Die Brüder Karamasow - Fjodor Michailowitsch Dostojewski - E-Book

Die Brüder Karamasow E-Book

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Beschreibung

Vollständige Ausgabe, mit interaktivem Personenverzeichnis und erklärenden Fußnoten Mit einführendem Aufsatz zu Autor und Werk Der letzte Roman von Fjodor M. Dostojewskis übertrifft alle vorausgegangenen in der Breite und Komplexität. Man kann dieses Buch - das auch sein letztes wurde - als die Essenz seines Schaffens sehen. Das Buch ist (anspruchsvoller) Kriminalroman, Entwicklungsgeschichte, Psychogramm und Sittengemälde in einem. Die drei Söhne von Fjodor Karamasow, einem alten Trinker und Tunichtgut, kehren als Erwachsene ins Elternhaus zurück und müssen sich mit ihrem nur schlecht versteckten Hass auf den Vater auseinandersetzen. Ein Bruder, Dimitri, buhlt um dieselbe Frau wie der Vater: die schöne Gruschenka. Der zweite Bruder, Iwan, ist ein antireligiöser Intellektueller. Der jüngste Bruder, Aljoscha, lebt im Kloster. Ein vierter - unehelicher Sohn - Smerdjakow, erschlägt schließlich den Vater und begeht daraufhin Selbstmord. An seiner Stelle wird Dmitri als Vatermörder angeklagt. Der Roman entfaltet eine Fülle tiefer Gedanken über die christliche Religion und die in ihr angesprochenen menschlichen Grundfragen nach Schuld und Sühne, Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung. Für Sigmund Freud war "Die Brüder Karamasow" "der großartigste Roman, der je geschrieben wurde". Thomas Mann und James Joyce spielten in ihren eigenen Texten mehrfach auf Motive des Werks an. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1829

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Die Brüder Karamasow

Vollständige Ausgabe

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Die Brüder Karamasow

Vollständige Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Hermann Röhl EV: Reclam jun., Leipzig, 1924 5. Auflage, ISBN 978-3-954181-19-3

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­tor und Werk

Vor­wort des Ver­fas­sers

Ers­ter Teil

Ers­tes Buch – Die Ge­schich­te ei­ner Fa­mi­lie

1. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch Ka­ra­ma­sow

2. Der ers­te Sohn wird aus dem Haus ge­schafft

3. Die zwei­te Ehe und die Kin­der dar­aus

4. Der drit­te Sohn Al­jo­scha

5. Die Star­zen

Zwei­tes Buch – Eine ver­fehl­te Zu­sam­men­kunft

1. An­kunft im Klos­ter

2. Ein al­ter Pos­sen­rei­ßer

3. Gläu­bi­ge Wei­ber

4. Eine klein­gläu­bi­ge Dame

5. Amen, es soll also ge­sche­hen!

6. Wozu lebt ein sol­cher Mensch?

7. Ein Se­mi­na­rist und Kar­rie­rist

8. Der Skan­dal

Drit­tes Buch – Wol­lüst­lin­ge

1. In der Ge­sin­de­stu­be

2. Li­sa­we­ta die Stin­ken­de

3. Beich­te ei­nes hei­ßen Her­zens (in Ver­sen)

4. Beich­te ei­nes hei­ßen Her­zens (in Pro­sa)

5. Beich­te ei­nes hei­ßen Her­zens (»Mit den Fer­sen nach oben«)

6. Smerd­ja­kow

7. Eine Kon­tro­ver­se

8. Beim Ko­gnak

9. Die Wüst­lin­ge

10. Bei­de Frau­en zu­sam­men

11. Noch ein ver­dor­be­ner Ruf

Zwei­ter Teil

Vier­tes Buch – Über­spannt­hei­ten

1. Va­ter Fe­ra­pont

2. Beim Va­ter

3. Er gibt sich mit Schul­kna­ben ab

4. Bei den Choch­la­kows

5. Über­spannt­heit im Sa­lon

6. Über­spannt­heit in der ärm­li­chen Woh­nung

Fünf­tes Buch – Pro und Kon­tra

1. Die Ver­lo­bung

2. Smerd­ja­kow mit der Gi­tar­re

3. Die Brü­der ler­nen ein­an­der ken­nen

4. Re­bel­li­on

5. Der Gro­ßin­qui­si­tor

6. Ein vor­läu­fig sehr un­kla­res Ka­pi­tel

7. Mit ei­nem klu­gen Men­schen ist auch ein kur­z­es Ge­spräch von Nut­zen

Sechs­tes Buch – Ein rus­si­scher Mönch

1. Der Sta­rez Sos­si­ma und sei­ne Be­su­cher

2. Aus dem Le­ben des in Gott ent­schla­fe­nen Pries­ter­mönchs und Sta­rez Sos­si­ma, nach sei­nen ei­ge­nen Wor­ten zu­sam­men­ge­stellt von Ale­xej Fjo­do­ro­witsch Ka­ra­ma­sow

3. Aus den Ge­sprä­chen und Be­leh­run­gen des Sta­rez Sos­si­ma

Drit­ter Teil

Sie­ben­tes Buch – Al­jo­scha

1. Ver­we­sungs­ge­ruch

2. Der ge­wis­se Au­gen­blick

3. Die Zwie­bel

4. Die Hoch­zeit zu Kana in Ga­li­läa

Ach­tes Buch – Mit­ja

1. Kus­ma Sam­so­now

2. Lja­ga­wy

3. Die Gold­berg­wer­ke

4. In der Dun­kel­heit

5. Ein plötz­li­cher Ent­schluss

6. Ich kom­me selbst!

7. Der Frü­he­re und Un­be­streit­ba­re

8. Im Fie­ber­wahn

Neun­tes Buch – Die Vor­un­ter­su­chung

1. Der Be­ginn der Kar­rie­re des Be­am­ten Per­cho­tin

2. Alarm

3. Die Wan­de­rung ei­ner See­le durch die Lei­den.

4. Das zwei­te Leid

5. Das drit­te Leid

6. Der Staats­an­walt fängt Mit­ja

7. Mit­jas großes Ge­heim­nis wird nicht ernst ge­nom­men

8. Die Zeu­gen­aus­sa­gen und der Traum vom ›Kin­de­lein‹

9. Mit­ja wird ab­trans­por­tiert

Vier­ter Teil

Zehn­tes Buch – Die Jun­gen

1. Kol­ja Kras­sot­kin

2. Kin­der

3. Schü­ler

4. Shutsch­ka

5. An Il­juschas Bett

6. Früh­rei­fe

7. Il­ju­scha

Elf­tes Buch – Der Bru­der Iwan Fjo­do­ro­witsch

1. Bei Gru­schen­ka

2. Das kran­ke Füß­chen

3. Ein Teu­fel­chen

4. Eine Hym­ne und ein Ge­heim­nis

5. Nicht du, nicht du!

6. Ers­ter Be­such bei Smerd­ja­kow

7. Zwei­ter Be­such bei Smerd­ja­kow

8. Drit­ter und letz­ter Be­such bei Smerd­ja­kow

9. Der Teu­fel – Iwan Fjo­do­ro­witschs Alp­traum

10. »Das hat er ge­sagt!«

Zwölf­tes Buch – Ein Jus­tizirr­tum

1. Der ver­häng­nis­vol­le Tag

2. Ge­fähr­li­che Zeu­gen

3. Die me­di­zi­ni­schen Gut­ach­ten und ein Pfund Nüs­se

4. Das Glück lä­chelt Mit­ja

5. Die plötz­li­che Ka­ta­stro­phe

6. Die Rede des Staats­an­walts: Per­so­nen­cha­rak­te­ris­tik

7. His­to­ri­scher Über­blick

8. Der Trak­tat über Smerd­ja­kow

9. Psy­cho­lo­gie auf Hoch­tou­ren. Die da­h­in­ja­gen­de Troi­ka. Schluss der Rede des Staats­an­walts

10. Die Rede des Ver­tei­di­gers. Der Stab mit zwei En­den

11. Kein Geld – also auch kein Raub

12. Und auch kein Mord

13. Und selbst wenn…

14. Die Bau­ern ha­ben ih­ren Kopf für sich

Epi­log

1. Plä­ne zu Mit­jas Ret­tung

2. Für einen Au­gen­blick wird die Lüge zur Wahr­heit

3. Il­ju­schetsch­kas Be­gräb­nis und die Rede am Stein

An­hang: Na­mens­re­gis­ter

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Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Autor und Werk

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski ✳ 11. No­vem­ber 1821 in Mos­kau; † 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg) gilt als ei­ner der be­deu­tends­ten rus­si­schen Schrift­stel­ler.

Fjo­dor Do­sto­jew­ski war das zwei­te Kind von Michail An­dre­je­witsch Do­sto­jew­ski und Ma­ria Fjo­do­row­na Netscha­je­wa. Er hat­te zwei Brü­der und drei Schwes­tern. Die Fa­mi­lie ent­stamm­te ver­arm­tem Adel; der Va­ter war Arzt. Nach dem Tod sei­ner Mut­ter, 1837, ließ sich Do­sto­jew­ski mit sei­nem Bru­der Michail in St. Pe­ters­burg nie­der, wo er von 1838 bis 1843 Bau­in­ge­nieur­we­sen stu­dier­te. 1839 soll sein Va­ter auf dem hei­mi­schen Land­gut durch Leib­ei­ge­ne er­mor­det wor­den sein.

Do­sto­jew­ski war zwei­mal ver­hei­ra­tet. Sei­ne ers­te Ehe mit der Wit­we Ma­ria Dmi­tri­jew­na Isa­je­wa en­de­te 1864 nach sie­ben Jah­ren mit dem Tod Ma­ri­as und war kin­der­los. Sei­ne zwei­te Frau war Anna Gri­gor­jew­na Snit­ki­na. Aus der am 15. Fe­bru­ar 1867 ge­schlos­se­nen Ehe, die bis zu Do­sto­jew­skis Tod an­dau­er­te, gin­gen vier Kin­der her­vor, von de­nen je­doch nur zwei das Er­wach­se­nen­al­ter er­reich­ten.

Do­sto­jew­ski be­gann 1844 mit den Ar­bei­ten zu sei­nem 1846 ver­öf­fent­lich­ten Erst­lings­werk »Arme Leu­te«. Mit des­sen Er­schei­nen wur­de er schlag­ar­tig be­rühmt; die zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik fei­er­te ihn als Ge­nie. 1847 trat er dem re­vo­lu­tio­nären Zir­kel bei. 1949 de­nun­zier­te man ihn, und er wur­de zum Tode ver­ur­teilt. Ei­gent­lich hät­te er am 22. De­zem­ber 3. Ja­nu­ar 1850 durch ein Er­schie­ßungs­kom­man­do hin­ge­rich­tet wer­den sol­len. Erst auf dem Richt­platz be­gna­dig­te Zar Ni­ko­laus I. ihn zu vier Jah­ren Ver­ban­nung und Zwangs­ar­beit in Si­bi­ri­en, mit an­schlie­ßen­der Mi­li­tär­dienst­pflicht. In der Haft in Omsk wur­de bei Do­sto­jew­ski zum ers­ten Mal Epi­lep­sie dia­gno­s­ti­ziert.

1854 trat er sei­ne Mi­li­tär­pflicht im Rah­men sei­ner Ver­ban­nung in Se­mei (Se­mi­pa­la­tinsk) an; 1856 wur­de er zum Of­fi­zier be­för­dert. Nach sei­ner Hei­rat 1857 und schwe­ren epi­lep­ti­schen An­fäl­len be­an­trag­te er sei­ne Ent­las­sung aus der Ar­mee, die je­doch erst 1859 be­wil­ligt wur­de, so­dass Do­sto­jew­ski nach St. Pe­ters­burg zu­rück­keh­ren konn­te.

1859, noch zur Zeit sei­ner si­bi­ri­schen Ver­ban­nung, ent­stand sein Ro­man »On­kel­chens Traum«, un­mit­tel­bar vor den »Auf­zeich­nun­gen aus ei­nem To­ten­haus« (1860).

Ge­mein­sam mit sei­nem Bru­der grün­de­te er die Zeit­schrift »Zeit« (Wremja), in der im dar­auf fol­gen­den Jahr sein Ro­man »Er­nied­rig­te und Be­lei­dig­te« er­schi­en.

Be­reits 1863 je­doch fiel die Zeit­schrift der Zen­sur zum Op­fer und wur­de ver­bo­ten. In der 1860er Jah­ren reist Do­sto­jew­ski mehr­mals durch Eu­ro­pa.

1863 spiel­te er zum ers­ten Mal Rou­let­te. 1864 star­ben in kur­z­er Fol­ge Do­sto­jew­skis ers­te Frau, sein Bru­der und sein Freund Apol­lon Gri­gor­jew; die Nach­fol­ge­zeit­schrift der »Zeit«, die »Epo­che«, muss­te er aus Geld­man­gel ein­stel­len.

