.
Alaron musterte die in eine dunkle Robe gehüllte Gestalt, die hinter Ramita am Rand des Lichtscheins stand. Sie war schlank und hielt sich leicht gebeugt. Ihr Haar glänzte silbrig, die helle Haut war von der Sonne gebräunt, und ihr Gesicht war von einem Gespinst aus feinen Fältchen überzogen.
Nichts an der Haltung der Frau schien bedrohlich, dennoch hob Alaron seinen Kon und ging in Verteidigungsstellung. Kein Weißer kam allein hierher, schon gleich gar keine Frau. Außerdem hatte sie eine gnostische Aura. Die Frau war eine Magi.
»Wer seid Ihr?«, fragte er barsch.
»Eine von euren rondelmarischen Gottheiten«, antwortete Ramita mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Unglauben in der Stimme. »Zuerst war sie eine Statue von Makheera-ji, aber dann hat sie sich verwandelt.«
Alaron blinzelte. »In Rondelmar gibt es nur einen Gott: Kore. Er ist ein Mann.«
Die Frau verzog geringschätzig den Mund. »Ich habe nie behauptet, eine Göttin zu sein.«
»Sie möchte mit uns reden«, sprach Ramita weiter. »Sie sagt, sie heißt Corinea.«
Corinea! Großer Kore! Alaron taumelte einen Schritt zurück, sein Herz begann zu rasen. »Versteck dich hinter mir«, wies er Ramita mit dünner, zittriger Stimme an. »Diese Frau ist …« Ja, was eigentlich – eine Helhure? Die Mörderin unseres Messias?
Alaron glaubte nicht an Götter. Sein Vater hatte ihn zum Skeptiker erzogen. Corineus sei ein gewöhnlicher Sterblicher gewesen, hatte er ihm eingeschärft. Genauso wie seine Schwester Corinea. Sie kann es unmöglich sein. Andererseits leben Aszendenten verflucht lange. Wenn sie es tatsächlich ist, ist sie keine Göttin, sondern eine Magi. Und zwar eine sehr alte und mächtige.
Alaron begann zu zittern wie ein neugeborenes Fohlen. Kalter Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen. Schließlich stellte er sich zwischen die Frau und Ramita. »Was wollt Ihr?«
»Nur reden. Ich will euch nichts Böses.«
»Warum solltet Ihr mit uns reden wollen?«
»Zwei Tage habe ich den Gebeten dieser jungen Frau zugehört. Vieles, von dem sie gesprochen hat, liegt auch mir am Herzen. Sie hat sogar für dich gebetet, Alaron Merser. Es war das erste Mal in meinem langen Leben, dass eine Lakhin einen Rondelmarer in ihre Gebete miteingeschlossen hat.«
Alarons Blick sprang zu Ramita. Sie nickte, und ihre Wangen wurden so rot, dass er einen Moment lang überlegte, wofür sie wohl gebetet hatte. Konzentrier dich, Idiot!
»Könnt Ihr beweisen, dass Ihr wirklich seid, wer Ihr zu sein behauptet?«, fragte er weiter. Corineus’ Mörderin. Außerdem seine Schwester und Geliebte …
»Das wird nicht ohne Weiteres möglich sein. Es sei denn, natürlich, du würdest in Bewusstseinsverbindung mit mir treten.«
Alaron erschauerte. Ohne entsprechende Schutzvorkehrungen waren solche Verbindungen hochgefährlich. Der stärkere der beiden Magi hatte den anderen vollkommen in der Hand.
»Ich tue es«, sagte Ramita plötzlich.
Alaron erschrak. »Nein!«
»Meiros hat gesagt, ich wäre stärker als selbst eure Aszendenten«, rief sie ihm ins Gedächtnis.
»Niemand ist stärker als ein Aszendent«, warf Corinea hochmütig ein.
»Wenn sie wirklich Corinea ist, gebraucht sie die Gnosis seit fast sechshundert Jahren!«, protestierte Alaron. »Ich werde es tun. Ich bin verzichtbar.«
»Bist du nicht!«, rief Ramita entsetzt. »Du bist mein Bruder, ich verbiete es dir!«
Sie hat wirklich eine eigenartige Auffassung von einem Bruder-Schwester-Verhältnis, überlegte Alaron. Gleichzeitig spürte er, wie sehr ihm Ramitas Sorge schmeichelte.
