Die Brüder Himmler - Katrin Himmler - E-Book
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Katrin Himmler

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Beschreibung

Heinrich Himmler, der Reichsführer SS und enge Vertraute Adolf Hitlers, war einer der wichtigsten Männer im »Dritten Reich« und zentral für die Vorbereitung und Durchführung des Mordes an den europäischen Juden. Er war der Großonkel der 1967 geborenen Politikwissenschaftlerin Katrin Himmler, Heinrichs Bruder Ernst war ihr Großvater. Anhand von Briefen und persönlichen Dokumenten ist sie der Geschichte der Brüder Himmler und damit der Geschichte ihrer eigenen Familie auf den Grund gegangen. Zwar wurde in der Familie offen über die Verbrechen Heinrich Himmlers gesprochen, doch dessen Brüder Ernst und Gebhard galten als weitgehend unbelastet. Katrin Himmler findet etwas anderes heraus: Die beiden Brüder waren wie Heinrich Himmler frühe Anhänger der Partei und unterstützten mit ihrer Tätigkeit im Reichserziehungsministerium und im Reichsrundfunk engagiert das nationalsozialistische Regime. Katrin Himmler erzählt die Geschichte einer Familie, in der es kein Mitleid mit den Verfolgten, sondern Einverständnis mit den politischen Verhältnissen gab – bei den Ehefrauen, den Freunden, dem Schwager und bei der Geliebten Heinrich Himmlers, Hedwig Potthast. Ein mutiges, ehrliches und außerordentlich kluges Buch, das zeigt, dass die nationalsozialistischen Täter durchaus aus ganz normalen bürgerlichen Familien stammten.

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Seitenzahl: 428

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Katrin Himmler

Die Brüder Himmler

Eine deutsche Familiengeschichte

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Zitat]Die alten Geschichten»Großvater« habe ich ihn nie genanntEine ganz normale Familie»Die Kinder erziehe zu deutschgesinnten Männern!«Trichter an Trichter»Am Freitag gehen wir zum Schießen«»Alles tobte vor Begeisterung!«Dienen und opfern»Wir müssen glücklich werden«»Endlich in der Festung Fuß gefasst«»Nationalsozialistische Zuverlässigkeit«Zum Gemeinschaftsopfer erziehen»Weitermarschieren! Weiterkämpfen! Weiterarbeiten!«»Stets Dein getreuer Richard«»Vergiss mich nicht. Deine X.«»Die schönen Erinnerungen lassen wir uns nicht nehmen!«»Ein Opfer seines Bruders«FamiliengeschichtenNachwortAbkürzungenAnmerkungenLiteraturverzeichnis[Tafelteil]

Für meinen Sohn

»Wenn wir an ihrer Stelle gewesen wären, hätten wir wie sie werden können.«

 

Tzvetan Todorov, Angesichts des Äußersten

Die alten Geschichten

Ein Vorwort

Als ich fünfzehn war, fragte einer meiner Mitschüler im Geschichtsunterricht plötzlich, ob ich eigentlich »mit dem Himmler« verwandt sei. Ich bejahte, mit einem Kloß im Hals. Es war mucksmäuschenstill in der Klasse. Alle waren hellwach und gespannt. Die Lehrerin aber wurde nervös und machte weiter, als sei nichts geschehen. Sie verpasste eine Chance, begreiflich zu machen, was uns, die Nachgeborenen, mit diesen »alten Geschichten« überhaupt noch verbindet.

Ich selbst bin lange dieser Frage ausgewichen. Ich wusste Bescheid über Heinrich Himmler, meinen Großonkel. Ich wusste Bescheid über den »Jahrhundertmörder«, der verantwortlich war für die Vernichtung der europäischen Juden und die Ermordung von Millionen anderer. Meine Eltern hatten mich früh mit Büchern über die NS-Zeit versorgt. Erschüttert und in Tränen aufgelöst las ich vom gescheiterten Aufstand der Menschen im Warschauer Getto, von Emigrantenschicksalen und vom Überlebenskampf versteckter Kinder. Ich identifizierte mich mit dem Schicksal der Verfolgten, schämte mich meines Namens und fühlte mich oft auf ebenso unerklärliche wie bedrückende Weise schuldig. Als ich später Politologie studierte, war die Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit immer ein zentrales Thema für mich.

Aber um meine eigene Familie machte ich dabei stets einen Bogen. Der Anstoß, mich näher mit ihrer Geschichte zu beschäftigen, kam erst später und eher zufällig. Mein Vater bat mich, in Berlin nach Akten über seinen Vater im Bundesarchiv zu forschen. Bis dahin war mein Großvater, den ich nie kennen gelernt hatte, für mich nur der jüngste Bruder Heinrich Himmlers gewesen, ein Techniker, ein Ingenieur und der Leiter des Reichsrundfunks Berlin – den Erzählungen nach ein eher unpolitischer Mensch. Nichts an ihm hatte bisher meine Neugier wecken können.

Schon bei meiner ersten Akteneinsicht machte ich die irritierende Entdeckung, dass die meisten der in der Familie kursierenden Erzählungen nicht mit dem übereinstimmten, was die dünnen Akten verrieten. Ernst war ein früh überzeugter Nationalsozialist, der im Gegenzug für die Karrierehilfe durch Heinrich dem Reichsführer SS Handlangerdienste leistete. Auch Gebhard, der älteste der drei Brüder Himmler, so entdeckte ich nach und nach, war ein ehrgeiziger Aufsteiger, ein überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde, der schon mit dem Bruder Heinrich am Hitler-Putsch 1923 teilgenommen hatte und später Karriere als Abteilungsleiter im Reichserziehungsministerium machte. Ich musste feststellen, dass beide Brüder ihre fachliche Kompetenz bereitwillig in den Dienst einer Überzeugung gestellt hatten, die sie mit Heinrich und anderen Verwandten, mit Kollegen und Nachbarn teilten.

Das galt auch für die Himmler-Eltern. Der Gymnasialdirektor Gebhard Himmler und seine Frau Anna hatten vor 1933 noch mit einer gewissen missbilligenden Skepsis auf den scheinbar weniger zielstrebigen mittleren Sohn geblickt, entwickelten sich dann aber, wie ihre Briefe an Heinrich Himmler zeigen, zu begeisterten Nationalsozialisten. Auch ihnen wusste Heinrich dank seiner Machtstellung im Dritten Reich Vorteile und Privilegien zu verschaffen.

In den folgenden Jahren war ich zunächst mit anderem als der Familiengeschichte beschäftigt. Dabei zog es mich immer in Länder wie Polen und Israel, deren Geschichte so eng und so unheilvoll mit der deutschen, aber auch mit meiner familiären Geschichte verknüpft ist. In Polen hatte Heinrich Himmler nicht nur gnadenlos den rassistischen Vernichtungsfeldzug der Nazis gegen die jüdischen und slawischen »Untermenschen« organisiert. Sein Bruder Gebhard hatte 1939 als Kompanieführer am Überfall auf Polen teilgenommen, von ihm selbst auch lange nach dem Krieg noch als »rasantes« Abenteuer geschildert. Gebhards Schwager Richard Wendler war Gouverneur von Krakau gewesen, als die Krakauer Juden deportiert wurden. Und im damaligen »Warthegau« hatten meine Großmutter und die Kinder nach der Evakuierung aus Berlin im Krieg gelebt, auf einem Gutshof, dessen polnische Besitzer zuvor vertrieben worden waren. Immer wieder stieß ich auf die Spuren meiner Familie. Aber die übermächtige Schuld Heinrich Himmlers scheint in den Familien seiner Brüder dazu geführt zu haben, die eigenen Väter weitgehend zu entlasten – trotz der ständigen diffusen Ängste, auch deren Schuldverstrickung könnte größer gewesen sein, als man glauben möchte.

Solche Ängste hatte ich auch selbst. So unglaublich es klingen mag – erst fünf Jahre nach Beginn meiner Recherchen stieß ich in meinem Elternhaus auf Dokumente, Zeugnisse, Briefe, Adressbücher. Ich wusste, dass in der Familie Himmler alles Schriftliche, von der Stromrechnung über Briefentwürfe bis hin zu Urkunden und Fotos, wenn möglich, aufgehoben wurde, aber nie hatte ich bis dahin gezielt danach gefragt oder gesucht. Es war eine Mappe, in der meine Großmutter, die ich noch gekannt und sehr geschätzt hatte, vieles aufbewahrte. Die späte Erkenntnis, dass sie auch noch Jahre nach 1945 Teil eines Netzwerkes alter Nationalsozialisten gewesen war, die sich gegenseitig unterstützten, war für mich besonders schmerzlich.

Wenn man die Geschichte der eigenen Familie erforscht, ist es schwer, die durch Nähe erzeugten Blindheiten und Denkverbote zu durchbrechen. Es bleibt ein schmerzhafter Prozess, ständig durch Verlustängste gefährdet.