1865 ver­spiel­te er beim Rou­let­te in der Spiel­bank in Wies­ba­den sei­ne Rei­se­kas­se. Im Mit­tel­punkt sei­nes 1866 er­schie­ne­nen Ro­mans »Der Spie­ler« steht ein Rou­let­te­spie­ler. Im sel­ben Jahr er­schi­en der ers­te der großen Ro­ma­ne, durch die Do­sto­jew­skis Werk Teil der Welt­li­te­ra­tur wur­de: »Schuld und Süh­ne« (oder auch in der Neu­über­set­zung: »Ver­bre­chen und Stra­fe«).

Kurz nach sei­ner zwei­ten Ehe­schlie­ßung, 1867, nach dem Zu­sam­men­bruch der mit sei­nem Bru­der ge­grün­de­ten zwei­ten Zeit­schrift ins Aus­land, um sich dem Zu­griff sei­ner Gläu­bi­ger zu ent­zie­hen. Er wohn­te län­ge­re Zeit in Dres­den.

Erst 1871 kehr­te er wie­der nach Russ­land zu­rück. Ent­ge­gen der weit­ver­brei­te­ten An­nah­me, Do­sto­jew­ski habe große Be­trä­ge am Rou­let­te­tisch ver­lo­ren, war er ein Spie­ler mit ge­rin­gen Ein­set­zen, der oft ta­ge­lang mit dem Geld ei­nes ge­ra­de ver­pfän­de­ten Klei­des sei­ner Frau spiel­te.

1868 er­schi­en sein zwei­tes Groß­werk, »Der Idi­ot«, die Ge­schich­te des Fürs­ten Mysch­kin, der (wie Do­sto­jew­ski selbst) un­ter Epi­lep­sie lei­det und auf­grund sei­ner Güte, Ehr­lich­keit und Tu­gend­haf­tig­keit in der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft schei­tert.

Zu sei­nem Ende hin ver­lief das Le­ben Do­sto­jew­skis in ru­hi­ge­ren Bah­nen. Er ver­fass­te sei­ne bei­den letz­ten großen Wer­ke, den Ro­man »Der Jüng­ling« – in der Neu­über­set­zung »Ein grü­ner Jun­ge« – und schließ­lich den Ro­man »Die Brü­der Ka­ra­ma­sow«, den er in den 1860er Jah­ren, also in der Zeit der Ent­ste­hung von »Schuld und Süh­ne«, be­gon­nen hat­te und der die Ent­wick­lung der rus­si­schen Ge­sell­schaft bis in die 1880er Jah­re be­han­deln soll­te.

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski starb am 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg an ei­nem Lun­gen­em­phy­sem; an sei­nem Be­gräb­nis nah­men 60.000 Men­schen teil. Sein Grab be­fin­det sich auf dem Tich­wi­ner Fried­hof des Alex­an­der-New­ski-Klos­ters.

Vorwort des Verfassers

In­dem ich die Le­bens­be­schrei­bung mei­nes Hel­den Ale­xej Fjo­do­ro­witsch Ka­ra­ma­sow be­gin­ne, bin ich in ei­ner ge­wis­sen Ver­le­gen­heit. Ob­gleich ich näm­lich Ale­xej Fjo­do­ro­witsch als mei­nen Hel­den be­zeich­ne, weiß ich doch selbst, dass er kei­nes­wegs ein großer Mann ist; da­her sehe ich un­wei­ger­lich Fra­gen vor­aus wie etwa: Wo­durch zeich­net sich Ihr Ale­xej Fjo­do­ro­witsch denn aus, dass Sie ihn zu Ihrem Hel­den er­wählt ha­ben? Was hat er schon ge­leis­tet? Wem ist er be­kannt und wo­durch? Wa­rum soll ich, der Le­ser, mei­ne Zeit mit dem Stu­di­um von Er­eig­nis­sen aus sei­nem Le­ben ver­geu­den?

Die letz­te Fra­ge ist die hei­kels­te; denn ich kann auf sie nur ant­wor­ten: »Vi­el­leicht ent­neh­men Sie das dem Ro­man.« Wenn nun je­mand den Ro­man liest und es nicht ent­nimmt und mei­nen Ale­xej Fjo­do­ro­witsch nicht als be­mer­kens­wert an­er­kennt? Ich sage das, weil ich es zu mei­nem Leid­we­sen vor­aus­se­he. Für mich ist er ein be­mer­kens­wer­ter Mensch; aber ich zweifle stark, ob es mir ge­lin­gen wird, dies dem Le­ser zu be­wei­sen. Das liegt dar­an, dass er zwar han­delt, aber eben un­si­cher, ohne Klar­heit. Al­ler­dings wäre es selt­sam, in ei­ner Zeit wie un­se­rer von je­man­dem Klar­heit zu for­dern. Ei­nes steht aber wohl ziem­lich fest: Er ist ein selt­sa­mer Mensch, ja so­gar ein Son­der­ling. Aber Selt­sam­keit und Wun­der­lich­keit scha­den eher, als dass sie ein Recht auf Be­ach­tung ge­ben, na­ment­lich da alle be­müht sind, die Ein­zel­er­schei­nun­gen zu­sam­men­zu­fas­sen und we­nigs­tens dar­in ir­gend­ei­nen ge­mein­sa­men Sinn in der all­ge­mei­nen Sinn­lo­sig­keit zu fin­den. Ein Son­der­ling aber ist in der Mehr­zahl der Fäl­le et­was Ve­rein­zel­tes, Iso­lier­tes. Ist es nicht so?

Wenn Sie nun aber mit die­ser letz­ten The­se nicht ein­ver­stan­den sind und ant­wor­ten: Es ist nicht so! oder: Es ist nicht im­mer so! – dann wür­de ich hin­sicht­lich der Be­deu­tung mei­nes Hel­den Ale­xej Fjo­do­ro­witsch doch wie­der Mut fas­sen. Ab­ge­se­hen da­von, dass ein Son­der­ling »nicht im­mer« et­was Ve­rein­zel­tes und Iso­lier­tes ist – es kommt so­gar vor, dass ge­ra­de er den Kern des Gan­zen in sich trägt, dass alle üb­ri­gen Men­schen sei­ner Epo­che aus ir­gend­ei­nem Grund, durch ir­gend­ei­nen an­drän­gen­den Wind zeit­wei­lig von die­sem Gan­zen los­ge­ris­sen sin­d…

Am liebs­ten hät­te ich mich auf die­se sehr un­in­ter­essan­ten und un­kla­ren Dar­le­gun­gen gar nicht ein­ge­las­sen, son­dern mein Werk ganz ein­fach ohne Vor­wort be­gon­nen: wem’s ge­fällt, der wird es so­wie­so le­sen. Aber das Un­glück be­steht dar­in, dass ich zwar nur eine Le­bens­be­schrei­bung habe, da­für aber zwei Ro­ma­ne. Der Haup­troman ist der zwei­te; er ent­hält die Tä­tig­keit mei­nes Hel­den in un­se­rer Zeit, ge­ra­de in die­sem jet­zi­gen Au­gen­blick. Der ers­te Ro­man je­doch hat sich schon vor drei­zehn Jah­ren zu­ge­tra­gen; ei­gent­lich ist er kaum ein Ro­man, eher ein Mo­ment aus der frü­hen Ju­gend mei­nes Hel­den. Die­sen ers­ten Ro­man weg­zu­las­sen ist für mich un­mög­lich, vie­les in dem zwei­ten wäre dann un­ver­ständ­lich. Aber auf die­se Wei­se ver­grö­ßert sich für mich noch die ur­sprüng­li­che Schwie­rig­keit: Wenn schon ich, der Bio­graf sel­ber, fin­de, ein ein­zi­ger Ro­man ist für einen so be­schei­de­nen und un­deut­li­chen Hel­den viel­leicht schon zu viel – wie soll ich da mit zwei Ro­ma­nen auf den Plan tre­ten, und wo­mit soll ich eine sol­che An­ma­ßung ent­schul­di­gen?

Da mir die Beant­wor­tung die­ser Fra­gen schwer­fällt, ent­schlie­ße ich mich, sie über­haupt nicht zu be­ant­wor­ten. Selbst­ver­ständ­lich hat der scharf­sin­ni­ge Le­ser längst be­merkt, dass ich von An­fang an dazu neig­te, und nun ist er bloß är­ger­lich auf mich, weil ich un­nüt­ze Wor­te und kost­ba­re Zeit zweck­los ver­geu­de. Da­rauf gebe ich eine kla­re Ant­wort: Ich habe un­nüt­ze Wor­te und kost­ba­re Zeit ers­tens aus Höf­lich­keit und zwei­tens aus Schlau­heit ver­geu­det. Im­mer­hin könn­te ich nach­her sa­gen: Ich habe im vor­aus ge­warnt! Üb­ri­gens freue ich mich so­gar dar­über, dass sich mein Ro­man von selbst in zwei Er­zäh­lun­gen ge­glie­dert hat, »bei we­sent­li­cher Ein­heit­lich­keit des Gan­zen«; wenn sich der Le­ser mit der ers­ten Er­zäh­lung be­kannt ge­macht hat, kann er selbst ent­schei­den, ob es loh­nend für ihn ist, sich mit der zwei­ten zu be­fas­sen. Na­tür­lich ist nie­mand zu et­was ver­pflich­tet, je­der kann das Buch schon nach zwei Sei­ten der ers­ten Er­zäh­lung weg­le­gen, um es nie wie­der auf­zu­schla­gen. Aber es gibt ja zart­füh­len­de Le­ser, die durch­aus bis zu Ende le­sen wol­len, um zu ei­nem irr­tums­frei­en, un­par­tei­ischen Ur­teil zu ge­lan­gen; dazu ge­hö­ren zum Bei­spiel alle rus­si­schen Kri­ti­ker. Gera­de ih­nen ge­gen­über füh­le ich mich jetzt er­leich­tert: trotz al­ler Ge­nau­ig­keit und Ge­wis­sen­haf­tig­keit ha­ben sie einen durch­aus ge­setz­li­chen Vor­wand, die Er­zäh­lung bei der ers­ten Epi­so­de des Ro­mans bei­sei­te zu le­gen.

Nun das wäre mein gan­zes Vor­wort. Zu­ge­ge­ben, es ist über­flüs­sig; aber da es ein­mal hin­ge­schrie­ben ist, mag es ste­hen­blei­ben.

Doch nun zur Sa­che.

Erster Teil

Erstes Buch – Die Geschichte einer Familie

1. Fjodor Pawlowitsch Karamasow

Ale­xej Fjo­do­ro­witsch Ka­ra­ma­sow1 war der drit­te Sohn des in un­se­rem Kreis an­säs­si­gen Guts­be­sit­zers Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch Ka­ra­ma­sow, der sei­ner­zeit äu­ßerst be­kannt war (und bis heu­te noch nicht ver­ges­sen ist) we­gen sei­nes dunklen, tra­gi­schen En­des, das vor ge­nau drei­zehn Jah­ren ein­trat; ich wer­de, wenn es sich an­bie­tet, dar­auf zu­rück­kom­men. Jetzt aber will ich von die­sem »Guts­be­sit­zer«, wie er bei uns ge­nannt wur­de, ob­wohl er sein gan­zes Le­ben fast nie auf sei­nem Gut leb­te, nur so viel sa­gen, dass er ein son­der­ba­rer, aber ziem­lich häu­fig vor­kom­men­der Typ war: nicht nur ein ge­mei­ner und aus­schwei­fen­der, son­dern auch un­ver­stän­di­ger Mensch, al­ler­dings ei­ner von de­nen, die es vor­züg­lich ver­ste­hen, ihre Geld­ge­schäft­chen zu be­trei­ben – sonst aber, wie es scheint auch nichts. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch zum Bei­spiel hat­te bei­na­he mit nichts be­gon­nen; er war ein ganz klei­ner Guts­be­sit­zer ge­we­sen, war zu frem­den Ti­schen ge­lau­fen, um da sein Mit­tags­brot zu fin­den, hat­te sich als Kost­gän­ger durch­schma­rotzt, und den­noch fan­den sich bei ihm nach sei­nem Tode an die hun­dert­tau­send Ru­bel ba­res Geld. Da­bei war er sein Le­ben lang ei­ner der un­ver­stän­digs­ten Nar­ren in un­se­rem gan­zen Kreis. Ich wie­der­ho­le, ich mei­ne nicht Dumm­heit – die meis­ten die­ser Nar­ren sind recht klug und schlau –, son­dern Un­ver­stand, und zwar eine be­son­de­re, na­tio­na­le Art von Un­ver­stand.