Corinea musterte Ramita aufmerksam. »Du bist Antonin Meiros’ Witwe«, überlegte sie laut. »Die Jahrhunderte haben gezeigt, wie viel Gutes in ihm steckte, und dennoch hat er sich geweigert, mich zu treffen. Selbst sein Ordo Costruo, der sich dem Frieden verschrieben hat, hat Jagd auf mich gemacht.«
Ich bin sicher, er hatte einen guten Grund dafür. Alaron schaute Ramita aus dem Augenwinkel an und ließ seinen Kon langsam sinken. Er war ein Viertelblut. Wenn das hier wirklich Corinea war, würde ihm der Stab in einem Kampf nicht viel nützen. Wir müssen die Wahrheit wissen …
Er machte einen Schritt auf die Fremde zu und streckte den Arm aus. »Einverstanden.«
Noch bevor Ramita dazwischengehen konnte, packte die Frau seine Hand. Bilder brachen über Alaron herein wie eine Flutwelle: junge Menschen, die im Fackelschein in der Dämmerung sangen. Ein Mann mit goldenem Haar und einem unbekümmerten Lächeln auf den Lippen. Dann der gleiche Mann auf einem Podest, vor ihm verzückte Zuhörer, die immer wieder rufen: »Corin! Corin! Corin!« Sie strecken die Hände nach ihm aus, buhlen um seine Aufmerksamkeit. Ein Tumult, Soldaten mit blankem Entsetzen in den Augen, dann wieder Blumenkränze, Visionen von Liebe und Tod, schließlich ein blutverschmiertes Messer …
Über all diesen Bildern schwebte eine starke und unverkennbare Präsenz, wie es typisch war für eine gnostische Bewusstseinsverbindung. Es gab keinen Zweifel: Sie war es. Als Alaron bewusst wurde, dass er die Hand der meistgehassten Frau der Geschichte Urtes hielt, taumelte er erschrocken zurück.
Ramita packte ihn von hinten an den Schultern. »Bhaiya? Al’Rhon?!«, rief sie mit bohrendem Blick.
»Mir fehlt nichts«, keuchte er. Dann riss er sich zusammen und hob den Kopf. »Sie ist es! Großer Kore …« Die leibhaftige Corinea steht vor uns!
Eigentlich hatte er erwartet, dass sie jeden Moment in Flammen aufging, ihr Hörner aus der Stirn wuchsen oder sie ihm das Herz aus der Brust riss, aber nichts dergleichen geschah.
»Du hast deine Götter um Rat gefragt, Ramita Ankesharan«, begann Corinea geduldig. »Du hast sie gebeten, dir deinen Sohn zurückzugeben. Sie sollen dir helfen, die Skytale des Corineus wiederzubeschaffen. Sie sollen deinen anderen Sohn beschützen, außerdem den jungen Mann an deiner Seite … Nun, betrachte mich einfach als die Antwort auf deine Gebete.«
Ramita runzelte ungehalten die Stirn ob dieser Lästerung ihrer Götter.
»Was wollt Ihr von uns?«, fragte Alaron nervös.
»Ich will die Skytale.«
Natürlich. Sie will eine neue Aszendenz gründen und sich an den Magi rächen.
Corinea schüttelte den Kopf, als hätte sie seine Gedanken gehört; Alaron war noch nie besonders gut darin gewesen, seinen Geist abzuschirmen.
»Ich habe keine neue Aszendenz im Sinn, Alaron Merser. Die erste hat schon genug Leid gebracht. Zwei Gruppen von Magi, die um die Vorherrschaft ringen, würden die Welt endgültig zerstören. Nein, ich will die Skytale, damit ich meine Seite der Geschichte berichten kann.«
»Eure Seite?«
Corineas Stimme wurde bitter. »Ja, diese Seite gibt es, und es ist nicht die, die im Buch Kore steht, das verspreche ich dir.« Ihr Blick sprang zwischen ihm und Ramita hin und her. »Werdet ihr mich anhören?«
Alaron schaute unsicher zu Ramita hinüber. Schließlich nickten sie zögernd.
