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Fantastische Welten, epische Abenteuer und mitreißende Helden: Das große Finale der Saga ist endlich da!
Das Ende der Mondflut rückt immer näher und der grausame Kaiser Constant zieht alle Kräfte zusammen, um endlich die totale Macht an sich zu reißen. Alaron und Ramita haben nur noch wenig Zeit, die Katastrophe zu verhindern. Zugleich müssen sie Ramitas Sohn, den Nachkommen des mächtigen Magiers Antonin Meiros, beschützen. Die Zeit ist gekommen, das Aszendenz-Ritual zu vollziehen, und neue Mächte machen sich bereit, Urte zu regieren. Diese können den Frieden bringen – oder ewige Verdammnis. Die Entscheidung muss fallen, bevor die Leviathanbrücke in den Fluten des Ozeans versinken wird …
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Seitenzahl: 686
Buch
Das Ende der Mondflut rückt immer näher, und der grausame Kaiser Constant zieht alle Kräfte zusammen, um endlich die totale Macht an sich zu reißen. Alaron und Ramita haben nur noch wenig Zeit, die Katastrophe zu verhindern. Zugleich müssen sie Ramitas Sohn, den Nachkommen des mächtigen Magiers Antonin Meiros, beschützen. Die Zeit ist gekommen, das Aszendenz-Ritual zu vollziehen, und neue Mächte machen sich bereit, Urte zu regieren. Diese können den Frieden bringen – oder ewige Verdammnis. Die Entscheidung muss fallen, bevor die Leviathanbrücke in den Fluten des Ozeans versinken wird …
Der Autor
Der neuseeländische Schriftsteller David Hair wurde für seine Jugendromane bereits mehrfach ausgezeichnet. Die Brücke der Gezeiten ist seine erste Fantasysaga für Erwachsene. Nach Stationen in England, Indien und Neuseeland lebt er nun in Bangkok, Thailand.
Die Rückkehr der Flut
DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 8
Übersetzt von Michael Pfingstl
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Ascendant’s Rite« (Pages 405–828) bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2015 by David HairCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Sigrun ZühlkeJB · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-18115-4V001www.blanvalet.de
Dieses Buch ist meiner Schwester Robyn gewidmet, liebevolle Krankenschwester, hervorragende Köchin und Kuchendekorateurin und außerdem der Grund, warum es sich lohnt, Crabtree-&-Evelyn-Aktien zu kaufen.
Robyn wurde meinen Eltern am 6. September übergeben, etwas über ein Jahr nachdem sie von mir Besitz ergriffen hatten. Der Lieferant war kein Storch, sondern ein Arzt in Te Puke – dass wir adoptiert wurden, war nie ein Geheimnis und nie Grund für Drama oder Trauma. Unter den Fittichen unserer Adoptiveltern wuchsen wir genauso auf, wie »normale« Geschwister aufwachsen: Wir haben gespielt und gestritten, konkurriert und zusammengearbeitet, uns umarmt und beschimpft, uns geschlagen und wieder versöhnt. Als Adoptivkind kann man irgendjemanden zur Schwester bekommen, und ich bin froh, dass du, Robyn, die meine bist.
Inhalt
Karte: Urte c. 927
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Die Ereignisse von Septnon 929 bis Janun 930
Prolog: Die Plagen Kaiser Constants (Teil 5)
1 Ein kleiner Rückschlag
2 Verwundbarkeit
3 Die Reichweite des Attentäters
4 Trauerzug und Marsch
5 Familie
6 Mit Gott sprechen
7 Hammer und Amboss
8 Delta
9 Die Ebensar-Höhen
10 Deltas Geschichte
11 Die Grenzen der Macht
12 Gegenspieler
13 Jekuar
14 Der letzte Verrat
15 Die Kreuzung von Bassaz
16 Das Schwert gegen den König erheben
17 Alte Bande
18 Die Überschreitung
19 Prioritäten
20 Die Kaiserliche Flotte
21 Ein Sturm am Mittpunkt
22 Zu guter Letzt
23 Nach dem Sturm
Epilog: Das Ende der Mondflut
Anhang
Danksagung
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Auf Urte gibt es zwei bekannte Kontinente, Yuros und Antiopia. In Yuros ist das Klima kalt und feucht, seine Bewohner haben helle Haut; Antiopia liegt näher am Äquator, ist größtenteils trocken und dicht von verschiedenen dunkelhäutigen Stämmen bevölkert. Zwischen den beiden Landmassen tost eine unbezähmbare See, ständig aufgepeitscht von extrem starken Gezeiten, welche die Meere unpassierbar machen, sodass die Völker der beiden Kontinente lange Zeit nichts voneinander wussten.
Vor fünfhundert Jahren änderte sich dies grundlegend.
Auslöser war die Sekte des Corineus. Er gab seinen Jüngern einen Trank, der ihnen magische Kräfte verlieh, die sie Gnosis nannten. Noch in derselben Nacht starb die Hälfte seiner Anhänger und ebenso Corineus selbst, der offenbar von seiner Schwester Corinea ermordet wurde. Corinea floh, dreihundert der Überlebenden begannen unter Sertains Führung, den Kontinent mithilfe ihrer neu gewonnenen Kräfte zu erobern. Die Gnosis verlieh ihnen derart große Macht, dass sie das Reich Rimoni mühelos vernichteten und sich selbst als Herrscher des neu gegründeten Reiches Rondelmar einsetzten.
Dieses Ereignis, bekannt unter dem Namen »Die Aszendenz des Corineus«, veränderte alles. Die Magi, wie sie sich selbst nannten, stellten fest, dass auch ihre Kinder über magische Fähigkeiten verfügten. Die Gabe wurde zwar schwächer, wenn der andere Elternteil nicht ebenfalls ein Magus war, doch die Magi breiteten sich unaufhaltsam aus. Im Namen des Rondelmarischen Kaisers brachten sie immer mehr Landstriche und Völker Yuros’ unter ihre Herrschaft.
Von den anderen zweihundert, die die Aszendenz überlebt hatten, versammelte Antonin Meiros einhundert Männer und Frauen um sich, die wie er Gewalt verabscheuten, und zog mit ihnen in die Wildnis. Sie siedelten sich im südöstlichen Zipfel des Kontinents an, wo sie einen friedliebenden Magusorden gründeten, den Ordo Costruo.
Die restlichen hundert Überlebenden schienen keinerlei magische Kräfte entwickelt zu haben, doch stellte sich schließlich heraus, dass sie, um die Gnosis in sich wirksam werden zu lassen, die Seele eines anderen Magus verschlingen mussten; also taten sie es. Der Rest der Magigemeinschaft war darüber so entsetzt, dass sie die Seelentrinker gnadenlos jagten und töteten. Die wenigen, die noch übrig sind, leben im Verborgenen und werden von allen verachtet.
Schließlich entdeckte der Ordo Costruo mithilfe der Gnosis den Kontinent Antiopia, oder Ahmedhassa, wie er bei seinen Einwohnern heißt. Antiopia liegt südöstlich von Yuros. Die vielen Gemeinsamkeiten in Tier- und Pflanzenwelt, die die Ordensmitglieder entdeckten, brachten sie zu der Vermutung, dass die beiden Kontinente in vorgeschichtlicher Zeit einmal miteinander verbunden gewesen sein mussten. Meiros’ Anhänger kamen in Frieden und wurden bald dauerhaft in der großen Stadt Hebusal im Nordwesten Antiopias sesshaft. Im achten Jahrhundert begann der Orden mit der Arbeit an einer gigantischen Brücke, die die beiden Kontinente wieder miteinander verbinden sollte, und diese Brücke löste die zweite Welle epochaler Veränderungen aus.
Der Bau der Leviathanbrücke, wie das dreihundert Meilen lange Bauwerk genannt wird, war nur mithilfe der Gnosis möglich, die vieles bewirken kann, aber nicht alles. Sie erhebt sich nur während der alle zwölf Jahre stattfindenden Mondflut aus dem Meer und bleibt dann für zwei Jahre passierbar. Das erste Mal geschah dies im Jahr 808. Zunächst wurde die Brücke nur zögerlich genutzt, doch nach und nach entwickelte sich ein blühender Handel, und nicht wenige wurden dadurch reich. Es entstand eine neue Kaste, die Kaste der Händlermagi, die aufgrund ihres Reichtums auf beiden Seiten der Brücke immer mehr Einfluss gewann. Auch der Ordo Costruo gelangte zu beträchtlichem Wohlstand. Nach etwas mehr als einem Jahrhundert und zehn Mondfluten war der Handel über die Brücke der wichtigste politische und wirtschaftliche Faktor auf beiden Kontinenten.
Im Jahr 902 entsandte der Rondelmarische Kaiser, der seine Macht durch die Händlermagi bedroht sah, getrieben von Gier, Neid, Bigotterie und Rassenwahn, sein Heer über die Brücke: gut ausgebildete Legionen, die von Schlachtmagi angeführt wurden. Im Namen des Kaisers rissen sie die Kontrolle über die Brücke an sich, plünderten und besetzten Hebusal. Viele gaben Antonin Meiros die Schuld für diese Ereignisse, denn er und sein Orden hätten den Überfall verhindern können – doch dazu hätten sie die Leviathanbrücke zerstören müssen.
916 kam es zu einem zweiten, noch verheerenderen Kriegszug. Die Menschen Antiopias hatten keine Magi in ihren Reihen und waren den Legionen aus Yuros schutzlos ausgeliefert. Dennoch standen die Dinge für den Rondelmarischen Kaiser nicht zum Besten, denn seine tyrannische Herrschaft hatte in mehreren Vasallenstaaten zu einer Revolte geführt, am bekanntesten davon die von 909 im in Zentral-Yuros gelegenen Königreich Noros. Als im Jahr 928 die nächste Mondflut naht, hat der Kaiser bereits neue Pläne geschmiedet, um seine Macht auch in Zukunft zu sichern.