Ich brauchte nach den ersten Aktenfunden über meinen Großvater drei Jahre, um mir einzugestehen, dass mich diese Familiengeschichte nicht mehr loslassen würde. Inzwischen war ich Mutter eines Sohnes geworden, der nicht nur die schwere Erblast meiner Familie übernehmen würde. Sein Vater gehört einer jüdischen Familie an, die von den SS-Leuten meines Großonkels Heinrich verfolgt worden war und deren Angehörige bis heute von dem tief sitzenden Trauma der Ermordung vieler Familienangehöriger heimgesucht werden. Mir wurde klar, dass ich meinem Kind später eine Familiengeschichte überliefern wollte, die die in der Familie kursierenden Legenden nicht länger fortsetzte.

Dass am Ende dieser Absicht ein Buch stand, verdanke ich vielen, die mit dazu beigetragen haben. Ihnen möchte ich an dieser Stelle danken.

Den ersten entscheidenden Anstoß zu meinen Nachforschungen gab mein Vater. Ein konkretes Forschungsprojekt wurde daraus durch Professor Wolff-Dieter Narr und die Teilnehmer des Universitätsseminars »Die Enkelgeneration der Täterinnen und Täter des Nationalsozialismus« an der Freien Universität Berlin.

Danken möchte ich allen Familienangehörigen, die mir Dokumente zur Verfügung stellten und sich mehrmals geduldig von mir interviewen ließen.

Bei den umfangreichen Recherchen haben mich die Mitarbeiter zahlreicher Institutionen unterstützt, insbesondere möchte ich Herrn Pickro vom Bundesarchiv Koblenz danken, der äußerst hilfsbereit war und immer Zeit für mich hatte. Behilflich waren mir bei meinen Nachforschungen jedoch auch zahlreiche Mitarbeiter des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde, des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, des Archivs der TU München, des Landesarchivs Berlin und des Vereins Kontakte e.V. in Berlin.

Ganz besonderer Dank gebührt Michael Wildt vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Er war der erste Fachhistoriker, der das Manuskript in seiner Rohfassung gelesen hat. Seine Ermutigung, seine Ratschläge und Hilfestellung waren entscheidend für den weiteren Fortgang meiner Arbeit.

Heinz Höhne hat mir Material aus seinem Privatarchiv zur Verfügung gestellt, Anne Prior hat für mich freundlicherweise Informationen über den Dinslakener Teil meiner Familie beschafft. Andreas Sander von der Stiftung Topographie des Terrors hat mir mit wichtigen Hinweisen weitergeholfen, ebenso Peter Witte.

In besonderer Weise möchte ich Ingke Brodersen danken, die nicht nur einen Verlag für das Manuskript gefunden, sondern dieses auch kritisch redigiert und begleitet hat. Sie war immer für mich da und die Zusammenarbeit mit ihr in jeder Hinsicht ein Glücksfall.

Mein Mann hat mir durch zahllose Gespräche weitergeholfen, er und meine Schwiegereltern haben mir von Anfang an Mut zu diesem Buch gemacht. Freundinnen und Freunde haben geduldig zugehört, mit mir über das Projekt diskutiert, Teile des Textes gelesen und mich bei meinen Forschungsreisen beherbergt.

Zum Schluss möchte ich vor allem meinen Eltern danken, die mich all die Jahre unterstützt und entlastet haben. Ohne sie wäre dieses Buch nicht geschrieben worden.

Berlin im Juni 2005

»Großvater« habe ich ihn nie genannt

Der Anruf

Ernst Himmler war schon lange tot, als ich geboren wurde. Das ist für meine Generation nichts Ungewöhnliches. Viele Ehemänner, Väter, Großväter kehrten nach dem Krieg nicht mehr zurück. Das Außergewöhnliche an meinem Großvater ist nicht sein Tod, sondern dass er der jüngere Bruder des Reichsführers SS Heinrich Himmler war, der die planmäßige Ermordung von Millionen im »Dritten Reich« organisierte.

Darüber wusste ich immer Bescheid, schon als Kind. Aber nie hatte ich darüber nachgedacht, wie mein mir unbekannter Großvater persönlich und politisch zu seinem älteren Bruder stand. Das änderte sich erst, als eines Morgens im Frühjahr 1997 das Telefon klingelte. Mein Vater. Ob ich für ihn eine Anfrage im Bundesarchiv machen könne wegen möglicher Akten über seinen Vater? Die seien freigegeben, seit die Amerikaner sie den Deutschen übergeben hätten. Und ich käme da doch leichter dran als er.

Ja, natürlich war eine solche Anfrage für mich leichter zu erledigen, meine Eltern wohnten weit entfernt von Berlin. Nach der deutschen Wiedervereinigung hat das Bundesarchiv die Akten des ehemaligen Berlin Document Center übernommen und die meisten der umfangreichen Bestände an Personalakten von Parteifunktionären, SS-Führern und NS-Tätern freigegeben. Aber warum glaubte mein Vater, dass in diesem Archiv etwas über seinen Vater, Ernst Himmler, zu finden sein könnte?

Ich beantragte Akteneinsicht. Der Andrang war damals noch groß, monatelang musste ich auf einen Termin warten. Ich war erleichtert über den Aufschub, das verschaffte mir Zeit zum Nachdenken über jemanden, der bis dahin in meinem Leben keine Rolle gespielt hatte. Meine Großmutter Paula, Ernst Himmlers Frau, die inzwischen längst tot ist, hatte ich nur einmal als Kind nach dem etwas steifen jungen Mann im schwarzen Anzug gefragt, der gerahmt an ihrer Wohnzimmerwand hing. Ich kann mich gut an die plötzlichen Tränen in ihren Augen erinnern und mein Erschrecken darüber. Was sie mir damals über ihn erzählte, weiß ich nicht mehr. Nie sprach sie von sich aus über ihn. Und ich fragte sie nie wieder nach ihm.

Auch meines Vaters Auskünfte waren immer spärlich gewesen. »Er war Techniker, beim Rundfunk in Berlin. Und er war wohl auch in der Partei.« So lautete eine dieser vagen Informationen, die ich bekam, stets mit der nachgeschobenen Bemerkung: »Aber das waren die ja alle.« Zum Parteieintritt hätte ihn sein Bruder Heinrich wohl erst »überreden« müssen, denn »mit Politik hatte Ernst nicht viel am Hut«. Vermutlich habe er sich »seine Karrierechancen nicht verbauen« wollen. Zu Ernsts Posten beim Reichsrundfunk habe ihm wohl Heinrich verholfen. »Heinrich hat sich immer sehr verantwortlich gefühlt für seinen jüngeren Bruder. Aber gesehen haben die beiden sich nicht sehr oft.«

Bisher hatten alle diese Bemerkungen über meinen Großvater für mich plausibel geklungen. Fragen hatte ich nicht gestellt. Es gab nichts an ihm, was meine Neugierde ernsthaft geweckt, nichts, was mich beunruhigt hätte. Erst seit der Bitte meines Vaters, im Archiv nach Akten über seinen Vater zu suchen, hatte sich das geändert. Ich fing an, mich zu fragen, was ich über meinen Großvater wusste. Wenig. Ziemlich nichts Sagendes. Äußere Daten, wie in einem tabellarischen Lebenslauf: 1905 in München geboren, aufgewachsen in einer gutbürgerlichen Familie, Ingenieur der Elektrotechnik, ab 1933 Angestellter des Reichsrundfunks (RRF) in Berlin, um diese Zeit Heirat mit Paula, dann Vater von drei Töchtern und einem Sohn, der mein Vater ist. Die Familie lebte in einer Doppelhaushälfte mit Garten in Berlin-Ruhleben. Während der letzten Kriegsjahre wurde Ernst Himmler zum Chefingenieur und stellvertretenden technischen Direktor des Reichsrundfunks befördert, kurz vor Kriegsende zum Volkssturm eingezogen; Anfang Mai 1945 starb er unter ungeklärten Umständen in Berlin.