Eine Stunde später saßen sie in den Räumen, die die Mönche ihnen zugewiesen hatten, um einen kleinen Tisch herum vor einer Schüssel Dal. Die Luft war geschwängert von Räucherwerk und dem würzigen Duft des Dal, zu dem sie Reis und Fladenbrot aßen, um alles mit Quellwasser hinunterzuspülen. Corinea aß, wie es in Lakh üblich war, und knetete das Dal mit dem Reis zu kleinen Kügelchen, die sie sich während des Gesprächs in den Mund warf. Alaron zuliebe sprach sie Rondelmarisch, das Ramita besser beherrschte als er das Lakhische. Yash hatte Corinea misstrauisch beäugt – eine Weiße hatte er noch nie zuvor gesehen –, sich aber nach einigem Hadern mit Dasra in den Speisesaal zurückgezogen, um dort zu Abend zu essen. Der Name Corinea sagte ihm nichts, und so vertraute er am Ende Alarons Zusicherung, dass ihnen keine Gefahr drohte.
»Wer war dein Vorfahre unter den gesegneten Dreihundert?«, fragte Corinea. Alle rondelmarischen Magi-Familien hatten einen Vorfahren unter Corineus’ Jüngern.
»Berial.«
»Eine Bricierin mit braunem Haar, ich erinnere mich an sie.« Corinea musterte ihn kurz. »Du hast ihre Nase.«
»Mein Vater sagte, sie sei vor dreihundert Jahren gestorben, aber eine Frau aus der Anborn-Familie wurde von einem ihrer Enkel schwanger. Meine Verwandten sprechen nicht gerne darüber. Warum, ist mir schleierhaft. Alle Halbblut-Linien müssen einmal so begonnen haben.«
Corinea hatte noch nie von den Anborns gehört. »Ich bin sofort nach Johans Tod aus Rondelmar geflohen und kam im gleichen Jahr, als der Ordo Costruo Ahmedhassa entdeckte, hierher. Seither verstecke ich mich auf diesem Kontinent. Über das heutige Yuros weiß ich nur sehr wenig.«
»Wo wart Ihr überall?«, fragte Ramita neugierig.
»An vielen Orten, von Mirobez im Norden bis Südlakh.«
»Meine Familie stammt aus Baranasi.«
»Ich dachte mir schon, dass du von dort kommst«, erwiderte Corinea mit einem verhaltenen Lächeln. »Ich höre es an deinem Akzent, außerdem wickelst du deinen Sari so wie die Frauen dort. Ich kenne Baranasi gut, es ist mein Lieblingsort in Lakh.«
Alaron sah, wie Ramita angesichts des Kompliments erstrahlte. Es gefiel ihm nicht. Die große Frage hing immer noch unausgesprochen in der Luft, er konnte nicht mehr länger damit warten.
»Meine Dame«, begann er ohne jede Vorrede, »es gibt etwas, das ich wissen muss: Warum habt Ihr Corineus ermordet?«
Das Lächeln auf den Gesichtern der beiden Frauen verlosch wie eine Kerze.
»Das kann ich dir sagen«, erwiderte Corinea nachdenklich. »Sertains Version kennst du bereits, aber du hast noch nie die Wahrheit gehört. Lass mich bis ganz zu Ende erzählen. Fälle dein Urteil erst danach.«
Alaron nickte vorsichtig und wünschte sich, die Zain würden irgendeinen Schnaps brauen – er wusste, er könnte schon bald etwas Starkes brauchen.
»Geboren wurde ich als Lillea Selene Sorades«, begann Corinea. »Ich stamme aus einer kleinen Stadt in Estellayne, dem Geburtsort meines Vaters, aber meine Mutter war Argundierin.«
»Dann seid Ihr gar nicht Johan Corins Schwester?!«, unterbrach Alaron. Im Buch Kore stand etwas anderes.