Die Ereignisse von Septnon 929 bis Janun 930(geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Die Verlorenen Legionen)
Nach Corineas Auftauchen befürchten Alaron und Ramita das Schlimmste, doch wie sich herausstellt, hegt sie keine bösen Absichten. Sie hatte die beiden schon seit Längerem beobachtet und sie schließlich zu ihrem Sprachrohr auserkoren: Jahrhundertelang war Corinea als Mörderin des Corineus geächtet, doch sie beteuert ihre Unschuld und bietet ihre Hilfe an, wenn Alaron und Ramita ihr im Gegenzug die Möglichkeit verschaffen, vor dem Ordo Costruo zu sprechen. Mit Corineas Unterstützung gelingt es schließlich, das Rezept für die Ambrosia zu entschlüsseln, woraufhin Alaron und Ramita eine neue Chance sehen, gegen Malevorn und Huriya zu bestehen und den entführten Nasatya zu befreien. Zur Umsetzung ihres Plans kehren sie mit Dasra, Yash und Corinea nach Mandira Khojana zurück und schlagen Meister Puravai vor, die Novizen mithilfe der Ambrosia in die Aszendenz zu erheben, falls sie dies möchten. Der Meister gibt seine Zustimmung, und die meisten Zain nehmen das Angebot an.
Mittlerweile haben sich zwei Verfolgergruppen an ihre Fersen geheftet. Cymbellea und Zaqri versuchen in Südkesh, Alarons Spur wiederaufzunehmen, und bitten schließlich die Seelentrinker in Sultan Salims Heerlager um Hilfe. Dort hält sich allerdings auch die abtrünnige Ordo-Costruo-Magierin Alyssa Dulayn auf. Sie ist die Geliebte von Emir Rashid Mubar, Anführer der Hadischa und Leiter der Zuchtanstalten, und ebenfalls auf der Suche nach der Skytale.
Malevorn und Huriya sind unterdessen mit Nasatya und den Überlebenden des Seelentrinkerrudels aus Teshwallabad in die Wildnis geflohen. Malevorn scheitert bei dem Versuch, die Skytale zu entschlüsseln, glaubt aber, dass sein ehemaliger Vorgesetzter Adamus Crozier ihm helfen kann. Er lockt Adamus nach Gatioch und nimmt ihn gefangen, woraufhin Huriya weitere Seelentrinkerrudel mit dem Versprechen, sie von ihrem Fluch zu heilen und sie in die Aszendenz zu erheben, ins Tal der Gräber ruft.
In Javon ist es Elena Anborn gelungen, Prinzessin Cera Nesti sowie ihren jüngeren Bruder, den offiziellen Thronfolger Timori Nesti, aus Gurvon Gyles Händen zu befreien. Das Volk glaubte, Cera sei gesteinigt worden, und bereitet ihr beim Einzug in Lybis einen begeisterten Empfang. Ihre Rückkehr wird als Zeichen verstanden, dass die Befreiung Javons von den Dorobonen kurz bevorsteht. Um dies zu erreichen, bringt Elena Cera und Timori heimlich nach Forensa. Dort übernimmt Cera die Führung über die javonischen Truppen und bereitet sich auf die kommenden Schlachten vor, während Elena und ihr Geliebter Kazim zu einer Geheimmission in den Süden des Landes aufbrechen. Gouverneur Tomas Betillon und Meisterspion Gurvon schließen sich unterdessen trotz ihres gegenseitigen Misstrauens zusammen, um die Nesti und ihre Verbündeten endgültig zu vernichten.
In Kesh lagern die Überlebenden der Katastrophe von Shaliyah am Ufer des Tigrates. Seth Korion, General der sogenannten Verlorenen Legionen, weigert sich, Ramon Sensini an die Inquisition zu übergeben, woraufhin ihm und seinem Heer die Überschreitung des Flusses verweigert wird: Die Kaiserkrone will unter anderem verhindern, dass die von der Inquisition in Kesh begangenen Kriegsverbrechen bekannt werden, deren Zeugen Seth und Ramon wurden. Somit bleibt Seth nichts anderes übrig, als ihre Stellung, die er die »Flussdünen« nennt, bestmöglich auf den Angriff des von Sultan Salim persönlich angeführten Keshi-Heers vorzubereiten. Seths Truppen sind zehn zu eins in der Unterzahl, ihre Siegchancen stehen denkbar schlecht.
Im Mandira-Khojana-Kloster hat Alaron inzwischen die erste Ambrosia gebraut und nimmt das Risiko auf sich, sie zu testen. Mit der Hilfe von Corinea und Ramita übersteht er die Verwandlung und wird zum Aszendenten.
Im Gegensatz dazu testet Malevorn die Ambrosia an einem gefangen genommenen Seelentrinker – mit beinahe katastrophalen Folgen: Während der Verwandlung ergreift ein Dämon von dem Seelentrinker Besitz, doch Malevorn gelingt es, den Dämon namens Bahil-Abliz zu unterwerfen. Er stellt außerdem fest, dass die Ambrosia die Seelentrinker nicht von ihrem Fluch heilen kann, und beschließt, die anderen Dokken, die Huriyas Ruf nach Gatioch gefolgt sind, in einer Massenverwandlung ebenfalls zu unterwerfen. Damit Huriya ihre Artgenossen nicht warnen kann, belegt er sie mit einer Kettenrune und wirft sie in einen Kerker. Hessaz kümmert sich unterdessen um den kleinen Nasatya und entwickelt eine immer tiefere Zuneigung zu ihm.
In Javon greifen Tomas Betillons Legionen und Gurvon Gyles Söldner mit Unterstützung der Harkun aus den Tieflanden die Stadt Forensa an. Trotz heldenhaften Widerstandes der Soldaten und Bürger droht Cera, die Schlacht zu verlieren, doch Elena und Kazim konnten in der Zwischenzeit neue Verbündete gewinnen: Mithilfe der Lamien haben sie Mitglieder des Ordo Costruo aus einer Zuchtanstalt der Hadischa befreit und bieten ihnen im Austausch für Unterstützung im Kampf gegen die Besatzer Asyl in Javon an. Die meisten Magi akzeptieren. Gerade noch rechtzeitig kommen sie in Forensa an und können das Blatt im letzten Moment wenden. Die Angreifer werden besiegt und in die Wüste getrieben.
Salims Heer versucht unterdessen, die Flussdünen zu stürmen, doch die Verlorenen Legionen unter Seths und Ramons Führung halten stand. Der Sultan beschließt, sie auszuhungern, aber Ramon durchkreuzt diesen Plan, indem er die Legionen mithilfe der einheimischen Fischer in einer gewagten Nacht-und-Nebel-Aktion ans andere Ufer des Tigrates evakuiert.
Cym und Zaqri werden von der skrupellosen Alyssa Dulayn gefangen genommen. Zaqri wird schließlich auf Alyssas Befehl hin getötet, nur Cym lässt sie am Leben, da sie als Enkelin von Antonin Meiros eine mächtige Verbündete darstellen könnte. Mithilfe der von den beiden erpressten Informationen kann sie Alarons und Ramitas Spur bis nach Teshwallabad verfolgen, wo sie schließlich von dem Kloster Mandira Khojana erfährt. Mit Cym als Geisel macht sie sich auf den Weg dorthin, um die Skytale an sich zu bringen.
In Gatioch ist Malevorn kurz davor, Hunderte von Seelentrinkern in die Aszendenz zu erheben und zu versklaven, da erhält Hessaz eine rätselhafte Botschaft von Huriya, in der sie andeutet, dass die Skytale die Dokken nicht heilen kann. Während der Massenverwandlung spuckt Hessaz als Einzige die Ambrosia aus. Während ihre Artgenossen in ein Delirium verfallen, schleicht sie sich zu Huriya und versucht sie zu befreien. Als der Versuch scheitert, tötet sie Huriya auf deren eigene Bitte: Malevorns Herz ist über einen Zauber an Huriyas Herz gebunden, wenn einer stirbt, stirbt auch der andere. Hessaz flieht mit Nasatya, und Malevorn bricht vor den Augen seiner verwirrten Sklaven bewusstlos zusammen.
In Mandira Khojana beginnen die in die Aszendenz erhobenen Zain-Novizen unterdessen mit ihrer Ausbildung und erlernen unter Puravais und Alarons Anleitung, alle sechzehn Aspekte der Gnosis zu gebrauchen. Von dem bevorstehenden Überfall durch Alyssa Dulayn ahnen sie nichts. In einer kalten Nacht dringt sie mit ihren Hadischa in das Kloster ein, doch Cym kann sich befreien und Alaron warnen. Zahlreiche Zain fallen im Kampf, und Cym wird von einem Hadischa getötet, aber mit Corineas Unterstützung gelingt es schließlich, die Attentäter zu besiegen. Ramita nimmt Alyssa gefangen und tötet sie beinahe.
Wir schreiben den Janun 930, die Mondflut dauert nur noch fünf Monate. Javon hat einen ersten Erfolg in seinem Freiheitskampf erzielt, dennoch scheinen Elenas und Ceras Feinde nach wie vor übermächtig. Die Verlorenen Legionen sitzen Hunderte Meilen von der Leviathanbrücke entfernt zwischen den Fronten fest, während Malevorns Dämonenheer ganz Urte bedroht. Lediglich Alaron, Ramita und ihre Magi-Zain wissen von der Gefahr.
Zur gleichen Zeit trifft Rondelmar die letzten Vorbereitungen für den entscheidenden Schlag: Die Leviathanbrücke soll zerstört und eine permanente Landbrücke zwischen den beiden Kontinenten aus dem Ozean gehoben werden, um die Unterwerfung Antiopias für alle Zeiten zu besiegeln. Der Hammer wird am letzten Tag der Mondflut fallen.
Es ist Zeit, Geschichte zu schreiben.