Nichts weiß ich über diesen Mann, der mein Großvater war – weder wie er aufgewachsen, wie er mit seiner Frau und seinen Kindern umgegangen war, was ihn neben seinem Beruf interessiert haben mochte noch wie er zu den Nationalsozialisten gestanden hatte. Und zu seinem Bruder Heinrich. Ernst Himmler war mir bisher als ein ganz und gar durchschnittlicher, unspektakulärer Mensch erschienen. Die wiederholte Betonung, dass die beiden Brüder »nicht viel Kontakt« miteinander gehabt hätten, schien das Bild des politisch desinteressierten Technikers noch zu festigen. Es suggerierte ideologische Distanz zwischen beiden, ebenso wie die Vermutung, Ernst habe sich von seinem Bruder, wider willig oder gleichmütig, erst zum »Mitmachen« überreden lassen. Hatte sich der Jüngere nur dem Überlegenheitsanspruch des Älteren, des politisch Einflussreichen, gebeugt, war zugleich aber politisch auf Distanz zu ihm geblieben? Aber was sollte Heinrich dann dazu bewogen haben, Ernst bei der Karriere zu unterstützen? Sahen sie sich wirklich so selten wie behauptet? Und warum? Weil Ernst von dem Handeln des Bruders nichts wissen wollte oder weil Heinrich, der Reichsführer SS und spätere Innenminister, ganz von der ungeheuren Aufgabe erfüllt war, Deutschland und die von ihm okkupierten Nachbarländer von den »Feinden des deutschen Volkes« zu säubern? Was hatten mein Großvater Ernst und meine Großmutter Paula gewusst über das, was Heinrich tat? »Vielleicht«, so hat mein Vater immer gesagt, habe sein Vater etwas gewusst, seine Mutter aber bestimmt nicht, »die war politisch sehr naiv«.

Ich fing an, mich über die Bestimmtheit, mit der er das sagte, ebenso zu wundern wie über meine bisher fehlende Skepsis. Wer dem Reichsführer SS so nahe gestanden hatte wie meine Großmutter, musste schon große Anstrengungen unternehmen, um nichts zu wissen von den Verhaftungen politisch Andersdenkender, von der Entrechtung der deutschen Juden und ihrem »Verschwinden« in den Konzentrationslagern.

Es gelang mir nicht, das Bild von Ernst schärfer zu bekommen. Ich schämte mich plötzlich dieses Nichtwissens, dieser naiven Ignoranz gegenüber meiner Familiengeschichte. Obwohl ich um die Nähe meines Großvaters zu Heinrich Himmler wusste, hatte ich in meiner Wahrnehmung immer eine scharfe Trennungslinie zwischen »Heinrich dem Schrecklichen« und »Ernst dem Unpolitischen« gezogen. Und das, so stellte ich verwundert fest, obgleich ich mich seit Jahren intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigt und besonders für die fließenden Übergänge zwischen Tätern, Mitwissern, Nutznießern und Mitläufern interessiert hatte – nicht aber in der eigenen Familie.

Im Juni 1997 hatte ich meinen Termin im Bundesarchiv. Ich fuhr nach Lichterfelde hinaus und hatte bereits beim Betreten des riesigen ehemaligen Kasernengeländes das Gefühl, eine Zeitreise anzutreten. Durch den Zaun sieht man zunächst die alten wilhelminischen Bauten, in leuchtendem Ziegelrot, die Ende des 19. Jahrhunderts als »Preußische Kadettenanstalt« gebaut und als solche bis zum Ersten Weltkrieg genutzt wurden. Am Eingang dann einige Gebäude, die sichtbar aus der NS-Zeit stammen, graue, monumentale Hässlichkeiten mit Säulengang und nordisch-athletischen Skulpturen. Damals war hier die »Leibstandarte-SS Adolf Hitler« untergebracht, die sich, auf den »Führer« vereidigt, unter ihrem Kommandeur Sepp Dietrich als »Elite in der Elite« sah. Nach 1945 bezogen amerikanische Truppen das Areal, bauten anstelle der größtenteils zerstörten Gebäude Unterkünfte und Verwaltungsbüros, die Andrew’s Barracks. In einem dieser Gebäude ist heute das Bundesarchiv untergebracht.

Im Lesesaal bekam ich einige dünne Akten über Ernst Himmler ausgehändigt, dazu eine lange Liste mit Hinweisen zum Weiterforschen. Mit gemischten Gefühlen nahm ich die Dokumente entgegen. Da war zunächst der Schreck, dass es tatsächlich etwas über ihn gab – aber auch Neugier; Erleichterung, dass es nur eine dünne Akte war, aber auch Angst vor dem, was sie enthalten könnte.

In der Personalmappe befanden sich nur wenige kopierte Blätter. Ein Parteiausweis mit Foto, ein Lebenslauf und einige amtliche Schreiben. Ich sah mir den Parteiausweis genauer an und las das Eintrittsdatum: »1. November 1931«. Merkwürdig: wieso schon 1931, mehr als ein Jahr vor der Machtübernahme der Nazis? Wie passte das zu der Behauptung, Ernst habe von Heinrich erst zum Parteieintritt überredet werden müssen? Ich las weiter und fand unter den Papieren die Mitteilung, dass er ab 1. Juni 1933 Mitglied der SS geworden war. Das war der Tag, als er seine Stelle beim Reichsrundfunk antrat. SS? Davon war doch noch nie die Rede gewesen! Die SS war Heinrichs Organisation, und die auffallende Gleichzeitigkeit von Ernsts SS-Beitritt und seinem Arbeitsantritt beim Rundfunk passte zur Vermutung meines Vaters, dass Heinrich bei seinem Bruder Karrierehilfe geleistet habe. Ich saß vor den Papieren, die die Vergangenheit plötzlich viel konkreter werden ließen. Nach all den Spekulationen und diffusen Gedanken der vorangegangenen Wochen waren sie geradezu wohltuend ernüchternd. Immer wieder sah ich mir das Foto an, ein schlichtes Passfoto, auf dem Ernst so jung und so korrekt aussah. In diesem Moment war er mir fremder als je zuvor. Was ging mich dieser Mann überhaupt an, der bereits 22 Jahre tot war, als ich geboren wurde?

Unter den Papieren fand ich einen Hinweis darauf, dass Ernst im Herbst 1937 vom persönlichen Stab des Reichsführers SS ein Darlehen für das Haus in Berlin-Ruhleben erhalten hatte, das er gemeinsam mit einem Dr. Behrends kaufte. Darunter lag ein maschinengeschriebener Brief von Ernst an seinen Bruder Heinrich vom Mai 1944, aus dem hervorging, dass er offensichtlich gelegentlich auch dem mächtigeren Bruder zu Diensten sein konnte. In diesem Fall erstellte er auf dessen Wunsch ein fachliches Gutachten über den stellvertretenden Betriebsführer einer Berliner Firma namens C. Lorenz.

Bedeutung und Anlass dieses Briefes blieben mir damals unklar. Aber er beunruhigte mich. Vielleicht war es die Sprache: Ernst hielt sich zwar an den nüchternen Stil eines Gutachtens, zugleich aber waren seine umständlichen Sätze gespickt mit ideologischen Wörtern wie »Weltanschauungskredit« und »Optik der Arisierung«. Der Brief dokumentierte seinen offensichtlichen Übereifer, einen Auftrag Heinrichs zu erfüllen, schien aber auch unklare eigene Interessen zu formulieren. Ernst berichtete darin außerdem von einer langen Unterredung mit dem Chef des Auslandssicherheitsdienstes Walter Schellenberg. Ich hatte keine Vorstellung davon, was mein Großvater, der nur an Technik, nicht an Politik interessiert gewesen sein sollte, mit dem Auslandsgeheimdienstchef des SD zu besprechen und was Schellenberg mit diesem ganzen Vorgang zu tun gehabt haben könnte. Vielleicht hatte Ernst sich einfach nur hervortun und die Gelegenheit nutzen wollen, mit einer so wichtigen NS-Größe plaudern zu können. Die Geschichte blieb mir ein Rätsel.

Immer weiter arbeitete ich mich in den Akten vor, stieß auf diverse Auszeichnungen – auf das »SA-Sportabzeichen«, das »Olympische Ehrenzeichen«, aber auch auf das »Kriegsverdienstkreuz zweiter und erster Klasse«. Ernst war als SS-Führer zunächst dem Stab des SS-Personal-Hauptamtes zugeordnet und später dem Stab des Chefs des Fernmeldewesens. Dies schien lediglich eine formale Zuordnung gewesen zu sein, ich fand keinen Hinweis darauf, dass er als SS-Führer eine aktive Funktion gehabt hatte. Seine letzte Beförderung zum Sturmbannführer erfolgte 1939, zehn Tage nach dem Überfall auf Polen. Aber wofür war ihm das Kriegsverdienstkreuz verliehen worden? Er war doch nie an der Front gewesen.

Aus einer parteistatistischen Erhebung vom Sommer 1939 erfuhr ich, dass Ernst zwar Parteigenosse gewesen war, aber kaum einer der zahlreichen angegliederten Organisationen der NSDAP angehört hatte, außer der Deutschen Arbeitsfront (DAF), in der nahezu alle »Arbeitsschaffenden« vom Arbeiter über den Angestellten bis zum Arbeitgeber Mitglied waren, und der NS-Volkswohlfahrt (NSV).