Er war zwei­mal ver­hei­ra­tet und hat­te drei Söh­ne: den äl­tes­ten, Dmi­tri Fjo­do­ro­witsch, von der ers­ten Frau; die bei­den an­de­ren, Iwan und Ale­xej, von der zwei­ten. Sei­ne ers­te Frau stamm­te aus dem ziem­lich rei­chen, vor­neh­men Adels­ge­schlecht der Mi­us­sows, eben­falls Guts­be­sit­zer in un­se­rem Kreis. Wie es ge­kom­men war, dass ein Mäd­chen mit Mit­gift und noch dazu ein schö­nes Mäd­chen, ei­nes je­ner fri­schen, klu­gen Mäd­chen, die in un­se­rer jet­zi­gen Ge­ne­ra­ti­on so zahl­reich sind, aber auch schon in der vo­ri­gen vor­ka­men, wie ein sol­ches Mäd­chen einen sol­chen »Jam­mer­lap­pen«, wie ihn die Leu­te da­mals rie­fen, hei­ra­ten konn­te, das will ich nicht lan­ge er­ör­tern. Kann­te ich doch selbst noch ein Mäd­chen aus der vor­vo­ri­gen, der »ro­man­ti­schen« Ge­ne­ra­ti­on, das sich nach meh­re­ren Jah­ren ei­ner rät­sel­haf­ten Lie­be zu ei­nem Mann, den sie je­den Au­gen­blick ganz be­quem hät­te hei­ra­ten kön­nen, selbst un­über­wind­li­che Hin­der­nis­se aus­dach­te und sich in ei­ner stür­mi­schen Nacht von ei­nem fel­si­gen Steilufer in einen ziem­lich tie­fen, rei­ßen­den Fluss stürz­te und dar­in um­kam, ein­zig und al­lein, um Sha­ke­s­pea­res Ophe­lia zu glei­chen. Und wäre der lan­ge ins Auge ge­fass­te, ja lieb­ge­won­ne­ne Fel­sen nicht ma­le­risch ge­we­sen, wäre an sei­ner Stel­le pro­sa­i­sches fla­ches Ufer ge­we­sen, der Selbst­mord hät­te viel­leicht über­haupt nicht statt­ge­fun­den. Das ist eine Tat­sa­che, und man darf an­neh­men, dass in un­se­rem rus­si­schen Le­ben der zwei oder drei letz­ten Ge­ne­ra­tio­nen nicht we­ni­ge Ta­ten die­ser oder ähn­li­cher Art vor­ka­men. Dement­spre­chend war denn auch der Schritt Ade­lai­da Iwa­now­na Mi­us­so­was ohne Zwei­fel auf frem­de Ein­flüs­se und auf ihre vom Af­fekt ge­fes­sel­ten Ge­dan­ken zu­rück­zu­füh­ren. Vi­el­leicht woll­te sie weib­li­che Selbst­stän­dig­keit an den Tag le­gen, sich ge­gen die ge­sell­schaft­li­chen Zu­stän­de, ge­gen den Des­po­tis­mus ih­rer Ver­wandt­schaft und ih­rer Fa­mi­lie auf­leh­nen, und ihre wil­li­ge Fan­ta­sie über­zeug­te sie, wenn auch viel­leicht nur für den Au­gen­blick, in Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch trotz sei­ner Schma­rot­zer­stel­lung einen der kühns­ten, spott­lus­tigs­ten Män­ner je­ner auf al­les ori­en­tier­ten Über­gangsepo­che zu se­hen, wäh­rend er in Wirk­lich­keit nichts als ein üb­ler Pos­sen­rei­ßer war. Das Pi­kan­te be­stand auch dar­in, dass die Sa­che mit­tels ei­ner Ent­füh­rung vor sich ging, was für Ade­lai­da Iwa­now­na einen be­son­de­ren Reiz hat­te. Und Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch war da­mals schon we­gen sei­ner so­zia­len Stel­lung zu al­len der­ar­ti­gen Strei­chen be­reit; er wünsch­te lei­den­schaft­lich, Kar­rie­re zu ma­chen, ganz gleich mit wel­chen Mit­teln; und sich in eine gute Fa­mi­lie zu drän­gen und eine Mit­gift ein­zu­strei­chen, das hat­te et­was sehr Ver­lo­cken­des. Ge­gen­sei­ti­ge Lie­be war, wie es scheint, nicht vor­han­den, we­der auf sei­ten der Braut noch auf sei­ner Sei­te, so­gar trotz Ade­lai­da Iwa­now­nas Schön­heit. So stand die­ser Fall viel­leicht ein­zig da im Le­ben Fjo­dor Paw­lo­wi­tschs, die­ses über­aus sinn­li­chen Men­schen, der je­den Au­gen­blick be­reit war, sich an je­den erst­bes­ten Wei­ber­rock zu hän­gen, wo im­mer ihn ei­ner lock­te. Trotz­dem weck­te nur die­se eine Frau sei­ne Lei­den­schaft nicht im ge­rings­ten.

Ade­lai­da Iwa­now­na hat­te gleich nach der Ent­füh­rung er­kannt, dass sie für ih­ren Mann nichts an­de­res als Ver­ach­tung emp­fin­den konn­te. So tra­ten die Fol­gen die­ser Hei­rat au­ßer­or­dent­lich rasch zu­ta­ge. Ob­wohl sich die Fa­mi­lie ziem­lich bald mit dem Ge­sche­he­nen aus­söhn­te und der Ent­flo­he­nen ihre Mit­gift aus­zahl­te, be­gan­nen die Ehe­gat­ten ein un­ge­ord­ne­tes Le­ben mit ewi­gen Sze­nen. Man er­zähl­te sich, die jun­ge Frau habe un­ver­gleich­lich mehr Edel­mut und Hoch­her­zig­keit be­kun­det als Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch, der ihr, wie jetzt be­kannt ist, ihr gan­zes Geld, etwa fünf­und­zwan­zig­tau­send Ru­bel, ab­nahm, so­bald sie es be­kom­men hat­te, so­dass die Tau­sen­de für sie gleich ins Was­ser ge­fal­len wa­ren. Lan­ge Zeit be­müh­te er sich mit al­ler Kraft, ein klei­nes Gut und ein ziem­lich gu­tes Stadt­haus, die sie eben­falls mit­be­kom­men hat­te, durch eine ent­spre­chen­de Ur­kun­de auf sei­nen Na­men über­tra­gen zu las­sen. Wahr­schein­lich hät­te er es auch er­reicht, und zwar al­lein dank der Ver­ach­tung und dem Ekel, die sei­ne scham­lo­sen Er­pres­sun­gen und Bet­te­lei­en bei sei­ner Gat­tin her­vor­rie­fen, dank ih­rer see­li­schen Er­mü­dung und ih­rem Wunsch, ihn los­zu­wer­den; zum Glück je­doch schritt die Fa­mi­lie Ade­lai­da Iwa­now­nas ein und setz­te der Räu­be­rei eine Gren­ze. Es war zu­ver­läs­sig be­kannt, dass sich die Ehe­leu­te nicht sel­ten schlu­gen, doch woll­te man wis­sen, dass der ak­ti­ve Teil nicht Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch war, son­dern Ade­lai­da Iwa­now­na, eine heiß­blü­ti­ge, mu­ti­ge, un­ge­dul­di­ge, brü­net­te Frau mit be­mer­kens­wer­ter Kraft. Schließ­lich ver­ließ sie das Haus und floh mit ei­nem bet­tel­ar­men Se­mi­na­ris­ten, dem Leh­rer Fjo­dor Paw­lo­wi­tschs; den drei­jäh­ri­gen Mit­ja2 ließ sie zu­rück.

Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch rich­te­te im Hau­se so­fort einen gan­zen Ha­rem ein und er­gab sich zü­gel­los der Trunk­sucht; zwi­schen­durch fuhr er im Gou­ver­ne­ment um­her, be­klag­te sich wei­nend bei al­len und je­dem, Ade­lai­da Iwa­now­na habe ihn ver­las­sen, und er­zähl­te da­bei Ein­zel­hei­ten aus sei­nem Ehe­le­ben, de­ren er sich als Ehe­mann ei­gent­lich hät­te schä­men müs­sen. Be­son­ders ge­fiel und schmei­chel­te es ihm, al­len Leu­ten die lä­cher­li­che Rol­le des ge­kränk­ten Ehe­man­nes vor­zu­spie­len und so­gar die Ein­zel­hei­ten der ihm an­ge­ta­nen Krän­kung aus­führ­lich zu schil­dern. »Man soll­te mei­nen, Ih­nen wäre eine Rang­er­hö­hung zu­teil ge­wor­den, Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch, so zu­frie­den sind Sie trotz Ihres Kum­mers«, sag­ten Spöt­ter zu ihm. Vie­le füg­ten gar hin­zu, er spie­le gern wie­der von neu­em die Rol­le des Pos­sen­reiß­ers und tue, um noch mehr Ge­läch­ter zu er­re­gen, ab­sicht­lich so, als mer­ke er sei­ne ko­mi­sche Lage gar nicht. Wer weiß, viel­leicht war das bei ihm Nai­vi­tät. End­lich ge­lang es ihm, die Spur sei­ner ge­flo­he­nen Frau zu fin­den. Die Ärms­te war mit ih­rem Leh­rer nach Pe­ters­burg ge­gan­gen, wo sie sich schran­ken­lo­ser Eman­zi­pa­ti­on hin­gab. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch ent­wi­ckel­te so­fort eine ge­schäf­ti­ge Tä­tig­keit und schick­te sich an, nach Pe­ters­burg zu fah­ren; wozu, wuss­te er selbst nicht. Vi­el­leicht wäre er auch wirk­lich ge­fah­ren; doch nach­dem er den Ent­schluss ge­fasst hat­te, sah er es zu­nächst als sein gu­tes Recht an, zur Er­mu­ti­gung vor der Rei­se er­neut maß­los zu trin­ken. Und eben um die­se Zeit er­hielt die Fa­mi­lie sei­ner Gat­tin die Nach­richt, dass sie in Pe­ters­burg ganz plötz­lich ge­stor­ben war, in ir­gend­ei­ner Dach­kam­mer, dem einen Gerücht zu­fol­ge an Ty­phus, nach ei­nem an­de­ren ein­fach vor Hun­ger. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch war be­trun­ken, als er vom Tod sei­ner Gat­tin er­fuhr; er soll auf die Stra­ße ge­lau­fen sein und mit zum Him­mel er­ho­be­nen Ar­men voll Freu­de aus­ge­ru­fen ha­ben: »Nun läs­sest du mich in Frie­den fah­ren.« Nach an­de­ren Be­rich­ten soll er ge­weint und ge­schluchzt ha­ben wie ein Kind, so­dass man trotz al­len Wi­der­wil­lens an­geb­lich so­gar Mit­leid für ihn emp­fand. Durchaus mög­lich, dass bei­des zu­traf: dass er sich über sei­ne Be­frei­ung freu­te und da­bei auch sei­ne Be­freie­rin be­wein­te – al­les zu­gleich. Meis­tens sind die Men­schen, so­gar die schlech­ten, viel nai­ver und of­fen­her­zi­ger, als wir ge­mein­hin an­neh­men. Und wir sel­ber auch.

