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In diesem Krieg ist nichts heilig ...
Der Krieg tobt um die Mauern der heiligen Stadt Shaliyah und auf dem ganzen Kontinent, doch die Truppen des Ostens schöpfen neue Kraft — und der Kampf um Urte ist noch nicht entschieden. Denn der Schlüssel zum Sieg befindet sich nicht in den Waffen der Soldaten, sondern in einem uralten Artefakt. Doch das liegt in den Händen von Ramita. Sie, die Witwe des größten Magiers aller Zeiten, trägt die Macht in sich, den Krieg zu beenden — oder die Welt zu zerreißen.
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Seitenzahl: 706
Buch
Der Krieg tobt um die Mauern der heiligen Stadt Shaliyah und auf dem ganzen Kontinent, doch die Truppen des Ostens schöpfen neue Kraft – und der Kampf um Urte ist noch nicht entschieden. Denn der Schlüssel zum Sieg befindet sich nicht in den Waffen der Soldaten, sondern in einem uralten Artefakt. Doch das liegt in den Händen von Ramita. Sie, die Witwe des größten Magiers aller Zeiten, trägt die Macht in sich, den Krieg zu beenden – oder die Welt zu zerreißen.
Der Autor
Der neuseeländische Schriftsteller David Hair wurde für seine Jugendromane bereits mehrfach ausgezeichnet. Die Brücke der Gezeiten ist seine erste Fantasysaga für Erwachsene. Nach Stationen in England, Indien und Neuseeland lebt er nun in Bangkok, Thailand.
DAVID HAIR
Der unheilige Krieg
DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 6
Übersetzt von Michael Pfingstl
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Unholy War« (Pages 392-784 + Appendix) bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2014 by David Hair
Originally entitled UNHOLY WAR
First published in the UK by Quercus Editions Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Sigrun Zühlke
JB · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-18113-0V001
www.blanvalet.de
Der vorliegende Band ist Paul Linton gewidmet, meinem Testpiloten für die gesamte bisherige Serie. Paul hat seine geistige Gesundheit riskiert, damit die Ihre, lieber Leser, durch meine Bücher keinen Schaden nimmt. Paul ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Mann von Welt und hat das unbestreitbare Talent, seine Freunde zum Genuss der heftigsten (aber auch besten) Alkoholika zu verführen, die er auf seinen Reisen kennenlernen durfte.
Danke, alter Freund. Und schenk mir doch gleich noch einen von diesen Orujos ein.
Inhalt
Karte: Urte c. 927
Karte: Yuros
Karte: Antiopia
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Die Ereignisse von 928–929 (Geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Der Zorn des Propheten)
Prolog: Eine Begegnung im Geiste
1 Rote Flüsse
2 Den Löwen gesundpflegen
3 Verhandlung und Übergabe
4 Flucht
5 Steinigung
6 Die Kirkegar
7 Der heilige See
8 Der Bakhtak
9 Eine Audienz beim Mogul
10 Sklaven
11 Flussabwärts
12 Das Angebot des Wesirs
13 Todeslager
14 Wiedervereinigung
15 Das Tal der Nagas
16 Vergiftete Pfeile, vergiftete Worte
17 Kraft und Präzision
18 Ohne Gnosis
19 Das Leben eines Kindes
Epilog
Anhang
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Auf Urte gibt es zwei bekannte Kontinente, Yuros und Antiopia. In Yuros ist das Klima kalt und feucht, seine Bewohner haben helle Haut; Antiopia liegt näher am Äquator, ist größtenteils trocken und dicht von verschiedenen dunkelhäutigen Stämmen bevölkert. Zwischen den beiden Landmassen tost eine unbezähmbare See, ständig aufgepeitscht von extrem starken Gezeiten, welche die Meere unpassierbar machen, sodass die Völker der beiden Kontinente lange Zeit nichts voneinander wussten.
Vor fünfhundert Jahren änderte sich dies grundlegend.
Auslöser des Ereignisses war eine von Corineus angeführte Sekte. Er gab seinen Jüngern einen Trank, der ihnen magische Kräfte verlieh, die sie Gnosis nannten. Noch in derselben Nacht starb die Hälfte seiner Anhänger und ebenso Corineus selbst, der offenbar von seiner Schwester Corinea ermordet wurde. Corinea floh, dreihundert der Überlebenden begannen unter Sertains Führung, den Kontinent mithilfe ihrer neu gewonnenen Kräfte zu erobern. Die Gnosis verlieh ihnen derart große Macht, dass sie das Reich Rimoni mühelos vernichteten und sich selbst als Herrscher des neu gegründeten Reiches Rondelmar einsetzten.
Dieses Ereignis, bekannt unter dem Namen »Die Aszendenz des Corineus«, veränderte alles. Die Magi, wie sie sich selbst nannten, stellten fest, dass auch ihre Kinder über magische Fähigkeiten verfügten. Die Gabe wurde zwar schwächer, wenn der andere Elternteil nicht ebenfalls ein Magus war, doch die Magi breiteten sich unaufhaltsam aus. Im Namen des rondelmarischen Kaisers brachten sie immer mehr Landstriche und Völker Yuros’ unter ihre Herrschaft.
Von den anderen zweihundert, die die Aszendenz überlebt hatten, versammelte Antonin Meiros einhundert Männer und Frauen um sich, die wie er Gewalt verabscheuten, und zog mit ihnen in die Wildnis. Sie siedelten sich im südöstlichen Zipfel des Kontinents an, wo sie einen friedliebenden Magusorden gründeten, den Ordo Costruo.
Die restlichen hundert Überlebenden schienen keinerlei magische Kräfte entwickelt zu haben, doch stellte sich schließlich heraus, dass sie, um die Gnosis in sich wirksam werden zu lassen, die Seele eines anderen Magus verschlingen mussten; also taten sie es. Der Rest der Magigemeinschaft war darüber so entsetzt, dass sie die Seelentrinker gnadenlos jagten und töteten. Die wenigen, die noch übrig sind, leben im Verborgenen und werden von allen verachtet.
Schließlich entdeckte der Ordo Costruo mithilfe der Gnosis den Kontinent Antiopia oder Ahmedhassa, wie er bei seinen Einwohnern heißt. Antiopia liegt südöstlich von Yuros. Die vielen Gemeinsamkeiten in Tier- und Pflanzenwelt, die die Ordensmitglieder entdeckten, brachten sie zu der Vermutung, dass die beiden Kontinente in vorgeschichtlicher Zeit einmal miteinander verbunden gewesen sein mussten. Meiros’ Anhänger kamen in Frieden und wurden bald dauerhaft in der großen Stadt Hebusal im Nordwesten Antiopias sesshaft. Im achten Jahrhundert begann der Orden mit der Arbeit an einer gigantischen Brücke, die die beiden Kontinente wieder miteinander verbinden sollte, und diese Brücke löste die zweite Welle epochaler Veränderungen aus.
Der Bau der Leviathanbrücke, wie das dreihundert Meilen lange Bauwerk genannt wird, war nur mithilfe der Gnosis möglich, die vieles bewirken kann, aber nicht alles. Sie erhebt sich nur während der alle zwölf Jahre stattfindenden Mondflut aus dem Meer und bleibt dann für zwei Jahre passierbar. Das erste Mal geschah dies im Jahr 808. Zunächst wurde die Brücke nur zögerlich genutzt, doch nach und nach entwickelte sich ein blühender Handel, und nicht wenige wurden dadurch reich. Es entstand eine neue Kaste, die Kaste der Händlermagi, die aufgrund ihres Reichtums auf beiden Seiten der Brücke immer mehr Einfluss gewann. Auch der Ordo Costruo gelangte zu beträchtlichem Wohlstand. Nach etwas mehr als einem Jahrhundert und zehn Mondfluten war der Handel über die Brücke der wichtigste politische und wirtschaftliche Faktor auf beiden Kontinenten.
Im Jahr 902 entsandte der rondelmarische Kaiser, der seine Macht durch die Händlermagi bedroht sah, getrieben von Gier, Neid, Bigotterie und Rassenwahn, sein Heer über die Brücke: gut ausgebildete Legionen, die von Schlachtmagi angeführt wurden. Im Namen des Kaisers rissen sie die Kontrolle über die Brücke an sich, plünderten und besetzten Hebusal. Viele gaben Antonin Meiros die Schuld für diese Ereignisse, denn er und sein Orden hätten den Überfall verhindern können – doch dazu hätten sie die Leviathanbrücke zerstören müssen.
916 kam es zu einem zweiten, noch verheerenderen Kriegszug. Die Menschen Antiopias hatten keine Magi in ihren Reihen und waren den Legionen aus Yuros schutzlos ausgeliefert. Dennoch standen die Dinge für den rondelmarischen Kaiser nicht zum Besten, denn seine tyrannische Herrschaft hatte in mehreren Vasallenstaaten zu einer Revolte geführt, am bekanntesten davon die von 909 im in Zentral-Yuros gelegenen Königreich Noros. Als im Jahr 928 die nächste Mondflut naht, hat der Kaiser bereits neue Pläne geschmiedet, um seine Macht auch in Zukunft zu sichern.
Die Ereignisse von 928–929 (Geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Der Zorn des Propheten)
Alaron und Ramita sind auf dem Weg nach Dhassa, wo sie Ramitas Familie finden wollen. In den Bergen Lokistans erleiden sie eine Bruchlandung und werden von den friedlichen Zain-Mönchen aufgenommen. Im Kloster bringt Ramita zwei Söhne, Dasra und Nasatya, zur Welt. Während Ramita und Alaron sich von den zurückliegenden Strapazen erholen, machen sie sich mit Unterstützung des Klostervorstehers Puravai daran, die Skytale des Corineus zu entschlüsseln. Alaron macht sich große Sorgen wegen seines Vaters, der ebenfalls irgendwo in Antiopia ist. Dass die Händlergilde Vann Merser inzwischen vor den Häschern der Inquisition in Sicherheit gebracht hat, ahnt er nicht.