Alles schien darauf hinzudeuten, wie ich erleichtert feststellte, dass Ernst kein besonders engagierter Nazi gewesen war. Keine führende Tätigkeit in der Partei oder den angegliederten beruflichen Verbänden, kaum Eintragungen über besondere Auszeichnungen in der SS-Karteikarte, und SS-Sturmbannführer war auch nicht gerade ein Rang, der von großem Ehrgeiz in dieser gefürchteten Organisation zeugte. Offensichtlich war er wirklich in erster Linie an Rundfunktechnik interessiert gewesen, vielleicht an seiner persönlichen Karriere, politisch aber eher reserviert. Dennoch – ganz überzeugt war ich nicht. Da war der frühe Parteieintritt, der mich irritierte; sein Gespräch mit Schellenberg; und der Umstand, dass er während des Krieges »u.k. gestellt« war, also für die Wehrmacht »unabkömmlich«. Im Dezember 1942 war er einberufen worden – zum Ersatzbataillon »Leibstandarte-SS« Adolf Hitler. Vermutlich hatte er die Kaserne in Lichterfelde jedoch nie betreten, da er mit der Begründung, er sei »als Prokurist und Oberingenieur bei der RRG-Zentralleitung Technik unentbehrlich und unersetzbar«, bis kurz vor Kriegsende keinen Militärdienst leisten musste. Aber welche »kriegswichtigen« Aufgaben er zu erledigen hatte und warum er fast bis zum Schluss diese Vorzugsbehandlung genoss, war mir nicht klar.

Über den frühen Parteibeitritt von Ernst Himmler waren sowohl mein Vater als auch seine einzige noch lebende Schwester erstaunt. Als ich meinen Vater fragte, was seine Mutter denn dazu erzählt habe, antwortete er, sie habe bei seinen Fragen nur geschwiegen und geweint. Danach habe sie tagelang nicht mit ihm geredet.

Warum war es meiner Großmutter so schwer gefallen, über die Vergangenheit zu sprechen? Vielleicht gab es etwas zu verbergen, wie mein Vater als Jugendlicher vermutete. Vielleicht aber war ihr Schweigen auch nur eine trotzige Reaktion gegen das Unverständnis der nachfolgenden Generation. Verglichen mit dem harten Leben, das sie nach 1945 geführt hatte, ohne Mann, allein vier Kinder durchbringend, muss die Nazi-Zeit für sie persönlich die glücklichste ihres Lebens gewesen sein.

Mein Vater und meine Tante waren mir dankbar für meine Nachforschungen. Aber nach meiner zweiten Sendung von Archivunterlagen erklärte meine Tante, für sie sei es nur wichtig gewesen, »das alles noch mal schwarz auf weiß zu sehen«, nun solle man die Geschichte doch »mal ruhen lassen«. Ich war irritiert darüber, dass beide keine Fragen zu all den unverständlichen Andeutungen in den Dokumenten hatten. Das Wenige und Widersprüchliche, was sie mit Mühe aus Paula, ihrer Mutter, herausbekommen hatten, hatte doch auch ihnen nur ein unscharfes Bild vom Vater geben können, das bestenfalls mit der Zeit durch immer wiederkehrende Erzählungen gefestigt worden war. Oder wussten die beiden mehr als ich?

Ursprünglich hatte ich nur auf Bitten meines Vaters und mit Billigung seiner Schwester in den Akten gewühlt. Aber inzwischen war ich berührt von meinen Funden und enttäuscht über die geringe Resonanz bei den beiden. Ich wollte mit ihnen über Unklarheiten sprechen, Vermutungen nachgehen. Mir war noch nicht klar, ob meine Neugier eher detektivischer Jagdeifer war, geweckt durch dürre Fakten, die mehr verbargen als enthüllten, oder ob ich mich plötzlich für diesen Großvater interessierte. Für meinen Großvater.

 

Nach meinen ersten Entdeckungen im Archiv fühlte ich mich aus der Bahn geworfen. In meiner Phantasie spielte ich lauter Szenarien durch, was mein Großvater zwischen 1933 und 1945 getan und gedacht haben könnte. Ich quälte mich mit Selbstvorwürfen wegen meines jahrelangen Desinteresses. Und ich war wütend auf meinen Vater, der die direkte Konfrontation mit den Dokumenten vermied, sie stattdessen mir überließ – allerdings hatte er ebenso wenig wie ich ahnen können, welche Erschütterungen die Nachforschungen bei mir auslösen würden. Ich hatte meine Distanz zur Vergangenheit meiner Großeltern, meine Nichtangreifbarkeit offenbar völlig falsch eingeschätzt. Ich kämpfte mit anhaltenden gesundheitlichen Beschwerden. Panikartige Anfälle von Zukunftsangst plagten mich. Ich steckte fest.

Im Herbst 1997 hatte ich Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit meinem Vater über die Archivfunde. Er gab mir zwar erneut zu verstehen, dass er »längst mit der Vergangenheit abgeschlossen« habe, aber er war gesprächsbereit und beantwortete mir geduldig alle Fragen über seine Familie. Einen langen Tag waren wir zusammen unterwegs, liefen durch kleine Fachwerkstädtchen und kletterten in der milden Oktobersonne hinauf in die Weinberge. Als wir über die Rebstöcke in die Ebene hinunterschauten, fragte ich ihn zum ersten Mal, welche Erinnerungen er selbst noch an seinen Vater habe, und war überrascht von seiner erregten Reaktion: »Was soll ich wohl von einem Vater halten, den ich nur strafend und schlagend in Erinnerung habe?!«

Zwar habe Paula, so mein Vater, eher »liberale Ansichten von Erziehung« gehabt, und doch habe sie den Kindern den toten Vater immer als leuchtendes Vorbild vorgehalten, vor allem ihm, dem Sohn – bis der das »irgendwann nicht mehr habe hören können«, zumal ihm selbst immer mehr Zweifel am strahlenden, makellosen Bild des Vaters kamen. Er wusste durch seine beiden älteren Schwestern, dass Ernst auch ein sehr liebevoller Vater sein konnte. Umso quälender musste es für ihn sein, dass seine spärlichen persönlichen Erinnerungen so deprimierend waren. Meine Fragen schienen das alles wieder aufzurühren – ganz entgegen seiner wiederholten Versicherung, »das alles« sei »nicht mehr wichtig« für ihn. Immer wieder stieß ich in unseren Gesprächen plötzlich an Grenzen, die für mich oft nicht sichtbar oder nachvollziehbar waren.

Fast beiläufig erwähnte mein Vater eine Kiste mit Familienfotos, die ich mir einmal ansehen könne. Auch eine Mappe mit Dokumenten seiner Mutter müsse es noch geben, ob die Interessantes enthalte, wisse er allerdings nicht. Neugierig schlug ich die grüne Mappe auf und stellte bald fest, dass ihr Inhalt eine geradezu üppige Ergänzung zu den dürren Fakten der Archivdokumente darstellte. Zwischen haushaltstechnischen Unterlagen meiner Großmutter aus ihren letzten Lebensjahren fand ich einen Lebenslauf meines Großvaters von 1931, der erstmals Aufschluss gab über die Jahre, bevor er beim Rundfunk anfing. Ich fand persönliche Briefe von ihm sowie verschiedene eidesstattliche Erklärungen über die Tätigkeit von Ernst beim Rundfunk, die meine Großmutter in den siebziger Jahren von ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes erhalten hatte. Vermutlich brauchte sie diese für ihre Rentenansprüche. Ein Oberingenieur gab »auf Verlangen von Frau Paula Himmler« im September 1948 an, dass Ernst im April 1945 zum Volkssturm eingezogen und »mit einer Anzahl anderer Angehöriger des Rundfunks für die Verteidigung des Rundfunk-Hauses in Bln.-Charlottenburg eingeteilt« worden war. »Am Abend des 30. April oder 1. Mai habe ich Himmler auf dem Hofe des Funkhauses zum letzten Male gesehen. Da ich bald darauf in russische Gefangenschaft geriet, ist mir sein weiteres Schicksal unbekannt.«

Ich versuchte mir vorzustellen, was es hieß, dass Techniker, Nachrichtensprecher, Verwaltungsangestellte das Rundfunk-Haus gegen die näher rückende Rote Armee »verteidigen« mussten, lauter Zivilisten ohne jede militärische Ausbildung und Erfahrung, die wie mein Großvater im letzten Moment noch, als der Krieg für Deutschland längst verloren war, im »Volkssturm« verheizt wurden. Was geschah mit Ernst in diesen letzten Kriegstagen, als sich seine Spur verlor?