Na­mens­ge­bung für das Ver­ständ­nis deut­sche Le­ser: Ka­ra­ma­sow ist der Fa­mi­li­en- und Ale­xej der Vor­na­me, wie bei uns. Fjo­do­ro­witsch ist der Va­ters­na­me (Sohn des Fjo­dor). Die An­re­de er­folgt meist in der Form Ale­xej Fjo­do­ro­witsch. Bei Frau­en er­folgt die Bil­dung des Va­ters­na­men ana­log; wenn sie hei­ra­ten, neh­men sie den Na­men des Man­nes an. Die zwei­te Frau Fjo­dor Paw­lo­wi­tschs heißt also Sof­ja Iwa­now­na Ka­ra­ma­sow­na.  <<<

Di­mi­nu­tiv von Dmi­tri  <<<

2. Der erste Sohn wird aus dem Haus geschafft

Man kann sich na­tür­lich vor­stel­len, was für ein Er­zie­her und Va­ter so ein Mensch sein muss­te. Er tat denn auch als Va­ter, was zu er­war­ten war, das heißt, er ver­nach­läs­sig­te das Kind voll­kom­men, nicht aus Hass, auch nicht aus dem Ge­fühl ge­kränk­ten Gat­ten­stol­zes, son­dern ein­fach, weil er den Klei­nen ver­ges­sen hat­te. Wäh­rend er alle Leu­te mit sei­nen Trä­nen und Kla­gen be­läs­tig­te und sein Haus in eine Laster­höh­le ver­wan­del­te, nahm ein treu­er Die­ner des Hau­ses mit Na­men Gri­go­ri den drei­jäh­ri­gen Mit­ja in sei­ne Ob­hut, und hät­te er nicht für ihn ge­sorgt, es wäre viel­leicht nie­man­dem ein­ge­fal­len, dem Kind auch nur ein­mal das Hemd zu wech­seln. Au­ßer­dem hat­te auch die Ver­wandt­schaft müt­ter­li­cher­seits das Kind in der ers­ten Zeit bei­na­he völ­lig ver­ges­sen. Sein Groß­va­ter, Herr Mi­us­sow selbst, Ade­lai­da Iwa­now­nas Va­ter, war da­mals nicht mehr am Le­ben; sei­ne ver­wit­we­te Gat­tin, Mit­jas Groß­mut­ter, war nach Mos­kau ver­zo­gen und sehr krank; Ade­lai­da Iwa­now­nas Schwes­tern hat­ten sich ver­hei­ra­tet; in­fol­ge­des­sen muss­te Mit­ja fast ein gan­zes Jahr bei dem Die­ner Gri­go­ri zu­brin­gen und bei ihm im Ge­sin­de­haus woh­nen. Selbst wenn sich der Papa sei­ner er­in­nert hät­te (sei­ne Exis­tenz konn­te ihm ja nicht un­be­kannt sein), er hät­te ihn wie­der ins Ge­sin­de­haus ge­schickt, da ihn das Kind bei sei­nen Aus­schwei­fun­gen stör­te. Aber da kehr­te ein Vet­ter der ver­stor­be­nen Ade­lai­da Iwa­now­na, Pjotr Alex­an­dro­witsch Mi­us­sow, zu­rück aus Pa­ris, er leb­te spä­ter vie­le Jah­re un­un­ter­bro­chen im Aus­land, da­mals aber war er noch sehr jung. Von den üb­ri­gen Mi­us­sows un­ter­schied er sich er­heb­lich: Er war auf­ge­klärt, ein Freund der Groß­stadt und des Aus­lan­des, dazu zeit sei­nes Le­bens ein An­hän­ger west­eu­ro­päi­scher Ide­en und ge­gen Ende sei­nes Le­bens ein Li­be­ra­ler un­se­rer vier­zi­ger und fünf­zi­ger Jah­re. Wäh­rend sei­ner Lauf­bahn stand er mit vie­len Li­be­ra­len in Russ­land und im Aus­land in Ver­bin­dung; er kann­te Proud­hon1 und Ba­ku­nin2 per­sön­lich und er­zähl­te am Ende sei­ner Wan­de­run­gen be­son­ders gern von den drei Ta­gen der Pa­ri­ser Fe­bruar­re­vo­lu­ti­on von 1848, wo­bei er an­deu­te­te, dass er sich bei­na­he selbst auf den Bar­ri­ka­den an ihr be­tei­ligt habe. Das war für ihn eine der an­ge­nehms­ten Erin­ne­run­gen aus sei­ner Ju­gend­zeit. Er be­saß ein be­trächt­li­ches ei­ge­nes Ver­mö­gen, nach der frü­he­ren Zähl­wei­se an die tau­send See­len. Sein schö­nes Gut lag nahe bei un­se­rem Städt­chen und grenz­te an den Land­be­sitz un­se­res be­rühm­ten Klos­ters, mit dem Pjotr Alex­an­dro­witsch schon in sehr jun­gen Jah­ren, gleich nach­dem er sein Gut ge­erbt hat­te, einen end­lo­sen Pro­zess be­gann, um das Recht ir­gend­wel­chen Fisch­fangs im Fluss oder ir­gend­wel­chen Holzein­schlags im Wald, ge­nau weiß ich das nicht; einen Pro­zess mit den »Kle­ri­ka­len« hielt er so­gar für sei­ne Pf­licht als Staats­bür­ger und auf­ge­klär­ter Mensch. Nach­dem er al­les über Ade­lai­da Iwa­now­na ge­hört hat­te, an die er sich noch er­in­ner­te, weil sie ihm frü­her ein­mal auf­ge­fal­len war, und nach­dem er er­fah­ren hat­te, dass Mit­ja zu­rück­ge­blie­ben war, nahm er sich trotz der ju­gend­li­chen Ent­rüs­tung und Ver­ach­tung, ge­gen­über Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch die­ser Sa­che an. Bei die­sem An­lass lern­te er Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch zum ers­ten Mal ken­nen. Er er­klär­te ihm ohne Um­schwei­fe, er wün­sche die Er­zie­hung des Kin­des zu über­neh­men. Lan­ge Zeit spä­ter er­zähl­te er wie­der­holt fol­gen­de cha­rak­te­ris­ti­sche Epi­so­de: Als er be­gon­nen habe, mit Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch über Mit­ja zu spre­chen, habe je­ner eine Wei­le so ge­tan, als ver­ste­he er schlech­ter­dings nicht, von wel­chem Kind die Rede sei; er habe so­gar ge­staunt, dass er ir­gend­wo im Hau­se einen klei­nen Sohn be­sit­zen soll­te. Pjotr Alex­an­dro­witschs Be­richt mag viel­leicht über­trie­ben ge­we­sen sein, et­was Wahr­heit ent­hielt er doch. Aber Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch ver­stell­te sich in der Tat sein gan­zes Le­ben lang gern, be­gann plötz­lich vor je­mand ir­gend­ei­ne un­er­war­te­te Rol­le zu spie­len, und zwar, was be­son­ders her­vor­ge­ho­ben wer­den muss, manch­mal ganz un­nö­tig, so­gar zu sei­nem ei­ge­nen Scha­den, wie zum Bei­spiel im vor­lie­gen­den Fall. Die­ser Cha­rak­ter­zug ist üb­ri­gens vie­len Men­schen ei­gen, so­gar sehr klu­gen, nicht nur sol­chen wie Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch. Pjotr Alex­an­dro­witsch be­trieb die Sa­che mit großem Ei­fer und wur­de zu­sam­men mit Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch zum Vor­mund des Kin­des be­ru­fen, weil er von der Mut­ter et­was Ver­mö­gen ge­erbt hat­te, näm­lich das Haus und das Gut. Mit­ja sie­del­te denn auch wirk­lich zu die­sem ent­fern­ten On­kel über. Eine ei­ge­ne Fa­mi­lie be­saß die­ser nicht, und da er es ei­lig hat­te, wie­der für lan­ge Zeit nach Pa­ris zu rei­sen, übergab er das Kind ei­ner ent­fern­ten Tan­te, ei­ner Mos­kau­er Dame, nach­dem er die Zu­sen­dung von Geld ge­re­gelt hat­te. So ver­gaß auch er das Kind, so­bald er sich in Pa­ris wie­der ein­ge­lebt hat­te, be­son­ders als jene Fe­bruar­re­vo­lu­ti­on aus­brach, die zeit sei­nes Le­bens sei­ne Fan­ta­sie fes­sel­te. Die Mos­kau­er Dame je­doch starb, und Mit­ja wur­de von ei­ner ih­rer ver­hei­ra­te­ten Töch­ter über­nom­men. Spä­ter scheint er noch­mals, zum vier­ten Male, sein Nest ge­wech­selt zu ha­ben, doch will ich mich dar­über nicht wei­ter aus­las­sen, zu­mal von die­sem Erst­ge­bo­re­nen Fjo­dor Paw­lo­wi­tschs noch viel zu er­zäh­len sein wird. Ich be­schrän­ke mich jetzt auf die not­wen­digs­ten Nach­rich­ten über ihn, ohne die ich die­sen Ro­man nicht be­gin­nen kann.

Ers­tens, die­ser Dmi­tri Fjo­do­ro­witsch war von den drei Söh­nen Fjo­dor Paw­lo­wi­tschs der ein­zi­ge, der in der Über­zeu­gung auf­wuchs, er be­sit­ze ei­ni­ges Ver­mö­gen und wer­de nach er­reich­ter Voll­jäh­rig­keit un­ab­hän­gig da­ste­hen. Sei­ne Kna­ben- und Jüng­lings­jah­re ver­lie­fen un­ge­ord­net; ohne das Gym­na­si­um be­en­det zu ha­ben, kam er auf eine Mi­li­tär­schu­le, wur­de dann in den Kau­ka­sus ver­schla­gen, zum Of­fi­zier be­för­dert, du­el­lier­te sich, wur­de de­gra­diert, diente sich wie­der em­por, führ­te ein lo­cke­res Le­ben und ver­brauch­te ver­hält­nis­mä­ßig viel Geld. Und da er von Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch vor sei­ner Mün­dig­keit keins be­kam, mach­te er bis da­hin Schul­den. Sei­nen Va­ter lern­te er erst ken­nen, als er so­fort nach Er­rei­chen der Mün­dig­keit in un­se­re Stadt kam, um sich mit ihm über sein Ver­mö­gen zu ei­ni­gen. Sein Er­zeu­ger schi­en ihm da­mals nicht son­der­lich ge­fal­len zu ha­ben; er blieb nicht lan­ge und reis­te so bald wie mög­lich wie­der ab, nach­dem er et­was Geld er­hal­ten und eine Art Ver­trag über die wei­te­ren Ein­künf­te aus dem Gut mit ihm ge­schlos­sen hat­te; über des­sen Ren­ta­bi­li­tät und Wert er­hielt er je­doch von Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch kei­ne Aus­kunft – eine be­mer­kens­wer­te Tat­sa­che. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch merk­te da­mals so­fort – auch das sei fest­ge­hal­ten –, dass Mit­ja sich von sei­nem Ver­mö­gen eine über­trie­be­ne, un­rich­ti­ge Vor­stel­lung mach­te. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch war da­mit sehr zu­frie­den; er hat­te sei­ne Plä­ne. Er sah, dass der jun­ge Mann leicht­sin­nig, hit­zig, lei­den­schaft­lich, un­ge­dul­dig und ver­schwen­de­risch war. ›Ich brau­che ihm‹, sag­te er sich, ›nur von Zeit zu Zeit et­was zu­kom­men zu las­sen, dann wird er sich so­fort be­ru­hi­gen, wenn auch selbst­ver­ständ­lich nur für eine Wei­le.‹ Die­se Tat­sa­che be­gann Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch aus­zu­nut­zen: Er speis­te ihn von Zeit zu Zeit mit klei­nen Ga­ben ab, und das Ende vom Lied war, nach vier Jah­ren, als Mit­ja, un­ge­dul­dig ge­wor­den, zum zwei­ten Mal im Städt­chen er­schi­en, um sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten mit dem Va­ter nun­mehr end­gül­tig zu ord­nen, er­fuhr er plötz­lich zu sei­nem größ­ten Er­stau­nen, dass er be­reits nichts mehr be­saß, dass so­gar eine or­dent­li­che Abrech­nung schwie­rig war, dass er durch die Geld­zah­lun­gen nach und nach den gan­zen Wert sei­nes Be­sitz­tums von Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch er­hal­ten und wo­mög­lich gar schon Schul­den ge­macht hät­te und dass er nach den und den Ab­ma­chun­gen, die dann und dann auf sei­nen ei­ge­nen Wunsch ge­trof­fen wor­den wa­ren, zu kei­nen wei­te­ren For­de­run­gen be­rech­tigt wäre, und so wei­ter. Der jun­ge Mann war be­stürzt; er ver­mu­te­te Un­recht und Be­trug, ge­riet au­ßer sich und ver­lor bei­na­he den Ver­stand. Und eben die­ser Um­stand führ­te zu der Ka­ta­stro­phe, die der Ge­gen­stand mei­nes ers­ten, ein­lei­ten­den Ro­ma­nes ist oder, rich­ti­ger, sein äu­ße­rer Rah­men. Be­vor ich aber zu die­sem Ro­man kom­me, muss ich noch von den an­de­ren bei­den Söh­nen Fjo­dor Paw­lo­wi­tschs, Mit­jas Brü­dern, be­rich­ten und et­was zu ih­rer Her­kunft sa­gen.