Die Inquisitoren jagen unterdessen weiter der Skytale nach. Malevorn Andevarion und die anderen Überlebenden wurden von einer Faust der Inquisition gerettet. Adamus Crozier übernimmt nun die Führung von Malevorns Faust, während Huriya Makani und das Seelentrinkerrudel den Spuren der Skytale nach Süddhassa folgen. Zaqri, der Rudelführer, fühlt sich zunehmend zu Cym hingezogen und beschützt sie, was die anderen Rudelmitglieder gegen ihn aufbringt. Schließlich fordert Perno ihn zu einem Duell heraus: Perno und seine Gefährtin wollen gegen Zaqri und dessen Gefährtin in einem Kampf antreten, der darüber entscheiden soll, wer der zukünftige Rudelführer ist. Zaqri hat seine Gefährtin jedoch in der Schlacht auf der Glasinsel verloren und müsste seinen Herausforderern allein entgegentreten. Da begreift Cym, dass auch ihr Leben verwirkt ist, falls Zaqri verliert, und beschließt ihm beizustehen. Dazu muss sie allerdings seine Gefährtin werden. Nachdem die »Hochzeit« vollzogen ist, treten die beiden Paare zum Duell auf Leben und Tod gegeneinander an.
Das Ritual hat kaum begonnen, da entdeckt Malevorns Faust das Lager der Seelentrinker. Nicht wissend, dass die meisten Rudelmitglieder dem Ritual beiwohnen, unterschätzen sie deren tatsächliche Zahl und greifen an. Als das Rudel den Überfall auf das Lager bemerkt, schlägt es mit aller Macht zurück: Die Inquisitoren werden entweder getötet oder vertrieben, und Malevorn gerät in Gefangenschaft. Cym nutzt das Chaos, um zu fliehen, da findet sie den tödlich verwundeten Zaqri und beschließt, ihn wieder gesundzupflegen.
In Javon leidet Cera Nesti unter ihrer erzwungenen Ehe mit König Francis Dorobon. Portia wird von Francis schwanger und nach Hytel geschickt – Cera ist nun vollkommen auf sich allein gestellt. Fest entschlossen, nicht aufzugeben, belebt sie eine alte Tradition wieder und verteilt in ihrem Palastgarten Almosen an die Armen. Gleichzeitig nutzt sie die Zusammenkünfte zu informellen Anhörungen, bei denen ihre Untertanen ihre Sorgen und Rechtsstreitigkeiten vorbringen. Vor allem die Priesterschaft ist darüber erzürnt, doch Gurvon Gyle hält eine schützende Hand über Cera, weil er sich davon Vorteile für seine eigenen durchtriebenen Pläne verspricht. Ceras »Bettlerhof« entwickelt sich daraufhin zu einer Art Widerstandszentrum, und es gibt noch weitere hoffnungsvolle Neuigkeiten: Es geht das Gerücht, dass die Magi der Dorobonen von Attentätern dezimiert werden. Bald wird klar, dass es sich dabei um Elena Anborn und einen mysteriösen Antiopier handelt – Kazim Makani –, die den Freiheitskampf Javons auf ihre Weise unterstützen.
Der Bettlerhof ist allerdings nicht das einzige Werkzeug, mit dem Gyle versucht, Francis die Kontrolle über Javon zu entreißen: Unter dem Vorwand, die dorobonischen Truppen zu verstärken, holt er mehrere Söldnerlegionen in die Hauptstadt, Rutt Sordell hat von einem Vertrauten Francis’ Besitz ergriffen, und die Gestaltwandlerin Münz ist ebenfalls am Hof. Münz ist jedoch zunehmend unzufrieden mit ihrer Rolle. Als Gyle ihre Liebe zurückweist, kann Cera sie auf ihre Seite ziehen, und sie planen gemeinsam die Flucht.
Weit weg im Südosten des Kontinents manipuliert Ramon Sensini unterdessen die Geschicke seiner hinter den feindlichen Linien festsitzenden »verlorenen Legion«. So sorgt er dafür, dass der gefügige Seth Korion zum neuen General ernannt wird, während in Wahrheit Ramon die Entscheidungen trifft. Anstatt den naheliegenden Fluchtweg nach Westen einzuschlagen, marschieren die Überlebenden von Shaliyah nach Süden, wo das Emirat Khotriawal liegt, um dort vor den von Sultan Salim persönlich angeführten Keshi-Truppen Zuflucht zu suchen. Zuerst müssen sie allerdings den infolge des gnostischen Sturms von Shaliyah unpassierbaren Efratis überqueren. Die einzige Brücke, die über den Fluss führt, wird von der Stadt Ardijah verteidigt, die mittlerweile ebenfalls in die Hände der Seelentrinker gefallen ist. Dank einer List von Ramon gelingt es, die Stadt einzunehmen und die junge Kalifin Amiza zu befreien, von der Ramon sich prompt verführen lässt, obwohl seine Geliebte Severine mittlerweile von ihm schwanger ist.
Wir schreiben den Juness 929, die Mondflut ist auf dem Höhepunkt, und der Kriegszug scheint ganz nach Plan zu verlaufen: Durch das Komplott von Shaliyah konnte Pallas sich seines Erzrivalen Echor Borodium entledigen, während der große General Kaltus Korion Sieg um Sieg erringt. Selbst Javon scheint unter Kontrolle. Alles ist bereit für die Endphase, nur die Skytale bleibt nach wie vor verschollen …
Prolog Eine Begegnung im Geiste
Gnostische Kommunikation
Darüber, welche der sechzehn gnostischen Studien die wichtigste ist, lässt sich trefflich streiten, doch für mich ist es eine Disziplin, die nicht einmal mit den Studien in Verbindung steht: nämlich die Fähigkeit, von Geist zu Geist über große Entfernungen miteinander zu kommunizieren. Die meisten Magi nutzen diesen einfachen, aber notwendigen Zauber, ohne wertzuschätzen, welch große Bedeutung er für das Kaiserreich und die Regierungsgeschäfte hat.
Alvara Benys, Abschlussarbeit am Arkanum von Bres, 891
Brochena in Javon, Antiopia Rajab (Julsept) 929 Dreizehnter Monat der Mondflut
Gurvon Gyle umklammerte den Gnosisstab und schloss die Augen, damit der gedämpfte Lärm der Stadt und die langsam über den Boden des Turmzimmers kriechenden Sonnenstrahlen ihn nicht ablenkten. Bis auf die verbrannten Überreste von Elenas Trainingsmaschine Bastido war der Raum vollkommen leer. Gurvon wusste selbst nicht recht, warum er den verkohlten Holzhaufen aufhob, aber irgendetwas gefiel ihm daran. Er atmete aus, stellte sich das geheime kaiserliche Siegel vor und sandte seinen Geist aus, schickte ihn auf die Suche nach einem weiteren solchen Siegel im Äther, jenem Ort, der weder ganz zu dieser Welt gehörte noch zu der dahinter. Dann sah er die anderen. Sie warteten bereits.
Edle Herren, edle Dame, begrüßte er sie.
Magister Gyle, willkommen. Mater-Imperia Lucia Fasterius war die Höflichkeit selbst, Erzprälat Dominius Wurther setzte ein freundliches, wenn auch distanziertes Lächeln auf. Die anderen zeigten sich weniger erfreut: Tomas Betillon und Kaltus Korion schnaubten nur leise, Calan Dubrayle würdigte ihn keines Blickes. Aber da war noch eine weitere Präsenz, eine, die Gurvon nicht kannte: ein keckes, selbstzufriedenes Gesicht mit dunklem Haar und einem üppigen, von grauen Strähnen durchzogenen Schnauzbart.
Magister Gyle?, fragte der Fremde. Ich bin Jean Benoit.
Gurvon versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Gildemeister Benoit … das ist eine Überraschung. Er schaute hinüber zu Lucia. Ich wusste nicht, dass die Händlergilde nun auch Zutritt zu unserem Kreis hat.
Es wird bei diesem einen Mal bleiben, warf Tomas Betillon verärgert ein. In Hebusal sehe ich den Scheißkerl schon oft genug.
Tomas!,tadelte Lucia sanft. Benehmt Euch.
Gurvon rief sich das erste Treffen ins Gedächtnis, als er der Gruppe seine Pläne für den Dritten Kriegszug dargelegt hatte. Eines der wichtigsten Ziele war es gewesen, die Macht der Händlermagi zu brechen, und jetzt war Jean Benoit hier, der Gildemeister persönlich. Gurvon erinnerte sich noch gut an Lucias grenzenlose Verachtung für die Händler, vor allem für die, die ihren Reichtum darauf verwendeten, Magi-Kinder zu kaufen, um Nachkommen mit ihnen zu zeugen. Wäre Elena Anborn zugegen gewesen, hätte ihn das kaum mehr überraschen können.
Mater-Imperia,fragte er, Ihr habt dieses Treffen sehr kurzfristig einberufen. Gibt es ein Problem?