Ein knappes Jahr später, im August 1949, wurde Ernst Himmler vom Amtsgericht Charlottenburg für tot erklärt, das entsprechende Dokument fand sich ebenfalls in der Mappe. Jahre danach, irgendwann in den siebziger Jahren, muss Paula noch einmal einen Suchantrag beim Suchdienst München des Deutschen Roten Kreuzes gestellt haben. Erst zwei Jahre vor ihrem Tod, im Oktober 1983, erhielt sie die Antwort, »dass Ernst Himmler mit hoher Wahrscheinlichkeit im April 1945 bei den Kämpfen im Raum Berlin gefallen ist.«

Der Tod meines Großvaters blieb trotzdem rätselhaft. Einige Jahre nach Kriegsende, so mein Vater, sei ein Mann zu ihnen gekommen, der behauptete, er sei mit Ernst »bis zum Schluss« zusammen und dabei gewesen, als dieser auf eine Giftkapsel gebissen habe. Mich irritierte dieses Ende. Ich fragte mich, wie das auf meine Großmutter gewirkt haben musste, dass ihr Mann womöglich Selbstmord begangen und sie mit vier Kindern im Stich gelassen hatte.

In der Fotokiste meiner Großmutter herrschte ein heilloses Durcheinander. Die meisten Bilder darin waren mir vertraut, vor allem die frühen Familienfotos von meinen Urgroßeltern Himmler und ihren Söhnen Gebhard, Heinrich und Ernst. Meine Münchner Urgroßmutter war eine hübsche junge Frau und später eine liebenswürdig lächelnde Oma gewesen, wie aus dem Bilderbuch, mit ihren weißen, immer leicht zerzausten Haaren und einer runden Brille auf der Nase. Der Urgroßvater, Gymnasialdirektor und Geheimrat, sah in jedem Alter gleichermaßen diszipliniert und würdig aus. Von beiden wurde erzählt, dass sie dem Nationalsozialismus mit Distanz gegenübergestanden hatten. Ihren Kindern, auch das erzählen diese Bilder, waren sie strenge, aber auch liebevolle Eltern. Gebhard, der Älteste, wirkte schon als Siebenjähriger selbstbewusst und zuversichtlich. Ernst, der Jüngste, war offensichtlich das niedliche Nesthäkchen; nur Heinrichs Kinderbilder riefen bei mir jedes Mal Widerwillen hervor, nicht nur, weil ich wusste, was aus diesem harmlos aussehenden Jungen aus gutem Hause später geworden war, sondern auch, weil er dort zwischen all den anderen in der Kiste lag, die meine Familie waren, weil er so unausweichlich dazugehörte.

Dennoch war mein Blick auf die Fotos nach meinen ersten Recherchen ein anderer geworden. Die romantischen Hochzeitsaufnahmen von meinen Großeltern, von mir früher so bewundert, hatten ihre Unschuld verloren. Jetzt erst sah ich das Parteiabzeichen an Ernsts Anzug. Heinrich, der Trauzeuge, posierte vor dem Standesamt mit dem Hochzeitspaar, er trug die SS-Uniform mit Hakenkreuzbinde am Arm, stemmte die Hand lachend in die Seite und reckte die Brust.

Ich fand außerdem Bilder, die offensichtlich aus Alben ausgeschnitten oder herausgelöst worden waren; auf einem Foto war mein Großvater zu sehen, neben ihm war jemand weggeschnitten worden, vermutlich von Paula.

Von den Funden in seinem Haus war mein Vater offenbar ehrlich überrascht. Er bewahrte sie seit dem Tod seiner Mutter auf, hatte sie sich nach eigener Aussage jedoch nie angeschaut. Auf mein ungläubiges Erstaunen gab er etwas unwirsch zurück, ich kennte doch seine »Abneigung gegen jeglichen Papierkram«. Mehrmals lag mir die Frage auf der Zunge, warum er mich denn überhaupt ins Archiv geschickt hatte. Was er denn erwartet haben mochte von der Recherche, um die er mich gebeten hatte. Ich brachte es nicht fertig, die Frage auszusprechen. Vielleicht, weil ich in diesem Moment bereits das Gefühl hatte, dass beides nicht voneinander zu trennen war: der Wunsch nach Aufklärung und die Angst vor dem, was da ans Licht kommen könnte.

Eine ganz normale Familie

Gebhard, Anna und ihre Söhne

Vor vielen Jahren hatte mein Vater mir ein Buch zur Lektüre empfohlen, das ich damals nur flüchtig gelesen hatte: Alfred Anderschs autobiographische Erzählung »Der Vater eines Mörders«. Andersch besuchte das humanistische Wittelsbacher Gymnasium in München, an dem Gebhard Himmler senior, der Vater der drei Brüder, Direktor war. Von ihm handelt die Erzählung. Sie spielt im Mai 1928, wenige Jahre vor Beginn des »Dritten Reiches«, als Direktor Himmler eines Tages überraschend den Unterricht in der Klasse von Andersch alias Franz Kien inspiziert, um die Griechischkenntnisse der Schüler zu überprüfen, vor allem aber auch, um für Disziplin in der Klasse zu sorgen. »Hoffentlich«, rügt er die Eleven, »werdet ihr alle noch dienen müssen, hoffentlich ist das Reich bald stark genug.« Denn beim Militär, so droht er einem Aufmüpfigen, »würde dir schon beigebracht werden, was Disziplin heißt.«

Franz erinnert sich im Verlauf dieser Schulstunde, dass sein Vater ihn früh vor diesem Mann gewarnt hatte, an dem alles so »hell, glatt, scheißfreundlich und so pieksauber wie sein weißes Hemd« ist. Der alte Himmler sei gefährlich, »schwarz bis in die Knochen« und ein »Karriere-Macher«, der »in München zur Crème gehören« wolle. Vor diesem Himmler müsse man sich hüten.

Es wurde eine denkwürdige Unterrichtsstunde, in deren Verlauf der Rektor den Schüler Kien gnadenlos vor der gesamten Klasse bloßstellte – Kiens unzulängliche Kenntnisse der griechischen Grammatik lieferten dafür nur den Vorwand. Ein kleinbürgerlicher, fauler Versager sei er, höhnte der Direktor. Das Ende der Schulstunde sollte auch das Ende der schulischen Laufbahn von Franz Kien alias Alfred Andersch sein. Andersch wurde der Schule verwiesen.

Als mein Vater das Buch 1980 das erste Mal las, war er zutiefst verstört über den Charakter seines Großvaters, der in Anderschs Erzählung als ein auf seine humanistische Bildung stolzer Autokrat auftritt, selbstgerecht und autoritär, militaristisch und nationalistisch. Spontan rief er damals seine Cousine in München an, die Tochter des ältesten Himmler-Sohnes Gebhard, die ihn zu beruhigen versuchte: Anderschs Darstellung habe »nichts mit der Wahrheit« zu tun, sondern sei eine üble Verunglimpfung ihres gemeinsamen Großvaters. Sie schickte ihm einen Zeitungsartikel, der, von einem ehemaligen Mitschüler Anderschs, dem Rechtsanwalt Dr. Otto Gritschneder, in der »Süddeutschen Zeitung« veröffentlicht, sich bemühte, die ramponierte Ehre des Geheimrats und Gymnasialdirektors Himmler wiederherzustellen. Auch ich erhielt viele Jahre später den besagten Artikel von Gebhards Tochter. Streng sei der Großvater schon gewesen, erzählt sie, aber auch gütig. Sie selbst habe ihn »nur von seiner sonnigsten Seite« kennen gelernt, beim Spaziergang habe er ihr oft ein »Zuckerl« geschenkt.

Das Buch löste bei seinem Erscheinen 1980, kurz nach Anderschs Tod, eine erregte Debatte aus. Vor allem ehemalige Schüler des Wittelsbacher Gymnasiums, zum Teil frühere Mitschüler von Alfred Andersch, stritten auf den Leserbriefseiten der »Süddeutschen Zeitung« darum, wie der ehemalige Direktor wirklich gewesen sei. Er sei »eine sehr respektgebietende, energische Persönlichkeit von hohem geistigen Niveau« gewesen, von »Lehrern und Schülern gleichermaßen gefürchtet, geachtet und verehrt«, so die einen. Andere hatten ihn als notorischen »Streber« erlebt, »einer der Typen, die nach oben katzbuckeln und nach unten treten«. Der unermüdliche Dr. Gritschneder legte 2001 noch einmal entschlossen nach – alles in dem Buch sei »erstunken und erlogen«, es sei nichts als ein »Rufmord an einem Rektor«, eine »Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener«.

Zwanzig Jahre später lese ich nun diese Erzählung noch einmal und bin genauso beunruhigt wie mein Vater damals. Aber nachhaltiger als Anderschs ziemlich unsympathische Charakterisierung des Schuldirektors beunruhigt mich die Frage, die der Autor im Nachwort aufwirft. Dort weist er darauf hin, dass Heinrich Himmler, der »größte Vernichter menschlichen Lebens, den es je gegeben hat«, nicht etwa »im Lumpenproletariat aufgewachsen« sei, »sondern in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum«. Und er fragt verzweifelt: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts?« Einige Biographen Heinrich Himmlers machen die Strenge und Pedanterie seines Vaters, des Direktors, mit verantwortlich für die spätere grausige Laufbahn des Sohnes. Strenge, Disziplin, Anständigkeit – die deutschen Kernsekundärtugenden – hätten in der Erziehung der Himmler-Söhne eine allzu große Rolle gespielt.

