Die Chroniken von Usha - Der Drachenprinz - Melissa David - E-Book
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Die Chroniken von Usha - Der Drachenprinz E-Book

Melissa David

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Beschreibung

Ihr ungebrochener Lebenswille ist sein Antrieb Bei einem hinterhältigen Harpyienangriff stürzt der Drachenwandler Jadoch über Feindesgebiet ab. Evanya findet ihn schwer verletzt in der kargen Wüste von Aspain. Obwohl es nach den Regeln keinen zweiten Mann im Dorf geben darf, nimmt sie Jadoch mit in ihr Haus und pflegt ihn gesund. Da sie durch ihre körperliche Beeinträchtigung nicht als vollwertiges Mitglied Zephyrias zählt, lebt sie allein am Rande der Gesellschaft. Ein Unglück im Ort offenbart Evanyas Geheimnis und sie fällt in Ungnade. Gemeinsam mit Jadoch flieht sie zu einem Tempel, denn nur dort wächst eine seltene Pflanze, die er unbedingt für den Kampf gegen die Harpyien braucht. Zudem hofft Evanya, dort ihren langjährigen Traum zu verwirklichen und sich dem Orden der Flügelschwestern anzuschließen. Auf ihrem gefahrvollen Weg zum Tempel kommen die beiden sich unwillkürlich näher. Wie lange kann Jadoch noch vor Evanya verbergen, wer er wirklich ist? Als sie schließlich den Tempel der Flügelschwestern erreichen, erwartet sie in den sagenumwobenen Hallen ein weitaus größeres Geheimnis, als beide erahnen konnten. Das Buch kann unabhängig von „Die Chroniken von Usha - Der Drachenkönig“ gelesen werden.

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Klappentext
Impressum
Die Chroniken von Usha
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Über die Autorin
Das Smaragd-Collier
Cheetah Manor
Kruento

Klappentext

Ihr ungebrochener Lebenswille ist sein Antrieb

 

Bei einem hinterhältigen Harpyienangriff stürzt der Drachenwandler Jadoch über Feindesgebiet ab. Evanya findet ihn schwer verletzt in der kargen Wüste von Aspain. Obwohl es nach den Regeln keinen zweiten Mann im Dorf geben darf, nimmt sie Jadoch mit in ihr Haus und pflegt ihn gesund. Da sie durch ihre körperliche Beeinträchtigung nicht als vollwertiges Mitglied Zephyrias zählt, lebt sie allein am Rande der Gesellschaft. Ein Unglück im Ort offenbart Evanyas Geheimnis und sie fällt in Ungnade.

Gemeinsam mit Jadoch flieht sie zu einem Tempel, denn nur dort wächst eine seltene Pflanze, die er unbedingt für den Kampf gegen die Harpyien braucht. Zudem hofft Evanya, dort ihren langjährigen Traum zu verwirklichen und sich dem Orden der Flügelschwestern anzuschließen.

Auf ihrem gefahrvollen Weg zum Tempel kommen die beiden sich unwillkürlich näher. Wie lange kann Jadoch noch vor Evanya verbergen, wer er wirklich ist? Als sie schließlich den Tempel der Flügelschwestern erreichen, erwartet sie in den sagenumwobenen Hallen ein weitaus größeres Geheimnis, als beide erahnen konnten.

 

Das Buch kann unabhängig von „Die Chroniken von Usah - Der Drachenkönig“ gelesen werden.

Impressum

 

E-Book

November 2024

302-346-01

Melissa David

Mühlweg 48a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de

E-Mail: [email protected]

 

 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com

 

Lektorat: Jeanette Lagall

www.lektorat-lagall.de

 

Korrektorat: Jana Oltersdorff

 

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Die Chroniken von Usha

 

Der Drachenprinz

Band 2

 

von

Melissa David

 

 

 

 

Vorwort

Lieber Leser, liebe Leserinnen,

 

lange Zeit hätte ich nicht gedacht, dass ich eine Fortsetzung zu den Chroniken von Usha schreiben würde. Doch durch unermüdliches Nachfragen einiger Leser und meine Begeisterung letzten Sommer, als ich im Urlaub den Drachenkönig gelesen habe, führte dazu, dass Jadochs Geschichte ganz flott in meinem Kopf Formen annahm. Wie das manchmal so ist, dauert der Schreibprozess dann wesentlich länger. Aber nun ist es endlich da: „Die Chroniken von Usha – Der Drachenprinz.“

 

Diesmal bleiben wir nicht zu lange in Usha. Stattdessen begeben wir uns ins benachbarte Land Aspain und begegnen dort einer neuen Heldin – Evanya. Evanya hat eine Behinderung. Ihre Hand ist verkrüppelt und sie hat einen Klumpfuß.

 

Ich habe länger darüber nachgedacht und mit etlichen Personen (auch Betroffenen) darüber diskutiert, wie ich über Behinderung schreiben möchte. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, Worte zu wählen, die in unserer heutigen Gesellschaft als unangebracht empfunden werden. Das klingt vielleicht hart, aber es ist eine bewusste Entscheidung. Denn Evanya lebt in einer Welt, in der ihr nicht mit Samthandschuhen entgegengetreten wird, sondern direkt und durchaus hart. Diese Direktheit soll Evanyas Realität und die Herausforderungen, denen sie sich stellen muss, authentisch widerspiegeln.

 

Wenn du noch tiefer in die Welt von Usha eintauchen möchtest, gibt es auf meiner Webseite einige Artikel, die dir zusätzliche Einblicke in die Geschichte und die Charaktere bieten. Dort findest du alles: Von den kulturellen Hintergründen der Drachen bis zu spannenden Details über die magischen Fähigkeiten.