Prolog Die Plagen Kaiser Constants(Teil 5)
Über die Monarchie
Was ist ein König? Jemand, der nicht nur aufgezogen wurde, um über andere zu herrschen, sondern auch von den Göttern dazu bestimmt ist? Oder ein Tyrann, der sich verbissen an seine Macht klammert und jeden vernichtet, von dem er sich bedroht fühlt? Oder ist der König lediglich eine Galionsfigur, jemand, auf den die wahrhaft Mächtigen sich um der Stabilität willen einigen, um danach ihre eigenen Pläne weiterzuverfolgen?
Ordo Costruo, Hebusal 884
Pallas, RondelmarSommer 927Ein Jahr bis zur Mondflut
Es wurde still im Raum, einen Augenblick lang wirkten alle Anwesenden nachdenklich, den Blick nach innen gerichtet. Der Plan war klar, die Karten lagen auf dem Tisch, man hatte sich mehr oder weniger geeinigt. Es war der krönende Abschluss monatelanger Vorbereitungen und geheimer Treffen unter vier Augen, begleitet von reichlich Speis und Trank. Gurvon Gyle hob seinen Kelch, stellte enttäuscht fest, dass er leer war, und setzte ihn wieder ab. Er brauchte etwas Stärkeres als verdünnten Wein.
Wenn es wirklich Götter gäbe und sie uns jetzt hören könnten, wären sie entsetzt, dachte er, während er im Stillen alles noch einmal durchging.
Ich werde Javon erobern und es dann den Dorobonen übergeben. Er gestattete sich ein kleines Lächeln. Nun ja, vielleicht. Es gab noch andere Möglichkeiten. Das Kaiserreich unterschätzt Javon. Die Rondelmarer glauben, nur weil die Dorobonen es schon einmal erobert haben, wird es auch diesmal klappen. Sie vergessen nur, dass sie Javon auch wieder verloren haben. Vielleicht kann ich daraus Nutzen ziehen. Elena hätte bestimmt etwas zu dem Thema zu sagen. Er verbot sich jeden Gedanken an Elena. Ihr Verhältnis war nicht mehr das, was es einmal gewesen war.
Sobald wir Javon haben, locken wir den Herzog von Argundy in eine Falle. Er überlegte, ob Rashid Mubar seinen Teil der Vereinbarung auch wirklich erfüllen würde. Es wäre nicht gut, wenn der Herzog nur geschwächt würde und entkam. Dass es den Keshi gelänge, ein voll ausgerüstetes rondelmarisches Heer zu vernichten, war ausgeschlossen.
Was mich wirklich beunruhigt, ist, was Naxius mit den gestohlenen Seelen anstellt. Unfassbar! Der Kerl ist gefährlich …
Und dann der letzte Akt: die Zerstörung der Leviathanbrücke. Obwohl Gurvon selbst den Plan mit Belonius Vult ausgeheckt hatte, machte ihn der Gedanke an dessen Tragweite immer noch fassungslos. Das mächtige Bauwerk des Ordo Costruo zu zerstören war das eine, aber dann noch den Meeresboden anheben und die Landbrücke wiederherstellen? Das wäre wahrhaft erstaunlich. Es würde die Welt so grundlegend verändern, dass er es kaum gedanklich fassen konnte.
Gurvon ließ seinen Blick durch den Raum wandern und überlegte, was jeder der Anwesenden zu gewinnen hatte.
Belonius Vult, sein sogenannter Freund. Bel fand sich bestens am Hof zurecht und arbeitete zweifellos bereits daran, eine wichtigere Rolle zu spielen. Schließlich brauchte der Kaiser Sondergesandte und Legaten, sobald der Kriegszug begann.
Für Tomas Betillon und Kaltus Korion bot sich eine weitere Gelegenheit, ihre bereits übervollen Schatzkammern mit noch mehr Beutegold zu füllen. Aber wird Korion sich einem jungen – und unreifen – Kaiser unterordnen?
Calan Dubrayle war schwer in die Karten zu schauen. Der Schatzmeister hatte allerdings Verbindungen zu Belonius offenbart, von denen niemand etwas geahnt hatte. Kriege kamen den Staat bekanntlich teuer zu stehen, während sich wenige bereicherten, die an den richtigen Stellen saßen. Auf wessen Seite Dubrayle letztlich stand, schien Gurvon mehr als fraglich.
Erzprälat Dominius Wurther hatte sich bedeckt gehalten. Wenn er sich einmischte, dann nur, um die Dinge unnötig zu verkomplizieren. Er spielte unbeirrt die Rolle des frommen Kirchenmanns, auch wenn er den anderen damit auf die Nerven ging. Es war verlockend, ihn als Hornochsen abzuschreiben, aber ein Narr wäre niemals in der Kirchenhierarchie so hoch aufgestiegen. Auch er verfolgt seine ganz eigenen Ziele, da bin ich sicher.
Widerstrebend wandte Gurvon sich dem Nächsten zu: Ervyn Naxius. Der greise Ordo-Costruo-Verräter nickte ständig vor sich hin wie ein seniler Trottel, aber als ihre Blicke sich begegneten, sah Gurvon die eiskalte Verschlagenheit in Naxius’ Augen. Wie viel von Bels Anteil an dem Plan stammt in Wirklichkeit von Naxius?, überlegte er, weiter freundlich lächelnd.
Schließlich konzentrierte er sich auf Kaiser Constant und dessen Mutter Lucia, und zwar auf beide zusammen. Alles andere hatte keinen Sinn: Ohne Lucias Führung konnte Constant nicht herrschen, und ohne ihren Sohn, den Kaiser, hatte Lucia keinerlei Handhabe am Hof. Wenn dieser Plan aufging, würden die beiden zu unermesslicher Macht aufsteigen und Herrscher über Yuros und Antiopia werden. Keine angenehme Vorstellung für Gurvon, im Gegensatz zu der versprochenen Belohnung: genug Gold für den Rest seines Lebens. Oh ja, Verbrechen zahlte sich aus, wenn man es richtig anstellte. Aber was ihn wirklich lockte, waren die Dinge, die er mit Geld nicht kaufen konnte, zumindest nicht offiziell: Immunität vor dem Gesetz und ein Adelstitel, der ihn endlich in die Aristokratie erhob. Mit einem Streich würde er zu den Großen im Reich gehören, ausgestattet mit so viel Autorität, dass die alteingesessenen Reinblut-Familien wenigstens so tun mussten, als respektierten sie ihn. Zwar würde Elena nicht mit ihm in das Herrenhaus am Seeufer einziehen, von dem sie immer geträumt hatten, aber … Nun, es gab auch noch andere Frauen auf der Welt.
Betillons raue Stimme durchbrach die Stille. »Ich habe eine Frage«, sagte er und sah dabei Lucia an. »Wir alle wissen, dass der Kaiser unantastbar sein wird, sobald es vollbracht ist, und wir alle sind glücklich darüber. Aber was springt für uns dabei heraus, für uns alle hier im Raum?«
Gurvon horchte auf. Betillon brüstete sich gerne damit, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, aber das war selbst für ihn gewagt.
Lucia bedachte den Gouverneur von Hebusal mit einem amüsiert-überraschten Blick, was Gurvon sofort misstrauisch machte. Lucia war selten überrascht oder gar amüsiert.
»Ach, Tomas«, erwiderte sie seufzend. »Geldgierig und egoistisch wie immer.«
»Spart Euch die Worte, Lucia! Seht Euch doch um: Alle hier im Raum sind käuflich, jeder Einzelne von uns! Wir alle verfolgen unseren eigenen Vorteil, und wir wollen aufsteigen, genau wie Ihr es tun werdet. Deshalb sind wir hier und stellen uns in Euren Dienst! Alle wissen das, ich bin nur der Einzige, der die Eier hat, es auszusprechen!«
»Wenn es Eier braucht, um zu reden wie ein Strauchdieb, bin ich froh, dass ich keine habe«, gab Lucia zurück. »Was, glaubt Ihr, hättet Ihr denn als Dreingabe verdient, werter Tomas? Genügt Euch die versprochene Bezahlung nicht?«
»Die Aszendenz«, antwortete Betillon rundheraus, und es wurde schlagartig wieder still im Raum. Es war eine andere Stille als zuvor. Alle waren entsetzt – und mehr als nur ein wenig neugierig.
Die Aszendenz! Bei allen Hel-Huren … Gurvon merkte, dass ihm der Mund offenstand, und schloss ihn sofort. Oh ja, das wäre was.
»Unser ganzes Leben lang wurde uns die Skytale des Corineus wie eine Karotte vor die Nase gehalten«, fuhr Betillon fort. »Sei ein guter, treuer Diener, der Kaiser wird es dir vergelten, hieß es! Nun, hier stehen wir und bieten Euch die Welt auf einem Silbertablett dar. Wer hätte die Aszendenz verdient, wenn nicht wir?«
Kaltus Korion nickte, und die anderen, die es nicht wagten, sich Lucia so direkt zu offenbaren, schienen zumindest sehr interessiert.
»Mein geschätzter Tomas, nicht einmal mir wurde die Aszendenz zuteil«, erwiderte Lucia gemessen.
»Aber weshalb?« Betillon schaute sie verwirrt an, und vielleicht war er es tatsächlich. »Ihr seid eine Lebende Heilige, Mater-Imperia. Wenn jemandem diese Ehre gebührt, dann doch wohl Euch?«
Eine verdammt gute Frage, auch wenn ich sie selbst wahrscheinlich nicht stellen würde.
»Die Hüter entscheiden darüber, wer erhoben wird, nicht ich«, antwortete Lucia, die das Thema anscheinend beenden wollte. Die Hüter, jene geheimnisumwobene Gruppe noch lebender Aszendenten, unterstanden niemandem, nicht einmal dem Kaiser. Ihre einzige Funktion im Staat war, die Skytale zu bewahren und zu schützen.