Auf den alten Fotos wirkt er steif, würdevoll und imposant, seine Frau neben ihm winzig klein und zierlich. Unter den Enkeln galt sie als die »liebe Oma«. Auf vielen Fotos sitzen die beiden inmitten einer gediegenen Wohnzimmereinrichtung aus der Jahrhundertwende, umgeben von zahlreichen an der Wand hängenden Porträtaufnahmen ihrer Vorfahren. Beide sehen so aus, als seien sie den Rollenerwartungen gerecht geworden: notwendige väterliche Strenge auf der einen Seite und ausgleichende mütterliche Güte auf der anderen. Natürlich gibt es auch die Fotos, auf denen die Familie steif beim Fotografen posiert, ebenso aber die anderen, fröhlichen aus der Sommerfrische, auf denen man sieht, dass Eltern und Kinder einander liebevoll zugetan sind. Insgesamt wirken diese Himmlers auf mich, der Zeit und dem Milieu entsprechend, wie eine ganz normale Familie. Wer war Gebhard Himmler? Wie hatte er Anna, seine Frau kennen gelernt? Und aus welcher Welt kamen die beiden?

 

Joseph Gebhard Himmler, mein Urgroßvater, 1865 in Lindau am Bodensee geboren, war in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater Johann Himmler hatte das Weberhandwerk erlernt, versuchte aber schon bald sein Glück als Soldat im Königlich-Bayerischen Regiment zu machen. Dort allerdings fiel er nicht gerade durch großen Diensteifer auf, eher schon durch Schlägereien oder »unmoralisches Verhalten mit einer niedrigen Frau«, was wohl hieß, er traf sich mit Prostituierten und machte offenbar auch gar kein Hehl daraus. Für Jahre verlor sich seine Spur, bis er 1844 in München als Mitglied der Königlichen Polizeikompanie wieder auftauchte. In dieser Zeit lebte er unverheiratet mit der Häuslerin Katharina Schmid zusammen, 1847 bekamen sie einen gemeinsamen Sohn Konrad, der später das Recht erhielt, den Namen Himmler zu tragen. Als Konrad 15 Jahre alt war, verließ sein Vater die Familie und wurde Zollbeamter in Lindau am Bodensee, wo er wenige Monate später Agathe Kiene heiratete, Tochter eines Stadtbeamten aus Bregenz und 24 Jahre jünger als ihr Bräutigam.

Die Verwandtschaft zu Konrad Himmler wurde erst viele Jahre später aufgeklärt, ausgelöst durch das Ahnenforschungsfieber, das Heinrich Himmler für die SS zur Pflicht erklärt hatte. Heinrich Himmler war erfreut über diesen unerwarteten Familienzuwachs und förderte Konrad Himmlers Enkel Hans in der SS. Eugen Kogon, der von 1939 bis 1945 Häftling im KZ Buchenwald war, erzählt in seinem Buch »Der SS-Staat«, Heinrich Himmler habe diesen »Neffen« »wegen einer in Trunkenheit begangenen Ausplauderei von SS-Dingen« degradiert. Er durfte sich noch einmal als Fallschirmjäger an der Front »bewähren«, Heinrich Himmler habe ihn dann aber, so Kogon, »wegen einiger abfälliger Äußerungen erneut einkerkern« und schließlich als Homosexuellen im Konzentrationslager Dachau »liquidieren« lassen.

Dass diese unerwartete Verwandtschaft erst so spät in der Familie Himmler auftauchte, muss nicht unbedingt bedeuten, dass Johann Himmler den unehelichen Sohn seiner Ehefrau verheimlichte. Der Sohn Gebhard war in den Augen seines Vaters vermutlich noch zu jung, um etwas von der Existenz seines Halbbruders zu erfahren. Er war gerade einmal acht Jahre alt, als Johann Himmler mit 63 Jahren starb. Seine Witwe hatte wohl andere Sorgen, als sich um das frühere Leben ihres verstorbenen Mannes zu kümmern. Die Pension des Zollbeamten scheint nicht allzu hoch gewesen zu sein, nur mit Mühe konnte seine Ehefrau sich und den Sohn durchbringen. Die Erinnerungen an die schwierigen materiellen Verhältnisse, in denen er aufwuchs, sollten meinen Urgroßvater sein Leben lang begleiten.

Als guter Schüler und mittelloses Halbwaisenkind erhielt Gebhard schon in der Grundschule finanzielle Unterstützung, anschließend besuchte er dank eines Stipendiums als »Zögling des Königlichen Studienseminars Neuburg a.d. Donau« sechs Jahre lang das dortige humanistische Gymnasium.

Gebhard war ein so glänzender Schüler, dass er danach als Stipendiat für das Maximilianeum in München vorgeschlagen wurde – eine bis heute angesehene Studienstiftung, die einen Großteil der Kosten für ihre Studenten übernahm. Diese entschied sich dann zwar für einen anderen Bewerber, Gebhard erhielt jedoch später offenbar ein Stipendium der Königlich-Bayerischen Maximilians-Universität selbst, an der er im Oktober 1884, mit 19 Jahren, sein Studium aufnahm.

Er schrieb sich in Philosophie ein, damals neben der Theologie die bevorzugte Fachrichtung für weniger begüterte Studenten, weil hier die meisten Stipendien vergeben wurden. Gebhards Schwerpunkt war die klassische Philologie, Griechisch und Latein, nebenbei beschäftigte er sich mit so ausgefallenen Themen wie »Anthropologie in Verbindung mit Ethnographie der Urvölker«. Außerdem lernte er Stenographie, Gabelsberger Kurzschrift hieß das damals, die er zeitlebens für seine Aufzeichnungen verwendete. Auch seinen Söhnen erteilte er später darin Unterricht. Alle drei beherrschten als Erwachsene die Kurzschrift und nutzten sie auch.

Gleich im ersten Semester wurde Gebhard in die Studentenverbindung »Apollo« aufgenommen, in der später auch sein Sohn Heinrich Mitglied werden sollte. Die studentischen Verbindungen des Kaiserreiches waren, anders als die liberalen Burschenschaften des frühen 19. Jahrhunderts, aus gesprochen konservativ-patriotisch. Führend waren die schlagenden Verbindungen, die so genannten Corps, in denen sich vorwiegend reiche junge Männer tummelten. In ihnen wurden der späteren Karriere nützliche Beziehungen geknüpft und Freundschaften auf Lebenszeit geschlossen, vor allem aber sahen die Verbindungen ihre Aufgabe darin, die wissenschaftlich-berufliche Ausbildung der Universität durch »Charakterbildung« abzurunden. Dazu gehörte die Unterwerfung unter die autoritäre hierarchische Struktur der Verbindung – »Sie dienen freiwillig, um in der Zukunft zu herrschen« –, der Trinkzwang bei den offiziellen »Kneipen« und die Bestimmungsmensur, der kontrollierte Zweikampf, in dem nicht nur Mut und Selbstdisziplin, sondern auch »Satisfaktionsfähigkeit« bewiesen werden musste – die Bereitschaft, die »Ehre« gegen Beleidigungen zu verteidigen. Mein Urgroßvater dürfte sich schon wegen seiner starken Kurzsichtigkeit mit diesem »strammen Auftreten« schwer getan haben. 1885 wurde er wegen dieser körperlichen Schwäche als »dauernd untauglich« vom Militärdienst ausgemustert. Wie mag er das später empfunden haben, als viele Männer aus seinem, dem national-konservativen Milieu zum Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg drängten?

Trotzdem scheint Gebhard in diesem Kreis wohlgelitten gewesen zu sein. In einem Nachruf auf ihn vom Dezember 1936 lese ich, der verstorbene »Bundesbruder sei eine tragende Säule in dem schönen Bau unserer einstigen Apollo« gewesen. Die Mitgliedschaft war damals in erster Linie eine Chance für ihn, gesellschaftlich aufzusteigen. Und daran lag ihm viel. So arbeitete er bereits während des Studiums als Privatlehrer, teilweise in mehreren Häusern gleichzeitig. Einer seiner Arbeitgeber war der Geheimrat von Bacyen, ein anderer der Freiherr von Bassus-Sanderdorf. Zu seinen Nachhilfeschülern in den alten Sprachen gehörte 1887 außerdem Ernst Fischer, Sohn eines Professors der technischen Hochschule, später Gebhards Bundesbruder in der Apollo und der Taufpate meines Großvaters.