»Aber nein! Wenn er mein Bruder gewesen wäre, hätte ich wohl kaum seine Geliebte werden können. So etwas gibt es nur in Sydia. Meine Mutter kam aus Argundy, und mein Vater war Estellayner. Sie heirateten, als gerade Frieden herrschte. Als neuerlicher Krieg ausbrach, gingen sie nach Westbricia. Dort hörte ich Johan zum ersten Mal predigen. Ich war sechzehn und mit einem bricischen Bauern verlobt, der fünfzehn Jahre älter war als ich und genauso arm wie der Acker, den er bestellte. Johan und seine damals vierzig Jünger kamen einen Monat vor meiner Hochzeit in unser Dorf.«
Sie hatte die Augen halb geschlossen und sprach leise weiter. »Es war Sommer, die Tage waren heiß und feucht, überall schwirrten Bienen und Käfer umher. Der Duft von Blumen, reifem Obst und Beeren hing in der Luft, alles strotzte nur so vor Kraft und Leidenschaft. Johans Gefolge bestand größtenteils aus jungen Männern, die von zu Hause weggelaufen waren, weil sie weder Soldaten noch Bauern werden wollten. Die meisten stammten aus wohlhabenden Familien mit zu vielen Erben. Sie waren gebildet, lasen Gedichte, diskutierten über Moral und gingen mit jeder Frau ins Bett, die ihnen ein Lächeln schenkte. Es waren auch Frauen in Johans Gefolge, so wild und frei, wie ich es mir damals selbst in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Also schlich ich mich heimlich aus dem Haus, um Johan predigen zu hören. Oft stand er am Dorfbrunnen und predigte, dass Freiheit unser Geburtsrecht sei! Seine Freunde tummelten sich in den Schenken, tranken Bier, tanzten mit den Mädchen und flirteten, was das Zeug hielt. Mein Verlobter gehörte zu den Männern, die schließlich Johan und sein Gefolge mit Knüppeln aus dem Dorf trieben. Da lief ich von zu Hause fort und schloss mich ihnen an.«
Alaron runzelte die Stirn. Das Buch Kore sprach von jungen Gläubigen, die beseelt von religiösem Eifer den Namen des einzig wahren Gottes priesen – nicht von einem Haufen Lustmolche, die betrunken von Dorf zu Dorf zogen.
Corineas Miene hellte sich plötzlich auf. »Ich war jung und sehr hübsch. Meine Haut war samtig braun, ganz anders als die der milchweißen Mädchen in Johans Gefolge. Er warf sofort ein Auge auf mich, tanzte nur noch mit mir, und es dauerte nicht lange, da brachte er mir auch den Tanz der Liebe bei.«
Sie seufzte wehmütig. »Es war eine Zeit voller Magie. Alles, was er sagte und tat, entzückte mich. Freiheit wurde zu meinem neuen Lieblingswort. Einfach zu tun, was mir gefiel, ohne mich darum zu kümmern, was die Priester und Adligen dazu sagten. Heiraten, wen ich wollte, statt jemanden, den meine Eltern ausgesucht hatten. Aber am wichtigsten war, endlich tun zu dürfen, was sonst nur Männern gestattet war … die Freiheit war wie ein Rausch, wir wollten sie der ganzen Welt bringen und ein Reich der Liebe gründen.«
Sie lachte leise. »Die närrischen Träume der Jugend eben.«
»War mein Mann auch dabei?«, fragte Ramita.
»Antonin? Er stieß erst in Lantris zu uns. Er war sehr intelligent und immer ernst. Seinen stechenden Blick werde ich nie vergessen. Ein wahrer Schatz.« Sie warf Ramita ein vielsagendes Lächeln zu. »Ich erinnere mich noch gut, wie wir uns unter den Sternen liebten, wenn Johan eine andere mit ins Bett genommen hatte.«
Alaron war schockiert über die anscheinend regelmäßigen sexuellen Ausschweifungen der Leute, die später zum moralischen Vorbild für das gesamte Kaiserreich ausgerufen werden sollten. Ramitas Unbehagen hatte vermutlich viel persönlichere Gründe, auch wenn all das Hunderte Jahre geschehen war, bevor sie Meiros kennengelernt und geheiratet hatte.