»Versucht nicht, uns mit diesem Unsinn abzuspeisen«, fuhr Betillon auf. »Wenn wir ganz Urte für unseren Kaiser erobern, ist die Aszendenz das Mindeste, was wir verdienen!« Er schaute auffordernd in die Runde. Wieder war es lediglich Korion, der nickte; sein Blick wirkte allerdings, als fürchtete er schon jetzt, zu weit gegangen zu sein.
Gurvon schaute hinüber zu Belonius, der einen eigenartigen Gesichtsausdruck zur Schau trug. Als wüsste er etwas, das von großer Bedeutung hierfür war. Ich muss ihn danach fragen …
»Ich bin sicher, dass die Hüter darüber nachdenken werden, sollte der Plan gelingen«, erwiderte Lucia kühl.
»Das möchte ich aus dem Mund eines Hüters hören«, erklärte Betillon. Korion legte ihm warnend eine Hand auf den Arm.
Lucia blickte ihm fest in die Augen. »Genug, Tomas. Die Hüter stehen über allem. Die Entscheidung liegt nicht bei mir.«
Die Spannung hielt noch ein paar Momente an, dann lehnte Betillon sich mit einem leisen Murmeln zurück.
Gurvon beobachtete Lucias Augen genau. Sie verschweigt etwas … Und Betillon bekommt ein Messer in den Rücken, sobald die Umstände es zulassen.
»Mutter, wir werden bald in der Kapelle erwartet«, warf Constant ein. »Sind wir hier fertig?«
»Ja, das sind wir«, antwortete die Kaiserinmutter entschlossen, und alle atmeten auf. »Meine Herren, danke für Eure Zeit. Ich möchte vor allem Gouverneur Vult und Magister Gyle meinen Dank aussprechen. Durch ihre Bemühungen verfügen wir nun über eine Kriegslist, die uns zum Sieg führen wird. Der Dank des Kaisers ist ihnen gewiss.«
Betillon, Korion und Dubrayle nickten leicht, Naxius lächelte gütig. Constant sah aus, als müsste er dringend pinkeln.
Die Diener brachten frischen Wein, und alle erhoben sich. Betillon und Korion vertieften sich sofort in ein Gespräch. Wurther brachte so viel Abstand wie möglich zwischen sich, Naxius und Dubrayle, und Constant verließ eilig den Raum, während Lucia sich zu Gurvon und Vult gesellte.
Vult hauchte ihr ehrfürchtig einen Kuss auf die Hand, und Gurvon verneigte sich ehrerbietig.
»Wir alle sind sehr beeindruckt«, begann Lucia. »Die anderen, vor allem Kaltus und Tomas, mögen es sich nicht anmerken lassen, aber ohne ihre rückhaltlose Unterstützung hätten wir Euren Plan niemals umgesetzt. Dass Männer immer untereinander konkurrieren müssen …«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu, als wäre das weibliche Geschlecht in dieser Hinsicht auch nur einen Deut besser.
»Wir sind stolz, dem Haus Sacrecour einen Dienst zu erweisen«, erwiderte Vult anbiedernd.
»Und das Haus Sacrecour dankt Euch beiden zutiefst dafür. Das gilt auch für meinen Sohn.«
»Er kann sich glücklich schätzen, Euch als Beraterin zu haben«, erwiderte Gurvon taktvoll. Ohne Euch wäre er keine Stunde lang mehr Kaiser, sagte er nicht dazu.
Lucia lächelte aufrichtig, zumindest beinahe, denn selbstverständlich durchschaute sie ihn. »Die Rimonischen Kaiser hatten immer einen Sklaven, dessen einzige Aufgabe es war, ihnen jede Stunde ins Ohr zu flüstern: Bedenke, dass auch du nur ein Mensch bist. Natürlich hat der erste Magus-Kaiser den Brauch sofort wieder abgeschafft, aber manchmal frage ich mich, ob wir ihn nicht doch wieder einführen sollten.«
»Solange der Kaiser Euch an seiner Seite hat, sehe ich keinen Grund dafür, edle Lucia«, erwiderte Vult.
Die Worte waren zweifellos als Kompliment gemeint, doch Gurvon sah noch andere Deutungsmöglichkeiten; als er Lucias Blick auffing, wusste er, dass es ihr ebenso ging. Mit der gefährlichsten Frau Urtes einen stummen Moment des Einverständnisses zu teilen jagte ihm einen Schauder über den Rücken. Selbst Corinea würde vor Lucia Sacrecour die Flucht ergreifen, überlegte er, dann drängte sich ein zweiter Gedanke ungebeten in den Vordergrund. Gurvon hatte keine Ahnung, woher er so plötzlich kam. Ich frage mich, wie es wäre, das Bett mit ihr zu teilen.
Lucia neigte kokett den Kopf, dann wurde ihr Blick wieder kühl.
Ich werde es wohl nie herausfinden.
»Nun, meine Herren«, sagte sie in die Runde. »Wie Ihr wisst, habe ich eine gewisse Affinität zur Divination. Während unserer Besprechung hatte ich die spontane Vision, dass alle, die bis zum Ende dabeibleiben, nach der Mondflut als Wegbereiter einer neuen Ära in die Geschichte eingehen werden. Als Herolde eines Kaiserreichs, das sich über ganz Urte erstreckt.«
Gurvon ließ sich von einem der Diener einen gefüllten Kelch reichen. »Darauf trinke ich, Euer Heiligkeit«, sagte er und leerte den wohlschmeckenden, beruhigenden Alkohol in einem Zug. Das war nötig.
»Seht Euch um«, sprach Lucia weiter. »Gemeinsam mit diesen Männern werdet Ihr über Urte herrschen … Und natürlich mit meinem Sohn«, fügte sie hinzu, als hätte sie es beinahe vergessen. »Sie werden Euresgleichen sein, also pflegt guten Umgang mit ihnen«, sagte sie zum Abschied mit einem Nicken.
Dann schaute sie Gurvon ein letztes Mal in die Augen. Magister Gyle, Betillon wird für seine Impertinenz bezahlen. Seht gut hin, wenn es passiert, und lernt daraus.
Gurvon verneigte sich stumm.
Lucia verließ den Raum, Bel und Gurv atmeten still auf und ließen ihre Kelche klingen.
Bel übernahm den Trinkspruch: »Jeder, der etwas von Divination versteht, weiß, dass die spontanen Visionen die verlässlichsten sind. Ich glaube, Lucia hat recht: In drei Jahren, wenn die Mondflut vorüber ist, werden wir alle unsterblich sein.«
Ein kleiner Rückschlag
Zauberei: Divination
Ob ich in die Zukunft sehen kann? Selbstverständlich, ich sehe Tausende Zukünfte! Es ist die Schwierigkeit, die richtige zu finden, die einen in die Trinkerei treibt!
Cyrilla Setterberg, argundische Weissagerin und Brauerin, 866
In der Nähe von Forensa, Javon, AntiopiaSafar (Februx) 930Zwanzigster Monat der Mondflut
Gurvon war nachdenklicher Stimmung. Er dachte an Vults Trinkspruch, nachdem sie ihren Plan vorgestellt hatten, damals in Pallas vor beinahe drei Jahren. Du hast also geglaubt, du würdest in die Unsterblichkeit eingehen, Bel …
Vult war von vielen gehasst und von niemandem geliebt worden. Sein Plan trug erste Früchte, aber er selbst war nicht mehr dabei und über Lob und Tadel erhaben. Gurvon hatte schon vor Längerem von Bels Tod erfahren und trauerte ihm nicht nach.
Viel wichtiger schien ihm Lucias stummer Abschiedsgruß: Magister Gyle, Betillon wird für seine Impertinenz bezahlen. Seht gut hin, wenn es passiert, und lernt daraus. Er fragte sich, ob die Kaiserinmutter vielleicht mehr als nur eine gewisse Affinität zur Divination hatte, denn hier standen sie nun, er und Betillon. Die Schlacht um Forensa lag erst drei Tage zurück, doch Betillons Bitten um Verstärkung stießen auf taube Ohren: Es war so weit.
Gurvons Lager lag sechs Meilen östlich von Riban. Die Überlebenden von Has Frikters Argundiern hielten sich ebenfalls hier auf, lediglich sechs seiner achtzehn Schlachtmagi waren heil davongekommen, nachdem Elena und ihre Verbündeten in den Kampf eingegriffen hatten. Von Has selbst fehlte jede Spur. Mit tödlicher Präzision hatte Elena sich auf die Söldner-Magi konzentriert, und laut Gurvons Spionen war es der Dorobonen-Legion, die irgendwo nördlich von Riban lagerte, noch viel schlechter ergangen. Seir Roland Hale war nach wie vor ihr Kommandant, aber die Hälfte seiner Männer hatte er tot oder in Gefangenschaft zurücklassen müssen. Die am Angriff auf Forensa beteiligten Harkun hielten Hale zwar noch die Treue, aber sie plünderten bereits die umliegenden Dörfer, um sich mit Verpflegung zu versorgen, und hinterließen dort weitere Schlachtfelder.
Was für ein verfluchter Schlamassel.
Um die Situation zu retten, hatte Gurvon ein Dutzend Gnosisstäbe verbraucht und in ganz Javon um Hilfe ersucht. Somit war es keine Überraschung, als die Wachglocke läutete und am westlichen Horizont ein rondelmarisches Kriegsschiff auftauchte. Gurvon wusste seit Stunden davon, doch einer der Argundier schimpfte: »Wenn sie vor drei Tagen gekommen wären, stünden wir jetzt wahrscheinlich besser da.«
»Betillon dachte, wir bräuchten sie nicht«, erklärte Gurvon dem Soldaten, um wenigstens einen Teil der Schuld für das Desaster auf jemand anderen abzuwälzen.
Und trotzdem machen seine Männer allein mich verantwortlich. Schließlich war er es gewesen, der Has davon überzeugt hatte, Forensa würde ihnen in die Hände fallen wie eine reife Pflaume. Doch dann war es Elena irgendwie gelungen, ihnen eine vernichtende Niederlage beizubringen.