Trotz der vielen Nebenbeschäftigungen bestand Gebhard sein Philologiestudium im August 1888 »mit Auszeichnung«, zugleich machte er seine erste Lehramtsprüfung. Im Herbst ging er nach St. Petersburg und wurde dort im Hause des Honorarkonsuls Freiherr von Lamezan von November 1888 bis Ostern 1890 als Erzieher der Söhne Albrecht und Ferdinand eingestellt. Angesichts seiner früheren Stellen als Privatlehrer in Häusern der besseren Gesellschaft erscheint dies nicht völlig überraschend. Und trotzdem staune ich, dass es ihn so weit fort von der Heimat trieb. Allerdings lebten damals in Petersburg viele deutsche Wissenschaftler, Ärzte, Apotheker, Händler und Handwerker, die seit der Gründung der Stadt durch den russischen Zaren als ausländische Spezialisten angeworben wurden. Petersburg sollte für das Russische Reich das »Fenster nach Europa« werden, mit dem Peter der Große den Anschluss an westliche Errungenschaften zu finden hoffte. Die deutsche Kolonie hatte eigene Schulen, Zeitungen, Theater und Vereine; das 19. Jahrhundert war kulturell wie wirtschaftlich die Blütezeit der deutschen Diaspora in Petersburg. Das übte eine starke Anziehungskraft auf Auswanderungswillige aus dem Deutschen Reich aus. Selbst Heinrich Himmler spielte Jahrzehnte später noch mit dem Gedanken, nach Russland auszuwandern.

Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich im Krieg von 1870/71 kühlte das deutsch-russische Verhältnis mehr und mehr ab – trotz aller Bemühungen des Reichskanzlers Otto von Bismarck, der aus strategischen Gründen die Freundschaft zu Russland zu festigen suchte. Deutschland war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine boomen de Wirtschaftsmacht geworden, und das deutsche Bürgertum klagte immer lauter eine angemessene politische Stellung in der Welt ein. Die zunehmend aufgeladene nationalistische Stimmung richtete sich auch auf koloniale Ziele – und liebäugelte bereits mit neuem »Lebensraum« im Osten. 1888 wurde Wilhelm II. deutscher Kaiser, er hielt nicht mehr viel von Bismarcks »Diplomatie des Augenmaßes«, sondern sah Deutschlands imperialistische Expansion als zwingend an, um im Konzert der Weltmächte weiterhin mithalten zu können.

Mitten in dieser angespannten Situation trat mein Urgroßvater seine Stelle als Hauslehrer beim deutschen Gesandten in St. Petersburg an. Ausschlaggebend dürfte dabei gewesen sein, dass er in dieser Anstellung eine große Chance für seinen gesellschaftlichen Aufstieg sah. Die Stelle bei einem Honorarkonsul trug ihm nicht nur gute Referenzen ein, sondern ein Arbeitgeber wie der Baron von Lamezan bot einem jungen aufstrebenden Mann aus einfachem Hause auch hervorragende Möglichkeiten, wichtige Leute aus dem Bildungsbürgertum und dem Adel kennen zu lernen. Lamezan war ein Freund des bayerischen Prinzregenten Luitpold und über ihn erhielt mein Urgroßvater Kontakt zum bayerischen Königshaus – eine Verbindung, die ihm zeit seines Lebens so viel bedeuten sollte. Gebhard Himmler muss auf die Familie Lamezan Eindruck gemacht haben; noch 1936 erzählte ein Freund der Familie in einer bayerischen Provinzzeitung davon, wie sehr mein Urgroßvater von den beiden Söhnen des Barons als Lehrer »verehrt« worden sei. Seine Aufgabe in St. Petersburg habe unter anderem darin bestanden, »als deutscher Erzieher das deutsche Wesen, die deutsche Kultur fester zu verankern in den Herzen der Jugend«.

Als Gebhard Ostern 1890 nach München zurückkehrte, trat er eine Stelle als Assistent am Ludwigsgymnasium an. Aber er wollte weiterkommen. Drei Jahre später wurde er, zweifellos durch seine guten Referenzen, aber wohl auch durch Lamezans gute Kontakte zum Hause Wittelsbach, zusätzlich Erzieher des Prinzen Heinrich von Wittelsbach, und blieb dies für vier Jahre, von 1893 bis 1897. Der Vater von Gebhards Zögling war Prinz Arnulf, dritter Sohn des bayerischen Regenten Luitpold. Dass er im Anschluss an seine Zeit als Privatlehrer eine Festanstellung als Lehrer am Wilhelmgymnasium erhielt, hatte er wohl maßgeblich dem Einfluss seines königlichen Arbeitgebers zu verdanken.

Inzwischen war Gebhard 32 Jahre alt, seine gesellschaftliche Position war gesichert, und so tat er das, was nun endlich anstand: Er heiratete noch im selben Jahr Anna Maria Heyder, Tochter aus einer vermögenden Kaufmannsfamilie. Meine Urgroßmutter, ein Jahr jünger als ihr Mann, kam aus wohlhabendem Hause. Ihr Vater Alois Heyder war in erster Ehe mit einer 18 Jahre älteren Kaufmannswitwe verheiratet gewesen, die ihm ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hatte. Anna verlor den Vater, wie Gebhard, im Alter von acht Jahren.

Bei ihrer Hochzeit war meine Urgroßmutter Anna bereits 31 Jahre alt, für damalige Begriffe also ein »spätes Mädchen« und längst über das ideale Heiratsalter hinaus. Gebhard war seit seiner Festeinstellung als Lehrer am Wilhelmgymnasium gut situiert und hatte beruflich und gesellschaftlich die besten Kontakte und Aufstiegschancen. Anna Heyder für ihren Teil brachte 300000 Goldmark mit in die Ehe.

Am 22. Juli 1897 wurden die beiden in der katholischen Kirche St. Anna in der Münchner Innenstadt getraut. Die Hochzeitsfeier fand im Silbersaal des vornehmen Café Luitpold in der Briennerstraße statt – in dieser Straße wohnte Heinrich später als Student, und noch später richtete er hier als Polizeichef von München ein »Hausgefängnis« ein, in dem politische Gegner des NS-Regimes verhört wurden. Zur Hochzeitsfeier waren Vertreter der königlichen Familie als Gäste geladen. Und die Speisekarte – der damaligen Gepflogenheit deutscher Adelshäuser entsprechend in Französisch abgefasst – war ein Abglanz der Tafel, die Gebhard in den Jahren als Prinzenerzieher kennen gelernt hatte, mit einer Vielzahl an Gängen und Weinen.

Das junge Paar wohnte zunächst in der Wohnung der Braut, in der Innenstadt, Sternstraße 13, zog jedoch bald darauf in eine größere, nahe gelegene Wohnung in der Hildegardstraße 6 um. Dort wurde zwei Monate später, am 29. Juli 1898, der Sohn Gebhard Ludwig geboren, sein zweiter Name war eine Reverenz an den bayerischen König. Zwei Jahre nach ihm, am 7. Oktober 1900, kam der zweite Sohn, Heinrich Luitpold, zur Welt. Bei ihm waren gleich zwei Prinzen Namensgeber, Prinz Heinrich zugleich sein Pate.

Am 17. Juni 1901 wurde Gebhard Himmler senior zum »Absolutorial-Diner« eingeladen: der Prinz hatte das »Absolutorium«, so hieß damals das Abitur, am Gymnasium bestanden. Für meinen Urgroßvater muss das ein denkwürdiges Ereignis gewesen sein – ein Essen mit acht Gängen auserlesener Gerichte und Weine, zum Dessert wurde eine »Charlotte à la Prince Henri« serviert –, die Einladung bewahrte er, zusammen mit einer kleinen Zeitungsnotiz über das Ereignis, sein ganzes Leben lang auf. Das Verhältnis zwischen Gebhard Himmler und dem Prinzen Heinrich war herzlich. »Liebster Prinz Heinrich!«, redete der Lehrer seinen ehemaligen Schüler in den vielen Briefen an, die zwischen ihnen hin- und hergingen. Der Prinz antwortete ihm häufig in Kurzschrift, nahm regen Anteil an allen Belangen der Familie Himmler und grüßte mit »Ihr Sie aufrichtig liebender Heinrich«.

Manchmal besuchte die königliche Familie die Himmlers im Sommerurlaub in den Bergen, und zu Weihnachten kamen sie jedes Jahr: »Zum gewohnten Ablauf der Weihnachtstage«, schrieb Gebhard junior später in seinen »Erinnerungen«, »gehörte für uns Kinder immer ein Besuch von Prinzessin Arnulf und ihrem Sohn Prinz Heinrich von Bayern«. »Besonders brav« hätten sie an solchen Tagen sein müssen, obwohl das hohe Paar ihnen »nie auch nur die kleinste Kleinigkeit« mitbrachte.