Frz. So­zia­list »Ei­gen­tum ist Dieb­stahl«, † 1865  <<<

Russ. Re­vo­lu­tio­när, Theo­re­ti­ker des An­ar­chis­mus, † 1876  <<<

3. Die zweite Ehe und die Kinder daraus

Bald nach­dem Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch den vier­jäh­ri­gen Mit­ja los­ge­wor­den war, hei­ra­te­te er zum zwei­ten Mal, und die­se zwei­te Ehe dau­er­te un­ge­fähr acht Jah­re. Er hol­te sich sei­ne zwei­te, eben­falls sehr jun­ge Frau, Sof­ja Iwa­now­na, aus ei­nem an­de­ren Gou­ver­ne­ment, wo­hin er mit ei­nem Ju­den we­gen ei­nes klei­nen Lie­fer­ge­schäfts ge­fah­ren war. Ob­gleich Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch ein Trin­ker und Wüst­ling war, be­schäf­tig­te er sich näm­lich un­un­ter­bro­chen mit der vor­teil­haf­ten An­la­ge sei­nes Ka­pi­tals und brach­te sei­ne Ge­schäft­chen im­mer glück­lich, wenn auch fast im­mer auf be­trü­ge­ri­sche Wei­se, zu Ende. Sof­ja Iwa­now­na, Toch­ter ei­nes Dia­kons, war seit ih­rer Kind­heit Wai­se; auf­ge­wach­sen war sie im Hau­se ih­rer Wohl­tä­te­rin, Er­zie­he­rin und Pei­ni­ge­rin, ei­ner an­ge­se­he­nen rei­chen, al­ten Dame, der Wit­we des Ge­ne­rals Wo­ro­chow. Nä­he­res weiß ich nicht; ich habe nur ge­hört, dass man die sanf­te, gut­mü­ti­ge, füg­sa­me Pfle­ge­toch­ter ein­mal aus ei­ner Sch­lin­ge be­frei­te, die sie an ei­nem Na­gel in der Rum­pel­kam­mer be­fes­tigt hat­te – so schwer er­trug sie den Ei­gen­sinn und die ewi­gen Vor­wür­fe der bos­haf­ten Al­ten, die durch den Mü­ßig­gang ein so un­aus­steh­li­cher Qu­er­kopf ge­wor­den war. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch be­warb sich um die Hand des Mäd­chens, die alte Frau zog Er­kun­di­gun­gen ein und wies ihm die Tür; und wie­der schlug er, wie bei sei­ner ers­ten Ehe, eine Ent­füh­rung vor. Wahr­schein­lich hät­te sie ihn um kei­nen Preis ge­hei­ra­tet, wäre ihr recht­zei­tig Nä­he­res über ihn be­kannt ge­we­sen. Aber er stamm­te aus ei­nem an­de­ren Gou­ver­ne­ment, und der Ver­stand des sech­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chens reich­te nur zu der Über­le­gung: Lie­ber in den Fluss ge­hen als län­ger bei der Wohl­tä­te­rin blei­ben. So ver­tausch­te sie die Wohl­tä­te­rin mit ei­nem Wohl­tä­ter. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch er­hielt dies­mal kei­ne Kope­ke; die Ge­ne­ra­lin war wü­tend, gab nichts und ver­fluch­te die bei­den. Er hat­te auch nicht da­mit ge­rech­net, et­was zu be­kom­men; ihn reiz­te nur die auf­fal­len­de Schön­heit des Mäd­chens, vor al­lem ihr un­schul­di­ger Ge­sichts­aus­druck, der auf ihn, den im­mer nur lüs­ter­nen Lieb­ha­ber kör­per­li­cher weib­li­cher Rei­ze, star­ken Ein­druck mach­te. »Die­se un­schul­di­gen Äug­lein stri­chen mir da­mals wie ein Ra­sier­mes­ser übers Herz«, sag­te er spä­ter mit sei­nem ge­mei­nen häss­li­chen Ki­chern. Doch auch das konn­te für einen so ver­dor­be­nen Men­schen nichts an­de­res als ein sinn­li­cher Reiz sein. Da er von sei­ner Hei­rat kei­ner­lei ma­te­ri­el­len Vor­teil hat­te, mach­te Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch mit sei­ner Frau kei­ne Um­stän­de; sie hat­te ihm so­zu­sa­gen »Scha­den ge­bracht«, und er hat­te sie ge­wis­ser­ma­ßen »aus der Sch­lin­ge ge­nom­men« – also trat er, ihre un­glaub­li­che De­mut und Füg­sam­keit aus­nut­zend, die ge­wöhn­lichs­ten ehe­li­chen An­stands­re­geln ge­ra­de­zu mit Fü­ßen. In sei­nem Hau­se fei­er­te er vor den Au­gen sei­ner Frau Or­gi­en mit lie­der­li­chen Wei­bern. Als cha­rak­te­ris­tisch füh­re ich an, dass sich der Die­ner Gri­go­ri, ein fins­te­rer, dum­mer, ei­gen­sin­ni­ger, recht­ha­be­ri­scher Mensch, der die frü­he­re Haus­frau, Ade­lai­da Iwa­now­na, ge­hasst hat­te, dies­mal auf die Sei­te der Frau stell­te und sich ih­ret­wil­len mit Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch für einen Die­ner fast un­er­laubt hef­tig stritt. Ein­mal ver­hin­der­te er so­gar eine Or­gie und jag­te alle Dir­nen ge­walt­sam aus dem Haus. Spä­ter be­kam die un­glück­li­che, seit frü­he­s­ter Kind­heit ver­schüch­ter­te jun­ge Frau eine Art ner­vö­se Frau­en­krank­heit, die am häu­figs­ten beim ein­fa­chen Volk, bei Bäue­rin­nen, vor­kommt, die so­ge­nann­te »Schrei­krank­heit«. In­fol­ge die­ser mit hys­te­ri­schen An­fäl­len ver­bun­de­nen Krank­heit ver­lor sie zeit­wei­lig so­gar den Ver­stand. Sie ge­bar je­doch ih­rem Mann zwei Söh­ne, Iwan und Ale­xej, Iwan im ers­ten Jahr ih­rer Ehe, Ale­xej drei Jah­re spä­ter. Als sie starb, war der klei­ne Ale­xej noch kei­ne vier Jah­re alt, und wenn das auch selt­sam ist, ich weiß zu­ver­läs­sig, dass er sich spä­ter sein gan­zes Le­ben an die Mut­ter er­in­ner­te, na­tür­lich nur wie im Traum. Nach ih­rem Tod er­ging es den bei­den Kna­ben fast eben­so wie dem ers­ten, Mit­ja: Der Va­ter ver­gaß sie und küm­mer­te sich nicht im ge­rings­ten um sie; sie ka­men zu dem­sel­ben Gri­go­ri ins Ge­sin­de­haus. Da fand sie auch die alte quer­köp­fi­ge Ge­ne­ra­lin, die Wohl­tä­te­rin und Er­zie­he­rin ih­rer Mut­ter. Sie war noch am Le­ben und hat­te all die acht Jah­re die ihr an­ge­ta­ne Krän­kung nicht ver­ges­sen. Über Sof­jas Schick­sal hat­te sie stän­dig un­ter­der­hand die ge­naues­ten Nach­rich­ten er­hal­ten, und als sie hör­te, wie krank sie war und un­ter wel­chen schlim­men Um­stän­den sie leb­te, hat­te sie mehr­mals zu ih­ren Kost­gän­ge­rin­nen ge­sagt: »Das ge­schieht, ihr recht; das hat ihr Gott zur Stra­fe für ihre Un­dank­bar­keit ge­schickt.«

Genau drei Mo­na­te nach Sof­ja Iwa­now­nas Tod er­schi­en die Ge­ne­ra­lin plötz­lich in un­se­rer Stadt und fuhr ge­ra­de­wegs zu Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch. Sie hielt sich zwar nur un­ge­fähr eine hal­be Stun­de auf, rich­te­te aber den­noch viel aus. Es war ge­gen Abend. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch, den sie in den acht Jah­ren nicht ge­se­hen hat­te, emp­fing sie be­trun­ken. Sie soll ihm so­fort ohne alle Er­klä­run­gen zwei schal­len­de Ohr­fei­gen ver­setzt und ihn drei­mal an den Haa­ren fast bis zur Erde ge­zerrt ha­ben. Dann ging sie, ohne ein Wort zu sa­gen, in das Ge­sin­de­haus zu den Kna­ben. Da sie auf den ers­ten Blick sah, dass sie un­ge­wa­schen wa­ren und schmut­zi­ge Wä­sche tru­gen, ver­ab­reich­te sie un­ver­züg­lich auch noch dem Die­ner Gri­go­ri eine Ohr­fei­ge und er­klär­te ihm, sie wer­de die Kin­der zu sich neh­men. Da­rauf nahm sie die bei­den, wie sie wa­ren, wi­ckel­te sie in eine De­cke, setz­te sie in den Wa­gen und fuhr mit ih­nen in die Stadt, wo sie wohn­te. Gri­go­ri er­trug die Ohr­fei­ge wie ein Skla­ve, wort­los; als er die alte Dame zum Wa­gen ge­lei­te­te, ver­beug­te er sich tief und sag­te ein­dring­lich, Gott wer­de ihr loh­nen, was sie an den Wai­sen tun wol­le. »Ein Töl­pel bist du trotz­dem!« rief ihm die Ge­ne­ra­lin im Ab­fah­ren zu. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch fand bei nä­he­rer Über­le­gung die Sa­che ganz in Ord­nung und er­hob spä­ter bei sei­nem for­mel­len Ein­ver­ständ­nis mit der Er­zie­hung der Kin­der durch die Ge­ne­ra­lin in kei­nem Punkt Ein­spruch. Von den Ohr­fei­gen je­doch er­zähl­te er selbst in der gan­zen Stadt.