Kein guter Einstieg, aber Rückschläge passieren nun mal. Es kommt darauf an, wie man sich davon erholt. Das ist es, was Gewinner von Verlierern unterscheidet …
Er blendete das Gemurmel der Soldaten aus und ging dem landenden Schiff entgegen. Wie Spinnenbeine ragten die unter dem Gewicht nachgebenden Landestützen aus dem Rumpf. Die Venatoren der aus zwei berittenen Kirkegar bestehenden Eskorte setzten direkt daneben auf und schnappten fauchend in Richtung der gaffenden Söldner.
An der Reling tauchte Tomas Betillons unrasiertes Gesicht auf. Es war ihre erste Begegnung seit der Katastrophe, und seine Augen verengten sich sogleich zu Schlitzen. Nachdem Gurvon die Gnosisstäbe ausgegangen waren, hatte Betillon keinen weiteren Versuch unternommen, mit ihm in Kontakt zu treten.
Der Schlächter von Knebb schwebte herab und kam mit langen Schritten und geballten Fäusten auf Gurvon zu.
»Wohlan, Gouverneur!«, rief Gurvon herzlich und fügte stumm hinzu: Tomas, die Männer haben Angst. Bleibt ruhig.
Ruhig? Ihr könnt mich mal, Gyle! Was, bei Hel, ist hier passiert? Wenigstens äußerlich gab Betillon sich gelassen und grüßte die Argundier kameradschaftlich, dann schüttelte er Gurvon die Hand, wenn auch widerwillig. »Wie konntet ihr diesen Kampf verlieren?«, fragte er leise.
»Bitte, kommt in mein Zelt und erfrischt Euch, Herr. Die Offiziere erwarten Euch«, antwortete Gurvon laut und flüsterte dann: »Drinnen können wir offen sprechen.«
»Und das werden wir auch«, zischte Betillon zurück und ließ sich ins Kommandozelt führen. Frikters Magi standen bereit, neben ihnen Gurvons eigene Leute: Rutt Sordell, wie immer, mittlerweile verstärkt durch Sylas, Brossian, Drexel und Veritia, alle erst vor Kurzem angekommen. Mehr war vom Kern seiner Grauen Füchse nicht mehr übrig. Gurvon hatte sie von ihren Einsätzen in Yuros abgezogen, weil er hier dringend mehr Leute brauchte. Staria Canestos sowie Leopollo, ihr Adoptivsohn und Erbe, waren ebenfalls dabei. An der Rückseite des Zeltes standen weitere sieben Neulinge.
Betillon war ebenfalls nicht allein gekommen. Lann Wilfort, Großmeister der Kirkegar, und sechs seiner Ritter begleiteten ihn, außerdem ein grobschlächtiger Pallacier namens Kinnaut – Betillons Meisterspion. Die Begrüßung fiel kurz aus, alle nahmen einen Schluck Bier – Wein gab es nicht –, dann wurden die Diener nach draußen geschickt, und Betillon legte sofort los.
»Ihr habt uns tief in die Scheiße geritten, Gyle. Das ist alles Eure Schuld! Dabei seid Ihr das angebliche Genie hinter diesem Plan. Wie, bei Hel, konntet Ihr Euch so von den Noori täuschen lassen?«
»Weil etwas vollkommen Unerklärliches passiert ist«, gab Gurvon genauso gereizt zurück. »Mitglieder des Ordo Costruo, die offiziell tot oder Gefangene der Hadischa waren, haben in die Schlacht eingegriffen! Wer hätte das voraussehen können?« Er deutete mit dem Finger auf Kinnaut. »Nicht einmal er hat etwas davon geahnt, wahrscheinlich nicht einmal Kore selbst!«
»Das behauptet Ihr!«, brüllte Betillon zurück. »Aber Elena Anborn wusste Bescheid!«
»Und ich habe nicht die geringste Ahnung, woher!«
»Habt Ihr nicht?«
»Nein, verdammt! Sie ist meine Feindin! Etwas anderes zu behaupten, nachdem sie mir einen solchen Strich durch die Rechnung gemacht hat, ist lächerlich!«
»Hört, hört.« Betillon zog ein Pergament aus seinem Umhang. »Ich habe einen Haftbefehl gegen Euch, unterzeichnet von Kaiser Constant persönlich.« Auf eine Geste Betillons hin zogen seine Männer die Schwerter. »Er sagt, wir brauchen Euch nicht mehr.«
Gurvons Gefolgsleute zogen ebenfalls blank, aber noch versuchte niemand etwas. Gut. »Ihr wisst sehr gut, dass Ihr mich braucht«, entgegnete er. »Wenn wir nicht zusammenstehen, fallen wir alleine. Forensa hat das deutlich gezeigt! Ich nehme an, dieser Haftbefehl war Constants Idee. Lucia käme niemals auf eine solche Torheit.«
Betillon legte das Pergament auf den Tisch und nahm einen Schluck von seinem Bier. »Ganz recht, der Befehl kommt von Constant. Er ist der Kaiser, und mir fällt die Aufgabe zu, ihn auszuführen.« Er zuckte die Achseln. »Nur, damit Ihr Bescheid wisst: Ich hätte es schon vor Monaten getan.«
»Wenn wir untereinander kämpfen, nutzt das nur Elena und den Nesti.«
»Wer hat etwas von einem Kampf gesagt? Ich werde Euch hinrichten, Gyle, außerdem jeden, der versucht, Euch zu beschützen.«
Gurvons Blick sprang zwischen den beiden Gruppen hin und her. Aufseiten der Kirkegar kannte er lediglich Wilfort, aber seine Ritter waren bestimmt ebenfalls nicht zu unterschätzen. Gurvon selbst hatte Sylas, Drexel, Veritia, Sordell sowie Brossian, auf die er zählen konnte, aber was Staria und Leopollo betraf, hatte er Zweifel, und zu wem Frikters Leute halten würden, war auch nicht sicher. Theoretisch stand das Zahlenverhältnis somit zwölf zu acht zu Gurvons Gunsten, aber Betillon hatte eindeutig die besseren Kämpfer mitgebracht.
Wenn auch nur einer hier mich hintergeht, gibt es ein Blutbad, und ich bin mittendrin …
»Zerreißt den Haftbefehl, Tomas. Wir können uns keine Uneinigkeit leisten.«
»Ich bin ganz Eurer Meinung«, erwiderte Betillon gelassen. »Seht Euch um: zwei Heere, durch Euren persönlichen Ehrgeiz geteilt. Sobald wir Euch los sind, gibt es nur noch ein Kaiserliches Heer, das diesen Noori-Aufstand niederschlagen wird.«
Gurvon holte tief Luft. »Ich gebe Euch eine letzte Chance, Tomas«, sagte er mit fester Stimme, aber Betillon reagierte nicht. »Sicherlich habt Ihr schon einmal davon gehört, dass kaiserliche Erlasse auch durch Mystizismus an den Schreiber übertragen werden können«, fuhr er schließlich fort. »Genau das hat die Mater-Imperia Lucia vor einer Stunde getan. Die Schreiberin war Veritia, die hier neben mir steht.« Er zog ein aufgerolltes Schriftstück aus seinem Ärmel. »Ich setze Euch hiermit darüber in Kenntnis, was die Lebende Heilige mir übermittelte: einen Haftbefehl auf Euren Namen, unterzeichnet von der Kaiserinmutter selbst.« Er entrollte das Dokument und legte es über Betillons Haftbefehl. »Ich würde meinen, dass ich es bin, der nun den Trumpf in den Händen hält.«
Betillons Augen sahen aus, als wollten sie aus den Höhlen treten. »Das ist ein Trick, eine Eurer Fälschungen! Ich sehe kein Siegel. Beweist mir, dass das Dokument echt ist!«
»Das ist bereits geschehen. Jeder, der Bescheid wissen musste, wurde von Lucia persönlich informiert.« Auf ein Nicken von Gurvon hin zog Großmeister Wilfort seinen Dolch und rammte ihn Betillon von hinten in den Oberschenkel.
Der Gouverneur schrie auf und klammerte sich keuchend am Tisch fest. Einer von Wilforts Rittern, der seine ganz besondere Treue unter Beweis stellen wollte, schlug mit dem Schwert auf Betillon ein. Die Klinge ging durch sämtliche Wächter und schnitt tief in Tomas’ Schulter.
Der Schlächter von Knebb stürzte auf die Seite. In dem Versuch, seine Organe zu schützen, rollte er sich zusammen wie ein Kind, während sich der Teppich unter ihm rot verfärbte.
Gurvon beugte sich über ihn. Erinnert Ihr Euch noch an unser letztes Treffen in Pallas, als Ihr versucht habt, Lucia Euren Willen aufzuzwingen? Seit jenem Tag war Euer Schicksal besiegelt. Das ist das wahre Gesicht der Heiligen, auf die Ihr alle so große Stücke haltet.
Betillon kämpfte röchelnd gegen den Schmerz an, hielt sich den verwundeten Arm und sammelte seine Gnosis, um zum Gegenschlag auszuholen.
Gurvon hob den Fuß und trat fest auf Betillons Schulter.
Betillon schrie auf, und seine Schilde brachen zusammen.
»Habt Ihr noch etwas zu sagen, Schlächter?«
»Ich habe nur getan, was mir befohlen wurde«, röchelte er.
»Exakt, Tomas: zu wenig Eigeninitiative, kombiniert mit zu viel Ehrgeiz. Das hat der Krone noch nie gereicht.« Außerdem bist du ein geisteskranker Massenmörder. Gurvon zog seinen Dolch und rammte ihn Betillon unters Kinn. Was du in Knebb angerichtet hast, hat mich zu dem gemacht, was ich bin, Tomas. Noch heute habe ich das Blut vor Augen.