Dass die fürstlichen Besuche immer mit einigem Aufwand verbunden, aber auch von großer Bedeutung für Gebhard Himmler senior waren, zeigte ein Notizzettel vom April 1914, auf dem er ein Essen für einen solchen Besuch notiert hatte, ein gutbürgerliches Sonntagsessen mit Wein, Mokka, Likör und Cigarren. Am nächsten Tag schnitt er stolz die Berichte zweier Lokalzeitungen aus, die meldeten, dass am Sonntag, den 26. April 1914, der Prinz mit seiner Mutter »mit Automobil von Altötting nach Landsberg« gekommen sei und dort »den früheren Erzieher des Prinzen, Herrn Konrektor« Himmler besucht »und in dessen Haus ein Gabelfrühstück« genommen habe. Auch nach dem frühen Tod des Prinzen kam dessen Mutter weiterhin zu Besuch. Gebhards älteste Tochter erzählte mir einmal lachend von ihrer Begegnung mit der Prinzessin. »Ich war ja soo enttäuscht! Eine uralte Dame, ganz schwarz angezogen, voller Falten – und das sollte die Prinzessin sein!«

 

Im Sommer 1902 siedelte die Familie Himmler nach Passau um, wo der Vater Professor am Gymnasium wurde. Sie fühlten sich dort wohl, Freunde und Verwandte waren am Ort. Ein halbes Jahr später jedoch erkrankte der kleine Heinrich lebensgefährlich – schon in München war er gesundheitlich anfällig gewesen. Die behandelnden Ärzte, der Passauer Arzt und der ebenfalls konsultierte Münchner Hausarzt, waren sich nicht einig, ob es sich dabei um Tuberkulose oder eine Wanderpneumonie handelte. Beide rieten dringend zur Erholung zu dauerhafter Luftveränderung, so dass die Familie im Frühjahr 1904 wieder zurück nach München zog, in die Amalienstraße 86. Heinrich wurde wieder gesund, behielt allerdings zeitlebens eine schwache Konstitution und war immer anfällig für Krankheiten – das Sorgenkind seiner Mutter, die bereits als Kind den Vater durch Typhus, den Bruder durch Diphtherie verloren hatte.

Nach der Rückkehr nach München, im September 1904, wurde Gebhard eingeschult. Aber auch er erkrankte zunächst so häufig und hatte so viele Fehltage, dass die Eltern die Sommerferien nach diesem ersten Schuljahr damit zubrachten, ihn gesund zu pflegen und zu unterrichten, den Anschluss in der zweiten Klasse schaffte er dann problemlos.

Zu dieser Zeit war Anna Himmler wieder schwanger, und am 23. Dezember 1905 wurde der jüngste Sohn Ernst Hermann, mein Großvater, in München geboren. Er war ein Nachzügler, fünf und sieben Jahre jünger als seine Brüder, der verwöhnte »Sonnenschein« seiner Eltern, die bei seiner Geburt bereits 40 Jahre alt waren.

Die Wohnung der Familie Himmler in der Amalienstraße war sehr geräumig. Die Kinder hatten ein gemütliches helles Kinderzimmer mit Ankerbaukästen, einer Uhrwerkseisenbahn und einer Dampfmaschine. Im Gästezimmer, nach hinten zum Hof gelegen, stand ein Tisch, an dem Gebhard, der Älteste, viele Stunden mit Laubsägearbeiten und anderen Basteleien verbrachte. Daneben, in einem weiteren kleinen Zimmer, wohnte die Kinderfrau Thilde; dort thronte auch eine Zinkblech-Badewanne, damals noch eine Seltenheit in den Münchner Wohnungen. Während Gebhard sich vor allem für die Dampfmaschine und technische Konstruktionen wie selbst gebaute Schwebebahnen interessierte, hatte »Heini«, wie er von der Familie und engen Freunden genannt wurde, schon früh eine ausgeprägte Vorliebe für Bleisoldaten. Sonntagnachmittags war es sein größtes Vergnügen, auf dem Ausziehtisch im Wohnzimmer die hölzerne Burg aufzubauen und sich mit Gebhard, dem älteren Bruder, vor dieser Kulisse eine große Bleisoldatenschlacht zu liefern. Dazu beluden sie ihre Spielzeugkanonen mit Pulverblättchen und Gummigranaten oder mit Erbsen.

Zur Straße hinaus lag auch das Studierzimmer des Vaters mit seinen schweren neugotischen Eichenmöbeln und einer ständig wachsenden Bibliothek. An Weihnachten verwandelte es sich für die Kinder in das geheimnisvolle »Christkindlzimmer«, wo die Geschenke auf dem Sofa ausgebreitet wurden. Bis die Kinder endlich hineindurften, benutzten sie eifrig ihre Schaukel im Flur, um, hoch hinaufschaukelnd, einen verbotenen Blick durch das Oberlicht der verriegelten Tür zu werfen.

Im Salon, der zum Empfang von Besuchern diente und mit rotem Plüsch und Brokat ausgestattet war, stand in einer Ecke auf einer vergoldeten barocken Staffelei ein Jugendbildnis von Prinz Heinrich. Hier wurden auch die Fotos und Reliquien der Familienahnen aufbewahrt. Dazu kamen im Laufe der Zeit Geschenke und Andenken von Verwandten und engen Freunden. Der Vater sammelte Briefmarken, Münzen und Schriften zur deutschen Geschichte, alles wurde auf Karteikarten penibel katalogisiert.

Abends saß die Familie beisammen. Die Mutter war mit Näharbeiten beschäftigt, während der Vater aus einem der Bücher seiner umfangreichen Bibliothek vorlas. Oft scheinen dies Abhandlungen zur deutschen Geschichte gewesen zu sein, jedenfalls kannten seine Söhne mit zehn Jahren bereits die Namen und Daten aller wichtigen historischen Schlachten.

»Die Kinder erziehe zu deutschgesinnten Männern!«

Kindheit im Kaiserreich

Jeden Morgen machten sich die beiden Brüder, zusammen mit dem Vater, dessen Gymnasium gleich neben ihrer Domschule lag, auf den Weg in die Schule. Gebhard Himmler senior nutzte diesen morgendlichen Gang auch dafür, mit seinen Söhnen zu reden. Ihm lag viel an ihrer sorgfältigen Erziehung, und Gebhard und Heinrich waren gute Schüler. Nur im Sport tat Heinrich sich schwer, was er aber durch besonderen Ehrgeiz wettzumachen suchte. Akribisch hielt der Vater Jahr für Jahr ihre Zensuren fest, machte sich Notizen über ihre Lehrer, über ihre Mitschüler und deren Väter. Anhand von deren Berufen entschied er dann, welcher soziale Umgang für seine Söhne angemessen oder von Vorteil war.

Nach der Schule spielten die beiden Älteren miteinander und heckten zusammen etliche »Bubenstreiche« aus, für die sie von den Eltern »weidlich gelobt« wurden, wie Gebhard die Strafen, zu denen auch wohldosierte körperliche Züchtigungen gehört haben dürften, ironisch nannte. Ernst, der Jüngste, der sich als Nachzügler noch ganz in der Obhut von Mutter, Kindermädchen und Haushälterin befand, konnte, so Gebhard, «bei den Spielen noch nicht so mittun«.

Manchmal durften Gebhard und Heinrich auch allein zu einem nahe gelegenen Laden für Bastel- und Eisenbahnzubehör gehen, wo sie regelmäßige Besucher und gelegentlich auch Kunden waren. Auf dem Weg dorthin, an der Ecke Amalien-/Theresienstraße, so erinnerte sich Gebhard Jahrzehnte später, »schauten wir manchmal durch die Fensterscheiben des Cafés Stefanie, wegen seiner Besucher aus Schwabinger Künstlerkreisen ›Café Größenwahn‹ genannt, den Schachspielern zu, wie sie mit bedeutender Miene, oft bei einem Glas Wasser und einem Zahnstocher, ihre Züge machten«. Wenige Jahre später beherrschten auch die beiden Brüder das Spiel, und Gebhard sollte, wie die von ihm als Kind noch bewunderten Künstler, ausgeprägte Talente im Malen und Musizieren an den Tag legen. Und doch lagen Welten zwischen der bitterarmen Schwabinger Bohème und den beiden Jungen aus behütetem Hause, die ihnen so fasziniert durch das Fenster beim Spiel zuschauten. In diesem Café versammelte sich die intellektuelle Szene der Stadt, die von Gebhard einige Jahre später, in den anarchischen Wochen der so genannten Novemberrevolution, als verbrecherische »Clique von Literaten« gesehen wurde, von denen München durch Heinrich und andere Freikorps-Mitglieder glücklicherweise »befreit« wurde.