Bald dar­auf starb auch die Ge­ne­ra­lin. In ih­rem Te­sta­ment hat­te sie für je­den der Kna­ben tau­send Ru­bel aus­ge­setzt; das Geld soll­te un­ter al­len Um­stän­den für sie und nur für sie ver­aus­gabt wer­den, »zu ih­rer Er­zie­hung«, und zwar so, dass es bis zu ih­rer Voll­jäh­rig­keit rei­che; für der­ar­ti­ge Kin­der rei­che ein sol­ches Ge­schenk vollauf; wenn je­mand Lust habe, so möge er selbst sei­nen Beu­tel auf­tun und so wei­ter, und so wei­ter. Ich habe das Te­sta­ment nicht ge­le­sen, weiß aber, dass es wirk­lich solch eine son­der­ba­re Be­stim­mung ent­hielt. Der Haup­t­er­be der Al­ten, der Adels­mar­schall je­nes Gou­ver­ne­ments, Je­fim Pe­tro­witsch Pol­jo­now, er­wies sich al­ler­dings als Ehren­mann. Nach ei­ner lan­gen Kor­re­spon­denz mit Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch muss­te er ein­se­hen, dass von ihm kein Geld zur Er­zie­hung sei­ner Kin­der zu be­kom­men war; der Va­ter wei­ger­te sich zwar nie di­rekt, zog aber die Sa­che in die Län­ge und er­ging sich höchs­tens in sen­ti­men­ta­len Re­dens­ar­ten. Also nahm er sich selbst der Kin­der an und ge­wann vor al­lem Ale­xej, den jün­ge­ren, lieb; die­ser wur­de so­gar lan­ge Zeit in sei­ner Fa­mi­lie er­zo­gen. Dies bit­te ich von vorn­her­ein zu be­ach­ten. Wenn die jun­gen Men­schen je­man­dem für ihre Er­zie­hung und Bil­dung zu Dank ver­pflich­tet wa­ren, so Je­fim Pe­tro­witsch, ei­nem edel­den­ken­den, hu­ma­nen Men­schen, wie man ihn sel­ten fin­det. Er ließ die von der Ge­ne­ra­lin hin­ter­las­se­nen Sum­men von je tau­send Ru­beln un­an­ge­tas­tet, so­dass sie bei Voll­jäh­rig­keit der Kna­ben mit den Zin­sen auf je zwei­tau­send an­ge­wach­sen wa­ren, er­zog die Kna­ben auf sei­ne ei­ge­nen Kos­ten und gab da­bei na­tür­lich weit über tau­send Ru­bel für je­den aus. Auf eine aus­führ­li­che Schil­de­rung ih­rer Kin­der- und Ju­gend­zeit ver­zich­te ich wie­der­um, ich füh­re nur das Wich­tigs­te an. Iwan ent­wi­ckel­te sich zu ei­nem fins­te­ren, ver­schlos­se­nen Kna­ben; er war nicht schüch­tern, schi­en aber schon als Zehn­jäh­ri­ger zu spü­ren, dass sie in ei­ner frem­den Fa­mi­lie auf­wuch­sen und von frem­der Barm­her­zig­keit leb­ten und dass sie einen Va­ter hat­ten, des­sen man sich schä­men muss­te und so wei­ter, und so wei­ter. Die­ser Kna­be zeig­te schon in frü­her Kind­heit (we­nigs­tens er­zähl­te man das) un­ge­wöhn­li­che, glän­zen­de Fä­hig­kei­ten. Ich weiß nichts Ge­nau­es, je­den­falls ver­ließ er wohl, kaum drei­zehn­jäh­rig, die Fa­mi­lie Je­fim Pe­tro­witschs und kam auf ein Mos­kau­er Gym­na­si­um, wo ein er­fah­re­ner, an­ge­se­he­ner Päd­ago­ge, ein Ju­gend­freund Je­fim Pe­tro­witschs, ihn in Pen­si­on nahm. Iwan selbst er­zähl­te spä­ter, all das sei eine Fol­ge von Je­fim Pe­tro­witschs »feu­ri­ger Be­geis­te­rung für gute Ta­ten« ge­we­sen; er habe sich durch die Idee be­geis­tern las­sen, ein ge­ni­al ver­an­lag­ter Kna­be müs­se auch einen ge­nia­len Er­zie­her ha­ben. Üb­ri­gens wa­ren Je­fim Pe­tro­witsch wie auch der ge­nia­le Er­zie­her be­reits tot, als der jun­ge Mann nach dem Gym­na­si­um die Uni­ver­si­tät be­zog. Da Je­fim Pe­tro­witsch man­gel­haf­te An­ord­nun­gen ge­trof­fen hat­te und die Aus­zah­lung des Gel­des der Ge­ne­ra­lin sich in­fol­ge der un­ver­meid­li­chen For­ma­li­tä­ten ver­zö­ger­te, ging es dem jun­gen Mann in den bei­den ers­ten Uni­ver­si­täts­jah­ren recht schlecht; er muss­te selbst für sei­nen Un­ter­halt sor­gen und gleich­zei­tig stu­die­ren. Es sei ver­merkt, dass er nicht ein­mal ver­such­te, mit sei­nem Va­ter in Brief­wech­sel zu tre­ten – viel­leicht aus Stolz oder aus Ver­ach­tung, viel­leicht auch in der küh­len, ge­sun­den Er­kennt­nis, dass von sei­nem wer­ten Papa doch kei­ne ernst­haf­te Bei­hil­fe zu er­war­ten war. Wie auch im­mer, je­den­falls ver­lor der jun­ge Mann nicht den Kopf und ver­schaff­te sich Ar­beit. Zu­erst gab er Pri­vat­stun­den für zwan­zig Kope­ken, dann lie­fer­te er bei den Zei­tungs­re­dak­tio­nen zehn­zei­li­ge Ar­ti­kel über Stra­ßen­vor­fäl­le mit der Un­ter­schrift »Ein Au­gen­zeu­ge« ab. Die klei­nen No­ti­zen sol­len im­mer so in­ter­essant und pi­kant ab­ge­fasst ge­we­sen sein, dass sie schnell An­klang fan­den. Schon hier­durch zeig­te der jun­ge Mann sei­ne prak­ti­sche und geis­ti­ge Über­le­gen­heit ge­gen­über den vie­len, im­mer not­lei­den­den und un­glück­li­chen stu­die­ren­den Ju­gend­li­chen bei­der­lei Ge­schlechts, die in den Haupt­städ­ten von früh bis spät in die Re­dak­tio­nen der Zei­tun­gen und Jour­na­le lau­fen und nichts Bes­se­res wis­sen, als stän­dig zu bet­teln, man möge ih­nen Über­set­zun­gen aus dem Fran­zö­si­schen oder die An­fer­ti­gung von Rein­schrif­ten über­tra­gen. Ein­mal mit den Re­dak­tio­nen be­kannt ge­wor­den, brach Iwan Fjo­do­ro­witsch die Ver­bin­dun­gen nicht wie­der ab und ließ in sei­nen letz­ten Uni­ver­si­täts­jah­ren ta­lent­vol­le Re­zen­sio­nen von al­ler­lei fach­wis­sen­schaft­li­chen Bü­chern dru­cken, so­dass er so­gar in li­te­ra­ri­schen Krei­sen be­kannt wur­de. Je­doch zog er erst in der al­ler­letz­ten Zeit, und zwar ganz plötz­lich, die Auf­merk­sam­keit ei­nes grö­ße­ren Le­ser­krei­ses auf sich. Ein ziem­lich ei­gen­ar­ti­ger Zu­fall brach­te es mit sich, dass ihn auf ein­mal vie­le be­ach­te­ten und in Erin­ne­rung be­hiel­ten. Als Iwan Fjo­do­ro­witsch ei­gent­lich schon von der Uni­ver­si­tät ab­ge­hen und für sei­ne zwei­tau­send Ru­bel ins Aus­land rei­sen woll­te, ver­öf­fent­lich­te er in ei­ner der größ­ten Zei­tun­gen plötz­lich einen son­der­ba­ren Auf­satz, der ihm so­gar beim nicht­fach­män­ni­schen Pub­li­kum Be­ach­tung ver­schaff­te. Es war ein Auf­satz über ein The­ma, das ihm an­schei­nend ganz fern­lag, da er Na­tur­wis­sen­schaf­ten stu­diert hat­te: die kirch­li­che Ge­richts­bar­keit. Nach­dem er ei­ni­ge an­de­re Mei­nun­gen ge­prüft hat­te, trug er sei­ne per­sön­li­che An­sicht vor. Be­son­de­res In­ter­es­se er­reg­ten der Ton sei­ner Ar­beit und ihre über­ra­schen­den Schluss­fol­ge­run­gen. Vie­le Kirch­li­che hiel­ten den Ver­fas­ser für einen ih­rer An­hän­ger, bis ihm auf ein­mal nicht nur die Ver­fech­ter zi­vi­ler Ge­richts­bar­keit, son­dern auch die Atheis­ten Bei­fall spen­de­ten. Schließ­lich er­klär­ten ei­ni­ge be­son­ders scharf­sin­ni­ge Köp­fe, der gan­ze Auf­satz sei nur eine dreis­te Far­ce und eine Ver­höh­nung. Ich er­wäh­ne das al­les, weil der Auf­satz sei­ner­zeit auch in das be­rühm­te Klos­ter nahe un­se­rer Stadt ge­lang­te und bei des­sen In­sas­sen, die sich leb­haft für die Fra­ge der kirch­li­chen Ge­richts­bar­keit in­ter­es­sier­ten, die größ­te Ver­wun­de­rung her­vor­rief. Als sie dann den Na­men des Ver­fas­sers er­fuh­ren, er­reg­te es ihr be­son­de­res In­ter­es­se, dass er aus un­se­rer Stadt stamm­te und ein Sohn »eben die­ses Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch« war. Gera­de zu die­ser Zeit er­schi­en üb­ri­gens auch der Ver­fas­ser selbst in un­se­rer Stadt.

Wa­rum kam Iwan Fjo­do­ro­witsch da­mals zu uns? Ich habe mir die­se Fra­ge, gleich­sam be­un­ru­higt schon da­mals ge­stellt. Die­se ver­häng­nis­vol­le An­kunft, die vie­ler­lei Fol­gen hat­te, blieb mir noch lan­ge nach­her, ja fast im­mer un­klar. Es war schon an und für sich selt­sam, dass ein der­art ge­lehr­ter, stol­zer und an­schei­nend vor­sich­ti­ger jun­ger Mann in solch ei­nem Haus er­schi­en, bei ei­nem Va­ter, der ihn zeit sei­nes Le­bens igno­riert hat­te, der un­ter kei­nen Um­stän­den Geld her­aus­rücken wür­de, auch wenn er vom ei­ge­nen Sohn dar­um ge­be­ten wor­den wäre, und der den­noch sein Le­ben lang fürch­te­te, sei­ne Söh­ne Iwan und Ale­xej könn­ten ein­mal kom­men und Geld von ihm ver­lan­gen. Und sie­he da, der jun­ge Mann lässt sich im Haus die­ses Va­ters nie­der, bleibt einen und noch einen Mo­nat bei ihm, und bei­de le­ben so gut mit­ein­an­der, wie man es sich bes­ser nicht vor­stel­len kann. Das letz­te­re er­staunt mich be­son­ders, und so wie mir ging es vie­len. Pjotr Alex­an­dro­witsch Mi­us­sow, der ent­fern­te Ver­wand­te Fjo­dor Paw­lo­wi­tschs, von dem ich schon ge­spro­chen habe, tauch­te da­mals zu­fäl­lig wie­der bei uns, auf sei­nem nahe bei der Stadt ge­le­ge­nen Gut, auf, er war aus Pa­ris, wo er stän­dig wohn­te, zu Be­such ge­kom­men. Ich er­in­ne­re mich, dass ge­ra­de er sich am al­ler­meis­ten wun­der­te, nach­dem er den jun­gen Mann ken­nen­ge­lernt hat­te; er in­ter­es­sier­te ihn sehr, und nicht ohne in­ner­li­chen Schmerz maß er sich manch­mal mit ihm im Wis­sen. »Er ist stolz«, sag­te er da­mals zu uns, »er wird sich stets sein Geld ver­die­nen, hat auch jetzt schon ge­nug zu ei­ner Aus­land­rei­se – was will er denn hier? Dass er nicht zu sei­nem Va­ter ge­kom­men ist, um Geld zu er­bit­ten, ist klar: Der Va­ter gibt ihm auf kei­nen Fall wel­ches. Trin­ken und Aus­schwei­fun­gen mag er nicht, und doch kann der Alte nicht mehr ohne ihn le­ben, so ha­ben sie sich an­ein­an­der ge­wöhnt!« Das war die Wahr­heit. Der jun­ge Mann hat­te so­gar sicht­lich Ein­fluss auf den Al­ten; ja, die­ser be­gann bei­na­he schon, auf ihn zu hö­ren, ob­wohl er mit­un­ter un­ge­wöhn­lich und ge­ra­de­zu bos­haft ei­gen­sin­nig war. Bis­wei­len be­nahm er sich so­gar et­was an­stän­di­ger…

Erst spä­ter stell­te sich her­aus, dass Iwan Fjo­do­ro­witsch teils auf Bit­ten, teils in An­ge­le­gen­hei­ten sei­nes äl­te­ren Bru­ders Dmi­tri Fjo­do­ro­witsch ge­kom­men war. Ihn sah er da­mals gleich­falls zum ers­ten Mal, hat­te mit ihm aber schon vor sei­ner An­kunft aus Mos­kau in ei­ner wich­ti­gen Sa­che, die mehr Dmi­tri Fjo­do­ro­witsch an­ging, in Brief­wech­sel ge­stan­den. Was das für eine Sa­che war, wird der Le­ser spä­ter aus­führ­lich er­fah­ren. Trotz­dem er­schi­en mir, auch als ich die­sen Um­stand kann­te, Iwan Fjo­do­ro­witsch noch im­mer rät­sel­haft, und sein Be­such blieb mir un­er­klär­lich.

Ich füge noch hin­zu, Iwan Fjo­do­ro­witsch schi­en da­mals zwi­schen dem Va­ter und sei­nem äl­te­ren Bru­der Dmi­tri Fjo­do­ro­witsch ver­mit­teln zu wol­len, denn der letz­te­re hat­te sich mit dem Va­ter zer­strit­ten und so­gar einen for­mel­len Pro­zess ge­gen ihn an­ge­strengt.

Ich wie­der­ho­le, die­se klei­ne Fa­mi­lie war da­mals zum ers­ten Mal im Le­ben voll­zäh­lig bei­sam­men, ei­ni­ge von ih­nen sa­hen sich über­haupt zum ers­ten Mal. Nur der jüngs­te Sohn, Ale­xej Fjo­do­ro­witsch, leb­te be­reits ein Jahr bei uns; er war also frü­her als alle Brü­der zu uns ge­kom­men. Über ihn in der ein­lei­ten­den Er­zäh­lung zu spre­chen, be­vor ich ihn im Ro­man auf die Büh­ne brin­ge, fällt mir be­son­ders schwer. Ich muss aber auch über ihn eine Vor­be­mer­kung ma­chen und vor­be­rei­tend einen son­der­ba­ren Punkt er­klä­ren; ich bin näm­lich ge­nö­tigt, mei­nen künf­ti­gen Hel­den gleich in der ers­ten Sze­ne in der Kut­te ei­nes No­vi­zen vor­zu­stel­len. Ein Jahr etwa hat­te er da­mals schon in un­serm Klos­ter ver­bracht, und er be­rei­te­te sich, wie es schi­en, ernst­lich dar­auf vor, sich für das gan­ze Le­ben dar­in ein­zu­schlie­ßen.