Der verwirrte Blick des Schlächters sagte Gurvon, dass er nicht begriffen hatte, also räumte er die letzten Zweifel aus. Die Sache ist die, Tomas: Niemand mag dich. Du bist ein Sadist, der nichts kann, als anderen Angst zu machen. Aber damit kommt man nicht weit, denn früher oder später verschwören sich die Bedrohten gegen einen. Er wackelte mit dem Zeigefinger. Lucia fürchtet, ihr hättet euch gegen ihren Sohn verschworen, du und Kaltus. Bei mir hingegen weiß sie immer, woran sie ist: Ich bin nur ein kleiner, gieriger Scheißkerl, der gerne in einem Palast wohnen würde. Und weißt du was? Ich glaube, Lucia mag mich. Er setzte ein triumphierendes Lächeln auf. Muss sie wohl, wenn sie mir das hier erlaubt.
Mit einem Ruck trieb er die Spitze seines Dolchs bis unter Betillons Schädeldecke. Die Augen des in Noros und Hebusal meistgehassten Mannes rollten nach hinten, alle Spannung wich aus seinem Körper, und das Zelt füllte sich mit dem Gestank entleerter Eingeweide.
Selbst im Tod gibst du nur Scheiße von dir, Tomas. Gurvon wischte seine Klinge am Wams des Gouverneurs ab und bedankte sich mit einem Nicken bei seinen Leuten. Dann stand er auf und streckte Großmeister Wilfort die Hand entgegen. »Danke, Lann. Es ist mir eine Freude, Euch persönlich kennenzulernen.«
Der narbengesichtige Kirkegar schlug zögernd ein und musterte Gurvon. Sie hatten beide erst vor einer Stunde erfahren, dass sie in dieser Sache Verbündete waren. Lucia und Wurther waren persönlich mit ihnen in Kontakt getreten, um sie zu informieren.
»Ihr scheint hoch in Pallas’ Gunst zu stehen, Gyle«, sagte Wilfort schließlich. »Kore allein weiß, warum und wie Ihr das geschafft habt.«
»Zerbrecht Euch darüber nicht den Kopf, Großmeister, es ist kein Geheimnis: Nach Forensa war klar, dass wir zusammenrücken müssen. Das Problem war, dass meine Leute sich um kein Geld der Welt Betillon unterstellen wollten, wohingegen Ihr und das Haus Dorobon Lucia bereitwillig jeden Wunsch erfüllt. Das machte die Entscheidung denkbar einfach.«
Gurvon hatte außerdem auf seinen letzten Sold verzichten müssen, aber er wäre ohnehin in Kaiserlichen Schuldscheinen ausbezahlt worden, und er bezweifelte, dass die Scheine überhaupt das Pergament wert waren, auf das sie geschrieben waren.
»Ihr seid Euch bewusst, dass meine Treue zuallererst der Kirche Kores gehört?«, fragte Wilfort kühl.
»Selbstverständlich.« Gurvon lächelte. »An Feiertagen gehe ich selbst in die Kirche, wenn ich kann. Wie ich gehört habe, seid Ihr der zukünftige Prälat von Javon. Ich freue mich auf eine lange Zusammenarbeit mit Euch.«
Beide dachten einen Moment lang über ihre neue Allianz nach, während sie Tomas Betillons Leiche musterten.
Tja, noch ein »Unsterblicher« weniger. Gurvon wandte sich an den Rest der Anwesenden. »Nun, meine Herren, können wir uns endlich den Details zuwenden? Wenn jetzt jemand bitte so freundlich wäre, die Leiche da vom Teppich zu entfernen …«
Das leise Gelächter lockerte die Anspannung, und wenige Minuten später waren alle voll bei der Sache, ganz wie es sich für eine Bande erfahrener Verschwörer gehörte.
An einigen Punkten hakte es natürlich. Wilfort und seine Kirkegar konnten mit ihrer Abscheu gegenüber Starias Leuten nicht hinterm Berg halten; schließlich bot Gurvon als Kompromiss an, dass die Sacro Estellayne für weitere zwei Jahre auf der Hochebene bleiben würde. Das gefiel Staria zwar nicht, aber sie war nicht in der Position, abzulehnen. Außerdem musste Gurvon eine Amnestie für Drexel erbitten, der einst einen Inquisitor getötet hatte. Nachdem das erledigt war, wurden die restlichen argundischen Schlachtmagi ins Zelt geholt. Sie hatten Betillons Leiche bereits gesehen und keinerlei Einwände. Der Rest der Besprechung verlief reibungslos und einstimmig.
»Das nächste Mal, wenn wir gegen die Javonier ziehen, werden die Dinge anders laufen«, erklärte Gurvon. »Es wird nur ein Kommandozelt geben, nicht zwei. Die Schlacht wird an einem Ort stattfinden, den wir bestimmen, und wir werden es sein, die die Überraschungen für den Feind bereithalten. Forensa war ein kleiner Rückschlag, aber wir werden gewinnen, das verspreche ich Euch.«
Staria Canestos zog die Augenbrauen hoch. »Du versprichst es? Ungewöhnlich für einen Mann deines Rufes.«
»Nichtsdestotrotz tue ich es«, erwiderte er an die Runde gewandt. »Denn wir werden das gesamte Harkun-Volk miteinbeziehen: Wir lassen sie auf ihre verhassten Landsleute los.«
Er sah, wie Staria ein entsetztes Luftholen unterdrückte und einen Blick mit Leopollo austauschte.
»In Forensa hätten wir gut auf ihre sogenannte Unterstützung verzichten können«, kommentierte Wilfort.
»Ganz im Gegenteil. Mit ihrer Hilfe konnten wir eine Abnutzungsschlacht führen. Wir hätten sie um ein Haar gewonnen – wegen der Harkun. Verloren haben wir nur wegen des Ordo Costruo.«
»Gurvon, die Harkun sind Wilde«, warf Staria ein. »Sie werden uns viel größere Probleme machen als die Jhafi.«
»Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist.« Genug jetzt, Staria!, fügte er stumm hinzu, bevor sie etwas erwidern konnte.
Gurvon, sie hassen uns!
Sie mögen deine Leute hassen, aber die Jhafi hassen sie noch mehr. Und lass mich endlich mit deinen Bedenken in Ruhe! Du hast dich bereit erklärt herzukommen, und zwar zu meinen Bedingungen. Das heißt, wir stehen oder fallen gemeinsam, also erfülle gefälligst deinen Teil der Abmachung!
Wie Ihr wünscht, Majestät, erwiderte Staria sarkastisch.
Gurvon bedachte sie mit einem kühlen Blick, dann wandte er sich wieder den anderen zu. »Nachdem das geklärt wäre, wenden wir uns nun den wirklich wichtigen Dingen zu: Wir müssen ein Heer aufstellen und einen Krieg gewinnen.«
Forensa, Javon, AntiopiaSafar (Februx) bis Awwal (Martris) 930Zwanzigster und einundzwanzigster Monat der Mondflut
Kazim möchte ein Kind mit mir. Elena hatte nicht gewusst, was sie darauf erwidern sollte. Sie verstand seinen Wunsch – das Verlangen, etwas anderes in die Welt zu bringen als nur den Tod. Als er ihn laut ausgesprochen hatte, hatte ein Teil von ihr, der bisher stumm gewesen war wie ein Grab, regelrecht zu singen begonnen: ein durchdringendes Lied von Liebe, das Elena die Tränen in die Augen trieb. Es fühlte sich richtig an. Mit keinem anderen Mann war es ihr je so ergangen.
Dann waren die Zweifel gekommen. Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch Kinder bekommen konnte. Manchmal blutete sie nur sehr schwach, und Magi wurden auch so schon nur sehr schwer schwanger, vor allem wenn sie einmal über zwanzig waren. Außerdem war er ein Dokken. Sie hatte keine Ahnung, was für ein Kind aus einer solchen Verbindung hervorgehen würde – und was mit ihr selbst passieren würde. Würde sie werden wie Kazim? Könnte eine Schwangerschaft das einzigartige Band zwischen ihnen zerstören? Konnte Kazim überhaupt Kinder zeugen? Womöglich war er so gut wie unfruchtbar wie alle Magi von hohem Blutrang. Bisher hatten sie eine Schwangerschaft bewusst vermieden, weshalb Elena auf keine dieser Fragen eine Antwort wusste.
Was, wenn es schon bald passiert? Die Mondflut dauerte noch vier Monate, während derer sie jeden Morgen mit Übelkeit erwachen würde. Und dann der dicke Bauch … Elena versuchte sich vorzustellen, wie sie sich den Rest des Kriegszugs passiv im Hintergrund hielt, ohne eingreifen zu können. Vielleicht war es klüger, das Ende der Mondflut abzuwarten.
Nur dass es diesmal nicht das Ende der Kämpfe bedeuten würde. Diesmal würden die Rondelmarer nicht mehr aus Javon abziehen, und wann der Krieg endete – oder ob überhaupt –, war ungewiss. Und was, wenn ich Kazim verliere? Allein der Gedanke ließ sie erstarren. Elena konnte sich nicht einmal vorstellen, wie sie es ertragen sollte, von ihm getrennt zu sein. Es wäre wie eine Amputation.
Seufzend trank sie einen Schluck Wein und wartete darauf, dass Kazim von den Bädern unterhalb des Palasts zurückkehrte, frisch gewaschen und bereit für ihre Antwort. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, eine große rötliche Scheibe, die im Rauch der Kochfeuer flimmerte. Die Gottessänger riefen die Menschen mit ihrem Lied zum Gebet, und die Glöckner der Sollan-Kirchen stimmten mit ein. Der schwüle, beruhigende Dunst der Stadt umfing sie und ließ sie trotz all ihrer Sorgen schläfrig werden. Als sie Kazim schließlich hereinkommen hörte, fühlte Elena sich matt und bereit.
Bereit für einen kleinen Tanz im Bett … aber ein Kind zeugen?