Ich hoffe nur, es hat nichts mit mir zu tun. Er dachte an die Lage inJavon: König Francis Dorobon schien zufrieden und ahnte nichts von seiner bevorstehenden Entmachtung. Die Söldnerlegionen fügten sich immer besser in Brochena ein, auch die Versorgung von Kaltus Korions Truppen war gewährleistet, wie Lucia verlangt hatte. Der javonische Adel war zerstritten und konnte sich nicht auf einen neuen König einigen – und das, obwohl jeder wusste, dass dies einem Todesurteil für den jungen Timori Nesti gleichkam. Ceras Anhörungen im Bettlerhof spalteten die jhafische Priesterschaft und lenkten sie ab. Selbst Elenas Anschläge hatten aufgehört. Gurvon war vorsichtig optimistisch, dass er Javon so gut wie in der Tasche hatte.
Die Mater-Imperia räusperte sich. Auch während der bisherigen Kriegszüge ergab sich etwa um diese Zeit eine Situation, bei der wir den Gildemeister hinzuziehen mussten. Ich werde nun an den kaiserlichen Schatzmeister übergeben, da die Angelegenheit hauptsächlich ihn betrifft.
Die im Äther schwebenden Gesichter wandten sich Dubrayle zu.
Und?, fragteKaltus Korion müde. Der General sah angespannt aus. Seit der Schlacht bei Shaliyah war sein Heeresflügel damit beschäftigt, Aufstände in beinahe jedem Dorf und jeder Stadt niederzuschlagen. Natürlich war damit zu rechnen gewesen, dennoch war es nicht leicht. Kaltus hatte die Offensive abbrechen und sich bis nach Hallikut zurückfallen lassen müssen, um dort im zweiten Jahr der Mondflut eine große Verteidigungsschlacht zu führen.
Dass ich ihm drei Legionen gestohlen habe, wird die Sache nicht besser gemacht haben, dachte Gurvon. Er hatte Adi Paavus, Has Frikter und Staria Canestos bestochen, damit sie ihre Söldnerlegionen abzogen und sich ihm in Javon anschlossen. Kaltus war außer sich deshalb, aber Lucia hatte nichts dagegen tun können.
Das Problem betrifft den Geldfluss, begann Dubrayle.
Fließt denn nicht genug in Euer Säckel?, murmelte Betillon.
Dubrayle ignorierte die Bemerkung und hob zu einem endlosen Vortrag über Zahlen, Prozentsätze und Entwicklungen an, die mit der rondelmarischen Währung und den Goldreserven zu tun hatten. Gurvon hatte eigentlich geglaubt, etwas von Geld und Finanzen zu verstehen, aber die schiere Menge von Zahlen, die Dubrayle in seinem Monolog anführte, überforderte ihn. Eines wurde allerdings überdeutlich: Der Schatzmeister verfügte über Tausende von Informanten im gesamten Kaiserreich. Bankenmitarbeiter, Beamte und Buchhalter, die zusammen ein Netz bildeten, das Gyles Netzwerk aus Magusspionen und ein paar hundert gewöhnlichen Bürgern in den wichtigsten Städten wie einen Kindergarten aussehen ließ.
Halt, halt!, unterbrachWurther. Ich mag ein frommer Mann und nicht so weltgewandt sein wie Ihr anderen, aber bin ich wirklich der Einzige, der kein Wort von Eurem Vortrag verstanden hat, Calan?
Ich bin nicht mal sicher, ob er überhaupt Rondelmarisch spricht, brummte Betillon.
Lucia lächelte milde. Eure Ausführungen waren vielleicht etwas zu detailliert, Calan. Wie wäre es mit einer kurzen Zusammenfassung?
Dubrayle schien nicht erfreut. Nun gut. Vereinfacht ausgedrückt, regiert während jeder Mondflut eine Zeit lang der Wahnsinn. Innerhalb eines Tages kann der Wert einer Ware um das Zehnfache steigen und dann wieder einbrechen. So schlimm wie diesmal war es allerdings noch nie. Die Kosten für den Kriegszug sind ins Unermessliche gestiegen, sie leeren die kaiserlichen Schatzkammern. Der Wert eines rondelmarischen Gulden hat sich innerhalb des letzten Jahres verdreifacht, Schuldscheine sind im Umlauf, als würden sie auf den Bäumen wachsen, alles Geld fließt nach Pontus und Antiopia, und die Preise steigen wie nie zuvor.
Betillon runzelte die Stirn. Ähm … das heißt, unsere Währung ist stärker geworden, Handel und Investitionen blühen, und unsere Truppen werden ausreichend versorgt. Was ist Eurer Meinung nach schlecht daran?
Wie ich bereits sagte, erwiderte Dubrayle gequält, haben die hochspekulativen Investitionen in Form von Schuldscheinen ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß angenommen, und wie Ihr wisst … Nein, lasst es mich so ausdrücken: Wie Ihr wissen solltet, stellen alle Banken, auch die kaiserliche Schatzkammer, ohnehin mehr Schuldscheine aus, als durch Goldreserven gedeckt sind. Um einen funktionierenden Handel dauerhaft zu gewährleisten, muss der Markt jedoch Vertrauen in die Institutionen haben, die diese Schuldscheine ausstellen. Solange das der Fall ist, werden die Kaufleute sie wie echtes Geld behandeln und sie gegen echte Ware eintauschen. Nur so funktioniert das System. Normalerweise werden Schuldscheine bis zu einer Höhe ausgestellt, die dem Zehnfachen der Golddeckung entspricht. Das gilt für die privaten Banken genauso wie für die der Gilden. Die Differenz regulieren wir über den Goldpreis. Diesmal sind allerdings unautorisierte kaiserliche Schuldscheine aufgetaucht, das heißt, sie tragen unser Siegel, kommen aber von innerhalb der Armee. Ich versuche nach wie vor, den Ursprung dieser »Kriegszügler-Schuldscheine« zu finden, jedoch ohne Erfolg. Ihr Weg ist zu verschlungen. Nach konservativen Schätzungen beläuft sich der Wert der momentan im Umlauf befindlichen Schuldscheine auf knapp das Achtzigfache unserer Goldreserven.
Gurvon stieß einen leisen Pfiff aus. Hört, hört. Das habe sogar ich verstanden. Er schaute Gildemeister Benoit an. Aber muss ausgerechnet er das wissen?
Benoit wirkte in der Tat beunruhigt, und als er Gurvons Blick sah, richtete er sogleich das Wort an ihn. Magister Gyle, dergleichen passiert während jedes Kriegszugs. Allerdings hatten wir in der Vergangenheit nur mit einer Verdopplung der Ausstellungsrate von Schuldscheinen zu tun, das heißt mit dem Zwanzigfachen der tatsächlichen Golddeckung – nicht achtzig Mal so viel. Er wandte sich wieder an Dubrayle. Meine Gilde trifft dieser Punkt ganz empfindlich. Die kaiserlichen Schuldscheine befreien unsere Händler von der Notwendigkeit, Gold mit sich zu führen. Alle Zahlungen werden damit abgewickelt, sie sind unsere wichtigste Währung. Daher sind diese Kriegszügler-Schuldscheine für uns wie Falschgeld, auch wenn das Siegel echt zu sein scheint.
An dieser Stelle übernahm Dubrayle wieder das Wort: Unsere Armee hat schon öfter eigene Schuldscheine ausgestellt, jedoch nie in diesem Ausmaß. Wir befinden uns in einer noch nie dagewesenen Lage. Hinzu kommt, dass jemand es wagt, Schuldscheine mit meinem persönlichen Siegel darauf auszustellen.
Ich war’s nicht, auch wenn ich Euer Siegel habe,warf Kaltus Korion schnippisch ein. Besonders schwer zu fälschen ist es ja …
Ich werde dieser Angelegenheit auf den Grund gehen, unterbrach Dubrayle ihn mit der Inbrunst eines Ritters, der seine Ehre beschmutzt sieht. Ich habe den Gildemeister zu dieser Unterredung gebeten, um ihm zu zeigen, dass wir uns des Problems bewusst sind, und ihn außerdem zu bitten, uns bei der Aufklärung und Lösungsfindung zu unterstützen.
Benoit lächelte unbescheiden. Selbstverständlich werde ich Euch helfen, die Schuldigen zu finden – vorausgesetzt, die Krone versichert, dass sie auch für die gefälschten Scheine einstehen wird. Er blickte zuerst Dubrayle und dann Lucia fragend an. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass die kaiserliche Schatzkammer diese Kriegszügler-Schuldscheine akzeptiert, andernfalls können wir den Handel nicht aufrechterhalten. Und wer soll dann die Legionen beliefern?
Lucia überlegte einen Moment, dann erklärte sie entschieden: Echte Schuldscheine werden gedeckt, wie Calan bereits sagte. Gefälschte und unautorisierte nicht. Die Empfänger haben das Risiko selbst zu tragen.
Bei allem Respekt, Eure Heiligkeit, widersprachBenoit, aber es scheinen doch sowohl Schuldscheine von legitimer als auch von fragwürdiger Herkunft bereits in Umlauf zu sein. Einige Investoren könnte es hart treffen, darunter auch Banken wie Jusst und Holsen, die einen Verlust in dieser Höhe nicht hinnehmen werden. Sie werden die Schuldscheine weitergeben, vor allem an ihre Kunden, und damit das Vertrauen in den Markt zerstören. Das könnte Unruhen auslösen, wie Urte sie seit dem Zusammenbruch des Rimonischen Reichs nicht mehr erlebt hat.
Gurvon hielt den Atem an. Könnte es so weit kommen? Ich dachte, es steht nur unser Erspartes auf dem Spiel.