4. Der dritte Sohn Aljoscha1

Er war da­mals erst zwan­zig Jah­re alt; sein Bru­der Iwan war im vier­und­zwan­zigs­ten, ihr äl­tes­ter Bru­der Dmi­tri im acht­und­zwan­zigs­ten Le­bens­jahr. Zual­ler­erst er­klä­re ich, die­ser Al­jo­scha war ganz und gar kein Fa­na­ti­ker und eben­so­we­nig ein Mys­ti­ker, nach mei­ner Mei­nung we­nigs­tens. Ich will von vorn­her­ein mei­ne An­sicht rück­halt­los aus­spre­chen. Er war ein­fach ein ju­gend­li­cher Men­schen­freund, und wenn er ins Klos­ter ging, so nur, weil al­lein die­ser Weg zu je­ner Zeit sei­ne Be­wun­de­rung er­reg­te und sich sei­ner aus der dunklen Schlech­tig­keit der Welt zum Licht der Lie­be stre­ben­den See­le ge­wis­ser­ma­ßen als idea­ler Aus­weg an­bot. Ihm im­po­nier­te die­ser Weg nur des­we­gen, weil er auf ihm ei­ner – wie er mein­te – un­ge­wöhn­li­chen Per­sön­lich­keit be­geg­net war, un­se­rem be­rühm­ten Sta­rez2 Sos­si­ma, an den er sich mit der gan­zen un­er­sätt­li­chen Lei­den­schaft der ers­ten Lie­be an­schloss. Ich be­strei­te al­ler­dings nicht, dass er auch da­mals schon ein son­der­ba­rer Mensch war, ei­gent­lich von der Wie­ge an. Ich habe be­reits er­wähnt, dass er sich sein Le­ben lang an sei­ne Mut­ter er­in­ner­te, an ihr Ge­sicht und an ihre Lieb­ko­sun­gen, »ganz als ob sie le­ben­dig vor mir stün­de« und das, ob­wohl sie ge­stor­ben war, als er noch nicht vier Jahr alt war. Sol­che Erin­ne­run­gen blei­ben be­kannt­lich aus noch frü­he­rer Zeit, aus dem zwei­ten Le­bens­jahr so­gar, haf­ten, aber sie tre­ten das gan­ze Le­ben hin­durch nur wie hel­le Punk­te aus dem Dun­kel her­vor, wie ein ab­ge­riss­nes Eck­chen von ei­nem großen Ge­mäl­de, das ganz ver­bli­chen und ver­schwun­den ist bis auf die­ses Eck­chen. Gen­au­so war es bei ihm; er er­in­ner­te sich an einen stil­len Som­mer­abend, an ein ge­öff­ne­tes Fens­ter, an die schrä­gen Strah­len der un­ter­ge­hen­den Son­ne (die schrä­gen Strah­len hat­te er am deut­lichs­ten im Ge­dächt­nis), an das Hei­li­gen­bild, das bren­nen­de Lämp­chen in der Ecke des Zim­mers, da­vor sei­ne Mut­ter, sie lag auf Kni­en und schrie, um­schlang ihn mit bei­den Ar­men und drück­te ihn an sich, dass es ihm weh tat; dann be­te­te sie für ihn zur Mut­ter­got­tes, da­bei streck­te sie ihn mit bei­den Hän­den dem Hei­li­gen­bild ent­ge­gen, als woll­te sie ihn un­ter den Schutz der Mut­ter­got­tes stel­len, und dann kam plötz­lich die Kin­der­frau und riss ihn von der Mut­ter weg. Das war das Bild, das ihm vor Au­gen stand! Al­jo­scha wuss­te auch noch, wie das Ge­sicht der Mut­ter in je­nem Au­gen­blick aus­ge­se­hen hat­te: ver­zückt, aber schön, so­weit er sich er­in­nern kön­ne. Aber nur sel­ten ver­trau­te er je­man­dem die­se Erin­ne­rung an. In sei­ner Kind­heit und sei­nen Ju­gend­jah­ren war er we­nig mit­teil­sam, so­gar wort­karg, aber nicht aus Schüch­tern­heit und fins­te­rer Men­schen­scheu, son­dern aus ei­ner Art In­ne­rer, rein per­sön­li­cher Sor­ge, die an­de­re Men­schen nichts an­ging, aber für ihn selbst so wich­tig war, dass er um ih­ret­wil­len die an­de­ren ge­wis­ser­ma­ßen ver­gaß. Er lieb­te die Men­schen; er schi­en ih­nen sein gan­zes Le­ben hin­durch zu ver­trau­en, und da­bei hielt ihn nie je­mand für be­schränkt oder naiv. Et­was war in ihm, was nach­drück­lich be­kun­de­te (auch in sei­nem gan­zen spä­te­ren Le­ben), dass er nicht über die Men­schen rich­ten und sie um kei­nen Preis ver­dam­men wol­le. Da er un­ter kei­nen Um­stän­den je­mand ver­damm­te, schi­en es so­gar, als hal­te er al­les für be­rech­tigt, ob­gleich er oft tief­trau­rig war. Mehr noch: in die­sem Sinn ging er so weit, dass ihn nie­mand er­stau­nen oder er­schre­cken konn­te, und das schon seit sei­ner frü­he­s­ten Ju­gend. Als er mit zwan­zig Jah­ren zu sei­nem Va­ter kam und ge­ra­de­zu in eine schmut­zi­ge Laster­höh­le ge­riet, ent­fern­te er sich im­mer nur schwei­gend, wenn er in sei­ner Rein­heit et­was nicht mehr mit an­se­hen konn­te, aber ohne das ge­rings­te Zei­chen von Ver­ach­tung oder Ver­dam­mung für ir­gend­wen. Sein Va­ter, der als ehe­ma­li­ger Kost­gän­ger ein fei­nes Ohr für Be­lei­di­gun­gen be­saß, war ihm ge­gen­über zwar an­fangs miss­trau­isch und mür­risch (»Der schweigt mir zu viel und denkt zu viel im stil­len«), ließ das aber bald, schon nach etwa vier­zehn Ta­gen, und be­gann Ihn schreck­lich oft zu um­ar­men und ab­zu­küs­sen. Trotz al­ler Säu­fer­trä­nen und der Be­trun­ke­nen­rühr­se­lig­keit sah man doch, dass er ihn so tief und auf­rich­tig lieb­ge­won­nen hat­te, wie es wohl nie­mand von sei­nem Schlag ge­lin­gen wür­de.

Alle Men­schen lieb­ten die­sen Al­jo­scha; das war so schon von sei­nen Kin­der­jah­ren an. Als er im Hau­se sei­nes Wohl­tä­ters und Er­zie­hers Je­fim Pe­tro­witsch Pol­jo­now leb­te, nahm er des­sen ge­sam­te Fa­mi­lie der­art für sich ein, dass man ihn wie ein ei­ge­nes Kind be­han­del­te. Und er war so jung in die­ses Haus ge­kom­men, dass man bei ihm we­der be­rech­nen­de Schlau­heit und Int­ri­gan­ten­tum er­war­ten konn­te noch die Kunst, sich ein­zu­schmei­cheln und an­de­re zu ge­win­nen. Die Gabe, sich be­son­de­re Zu­nei­gung zu er­wer­ben, war un­ge­küns­telt, un­mit­tel­bar, sie mach­te gleich­sam einen Teil sei­ner Na­tur aus. Eben­so er­ging es ihm in der Schu­le, ei­gent­lich ge­hör­te er doch ge­ra­de zu je­nen Kin­dern, die bei ih­ren Ka­me­ra­den Miss­trau­en, manch­mal Spott­lust, wenn nicht gar Hass er­we­cken. Er war ein Grüb­ler und son­der­te sich oft von den an­de­ren ab. Er zog sich von Kind­heit an gern in einen Win­kel zu­rück und las, und trotz­dem schätz­ten ihn sei­ne Ka­me­ra­den der­art, dass man ihn als Lieb­ling al­ler be­zeich­nen konn­te. Sel­ten war er aus­ge­las­sen, sel­ten auch nur lus­tig; aber alle sa­hen mit ei­nem Blick, das zeug­te durch­aus nicht von Miss­mut, son­dern von Aus­ge­gli­chen­heit und Ruhe. Er woll­te sich un­ter sei­nen Al­ters­ge­nos­sen nicht her­vor­tun und fürch­te­te sich viel­leicht ge­ra­de des­halb vor kei­nem. Die Kna­ben merk­ten in­des so­fort, dass er sich mit sei­ner Furcht­lo­sig­keit nicht brüs­te­te: Er schi­en sich sei­ner Kühn­heit und Uner­schro­cken­heit gar nicht be­wusst zu sein. Be­lei­di­gun­gen ver­gaß er rasch. Es kam vor, dass er ei­nem, der ihn ge­kränkt hat­te, nach ei­ner Stun­de so ver­trau­ens­voll und ru­hig ant­wor­te­te oder selbst ein Ge­spräch mit ihm an­fing, als wäre über­haupt nichts zwi­schen ih­nen vor­ge­fal­len. Nie hat­te es in sol­chen Fäl­len den An­schein, er hät­te die Be­lei­di­gung zu­fäl­lig ver­ges­sen oder ab­sicht­lich ver­zie­hen; er hielt sie ein­fach nicht für eine Be­lei­di­gung, und das be­son­ders ent­waff­ne­te die Ka­me­ra­den und un­ter­warf sie ihm. Ein Cha­rak­ter­zug aber er­reg­te von der un­ters­ten Klas­se des Gym­na­si­ums bis zur obers­ten die Neck­lust sei­ner Ka­me­ra­den, nicht aus Bos­heit, son­dern weil es sie amü­sier­te. Das war sei­ne un­ge­küns­tel­te, fa­na­ti­sche Scham­haf­tig­keit. Er konn­te ge­wis­se Wor­te und Ge­sprä­che über Frau­en nicht ver­tra­gen, und die­se »ge­wis­sen« Wor­te und Ge­sprä­che sind in den Schu­len lei­der un­aus­rott­bar. Kna­ben, un­ver­dor­ben und fast noch Kin­der, re­den zu­wei­len in den Klas­sen ganz laut von Din­gen, von de­nen nicht ein­mal Sol­da­ten spre­chen; ja, die Sol­da­ten wis­sen und ver­ste­hen oft vie­les nicht, was auf die­sem Ge­biet schon den jun­gen Kin­dern un­se­rer ge­bil­de­ten höchs­ten Ge­sell­schafts­krei­se be­kannt ist. Mora­li­sche Ver­derbt­heit braucht das nicht zu sein, auch nicht ech­ter, im In­ners­ten scham­lo­ser Zy­nis­mus; es ist ein äu­ßer­li­cher Zy­nis­mus, der als in­ter­essant oder ele­gant, als forsch und nach­ah­mens­wert gilt. Als die Ka­me­ra­den sa­hen, dass sich Al­josch­ka Ka­ra­ma­sow die Ohren zu­hielt, so­bald sie von »sol­chen Din­gen« zu re­den be­gan­nen, stell­ten sie sich manch­mal ab­sicht­lich dicht um ihn her­um, ris­sen ihm die Hän­de von den Ohren und schri­en die Un­an­stän­dig­kei­ten. Al­jo­scha mach­te sich frei, ließ sich zu Bo­den fal­len, ver­barg sich, ohne ein Wort zu sa­gen, ohne zu schimp­fen: Er er­trug die Be­lei­di­gung schwei­gend. Erst ge­gen Ende der Schul­zeit lie­ßen sie ihn in Ruhe und hän­sel­ten »das Mäd­chen« nicht mehr; sie blick­ten eher mit­lei­dig auf ihn her­ab. Üb­ri­gens war er, was das Ler­nen an­lang­te, ei­ner der Bes­ten, doch nie­mals aus­drück­lich Ers­ter.