Dass er die Entscheidung ihr überließ, war wundervoll. In Yuros wie in Antiopia herrschte das ungeschriebene Gesetz, dass der Mann bestimmte, ob und wann seine Frau schwanger wurde. Kazim war im gleichen Geist erzogen worden, doch er wartete ab.
Elena trank den Kelch leer und trat durch den hauchfeinen Vorhang. Der Anblick, der sich ihr bot, verschlug ihr den Atem: Kazim lag auf dem Bett wie ein lantrischer Gott, der vom Heiligen Berg herabgestiegen war, um eine Sterbliche zu verführen.
Sie zog sich vor seinen Augen aus, fühlte sich begehrt wie eine Nymphe, kroch zu ihm, trank seine Lippen, streichelte seine Brust und den Bauch, ließ ihn wissen, wie sehr auch sie ihn begehrte, und ließ ihn an sich saugen, bis ihre Säfte flossen. Dann nahm sie seinen Penis und führte ihn zwischen ihre Beine.
»Bist du sicher?«, flüsterte er mit leuchtenden Augen.
»Ja«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich will ein Kind mit dir, Kazim.«
Als er in sie eindrang, spürte Elena ein beinahe erstickendes Glücksgefühl. Ihr Atem wurde schneller, ihr Herz füllte sich mit einer Wärme, so überwältigend, dass sie glaubte, sich in Kazim aufzulösen. Dann, als ihr Körper auf die Bewegungen von Kazims Becken reagierte, trat alles andere in den Hintergrund. Eine animalische Lust stieg in ihr auf, und Begehren wurde zu Brauchen.
Später, ihr Inneres glühte immer noch, lag sie auf der Seite und betrachtete den neben ihr schlafenden Kazim. Eigentlich sollte sie ebenfalls schlafen, doch ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Zum Teil lag es an der Gnosis: Etwas zerrte und zupfte an Elenas Bewusstsein, als beobachtete sie jemand. Dieser jemand versuchte, sie mit Spiritismus aufzuspüren, und musste darin sehr geschickt sein, denn er erreichte sie trotz der Wächter, die sie aufgestellt hatte. Elena wusste nicht, wem die tastenden Geistfühler gehörten, und schirmte sich ab, aber aus irgendeinem Grund war sie nicht sicher, ob sie den Kontakt nicht vielleicht besser zulassen sollte.
Sie ließ sich vom Bett gleiten und zuckte sogleich zusammen wegen des Schmerzes in ihrem Unterleib. Ihr Ja hatte Kazims Feuer nur noch mehr angefacht, immer wieder hatte er sie mit seinem Samen gefüllt, bis er vollkommen erschöpft war. Kein Wunder, dass er jetzt so fest schlief. Elena lächelte still. Sie kam sich vor wie eine Priesterin der Sollan, die den Fruchtbarkeitsritus vollzogen hatte, mit dem die Sonne Jahr für Jahr wiedergeboren wurde. Schließlich stand sie auf, wickelte sich das auf dem Boden liegende Laken um die Hüften und trat vor den Balkon. Die Türen waren geschlossen und mit Wächtern geschützt. Vorsichtig schickte sie ihren Geist aus.
Etwas bewegte sich. Jenseits der Wächter materialisierte sich eine Form auf dem Balkon, eine silbrig schimmernde Kugel, die allmählich menschliche Gestalt annahm. Ein geschmeidiger Körper mit einem Katzenkopf und grauem Fell hob die Hand zum Gruß – ein Spiratus, die geistige Projektion eines Magus, die jede beliebige Form annehmen konnte. Auch Elena verfügte über diese Fähigkeit, hatte sie aber schon lange nicht mehr benutzt. Zu Kriegszeiten den eigenen Körper zu verlassen war ein beträchtliches Risiko.
Sie beschwor ein Spiratus-Schwert. Für das bloße Auge war es unsichtbar, aber tödlich für eine Erscheinung wie die auf dem Balkon. Wer seid Ihr?
Magister Elena, nehme ich an,gurrte der Katzenmensch auf Rondelmarisch mit einem starken estellaynischen Akzent. Sein Tonfall war der eines äußerst selbstzufriedenen Mannes. Mein Name ist Capolio. Meine Herrin schickt mich, um Euch um ein Treffen zu bitten.
Starias Meisterspion … Elena lief eine Gänsehaut über den Rücken. Was will sie?
Verhandeln, edle Dame. Welche Nachricht darf ich ihr überbringen?
Elena musste einen Jubelschrei unterdrücken. Sagt Ihr, ich bin hocherfreut.
Die Begegnung fand eine Woche später statt, in einem kleinen Dom-al’Ahm oben auf den Hochebenen, der seit Jahrzehnten verlassen lag. In der verfallenen Kuppel nisteten Geier, es stank nach Vogelkot, aber der Ausblick, der sich von der Taqa – der zum Beten bestimmten Dachterrasse des Dom-al’Ahm – auf die Wüsten nordöstlich der Hochebene bot, war atemberaubend. Die Amteh beteten stets Richtung Hebusal, das irgendwo hinter dem Horizont lag.
Sie waren übereingekommen, dass jede Gruppe aus vier Mitgliedern bestehen sollte. Elena hatte Kazim dabei. Mit seiner Unterstützung würde sie mit jedem Hinterhalt fertigwerden. Außerdem Cera Nesti und Piero Inveglio, die die Verhandlungen führen würden. Starias Gruppe bestand ausschließlich aus Magi, was Kazim einige Sorgen bereitete.
»Ich glaube nicht, dass sie irgendwelche Tricks versuchen wird. Staria war immer geradeheraus«, erklärte Elena ihm. »Außer, man versucht, sie hinters Licht zu führen.«
»Und, hast du?«, fragte Kazim, während sie auf die andere Gruppe warteten. »Sie verraten, meine ich?«
»Nicht direkt.« Elena erinnerte sich. »Eine Frau aus ihrer Legion hat einmal versucht, mich zu verführen. Ich habe ihr den Kiefer gebrochen, aber ich glaube, das ist etwas anderes.«
Kazim runzelte die Stirn. Die Nachricht schien ihm nicht zu gefallen.
Aber er vertraut meinem Urteil und wird nichts Unüberlegtes tun.
»Diese Unterredung könnte alles ändern«, rief Elena ihren Begleitern ins Gedächtnis. »Ihre Leute sind genau wie alle anderen Menschen auch. Sie haben die gleichen Wünsche und Bedürfnisse, und wir brauchen sie.«
»Das genügt mir«, erwiderte Cera, aber Piero Inveglio verzog das Gesicht. Er war strenggläubiger Sollan und sehr konservativ. Die Vorstellung von zwei Söldnerlegionen, die offen als Frocios und Safias lebten, bereitete ihm größtes Unbehagen. Andererseits wollte er diesen Krieg auf keinen Fall verlieren.
»Sie kommen«, sagte Kazim und deutete auf ein Skiff. Es flog unterhalb der Hochebene knapp über dem Wüstenboden und landete in der Deckung der Ruine.
»Bitte zieht die Stiefel aus!«, rief Elena den Passagieren beim Aussteigen entgegen. »Wir befinden uns hier auf geweihtem Boden.« Elena und ihre Begleiter waren barfuß, darauf hatte sie bestanden. »Und lasst auch Waffen und Amulette zurück.«
Die Neuankömmlinge kletterten aus dem Skiff, legten demonstrativ ihre Halsketten ab, zogen die Stiefel aus und kamen auf sie zu. Elena hatte Staria lange nicht mehr gesehen, aber ihre Hakennase und der sehnige Körperbau hatten sich nicht verändert. Auch Starias Schultern wirkten noch so kräftig wie damals, genau wie das glänzend schwarze, lange Haar. Staria war ein Dreiviertelblut und nicht zu unterschätzen. Ihre Haut schimmerte bronzefarben, nur die Füße waren kalkweiß.
»Du solltest öfter barfuß gehen«, zog Elena sie freundschaftlich auf, als Starias Gruppe die Taqa betrat.
»Es gibt nur wenige Menschen, für die ich die Schuhe ausziehe«, erwiderte Staria mürrisch.
»Ich mache das ständig«, entgegnete Elena. »Liegt vielleicht daran, dass ich auf dem Land aufgewachsen bin.«
Staria zog eine Augenbraue hoch, dann stellte sie ihre Begleiter vor: Leopollo, ein unfassbar schöner junger Mann, der nichts als eine Weste über dem nackten Oberkörper trug, dazu eine Pluderhose aus Kesh. Jede yurische Theatertruppe hätte ihn sofort für die Rolle des fremdländischen Prinzen engagiert. Bei dem Mann neben ihm handelte es sich um Capolio, der den Kontakt hergestellt hatte. In Menschengestalt war er kahlrasiert und trug einen schwarzen Kinnbart. Die stämmige junge Frau mit dem streitbaren Gesichtsausdruck hieß Kordea. Sie war Starias Adoptivtochter und die Einzige in der Gruppe, die eine gewisse Feindseligkeit ausstrahlte.
Danach ergriff Elena wieder das Wort. »Staria, dies ist Cera Nesti, Königin-Regentin von Javon.«
Unter ihrem schwarzen Bekira trug Cera das Violett der Nesti. »Wir sind uns bereits begegnet«, sagte sie zu Staria. »Und wir auch«, fügte sie mit einem kühlen Blick in Leopollos Richtung hinzu. »In Brochena.«
Erst jetzt fiel Elena der blutige Zwischenfall am Bettlerhof wieder ein. Sie konnte Ceras Vorbehalte verstehen, aber diese Unterredung durfte sich auf keinen Fall in Streitereien über die Vergangenheit verlieren.
»Und das hier ist Comte Piero Inveglio«, warf sie hastig ein. »Er vertritt die Interessen eines großen Teils des Adels und hat als Mitglied des Regentschaftsrats jahrzehntelange Erfahrung in Staatsangelegenheiten.«
»Ich bitte Euch, Elena. Macht mich nicht älter, als ich bin«, sagte Inveglio bescheiden.