Dubrayle wurde noch ernster. Wie der Gildemeister sagt: Vertrauen ist der Schlüssel. Der Kriegszug läuft gut für uns, trotz der tragischen Niederlage bei Shaliyah. Kein Besitzer von kaiserlichen Schuldscheinen wird in Panik verfallen, solange nicht an die Öffentlichkeit dringt, dass es Probleme gibt. Dennoch möchte ich betonen, dass der Wert der im Umlauf befindlichen Scheine selbst die optimistischsten Schätzungen über die Höhe der Kriegsbeute bei Weitem übertrifft.
Wollt Ihr damit sagen, dass der Markt so oder so zusammenbrechen wird?, hakte Gurvon nach.
Dubrayle verzog das Gesicht. Nein. Aber der Goldpreis könnte eine Zeit lang erheblichen Schwankungen unterliegen.
Also doch, dachte Gurvon, behielt es aber für sich. Diese Sache wird uns alle treffen.
Lucia ließ den Blick über die Runde schweifen. Werte Herren, ich schlage vor, Ihr legt vorsorglich Eure eigenen Werte um, aber langsam und diskret – keine großen Kontenbewegungen. Und erzählt niemandem davon. Wer nicht zur unmittelbaren Familie gehört, zählt nicht. Wenn auf dem Markt Chaos ausbricht, werden wir alle schwerste Verluste erleiden. Es ist genau, wie Calan sagt: Das Vertrauen muss erhalten bleiben. Haben alle das verstanden?
Dubrayle schaute zu Gurvon hinüber und lächelte trocken. Ihr wirkt überrascht, Magister, doch dazu besteht kein Anlass. Während der ersten beiden Kriegszüge befanden wir uns in einer ähnlichen Lage. Diesmal ist das Ausmaß zwar größer, aber es folgt demselben Muster: überschwängliche Investitionen am Anfang des Kriegszugs, die gegen Ende von der Realität eingeholt werden. Nutzt den Aufwind, solange er noch anhält, und dann bringt Euer Geld in Sicherheit.
Und scheiß auf alle anderen … Gurvon nickte stumm.
Und, wie Gildemeister Benoit sehr gut weiß, sprach Dubrayle weiter, sitzen wir trotz all unserer Differenzen im selben Boot. Er kann ohne uns keinen Profit machen, und wir nicht ohne ihn.
Gurvon überlegte, ob Benoit vielleicht damit gedroht hatte, die Sache öffentlich zu machen, falls er kein Mitspracherecht bekam. Kore sei Dank habe ich vertraglich festgelegt, dass ich für meine Dienste in Gold ausbezahlt werde. Nach mehrmaligen Verzögerungen sollte es in wenigen Wochen endlich von Jusst und Holsen mit dem Schiff nach Javon geschickt werden.
Ich denke, damit wären wir fertig, sagte Lucia gut gelaunt.
Nur eines noch, Euer Heiligkeit, wenn es gestattet ist?, meldete Benoit sich nochmals zu Wort. Wie mir zu Ohren kam, sucht die Inquisition nach einem Mitglied der Gilde, einem Norer namens Vannaton Merser, um genau zu sein. Die Inquisitoren sind mit größter Rücksichtslosigkeit vorgegangen, unsere Karawanen wurden angehalten und durchsucht, Gildemitglieder wurden interniert und verhört, und doch ist die Inquisition nicht bereit, sich uns zu erklären.
Gurvon beobachtete erstaunt, wie Lucia und Wurther um ein Haar die Gesichtszüge entglitten. Doch schon einen Wimpernschlag später hatte die Kaiserinmutter sich wieder im Griff und erwiderte mit kalter Stimme: Merser wird wegen Verbrechen gegen die Kaiserkrone gesucht. Die Inquisition hat Befehl, seiner habhaft zu werden. Falls Ihr wissen solltet, wo er sich aufhält, ist es Eure heilige Pflicht vor Kore, ihn auszuliefern, Gildemeister.
Benoit schürzte die Lippen. Ich bedaure, Euer Heiligkeit, aber ich verstehe nicht ganz. Es gibt weder einen Haftbefehl noch eine offizielle Anklage.
Bei Spionage und ähnlichen Verbrechen gegen die Krone ist das vollkommen normal, Gildemeister,entgegnete Lucia in einem Tonfall, der klarstellte, dass sie keine weiteren Informationen herausgeben würde.
Benoit verstand. Ah, er ist also ein Spion, und mehr braucht nicht gegen ihn vorzuliegen. Wie üblich. Er schüttelte irritiert den Kopf. Nun, Mater-Imperia, ich habe keinerlei Informationen über Mersers Verbleib. Sollte er auftauchen, werde ich die Inquisition unverzüglich informieren.
Gurvon betrachtete Benoits undurchdringliche Miene. Er weiß, wo Merser steckt, darauf würde ich all mein Geld verwetten. Aber warum ist ein Händler aus Noros auf einmal so wichtig?
Wurther hatte sich ebenfalls wieder gefangen. Euer Versprechen wurde zur Kenntnis genommen, Gildemeister. Die Inquisition wird in dieser Angelegenheit dafür sorgen, dass Kores Wille Genüge getan wird.
Ich dachte, die Inquisition tut in allen Angelegenheiten nichts anderes als Kores Willen, erwiderteBenoit trocken. Danke, dass Ihr mich heute hinzugezogen habt, Mater-Imperia. Ich werde dem Schatzmeister jede Hilfe zukommen lassen, um die gefälschten Schuldscheine zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen und das Problem einzugrenzen. Dann verschwand sein Gesicht aus dem Äther.
Gurvon saß am Fenster des Turmzimmers und schaute hinunter auf die Stadt. Die Sache mit diesem Vannaton Merser beschäftigte ihn immer noch. Auf dem Platz vor der Zenana, wo Cera gerade wieder eine ihrer Anhörungen abhielt, wimmelte es von Menschen. Im südlichen Innenhof wurden die Pferde für einen weiteren von König Francis’ zahllosen Ausritten gesattelt, und irgendwo in den weiten Ebenen Javons bereitete Elena Anborn ihren nächsten Schritt vor. Sie war Vannatons Schwägerin. Konnte das bloßer Zufall sein?
Er dachte zurück an Lucias Gesicht, als sie einen Moment lang die Maske hatte fallen lassen. Wurther hatte genauso verdutzt dreingeschaut. Aber keiner von den anderen. Gurvon hatte nur ein einziges Mal erlebt, dass ein Schatten der Angst über Lucias unerschütterliche Fassade huschte: Anfang des Jahres, als sie versehentlich verraten hatte, dass es einen entscheidenden Trumpf gab, den andere in Händen hielten.
Könnte dieser Trumpf irgendwie mit Vann Merser zu tun haben … oder mit Elena Anborn?
Rote Flüsse
Blutsbande
Wir alle sind Teil jener, die vor uns kamen. Ihr Blut fließt in unseren Adern wie ein roter Fluss, der die Zeit selbst durchmisst und Männer und Frauen mit ihren Kindern und Eltern verbindet. Es ist ein Wunder und ein Geschenk, wie das Leben Leben gibt. Die roten Flüsse werden strömen bis ans Ende der Zeit, wenn Ahm kommt.
Kalistham
Mandira Khojana in Lokistan, Antiopia Rajab (Julsept) bis Shaban (Augeite) 929 Dreizehnter und vierzehnter Monat der Mondflut
Als Alarons Gnosis sich in Form entsetzlicher Kopfschmerzen manifestiert hatte – sein Gesicht war feuerrot angelaufen, und er fühlte sich, als würde sein Kopf jeden Moment in Flammen aufgehen –, hatte sein Vater ihn sofort ans Arkanum geschickt. Damals florierten Vannatons Geschäfte, und Alarons Mutter Tesla hatte ebenfalls Geld, sodass sie es sich leisten konnten, ihn auf das angesehenste Arkanum in ganz Noros zu schicken. Doch Alaron war nur ein Viertelblut und somit der Spott seiner Mitschüler und Lehrer. Als einfacher Händlerssohn ohne adliges Blut oder anderweitige Verbindungen zur Oberschicht war er der Tyrannei von Malevorn Andevarion, Francis Dorobon und Seth Korion schutzlos ausgeliefert gewesen. Nicht einmal die Lehrer hatten etwas dagegen unternommen. Als er seine Ausbildung abschloss, war sein Selbstbewusstsein auf dem Tiefpunkt, und er konnte nur einen Bruchteil seiner angeborenen Fähigkeiten nutzen. In den Grundlagen war er leidlich gut und hatte die Prüfung bestanden, doch dann war ihm unter einem Vorwand auch noch der Abschluss aberkannt worden. Man hatte ihn öffentlich zum gescheiterten Magus erklärt und ihm verboten die Gnosis zu benutzen.
Jetzt, von Tyrannei und Ränken befreit, hatte er das Gefühl, endlich zu dem Magus zu werden, der er schon immer hatte sein wollen. Während der letzten Monate war er geradezu aufgeblüht, und das im Angesicht von Gefahren, die er sich während seiner Ausbildung nicht einmal hätte vorstellen können. Alaron spürte den Unterschied deutlich: Er glaubte jetzt an sich, und das änderte alles. Ein entscheidender Faktor beim Gebrauch der Gnosis war, dass man davon überzeugt sein musste, durch den eigenen Willen das Unmögliche möglich machen zu können.
Und jetzt das …
Für einen Uneingeweihten sah es nach nichts Besonderem aus. Schließlich waren es nur vier Objekte, die Alaron über seiner ausgestreckten Hand kreisen ließ: ein Stein, ein Tropfen Wasser, eine Flamme und die Miniaturausgabe einer Windhose.
Erde, Feuer, Wasser und Luft.