Nach Je­fim Pe­tro­witschs Tod blieb Al­jo­scha noch zwei Jah­re auf dem Gym­na­si­um der Gou­ver­ne­ment­s­stadt. Je­fim Pe­tro­witschs Wit­we be­gab sich mit der gan­zen, nur aus weib­li­chen Per­so­nen be­ste­hen­den Fa­mi­lie für län­ge­re Zeit nach Ita­li­en, und Al­jo­scha kam in das Haus zwei­er Da­men, ent­fern­ter Ver­wand­ter Je­fim Pe­tro­witschs, die er bis da­hin nie ge­se­hen hat­te – un­ter wel­chen Ab­ma­chun­gen, das wuss­te er selbst nicht. Ein cha­rak­te­ris­ti­scher, so­gar sehr cha­rak­te­ris­ti­scher Zug an ihm war, dass er sich nie dar­um küm­mer­te, auf wes­sen Kos­ten er leb­te. In die­sem Punkt war er das di­rek­te Ge­gen­teil sei­nes äl­te­ren Bru­ders Iwan Fjo­do­ro­witsch, der sich die ers­ten bei­den Uni­ver­si­täts­jah­re küm­mer­lich durch ei­ge­ne Ar­beit er­nähr­te und es von Kind­heit an als bit­ter emp­fand, aus der Ta­sche ei­nes Wohl­tä­ters le­ben zu müs­sen. Man durf­te je­doch die­sen selt­sa­men Zug an Ale­xe­js Cha­rak­ter nicht all­zu streng be­ur­tei­len; je­der, der ihn nä­her ken­nen­lern­te, konn­te bei ei­nem Ge­spräch über die­ses The­ma fest­stel­len, dass Ale­xej so et­was wie ein »from­mer Narr« war. Wäre ihm plötz­lich ein Ka­pi­tal zu­ge­fal­len, er hät­te es si­cher­lich un­be­denk­lich auf die ers­te Bit­te weg­ge­ge­ben, sei es zu ei­nem gu­ten Zweck, sei es, weil ein ge­schick­ter Schwind­ler ihn dar­um er­such­te. Über­haupt schi­en er den Wert des Gel­des nicht zu ken­nen – selbst­ver­ständ­lich mei­ne ich das nicht im buch­stäb­li­chen Sinn. Wenn er Ta­schen­geld be­kam (worum er nie­mals bat), so wuss­te er ent­we­der wo­chen­lang nichts da­mit an­zu­fan­gen, oder er ging so er­schre­ckend acht­los da­mit um, dass es im Nu ver­schwun­den war. Pjotr Alex­an­dro­witsch Mi­us­sow, der ein fei­nes Ge­fühl für Geld und bür­ger­li­che Ehren­haf­tig­keit be­saß, sag­te spä­ter ein­mal über Ale­xej: »Er ist viel­leicht der ein­zi­ge Mensch auf der Welt, der, plötz­lich al­lein und ohne Geld auf einen Platz in ei­ner frem­den Mil­lio­nen­stadt ver­schla­gen, be­stimmt nicht um­kom­men wür­de. Man wür­de ihm so­fort Nah­rung und Un­ter­kunft ge­wäh­ren; tä­ten es die Leu­te nicht von al­lein, wür­de er sich selbst bei je­mand un­ter­brin­gen, was ihn nicht die ge­rings­te Über­win­dung kos­ten und kei­ne Er­nied­ri­gung für ihn be­deu­ten wür­de. Und, die ihn auf­näh­men, wur­den das nicht als Last, son­dern im Ge­gen­teil viel­leicht als Ver­gnü­gen emp­fin­den.«

Das Gym­na­si­um be­en­de­te er nicht; es fehl­te ihm noch ein gan­zes Jahr, als er den Da­men auf ein­mal er­klär­te, er wol­le zu sei­nem Va­ter fah­ren: in ei­ner An­ge­le­gen­heit, die ihm ein­ge­fal­len sei. Den Da­men tat das leid, sie woll­ten ihn gar nicht weg­las­sen. Die Fahrt kos­te­te nur we­nig, und die Da­men er­laub­ten ihm nicht, sei­ne Uhr, die ihm die Fa­mi­lie sei­nes Wohl­tä­ters vor ih­rer Abrei­se ins Aus­land ge­schenkt hat­te, zu ver­set­zen. Sie stat­te­ten ihn reich­lich mit Geld aus, ver­sorg­ten ihn so­gar mit neu­en Klei­dern und neu­er Wä­sche. Die Hälf­te des Gel­des gab er ih­nen je­doch mit der Er­klä­rung zu­rück, er woll­te un­be­dingt drit­ter Klas­se fah­ren. Nach der An­kunft in un­se­rem Städt­chen gab er sei­nem Va­ter auf die Fra­ge, warum er ei­gent­lich vor Ab­schluss des Gym­na­si­ums ge­kom­men sei, über­haupt kei­ne Ant­wort; er war nur un­ge­wöhn­lich nach­denk­lich. Bald stell­te sich her­aus, dass er das Grab sei­ner Mut­ter such­te. Er gab da­mals so­gar sel­ber zu, nur des­halb ge­kom­men zu sein. Aber das dürf­te schwer­lich der ein­zi­ge Grund ge­we­sen sein. Wahr­schein­lich wuss­te er selbst nicht, was plötz­lich in sei­ner See­le er­wacht war und ihn un­wi­der­steh­lich auf einen neu­en, un­be­kann­ten, aber schon un­ver­meid­li­chen Weg zog. Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch konn­te ihm nicht zei­gen, wo sei­ne zwei­te Frau be­gra­ben lag; er war nicht wie­der an ih­rem Grab ge­we­sen, seit man den Sarg zu­ge­schüt­tet hat­te, und wäh­rend der vie­len da­zwi­schen­lie­gen­den Jah­re hat­te er völ­lig ver­ges­sen, wo sie be­er­digt wor­den war.

Bei die­ser Ge­le­gen­heit noch ein paar Wor­te über Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch. Er hat­te vor Al­joschas An­kunft lan­ge nicht in un­se­rer Stadt ge­lebt. Drei oder vier Jah­re nach dem Tode sei­ner zwei­ten Frau war er nach Sü­druss­land ge­gan­gen, zu­letzt nach Odes­sa, wo er meh­re­re Jah­re ver­brach­te. An­fangs hat­te er dort, wie er sich aus­drück­te, »vie­le Ju­den und Jüd­chen« ken­nen­ge­lernt, und zu­letzt war er nicht nur »bei Ju­den, son­dern auch bei den He­brä­ern ein und aus ge­gan­gen«. Es ist an­zu­neh­men, dass er sich in die­ser Pe­ri­ode sei­nes Le­bens die be­son­de­re Kunst zu ei­gen mach­te, Geld zu­sam­men­zu­schar­ren, in­dem er es an­de­ren Leu­ten ab­gau­ner­te. Erst drei Jah­re vor Al­joschas An­kunft kehr­te er für im­mer in un­ser Städt­chen zu­rück. Sei­ne frü­he­ren Be­kann­ten fan­den ihn sehr ge­al­tert, ob­gleich er durch­aus noch nicht alt war. Er be­nahm sich aber kei­nes­wegs an­stän­di­ger, son­dern noch scham­lo­ser als frü­her. So zeig­te sich zum Bei­spiel bei dem frü­he­ren Pos­sen­rei­ßer das Be­dürf­nis, sich an­de­re als Pos­sen­rei­ßer zu hal­ten. Bei den Wei­bern ver­hielt er sich nicht wie frü­her nur scham­los, son­dern ge­ra­de­zu wi­der­wär­tig. Bin­nen kur­z­em er­öff­ne­te er zahl­rei­che neue Schen­ken in un­se­rem Kreis. Er muss­te an die hun­dert­tau­send Ru­bel be­sit­zen, je­den­falls nicht viel we­ni­ger. Vie­le Ein­woh­ner der Stadt und des Krei­ses wur­den als­bald sei­ne Schuld­ner, selbst­ver­ständ­lich nur ge­gen voll­kom­men si­che­re Pfän­der. In der al­ler­letz­ten Zeit be­kam er ein auf­ge­dun­se­nes Aus­se­hen, er büß­te sei­ne Selbst­si­cher­heit und Gleich­för­mig­keit ein und wur­de ir­gend­wie leicht­fer­tig. So fing er das eine an, um bei et­was an­de­rem zu en­den, än­der­te un­ver­se­hens sei­ne Ab­sich­ten und be­trank sich im­mer häu­fi­ger. Hät­te der Die­ner Gri­go­ri, der zu die­ser Zeit eben­falls schon ziem­lich ge­al­tert war, ihn nicht manch­mal fast wie ein Er­zie­her be­auf­sich­tigt, wäre Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch wohl in arge Unan­nehm­lich­kei­ten ge­ra­ten. Al­joschas An­kunft hat­te auf ihn so­gar eine mo­ra­li­sche Wir­kung, so als wäre in die­sem früh ver­greis­ten Men­schen et­was er­wacht, was lan­ge be­täubt in sei­ner See­le ge­le­gen hat­te. »Weißt du«, sag­te er oft zu Al­jo­scha und starr­te ihn da­bei an, »dass du mit ihr, mit der Schreie­rin, große Ähn­lich­keit hast?« (So nann­te er sei­ne ver­stor­be­ne Frau, Al­joschas Mut­ter.) Ihr Grab zeig­te Al­jo­scha schließ­lich der Die­ner Gri­go­ri. Er führ­te ihn in einen ab­ge­le­ge­nen Win­kel des städ­ti­schen Fried­hofs und zeig­te ihm eine Plat­te aus Guß­ei­sen, nicht kost­bar, aber sau­ber ge­ar­bei­tet, mit Na­men und Stand, Al­ter und To­des­jahr der Ver­stor­be­nen; dar­un­ter stand ein vier­zei­li­ger Vers: al­ter­tüm­li­che Kirch­hofs­poe­sie, wie sie auf Grä­bern von Leu­ten des Mit­tel­stan­des üb­lich ist. Zu Al­joschas Ver­wun­de­rung war die­se Plat­te eine Stif­tung Gri­go­ris. Er hat­te sie auf eig­ne Kos­ten auf dem Grab der ar­men »Schreie­rin« an­brin­gen las­sen, nach­dem Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch, dem er mehr­fach mit Vor­hal­tun­gen we­gen des Gra­bes zu­ge­setzt hat­te, nach Odes­sa ge­reist war und mit an­de­ren Erin­ne­run­gen an die Ver­gan­gen­heit auch den Ge­dan­ken an die Grä­ber ge­tilgt hat­te. Al­jo­scha zeig­te sich am Gra­be sei­ner Mut­ter nicht be­son­ders emp­find­sam; er hör­te sich Gri­go­ris wür­di­gen und ge­setz­ten Be­richt über das An­brin­gen der Plat­te an, stand ein Weil­chen mit ge­senk­tem Kopf und ging dann, ohne ein Wort ge­sagt zu ha­ben. Seit­dem war er viel­leicht ein Jahr lang nicht mehr auf dem Fried­hof ge­we­sen. Auf Fjo­dor Paw­lo­wi­tsch aber übte auch die­ser klei­ne Vor­fall sei­ne Wir­kung aus, und zwar eine sehr ei­gen­tüm­li­che. Er nahm auf ein­mal tau­send Ru­bel und brach­te sie in un­ser Klos­ter: für See­len­mes­sen für sei­ne Gat­tin – aber nicht für Al­joschas Mut­ter, die »Schreie­rin«, son­dern für die ers­te, Ade­lai­da Iwa­now­na, die ihn ge­prü­gelt hat­te. Am Abend je­nes Ta­ges be­trank er sich und schimpf­te vor Al­jo­scha auf die Mön­che. Er selbst war al­les an­de­re als ein re­li­gi­öser Mensch; wahr­schein­lich hat­te er noch nie im Le­ben auch nur eine Fünf­kope­ken­ker­ze vor ei­nem Hei­li­gen­bild auf­ge­stellt. Sol­che Ty­pen ha­ben eben mit­un­ter son­der­ba­re Ge­fühls­aus­brü­che und un­ver­mit­tel­te Ein­fäl­le.

Ich habe be­reits ge­sagt, dass er sehr auf­ge­dun­sen war. Sein Ge­sicht war ein un­be­stech­li­cher Zeu­ge für die Art und den In­halt sei­nes bis­he­ri­gen Le­bens. Au­ßer den lan­gen, flei­schi­gen Säck­chen un­ter den ewig fre­chen, miss­traui­schen und spöt­ti­schen klei­nen Au­gen, au­ßer den vie­len und tie­fen Run­zeln auf sei­nem klei­nen fet­ten Ge­sicht war da un­ter sei­nem spit­zi­gen Kinn noch ein zwei­tes, dick und lang wie ein Geld­beu­tel, was ihm ein wi­der­li­ches, lüs­ter­nes Aus­se­hen ver­lieh. Dazu kam noch der brei­te, sinn­li­che Mund mit den di­cken Lip­pen, hin­ter de­nen die fast ver­faul­ten Zäh­ne als ganz klei­ne Stum­mel sicht­bar wur­den. Wenn er zu re­den an­fing, spritz­te ihm der Spei­chel aus dem Mund. Üb­ri­gens mach­te er auch selbst gern Wit­ze über sein Ge­sicht, ob­gleich er da­mit ganz zu­frie­den war, glau­be ich. Be­son­ders gern wies er auf sei­ne Nase hin, die mit­tel­groß, sehr schmal und stark ge­krümmt war. »Eine ech­te Rö­mer­na­se«, sag­te er, »zu­sam­men mit dem Dop­pel­kinn das ty­pi­sche Ab­bild ei­nes al­ten rö­mi­schen Pa­tri­zi­ers aus der Zeit des Ver­falls.« Da­rauf war er of­fen­bar stolz.

Kurz nach­dem er das Grab sei­ner Mut­ter ge­fun­den hat­te, er­klär­te Al­jo­scha dem Va­ter, er wol­le in das Klos­ter ein­tre­ten, und die Mön­che sei­en be­reit, ihn als No­vi­zen auf­zu­neh­men. Dies sei sein in­nigs­ter Wunsch, und er bit­te ihn als Va­ter um die förm­li­che Er­laub­nis. Der Va­ter wuss­te be­reits, dass der Sta­rez Sos­si­ma, der zu­rück­ge­zo­gen in der Ein­sie­de­lei des Klos­ters leb­te, sei­nen »stil­len Jun­gen« be­son­ders be­ein­druckt hat­te.