»Ich war fast mit allen von Johans engsten Vertrauten im Bett«, fuhr Corinea unbekümmert fort. »Genau das war es, was Freiheit damals für mich bedeutete: tun, was immer ich wollte, mit wem ich wollte. Die Hälfte der Frauen wurde schwanger, ohne zu wissen, wer der Vater war. Ich war ein bisschen vernünftiger und traf entsprechende Vorsichtsmaßnahmen, obwohl Johan unbedingt ein Kind von mir wollte. Damals nannte ich mich Selene – mein argundischer Mittelname –, weil Estellayne sich gegen die rimonische Fremdherrschaft erhoben hatte. Als wir Südrondelmar erreichten, zählten wir über tausend. Mittlerweile waren auch einige Adlige wie Baramitius und Sertain dabei. Ich mochte sie von Anfang an nicht und wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich uns aus den falschen Gründen angeschlossen hatten. Zum einen waren sie mir zu ehrgeizig, zum anderen braute Baramitius ständig neue, unberechenbare Kräutermixturen. Aber Johan mochte die beiden. Mit Frauen ging er gerne ins Bett, doch über die wirklich wichtigen Dinge sprach er nur mit Männern.«
Corinea verstummte kurz. Ein Ausdruck des Bedauerns trat auf ihr Gesicht. »Wir hätten mehr miteinander reden sollen, er und ich.«
»Was ist dann passiert?«, fragte Alaron, der nun trotz seiner anfänglichen Bedenken fasziniert zuhörte.
»Wir zogen weiter Richtung Norden, und Johan wurde immer dreister. Er fing an, sich mit Corineus ansprechen zu lassen. Obwohl wir einander überhaupt nicht ähnlich sahen, nannte er mich Corinea und behauptete, ich wäre seine Schwester und Geliebte, nur um die Leute zu schockieren! Wir wurden immer extremer. Die ersten Mitglieder verließen die Gruppe bereits wieder, es gab ständig heftige Streitigkeiten. Meiros und seine Freunde versuchten, Johan zu bremsen, damit wir am Ende nicht noch Ärger mit dem Gesetz bekamen, aber das stachelte ihn nur noch mehr an. Und Baramitius war besessen von seiner Alchemie. Er prahlte, er sei kurz davor, den Trank des ewigen Lebens zu brauen, von dem in den alten Mythen der Kore die Rede war.«
Ramita horchte auf. »Sind Corineus und Kore nicht ein und derselbe?«
Corinea lachte herzlich. »Um Himmels willen, nein! Kore ist ein uralter rondelmarischer Gott. Vergiss nicht, das alles geschah zur Zeit des Rimonischen Reiches. Rondelmar war damals nur eine Provinz. Alle mussten neben ihrer Muttersprache auch Rimonisch sprechen, und die einzigen Götter, die man öffentlich anbeten durfte, waren Sol und Lune, die Sonnen- und Mondgottheiten des Sollan-Glaubens. Kores Kirche existierte nur im Untergrund. Aber dann kam Baramitius und erklärte Johan, er hätte endlich den Trank gefunden. Zu diesem Zeitpunkt waren wir alle längst abhängig von seinen Mixturen. Das Gerede vom ewigen Leben hielten wir für eine Ausgeburt seiner eigenen Wahnvorstellungen. Baramitius verabreichte uns über Tage hinweg winzig kleine Dosen und schrieb alles auf, als wollte er unser Innerstes bis ins Letzte ergründen. Schließlich hatte er das endgültige Rezept, genau zugeschnitten auf jeden Einzelnen von uns. Er warnte uns noch vor der Wirkung. Die Mixtur sei sehr stark, sagte er, wir würden stundenlang in einen traumähnlichen Zustand verfallen.«
Alaron versuchte nach Kräften, Corineas Erzählung mit dem Buch Kore in Einklang zu bringen, in dem von einem geheiligten Ereignis die Rede war. Skeptiker oder nicht, etwas infrage zu stellen, das er sein Leben lang für zumindest in Teilen für wahr gehalten hatte, fiel ihm verflucht schwer.