In einer anderen Ecke des Raumes saß Ramita. Sie trug den Kittel eines Zain-Novizen und tat das Gleiche wie er: Sie jonglierte mit allen vier Elementen gleichzeitig. Den Lehrern am Arkanum zufolge war vollkommen unmöglich, was sie hier taten, und doch taten sie es.
Das Erste, was ein Magus lernte, war, dass er Affinitäten hatte und »blinde Flecken« – Dinge also, die er tun konnte, und Dinge, die er eben nicht konnte. Das galt für alle Magi, vom Aszendenten bis hinunter zum Sechzehntelblut. Es gab zwar einige wenige Alleskönner, deren Affinitäten so schwach waren, dass sie einen breiteren Zugang zur Gnosis hatten, dafür beherrschten sie aber keinen ihrer Aspekte richtig. Alarons Tante Elena war ein bisschen so. Aber in seinem gesamten Leben hatte er noch nie gehört, dass ein Magus geschafft hätte, was er und Ramita hier gerade taten.
Alaron löschte das Flämmchen und löste den Luftwirbel auf, dann ließ er den Stein und den Wassertropfen in seine Hand fallen. Seine Gnosis war reine Energie, nicht begrenzt durch sogenannte Affinitäten. Als wäre er der vierarmige Sivraman, stand er mit den vier Elementen in Verbindung, sie gehorchten ihm, und bei Ramita war es genauso: Ihre Aura bestand aus einem leuchtenden Kern, der seine unsichtbaren Fühler nach der Materie um sie herum ausstreckte und über sie gebot.
Meister Puravai klatschte leise in die Hände. »Gut gemacht, Bruder Langbein und Schwester Ramita. Machen wir mit Hermetik weiter.«
Alaron ließ mehr Energie in die Gedankenverbindung zu Ramita strömen. Die Verbindung pulsierte und wurde fester, und er spürte, wie unglaublich stark Ramitas Gnosis war – so stark, dass er sich neben ihr vorkam wie ein Zwerg. Und doch waren sie beide auf diese Verbindung angewiesen, denn sie hatte die Kraft, und er wusste, wie man sie kanalisierte. Dann luden sie gemeinsam die in Grün-, Braun-, Rot- und Orangetönen leuchtenden Pünktchen, die ihre Ätherkörper umkreisten, mit Energie auf. Die Pünktchen wurden heller und verdichteten sich. Schließlich griff Alaron nach einem grünen und konzentrierte sich, bis der Zweig, der vor ihm auf dem Boden lag, Blätter trieb. Sylvanismus.
Ramita tat es ihm nach. Sie stellte sich zwar etwas ungeschickter an, doch nachdem sie den Bogen raushatte, wurde aus dem kümmerlichen Zweiglein ein ausgewachsener Ast. Danach riefen sie Vögel herbei, ließen sie auf ihren Händen landen und schickten sie wieder fort, verwandelten ihre Finger in Wolfsklauen, brachten sich selbst Schnitte bei, die sie wieder heilen ließen, noch während sich ihre Finger zurückverwandelten.
Schließlich unterbrach Alaron erschöpft die Verbindung.
»Wunderbar!«, lobte Puravai. »Wirklich sehr gut.«
Alaron schaute keuchend zu Ramita hinüber. Die Vielfalt dessen, was er und Ramita soeben getan hatten, war noch nie zuvor von einem Magus erreicht worden. Außer von Antonin Meiros natürlich, Ramitas verstorbenem Mann, der wie ein Geist zwischen ihnen zu stehen schien. Alaron spürte, wie die Verbindung zwischen ihm und Ramita immer fester wurde, doch sie war nun mal die Witwe des größten Magus, den die Welt je gesehen hatte. Er war Ramita so nahe und kam doch nicht an sie heran. In Cym war er jahrelang verknallt gewesen, mit Anise hatte er schöne Stunden verbracht, aber was er für Ramita empfand, reichte viel tiefer. Es war echt, trotz all ihrer Verschiedenheiten.
»Ich denke, der große Meiros war sogar noch um einiges besser«, erwiderte er schließlich und gab sich absichtlich bescheiden, um nicht vor Stolz zu platzen.
Meister Puravai lächelte versonnen. »Um die Wahrheit zu sagen: Nein, war er nicht. Er fand den Grundgedanken meiner Methode gut und konnte seinen Zugang zur Gnosis erweitern, aber um sein Potenzial voll auszuschöpfen, war er bereits zu alt. Die Jahrhunderte hatten seine Gnosis wie in Granit gemeißelt, er war auf eine Weise gefangen, wie ihr beide es nicht seid. Manches können nur die lernen, die noch jung und formbar sind.«
»Großer Kore! Wollt Ihr damit sagen, dass noch nie jemand geschafft hat, was wir gerade gemacht haben?« Alaron schloss die Augen. Einen Moment, nur einen kleinen, kurzen Moment lang will ich diesen Triumph in vollen Zügen genießen …
Als er sie wieder öffnete, sah er, wie Ramita ihn mit Tränen auf den Wangen anschaute. Und da wusste er, dass seine Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten, dass sie dasselbe für ihn empfand wie er für sie. Doch aus Pflichtgefühl und Vernunft ließ sie nicht zu, dass mehr daraus wurde, und das brach ihr genauso das Herz wie ihm.
Seine gute Laune war wie weggeblasen.
»Dann müssen wir jetzt wohl lernen, es auch allein zu tun«, sagte er laut und unterbrach die Gedankenverbindung zu Ramita. Es fühlte sich an, als hätte er sich selbst das Herz herausgeschnitten. »Sonst werden wir nie ohne den anderen zurechtkommen.«
»Da hast du wohl recht«, erwiderte Puravai ernst.
Ramita starrte mit glasigen Augen ins Leere, während Alaron sich erhob und das Zimmer verließ.
Ramita verschränkte die Hände hinter dem Kopf, biss die Zähne zusammen, löste den Oberkörper vom Boden und beugte sich immer weiter vor, bis die Ellbogen ihre Knie berührten. Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn und durchtränkte ihre Tunika, vor allem unter den Achseln und zwischen den Brüsten, ihre Bauchmuskeln brannten.
Die besondere Schwierigkeit an der Übung war, dass es sich bei dem »Boden« in Wahrheit um eine Wand handelte, an der sie kopfüber hing, die Füße mit Erdgnosis an der Decke verankert. Um das Ganze noch kniffeliger zu machen, ließ Meister Puravai sie während der Übungen auch noch mit frei im Raum schwebenden Orangen jonglieren.
Ramitas Bauch war wieder so flach, als hätte sie nie Zwillinge zur Welt gebracht, noch nie hatte sich ihr Körper so stark und geschmeidig angefühlt. Wenn sie allein war, konnte sie gar nicht anders, als ihr Spiegelbild zu bewundern. Puravai hatte ihr wiederholt nahegelegt, wie Alaron den Stockkampf der Zain zu erlernen, doch Ramita weigerte sich strikt. Ihre Mutter wäre außer sich, wenn sie erführe, dass eine ihrer Töchter die Kampfkunst erlernte.
Allein zu trainieren machte nicht halb so viel Spaß wie mit Alaron, aber es ging nicht anders. Sonst bringt mich mein Herz noch dazu, etwas Dummes zu tun. Sie verbannte Alaron aus ihren Gedanken, stieß sich von der Decke ab und landete mit einem Salto auf dem Boden. Als Nächstes stellte sie sich ein Auge auf ihrer Stirn vor, dessen Iris sie beliebig verändern konnte, und ließ es die Form eines Totenschädels annehmen, aus dem violettes Licht in ihre Handfläche strahlte. Dann schleuderte sie den Strahl auf ein Bäumchen, das in einem Topf in der Ecke stand.
Das Bäumchen verkümmerte binnen Augenblicken zu einem toten Geäst.
Es war eine von vielen entsetzlichen Fertigkeiten, die sie kürzlich erworben hatte. Alaron hatte ihr erklärt, was genau sie mit Zauberei und Theurgie bewirken konnte, damit sie ihre Versuche in die richtige Richtung lenkte, und Ramita dann ihren Experimenten überlassen. Eigentlich war daran nichts auszusetzen, denn Alarons Nähe machte sie von Tag zu Tag nervöser. Er war so unglaublich erwachsen geworden und strahlte ein unerschütterliches Selbstbewusstsein aus, als könnte er es mit allen Gefahren der Welt aufnehmen – nur mit ihr nicht. Sie überlegte, ob Alarons Blässe sie vielleicht deshalb nicht störte, weil Meiros ebenfalls ein Weißer gewesen war. Sie nahm seine Hautfarbe lediglich wahr wie die Farbe seiner Augen. Alaron war ein guter Mensch, und es war wunderschön, Zeit mit ihm zu verbringen, aber es stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie sich wirklich auf ihn hätte einlassen können. Trotzdem stellte sie sich in schlaflosen Nächten vor, wie es wäre, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Wenn Selbstbefriedigung tatsächlich eine Sünde war, dann war sie auf direktem Weg in Shaitans Feuergrube. Und sie war sicher, dass es Alaron genauso ging.
Um auf andere Gedanken zu kommen, vergruben beide sich in ihre Aufgaben. Wenn Ramita sich nicht um ihre Kleinen kümmerte, machte sie Goyo, und Alaron übte wie ein Besessener mit Schwert und dem Kon-Stab. In der Zwischenzeit versuchten sie weiter, die Skytale zu entschlüsseln.