»Der junge Mann hier ist Kazim Makani. Er gehört zu mir«, fuhr Elena fort.
Leopollo lächelte erfreut, doch Staria erstarrte. »Er ist ein Seelentrinker!«
»El es un Diablo?«, fragte Leopollo erschrocken.
»Ja. Trotzdem gehört er zu mir«, antwortete Elena. »Hat jemand ein Problem damit?«
Staria wirkte aufrichtig schockiert; nach kurzem Zögern sagte sie: »Für dich ist es offensichtlich keines, Elena.«
»Nein. Seine Aura hast du ja bereits gesehen. Jetzt sieh dir meine an.«
Staria und ihre Begleiter schnappten laut nach Luft. Elena wusste, was sie sahen: Gnosisfühler, die die beiden miteinander verbanden, als wären sie ein und dasselbe Wesen.
»Ja, Ihr habt richtig gesehen«, bestätigte sie. »Vereinfacht gesagt, kann Kazim auf meine Gnosis zugreifen, als wäre es die seine. Seit wir ein Paar sind, musste er kein einziges Mal mehr töten, um seine Kräfte zu regenerieren.« Elena gab ihnen einen Moment, um das Gehörte zu verdauen, dann fügte sie hinzu: »Können wir nun fortfahren?«
Elena deutete auf die ausgebreiteten Decken. »Ich bedaure, aber wir werden auf dem Boden sitzen müssen. Unser Skiff ist zu klein, um Stühle und einen Tisch darin zu transportieren.«
»Das wird dazu beitragen, die Verhandlungen kurz zu halten«, merkte Inveglio spöttisch an.
Staria lachte. »Mein Hintern ist auch nicht besser gepolstert als Eurer, Comte.«
Sie ließen sich im Schneidersitz nieder und beäugten einander misstrauisch. Elena und Staria zogen eine Linie aus Wächtern zwischen den beiden Gruppen, die jede Benutzung der Gnosis sofort anzeigen und einen Überraschungsangriff zumindest abschwächen würden; eine für beide Seiten sinnvolle Vorsichtsmaßnahme, auch wenn Elena bis jetzt keinerlei Hinweise auf böse Absichten erkennen konnte.
»Nun«, begann Staria Canestos, »ich will ganz offen sprechen, um jedes Missverständnis von vornherein auszuschließen. Wahrscheinlich hat Elena Euch bereits über meine Legionen informiert, falls nicht« – ihr Blick sprang kurz zu Cera –, »Ihr wisst es ja bereits, aber der Comte vielleicht nicht: Die meisten meiner Leute sind homosexuell. Als meinem Vater der Nachwuchs auszugehen drohte, merkte er, wie viele es davon gab und dass sie in anderen Legionen verfolgt wurden. Also ließ er in aller Stille verbreiten, dass er ihre Neigungen nicht bestrafen, sondern als normal behandeln würde. Die Reaktion war überwältigend: Er wurde geradezu von Rekruten überrannt, Männer wie Frauen. Es waren so viele, dass er schon bald über zwei Legionen befehligte statt einer. Er hat mir das Kommando unter der strikten Bedingung vererbt, dass ich dieses Vermächtnis weiterführe.« Sie blickte jedem Mitglied von Elenas Gruppe fest in die Augen. »Wie ich sehe, wusstet Ihr das bereits. Gut. Das spart uns eine Menge Zeit.«
»Wissen ist nicht dasselbe wie gutheißen«, widersprach Inveglio. Wenn er nicht bereit war, Staria anzuhören, hatte es keinen Sinn, die Sache vor den Regentschaftsrat zu bringen. Genau aus diesem Grund hatte Elena ihn mitgenommen.
»Selbstverständlich nicht«, bestätigte Capolio. »Aber selbst wenn Ihr es nicht gutheißt, könnt Ihr die Tatsache akzeptieren und das Gesetz etwas weniger streng auslegen.«
»Unsere Gesetze sind eine Mischung aus denen der Amteh, Sollan und unserer rimonischen Vorfahren«, erklärte Cera. »Ich selbst wurde vor Kurzem wegen eines Verstoßes gegen ebenjenes Gesetz gesteinigt«, fügte sie trocken hinzu. »Doch wie durch ein Wunder habe ich überlebt.«
Staria lachte leise. »Fürwahr ein Wunder, aber meine Leute leben Tag für Tag mit dieser Gefahr. Sie alle wissen: Wenn sie in der Schlacht in Gefangenschaft geraten, erwartet sie ein Schicksal, das schlimmer ist als der Tod.«
»Warum bist du in Javon, Staria?«, fragte Elena unvermittelt.
»Weil Gurvon Gyle uns einen Ort versprochen hat, an dem wir in Freiheit leben können«, mischte Leopollo sich ein. »Dieses Land.«
»Unser Land«, widersprachen Cera und Inveglio wie aus einem Mund.
Kordeas Kiefermuskeln zuckten. »Wo wir auch hingehen, überall versucht man, uns wieder zu vertreiben«, brummte sie. »Ich kämpfe gerne für mein Bleiberecht.«
Staria hob beschwichtigend die Hand. »Wie meine Kinder bereits sagten: Wir suchen einen Ort, an dem wir unter uns sein können. Javon schien geeignet, zumindest laut Gurvons Beschreibung. Danach sieht es jetzt leider nicht mehr aus.«
»Es gibt viele unbewohnte Landstriche auf dieser Welt«, merkte Inveglio an. »Selbst in Estellayne, dessen bin ich sicher.«
»Das mag ja stimmen, aber seltsamerweise erhebt jedes Mal, wenn wir ein unbewohntes Fleckchen finden, jemand mit einem heiligen Buch unterm Arm und einer Armee im Rücken Anspruch darauf«, entgegnete Staria. »Außerdem sind wir Soldaten, keine Bauern. Wir können Grenzen beschützen, aber keine Äcker bestellen.«
»Javon gehört den Javoniern«, sagte Cera vorsichtig. »Wie jedes Volk haben wir das Recht zu entscheiden, wer in unserem Land lebt.« Sie hob die Hand. »Bevor Ihr einwendet, dass Piero und ich die Nachkommen rimonischer Siedler sind: Ja, das stimmt, aber wir wurden in Javon geboren, genauso wie die meisten Rimonier in Javon. Rimoni existiert nicht mehr. Viele von uns, so auch ich, sind gemischter Abstammung, aber wir gehören hierher.«
Sie deutete ohne jedes Anzeichen von Furcht auf Starias Magi. »Ich will damit sagen, dass jeder, der sich hier neu ansiedeln will, unsere Zustimmung braucht, und im Moment habt Ihr diese Zustimmung noch nicht.«
»Wir sind nicht leicht zu vertreiben«, erwiderte Leopollo, und Kordea nickte.
»Wir auch nicht«, erwiderte Cera ruhig. »Has Frikter könnte Euch das bezeugen.«
»Ihr nehmt den Mund sehr voll für jemanden, der nicht einmal die Gnosis hat«, höhnte Kordea.
»Und Ihr redet viel für jemanden, der nichts zu sagen hat«, gab Cera zurück.
»Ruhe!«, bellte Staria. »Die Königin-Regentin hat recht: sprich nicht mehr, solange du nichts Konstruktives beizutragen hast.«
Kordea zog einen Schmollmund und funkelte Cera an. Elena musste ein Lächeln unterdrücken: Als junge Frau war sie genauso gewesen.
»Wie geht es Has überhaupt?«, erkundigte sich Staria.
»Er lebt. Unter einer Kettenrune zwar, aber er wird gut behandelt und erholt sich von seinen Verletzungen. Allerdings hat er eine Hand verloren.«
»Die Schwerthand oder die Trinkhand?«
»Die zum Trinken.«
»Das klingt ernst«, erwiderte Staria mit einem Zwinkern, offensichtlich darum bemüht, die wachsende Spannung zu lösen.
Elena spielte mit. »Ach, mach dir deshalb keine Sorgen. Inzwischen hat er umgelernt und trinkt uns mit seiner Schwerthand das Bier weg.«
Staria lächelte, dann wandte sie sich wieder an Cera. »Darf ich fortfahren? Es ging darum, warum ich um diese Unterredung gebeten habe. Vor Kurzem haben sich drei Dinge ereignet, die mir große Sorge bereiten. Das erste war Eure Steinigung, Königin-Regentin. Mittlerweile wissen wir zwar, dass es sich um einen Trick handelte, aber mir gefällt nicht, mit welcher Leichtigkeit Gurvon Gyle die Priesterschaft dazu brachte, einen mordlüsternen Mob zusammenzurufen, um eine Frau zu steinigen, die von den meisten Menschen in diesem Land aufrichtig verehrt wird – und das für ein ›Verbrechen‹, das meine Leute so oft begehen, wie sie nur können. Das beunruhigt mich zutiefst.«
Elena konnte nur zustimmen. Ein Zittern durchlief Cera, die direkt neben ihr saß, als sie sich an die Ereignisse erinnerte.
»Wir Sollan verurteilen wegen eines solchen Verbrechens niemanden zum Tode«, verteidigte sich Piero Inveglio mit sichtlichem Unbehagen.
Staria bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Die Sollan sind nicht weniger grausam, Comte: Einzelhaft im Kerker oder Einweisung in ein Kloster für den Rest des Lebens sind lediglich eine andere Form von Todesurteil, meint Ihr nicht? Was würdet Ihr vorziehen, einen schnellen oder einen langsamen Tod? Ich unterscheide nicht zwischen den Religionen, denn sie alle verdammen meine Kinder.«
»Unsere Herzen bluten«, fügte Capolio hinzu. »Ich bin ein überzeugter Anhänger Kores, wie die meisten in unserer Legion, aber weil wir … anders sind, verstößt uns die Kirche.«