Es war Ramita, die den nächsten Durchbruch erzielte. Sie hatte die Zwillinge gerade für die Nacht fertig gemacht und wollte nur noch etwas essen, bevor sie sich ebenfalls schlafen legte, als ihr auffiel, dass es an der Zeit war, endlich das Trauerweiß abzulegen. Sie konnte ja schlecht im Witwengewand am Hof des Moguls erscheinen. Alaron sah es sofort, als er sich zum Abendessen zu ihr setzte. Er sagte zwar nichts, doch sein Lächeln sprach Bände.
Ramita deutete mit dem Kinn auf die Zwillinge. »Ich muss sie noch stillen, bevor ich sie ins Bett lege.«
Alaron wurde rot und stand auf, um das Zimmer zu verlassen. Wenn es ums Stillen ging, war er immer noch sehr schüchtern, doch Ramita wollte, dass er blieb. Ihr war etwas eingefallen, das sie unbedingt loswerden wollte. Also knöpfte sie ihren Kittel auf, legte Nasatya an die Brust und fragte: »Wie kommst du mit der Skytale voran?«
Alaron saß in der Falle: Er wurde noch röter, war aber zu höflich, um die Frage unbeantwortet zu lassen, also setzte er sich zögernd und starrte gegen die Wand.
Die Skytale war eine harte Nuss, und die Entschlüsselung ging nur sehr langsam voran. Von den acht Variablen hatten sie mittlerweile fünf identifiziert: Alter, Augenfarbe, Elementaffinitäten, gnostische Affinitäten und Geschlecht. Seltsam war, dass für das Geschlecht vier verschiedene Runen infrage kamen, jeweils zwei für Männer und Frauen. Sie hatten eine Weile über der Frage gebrütet, bis Ramita auf die Idee gekommen war, dass es etwas mit der sexuellen Orientierung des Betreffenden zu tun haben könnte. In Aruna Nagar kannte sie mehrere Heejara, Männer also, die als Frauen lebten. Und wie sie gehört hatte, gab es das auch andersherum. Das war zumindest eine Arbeitsgrundlage.
Die letzten drei Variablen waren noch schwieriger gewesen, bis Alaron der Gedanke gekommen war, dass die sechste mit der Mondphase zu tun haben könnte oder besser gesagt: mit dem Stand des Mondes zum Zeitpunkt der Geburt. Die meisten Menschen kannten ihn genau, weil die Mondphase oft benutzt wurde, um die Zukunft des Betreffenden vorherzusagen. Noch am selben Vormittag gelang es ihm, ein weiteres Mysterium zu lösen, und zwar dank einer Abhandlung über Blut, die der Ordo Costruo dem Kloster vermacht hatte.
»Es ist das langweiligste Buch, das ich je gelesen habe«, hatte er zu Ramita gesagt, »aber ich habe vier Runen darin gefunden, die auch in die Skytale graviert sind. Leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wie man die Blutgruppe eines Menschen bestimmen soll. Ich hab ja nicht mal gewusst, dass es verschiedene gibt.«
Ramita war das ebenfalls neu. »Und was ist mit den anderen?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Es sind zwölf, die sich in einer nach unten führenden Spirale um die Skytale ziehen bis zu der Stelle, die für die gnostischen Affinitäten steht. Ich weiß nicht mal, ob sie zur gleichen Gruppe gehören, außerdem …«
»Zwölf?«, wiederholte Ramita. »Dann ist es der Geburtsmonat.«
Alaron verstummte und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Natürlich! Wieso bin ich da nicht selbst draufgekommen?«
Stolz und sehr zufrieden mit sich selbst legte Ramita Nas ins Bett und legte Dasra an die Brust. Dabei fiel ihr auf, wie viel Anstrengung es Alaron kostete, nicht doch einen Blick zu riskieren. Ich weiß, es ist gemein von mir, ihn so zu necken. Aber es ist schön, sich begehrt zu fühlen, auch wenn nie etwas daraus werden kann.
»Heißt das, ich habe recht?«, fragte sie. »Dann haben wir ja alle Variablen entschlüsselt!«
»Sieht ganz so aus«, bestätigte Alaron strahlend. »Die yurischen Monatsnamen kommen aus dem Lantrischen, also werden die Runen ebenfalls lantrisch sein.« Er sah aus, als wollte er jeden Moment vor Freude quer durchs Zimmer springen. »Wir haben’s geschafft, wir haben die Skytale entschlüsselt! Allerdings …« Sein Gesicht wurde plötzlich wieder ernst. »Wir kennen noch keine einzige Zutat. Wir wissen nur, welche Runen zu welchem Charaktertyp gehören.«
Ramita streichelte Dasras Köpfchen. Der Kleine lächelte selig und schien vollkommen unberührt von den schwerwiegenden Fragen, die die beiden Erwachsenen beschäftigten. »Dann finden wir das eben als Nächstes heraus. Wie viele Zutaten kommen denn infrage?«
»Zu viele«, antwortete Alaron mürrisch. »Von etwa der Hälfte kann ich zwar die Eigenschaften erraten, aber ich weiß nicht, ob die Skytale das vollständige Rezept mit den genauen Mengen angibt oder nur so eine Art Ausgangspunkt.«
»Du wirst schon noch dahinterkommen«, erwiderte Ramita zuversichtlich. »Da fällt mir ein: Wenn meine Mutter etwas Neues kocht, probiert sie das Rezept immer an Freunden aus und verfeinert es dann. Warum machen wir es nicht genauso?«
Alaron runzelte die Stirn. »Aber ich kann ja nicht mal die Zutaten … Oh, du meinst die Charaktertypen?!« Er schaute sie staunend an. »Warum nicht? Irgendwie müssen wir unsere Theorie ja überprüfen. Ich werde Puravai um Erlaubnis bitten, mit den anderen Novizen zu sprechen und das, was wir bis jetzt wissen, an ihnen auszuprobieren. Wenn ich es schaffe, mir ein Bild davon zu machen, wie die Zutaten bei gewöhnlichen Menschen aussehen müssten, hilft uns das bestimmt, wenn es ernst wird.«
»Es wird dich auf jeden Fall ein ganzes Stück weiterbringen«, bestätigte Ramita. »Menschen sind kompliziert.«
Er lächelte versonnen. »Oh ja. Wenn ich eins gelernt habe, dann das.«
Jetzt, da die Zeit des Abschieds nahte, verging der Julsept wie im Flug. Puravai hatte Alaron gestattet, die anderen Mönche und Novizen zu befragen, was sich als äußerst interessante und einzigartige Erfahrung herausstellte. Morgen für Morgen fing er gleich nach den Übungsstunden damit an. Die Teilnahme war natürlich freiwillig, aber die Novizen waren so neugierig, dass sie jedes Mal Schlange standen. Die meisten Fragen waren schnell gestellt, nur die über die sexuelle Orientierung nicht. Alaron konnte sich ja schlecht erkundigen, ob jemand sich eher zu Männern oder Frauen hingezogen fühlte, also musste er es auf anderem Weg herausfinden. Ramita hatte vorgeschlagen, es so zu formulieren: »Wenn du noch einmal wählen könntest, würdest du immer noch Mönch werden oder lieber heiraten?« Die meisten Novizen antworteten, sie würden sich wieder für das Klosterleben entscheiden, was darauf hindeutete, dass die Frage nicht geeignet war, um die sexuelle Orientierung zu erkennen. Außerdem hatten sie nach wie vor keine Ahnung, wie sie die Blutgruppe herausfinden sollten. Alaron hatte zwar eine Abhandlung zu dem Thema gefunden, in der versucht wurde, einen Zusammenhang zwischen Charakter und Blutgruppe herzustellen, aber jemand hatte die Schriftrolle mit so vielen kritischen bis vernichtenden Anmerkungen versehen, dass Alaron bezweifelte, ob sie überhaupt etwas taugte.
Gegen Ende der zweiten Woche hatte er die meisten Novizen auf seiner Liste erfasst, außerdem ein paar junge Mönche, die unbedingt hatten teilnehmen wollen. Schließlich erweiterte er sie um Menschen, die er gut genug zu kennen glaubte, um selbst für sie zu sprechen: Cym, Ramon und seinen Vater Vann. Ein echter Durchbruch war das noch nicht, aber zumindest half es ihm, weitere Theorien aufzustellen.
Und während der gesamten Zeit wurde seine Gnosis immer stärker. Allmählich fühlte er sich, als wäre er tatsächlich der vierarmige Sivraman, Herr über die Elemente. In seiner Aura bildete sich ein drittes Auge, es saß auf seiner Stirn, und über seinen Schultern hing ein Löwenfell, das für Hermetik stand. Nur für Theurgie wollten ihm keine geeigneten Symbole einfallen, bis er auf die Idee kam, die vier theurgischen Studien mit den Frauen zu verbinden, die ihm am meisten bedeuteten: Ramita stand für Mystizismus, weil er sich ihr so stark verbunden fühlte, Cym für Illusion, denn genau das war seine Schwärmerei für sie gewesen: eine Täuschung. Seine Mutter Tesla, die nun ein Geist war, setzte er für den Spiritismus, und bei Anises wunderschönen Augen musste er unwillkürlich an Mesmerismus denken.
Am Arkanum hatten sie alles über die einzelnen gnostischen Studien auswendig lernen müssen, selbst über die, die ihnen nicht zugänglich waren, damit sie sich gegen sie schützen konnten. Diese Paukerei machte sich nun bezahlt, sodass er täglich Fortschritte erzielte. Allerdings bedeutete das auch, dass es Ende Julsept keinen Grund mehr gab, den Abschied noch weiter aufzuschieben: Es war an der Zeit, das friedliche Kloster zu verlassen und Großwesir Hanouk aufzusuchen.
»So, Meister Merser, nun wirst du uns also verlassen«, sagte Puravai in dem getragenen Tonfall, der so typisch für ihn war. Alaron und Ramita hatten ihn aufgesucht, um sich von ihm zu verabschieden. Der Klostervorsteher schien nicht überrascht, fügte aber hinzu: »Ich hatte gehofft, du würdest uns erhalten bleiben und wirklich unser Bruder Langbein werden.«
Alaron war nicht sicher, ob Puravai es ernst meinte oder nur höflich sein wollte. »Wir müssen zum Hof des Moguls.«
»Oh ja, das sehe ich auch so. Ich kannte Wesir Hanouk, und wie ich euch bereits sagte: Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, und Hanouk gehörte zu denjenigen, die für die Welt außerhalb der Klostermauern geschaffen sind, wie so viele andere. Deshalb unterhalten wir auch in den Städten Klöster.« Er klatschte in die Hände, und Yash kam herein. Er wirkte neugierig, aber auch etwas angespannt. »Bruder Yash hat um Erlaubnis gebeten, euch bis Teshwallabad begleiten zu dürfen, wo er seine Ausbildung fortsetzen wird.«
»Ich Teshwallabad sehr gut kennen«, meldete Yash sich sogleich zu Wort. »Habe lange dort gelebt und Meister Puravai gebeten, in Kloster dort gehen zu dürfen.«
Ramita überlegte kurz. »Deine Begleitung ist uns willkommen«, sagte sie schließlich. »Vorausgesetzt, das Skiff kann uns alle drei tragen.«
Alaron lächelte. »Es wird ein bisschen eng werden, sollte aber gehen. Nur … was machen wir mit den Babys?« Sie hatten bereits stundenlang über die Frage diskutiert, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Ramita hob das Kinn. »Meister Puravai, Al’Rhon und ich haben viel über dieses Thema gesprochen. Er will, dass ich meine Kinder hierlasse, bei einer Amme. Aber das ist ausgeschlossen. Ich kann es nicht, also werde ich sie mitnehmen.« Sie warf Alaron einen trotzigen Blick zu. »So lautet meine Entscheidung.«
»Der Hof des Moguls ist gefährlich, Dame Ramita«, gab Puravai zu bedenken.
»Ich werde meine Kinder nicht hier zurücklassen«, wiederholte Ramita entschlossen. »Keine weiteren Diskussionen.«
Der Neumond kündigte den Beginn des Monats Augeite an. In der Welt außerhalb des Klosters feierten die Amteh nun das rauschende Eijeed-Fest, denn der Julsept – oder Rajab, wie er in Ahmedhassa hieß – war der heilige Monat der Amteh, eine Zeit des Fastens und des Gebets. Und wenn der Neumond heraufzog, waren die dreißig langen Tage der Enthaltsamkeit endlich vorbei. Hier im Zain-Kloster war es nur ein Tag wie jeder andere. Alaron und Ramita hatten das Skiff bereit gemacht, es mit Proviant beladen, überwiegend getrocknete Linsen, und über Landkarten gebrütet. Um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, würden sie hauptsächlich nachts fliegen. Die Reise sollte etwa eine Woche dauern.
Der Aufbruch fiel Alaron überraschend schwer. Als Abschiedsgeschenk überreichten ihm die anderen Novizen, mit denen er so lange geübt hatte, einen Kon-Stab – verziert mit über dreißig bunten Freundschaftsbändern. Sie waren tatsächlich so etwas wie Brüder geworden. Alaron kannte ihre Eigenheiten und wusste, wie sie kämpften, nicht zu vergessen die Dinge, die er auf seiner Liste erfasst hatte: Alter, Geburtsdatum, Augenfarbe und all die anderen Eigenschaften, die für das Einstellen der Skytale wichtig waren. Ich werde sie vermissen, jeden Einzelnen. Und das Kloster auch. Es ist wie mein zweites Zuhause.
Dann brachen sie ohne großes Zeremoniell auf. Lunes Antlitz überzog die verschneiten Gipfel mit schimmerndem Silber und tauchte die schroffen Täler in dunkle Schatten. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der frostigen Nachtluft. Ramita saß in eine dicke Decke gewickelt, die Zwillinge schliefen auf ihrem Schoß. Nur Puravai war gekommen, um sie zu verabschieden, und Yash schien es sehr eilig mit dem Aufbruch zu haben, als fürchtete er, der Klostervorsteher könnte seine Meinung im letzten Moment doch noch ändern und ihn hierbehalten.
Puravai steckte Alaron einen Umschlag zu. »Überreiche ihn Hanouk zur Begrüßung«, flüsterte er. »Und gib acht, dass das Siegel nicht beschädigt wird.«
Alaron steckte den Umschlag in seinen Mantel. Er war wieder gekleidet wie ein Rondelmarer, auch sein Schwert hatte er umgegürtet. Den Kon-Stab legte er neben Yashs in das Skiff, dann luden er und Ramita den Kiel mit Luftgnosis auf. Als sie stiegen, rief Alaron die Winde herbei, und schon kurze Zeit später war das Kloster vom Skiff aus kaum noch zu erkennen. Nur Puravais Robe leuchtete wie ein winziger safranfarbener Punkt im Mondlicht, bis die Gebirgskämme den Blick auf ihre vorübergehende Zuflucht endgültig verdeckten und Alaron Kurs auf einen in östlicher Richtung gelegenen Pass setzte.
»Gepriesen seien die Götter«, staunte Yash atemlos. »Ich fliege!«
Es fühlte sich nicht an wie eine Rückkehr in die Heimat, dennoch berührte es Ramitas Herz, Nordlakh zu sehen. Pro Stunde legten sie etwa dreißig Meilen zurück, wie Alaron anhand ihrer Karte abschätzte. Insgesamt kamen sie auf etwa einhundertfünfzig Meilen pro Nacht, und die unter ihnen vorbeiziehende Landschaft veränderte sich schnell. Im Moment waren sie über der Sithardha-Wüste. Von hier oben sahen ihre Dünen aus wie zu Sand erstarrte Wellen auf dem Ozean.
Während der drückend heißen Tagesstunden schliefen sie im Schatten des Rumpfes. So etwas wie Privatsphäre gab es nicht, und Yash machte der Anblick einer stillenden Frau sogar noch mehr zu schaffen als Alaron. Alaron half Ramita, wo er nur konnte, reichte ihr die Babys und wusch sie, doch der junge Zain-Novize schien solche »Frauenarbeit« für unter seiner Würde zu halten. Das ärgerte Ramita zwar, im Großen und Ganzen aber kamen sie gut miteinander aus. Yash liebte das Fliegen, wollte alles darüber erfahren, fragte, wie Segel und Ruder funktionierten und wie es kam, dass der Wind das Skiff antrieb. Schon bald mussten Alaron und Ramita nur noch den Kiel aufladen und konnten das Steuern Yash überlassen.
Zu Fuß hätten sie den langen Weg durch die Wüste niemals geschafft, aber sie hatten das Skiff, und schon nach einer Woche wurde die Landschaft unter ihnen wieder grüner. Sie näherten sich dem imposanten Bett des heiligen Imuna. Der Fluss war über fünf Meilen breit, wie eine dösende Schlange lag er bräunlich schimmernd im Mondlicht. Ramita konnte die Augen gar nicht mehr von dem Anblick abwenden, und ihre Lippen bewegten sich im stummen Gebet.
Dies ist der heiligste aller Flüsse, sagte sie in Gedanken zu ihren Kindern. Imuna, die Tochter von Baraman, dem Erschaffer, wird uns beschützen. Dann wanderte ihr Blick weiter zu Alaron, der das Skiff Richtung Süden wendete, um den warmen Nordwind auszunutzen. Sein Haar war lang und zerzaust, er hatte es seit Monaten nicht mehr geschnitten, und Ramita stellte sich vor, wie es wäre, seine unbändigen Locken zu zähmen. Wenn wir dem Wesir gegenübertreten, sollte er besser nicht aussehen wie ein Wilder.
Sie folgten dem Fluss und versuchten, anhand von Puravais Karte die Siedlungen am Ufer zu identifizieren. Ramita kannte viele der Namen noch vom Aruna-Nagar-Markt. Die dort gehandelten Waren kamen von überall her, eine Stadt war berühmt für ihre Chilischoten, eine andere für Granatäpfel und so weiter.
»Sieh dir nur an, wie groß hier alles ist«, staunte Alaron. »Neben diesen Städten sieht Norostein ja aus wie ein Dorf!«
»Dann ist dein Norostein wohl ein Dorf«, erwiderte Ramita.
»Es ist die Hauptstadt von Noros«, widersprach Alaron und blickte hinunter auf die Häuser einer kleineren Siedlung, die sie als Ghanasheed identifiziert hatten.
»Aber Norostein liegt in Yuros«, sprach Ramita weiter. »Bei uns ist alles größer.«
»Außer den Menschen.« Alaron kicherte. »In jeder Hinsicht.«
Yash schien den Kommentar als Beleidigung aufzufassen, aber Ramita kicherte ebenfalls. Weiße Männer waren nun mal größer, und ihr Gatte war, nun ja, sehr groß gewesen – alles an ihm. Kazim war allerdings auch nicht gerade klein, auf jeden Fall ein gutes Stück größer und breiter als Alaron und die meisten anderen Weißen, die Ramita bisher gesehen hatte. Zum ersten Mal seit Wochen fragte sie sich, wo Kazim wohl sein mochte. Sie hatte ihm immer noch nicht verziehen und bezweifelte, dass sie es je tun würde. Du gehörst jetzt zu meiner Vergangenheit. Ich brauche nicht mehr an dich zu denken, nie wieder. Und auch nicht an dich, Huriya. Ich kenne euch beide nicht mehr.
Ein paar Tage später sahen sie etwa drei Stunden vor Anbruch der Dämmerung die Lichter einer riesigen Stadt in der Dunkelheit schimmern. Zahllose Dom-al’Ahms hoben sich in mattem Weiß von den anderen Gebäuden ab, das Auffälligste aber waren die gelblich-goldenen Mauern eines gigantischen Komplexes, der wie ein schlafender Löwe über allem thronte – der Palast des Moguls. Die riesige Palastkuppel schien nicht nur das Mondlicht zu reflektieren, sondern von innen heraus sanft zu leuchten.
»Teshwallabad«, sagte Ramita, als wäre es schon ein Genuss, nur das Wort auszusprechen. »Wir sind da!«
Alaron ging in den Sinkflug über und suchte nach einem geeigneten Landeplatz, an dem sie das Skiff gut verstecken konnten. Er entschied sich für einen niedrigen Hügel ein gutes Stück abseits vom Fluss Imuna und steuerte auf die der Stadt abgewandte Seite zu. Im Dunkeln zu landen war nicht einfach, also beschwor er ein Licht herauf, das den Untergrund erhellte, bis er ein sandiges Flachstück entdeckte. Ramita zog ihre Kinder an sich und hüllte das Skiff in eine Illusion, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen, während Alaron zur Landung ansetzte.
Kurz vor dem Aufsetzen sprang Yash mit dem Halteseil über Bord, Alaron holte das Segel ein und zog die Luftgnosis aus dem Kiel ab. Das Skiff senkte sich und landete sanft, als einer der Zwillinge plötzlich zu wimmern begann. Ramita zog ihn noch näher an ihre Brust und sprach sanft auf ihn ein.
»Alles in Ordnung?«, fragte Alaron.
»Theeka«, erwiderte Ramita leise. »Still, meine Kleinen.« Sie strahlte so viel Ruhe aus, wie sie nur konnte, um die beiden kleinen Energiebündel zu besänftigen. »Schlaft weiter, es ist alles gut.« Hoffe ich zumindest, dachte sie und dankte Parvasi für die bisher reibungslose Reise.
Wichtige Aufgaben warteten auf sie, doch als Erstes mussten sie diesen Hügel erklimmen – teils, um sicherzugehen, dass das Versteck nicht von einem nahe gelegenen Bauernhaus zu sehen war, aber vor allem, um den Anblick Teshwallabads zu bewundern. Die riesige Palastkuppel schimmerte in einem blassen Goldton, der von unfassbarem Prunk und Reichtum zeugte. Ramita nahm Nasatya auf den Arm, Alaron trug Dasra. Sie sehen gut aus, er und mein Kind, dachte sie liebevoll und biss sich auf die Lippe. Wird mein künftiger Gemahl ebenfalls so gut und sanft sein wie er?
Ramita hatte sich ein Geschirr gemacht, in dem sie die Zwillinge auf dem Rücken tragen konnte, sodass sie die Hände freihatte und die beiden nicht auf ihre prallen Brüste drückten. Der Gedanke an das Geschirr erinnerte sie daran, dass es bald an der Zeit war, ihre Kinder von der Muttermilch zu entwöhnen.
»Was für eine Stadt!«, staunte Alaron, während er auf den Palast in der Ferne starrte.
»Ihr beide wissen, wie der Mogul Herrscher von Lakh geworden ist?«, fragte Yash unvermittelt.
Ramita kannte die Geschichte, aber Alaron schüttelte den Kopf, also sprach Yash weiter: »Kesh und Khotri wieder einmal Krieg miteinander, also der Emir von Khotri senden einen Boten zum Maharadscha von Lakh und bitten um Hilfe, obwohl Lakh und Khotri auch oft Krieg. Maharadscha war der große Raj-Prithan, der schon immer Herrscher von ganz Ahmedhassa werden wollte. Also er schicken eine große Armee, um Khotri zu helfen und vielleicht einen Fuß in die Tür zu kriegen, wie man so sagt.«
Obwohl Ramita das alles längst wusste, machte die Geschichte sie immer noch wütend. Der Sturz des großen Maharadschas von Lakh, Raj-Prithan, war wie eine Narbe in der Geschichte ihres Volkes.
»Aber alles eine Falle«, fuhr Yash grimmig fort. »Kesh und Khotri sich heimlich verbünden, Maharadscha Raj-Prithan hierherlocken und seine Soldaten vernichten. Nordwestlich von Ullakesh ein Tal, das angeblich ganz weiß von den vielen Skeletten toter Lakh. Raj-Prithan wurde gefangen genommen und getötet, dann die Khotri Teshwallabad erobern. Der Sohn des Emirs wurde Mogul von Lakh, seitdem er und seine Nachkommen immer weiter nach Süden vordringen. Überall, wo sie hinkommen, verfolgen sie die Omali und setzen ihre eigenen Herrscher anstelle der Radschas ein.«
»Wann war das?«, fragte Alaron.
»1288«, antwortete Yash knapp. »Das Datum wie in unsere Seelen gebrannt.«
»Der yurische und der antiopische Kalender liegen 454 Jahre auseinander«, überlegte Alaron laut und rechnete im Kopf nach. »Das heißt, 834 nach unserer Zeitrechnung, also vor fünfundneunzig Jahren. Noch gar nicht so lange her.«
»Dauern trotzdem schon zu lang«, murmelte Yash.
Alaron warf Ramita einen kurzen Blick zu. »Warum hat Meiros uns zu einem Amteh-Herrscher geschickt?«
»Hat er nicht«, widersprach Ramita. »Er schickt uns zu Hanouk, dem Wesir.«
»Was ist ein Wesir?«
»Oberster Berater«, erklärte Yash mürrisch. »Er hilft den Amteh, unser Volk zu unterdrücken.«
»Mein Vater hat immer gesagt, Hanouk würde viel Schlimmeres verhindern«, entgegnete Ramita. Sie dachte zurück an die abendlichen Gespräche und die hitzigen Diskussionen über dieses und ähnliche Themen, die ihre Eltern sich immer wieder mit Freunden geliefert hatten.
»Wie kann der Mogul so ein riesiges Reich kontrollieren?«, hakte Alaron nach.
»Angst«, antwortete Yash. »Bei kleinstem Anzeichen von Aufstand schickt er Soldaten und lässt alle abschlachten, auch die Unschuldigen. Lakh, die ihre eigenen Mitbürger bespitzeln, bekommen eine Belohnung.« Er atmete schwer. »Sie haben meine Eltern getötet.«
Ramita runzelte die Stirn. »Du bist doch wohl nicht etwa mitgekommen, um Rache zu nehmen? Du bist ein Zain.«
Yash machte das heilige Zeichen. »Ich bin ein Kind der Zain«, bestätigte er. »Der Wind geht durch mich hindurch, ich spüre weder Hitze noch Kälte.« Es war eine Strophe aus dem Morgengebet der Zain.
»Mein Mann hat Hanouk vertraut, also werden wir ihm ebenfalls vertrauen.«
Sie gingen zurück zum Skiff und entluden es, dann legten sie den Mast um und deckten den Rumpf zur Tarnung mit dem Segel ab. »Wie wär’s, wenn wir es noch ein bisschen besser verstecken?«, fragte Alaron mit einem vielsagenden Grinsen.
Gemeinsam beschworen sie ihre Erdgnosis und Telekinese, hoben im Nu ein großes Loch aus und ließen das Skiff hineinschweben. Um alles perfekt zu machen, ließ Ramita noch ein paar dürre Sträucher über der zugeschütteten Grube wachsen und blies mit Luftgnosis Sand über das Ganze, bis der kleine Hügel aussah, als wäre er schon immer an dieser Stelle gewesen.
Yash beobachtete die beiden ehrfürchtig, dabei war ihm das volle Ausmaß dessen, was er soeben gesehen hatte, nicht einmal bewusst: Es war das erste Mal, dass Alaron und Ramita außerhalb des Klosters mehrere Formen der Gnosis gleichzeitig benutzten. Und es hatte funktioniert!
Als Nächstes stillte Ramita die Zwillinge und legte sie schlafen, dann erklommen sie zu dritt noch einmal den Hügel, um den Sonnenaufgang zu bewundern. Die Kuppeln der Stadt erhoben sich aus dem Dunst über dem Fluss, und die Gesänge der Gottessprecher hallten zu ihnen herüber. Für Ramita war es wie Musik in den Ohren, aber Alaron hatte so etwas noch nie gehört. »Das ist der Ruf zum Morgengebet«, erklärte Ramita. »Die Amteh beten sechs Mal am Tag.«
»So viel verlangt ja nicht mal die Kirche Kores!«
»Es halten sich auch nur die wirklich Frommen daran«, bestätigte Ramita lachend. »In Baranasi kannte ich Amteh, die zur Gebetszeit einfach die Vorhänge geschlossen und so lange eine Tasse Chai getrunken haben.«
Alaron grinste. »Klingt ganz wie bei uns: Bei den Kore gibt es jeden Tag einen Morgen-, Mittags- und Abendgottesdienst, aber die meisten gehen nur ein Mal in der Woche hin, nämlich am Sabadag. Es kommen ja sowieso nur die Heiligen in den Himmel, wie es bei uns so schön heißt.« Er schaute hinüber zur Palastkuppel, die nun in ihrem vollen Glanz erstrahlte. »Wie riesig das Ding ist!«