 

Auch diesmal gibt es etwas Besonderes: In einem extra Begleitheft stelle ich euch die faszinierende Tier- und Pflanzenwelt von Usha und Aspain vor. Mehr Informationen hierzu findest du hier.

 

Ich hoffe, dass dir das Lesen des Drachenprinzen ebenso viel Freude bereitet wie mir das Schreiben. Daher sei gespannt und lass dich von Jadochs und Evanyas Geschichte inspirieren und berühren.

Deine

Melissa David

Prolog

 

„Hier bist du also.“ Ajend ließ sich auf dem Stein neben Jadoch nieder. Der junge Drachenwandler reagierte nicht, starrte weiter auf das ruhig daliegende Wasser und lauschte dem leisen Plätschern. Nicht umsonst hatte er sich hier in die Dunkelheit der Grotte zurückgezogen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Ajend auch gern wieder gehen können. Doch das konnte er dem ranghöheren Wandler und demjenigen, der für ihn einer Vaterfigur am nächsten kam, nicht sagen.

Wie sehr hatte er die Ruhe genossen, doch mit dem Auftauchen des anderen Drachenwandlers war es zwangsläufig damit vorbei. Er spürte die unterdrückte Wut seines Gegenübers, den unterschwelligen Zorn, den dieser zwar sorgsam verbarg, den er aber dennoch deutlich wahrnahm. Jadoch ahnte, dass die Verstimmung ihm galt, weil er sich vom Fest entfernt hatte.

„Der Creewein ist ausgesprochen süffig“, brach Ajend schließlich das Schweigen.

„Pff …“Jadoch stieß einen angewiderten Laut aus. Der Creewein interessierte ihn kein bisschen. Das Getränk erwies sich als viel zu sanft, denn die Wirkung des enthaltenen Alkohols spürte er kaum. Derzeit stand Jadoch nicht der Sinn nach Feiern, sondern eher nach einem ausgiebigen Besäufnis, und dafür benötigte er etwas Stärkeres, zum Beispiel Nirphoriadestillat.

Um sie herum herrschte Dunkelheit, doch das störte keinen von beiden. Als Drachenwandler verfügten sie über ausgezeichnete Sicht im Finsteren. An den Wänden der Grotte hingen Fackeln, die Jadoch mit einer einzigen Handbewegung hätte entzünden können. Dennoch zog er in diesem Augenblick die Dunkelheit vor.

Ein biolumineszenter Punkt flog an ihnen vorbei, schwebte einen Moment über dem Wasser, ehe der Glimmflügel seine Reise fortsetzte, durch die Grotte schwirrte und schließlich im Gang hinter der Biegung verschwand.

„Weißt du noch, damals im Kerker bist du den kleinen Tierchen hinterhergerannt und wolltest sie einfangen, damit wir Licht haben“, sagte Ajend gedankenverloren.

Jadochs Erinnerungen an das dunkle, kalte Kellerverlies waren lückenhaft, aber an die Glimmflügel erinnerte er sich. Sie krochen durch die Steinritzen und brachten ein wenig Licht in ihre Hoffnungslosigkeit.

Ajend sprach selten über ihre Zeit im Kerker. Die Zellen, in denen sieben Männer und ein kleiner Junge untergebracht waren, boten wahrlich keinen großen Raum. Waschgelegenheiten gab es nicht, nur einen Eimer für ihre Notdurft und eine Ecke mit Stroh, um nicht auf dem kalten Steinboden schlafen zu müssen. Bereits als Säugling war er zu den anderen Drachenwandlern in den Kerker geworfen worden und da er damals nichts anderes kannte, war ihr Gefängnis für ihn normal gewesen. Aber schon damals hatte er den Hass und die Wut der anderen auf ihre Kerkermeister gespürt. Und so hatte er begonnen, sie ebenso zu hassen wie seine Brüder.

Erst im Nachhinein hatte Jadoch begriffen, was ihnen tatsächlich vorenthalten worden war und warum er sich so unvollständig fühlte. Erst als Ellenie den Pakt brach und die Drachen befreite, wurde es ihnen möglich, sich mit seinem Tier zu vereinen. Nur zu gut erinnerte er sich an das unbeschreibliche Gefühl, als er zum ersten mal die rötlich-schwarzen Schuppen des Tieres auf seiner Haut spürte, die breiten Schwingen hervorbrachen und er mit dem Schwanz schlagen konnte. Ein vollkommener Moment, der leider nicht lange anhielt und endete, als er seine menschliche Gestalt annahm.

Jadochs Gedanken kehrten in den Kerker zurück. Während Doron sich nicht weiter um ihn scherte, verwendete Ajend viel Energie darauf, ihm seine Kindheit dort so erträglich wie möglich zu machen. Sein Erfindungsreichtum an immer wieder neuen, abenteuerlichen Spielen schien unendlich, und Jadoch lernte auf diese Weise unheimlich viel von ihm.

Dass man auch anders leben konnte, hatte er erst begriffen, als sie in das weitläufige Höhlensystem zogen und er die Welt außerhalb der Kerkermauern kennenlernen durfte. Obwohl sie weiterhin Gefangene auf Sodaar waren, konnten sie sich in der Höhle und dem umliegenden Gelände frei bewegen. Trotz dieses enormen Zugeständnisses des Magierkönigs wurde Jadochs Abscheu gegenüber den Herrschern der Festung nicht weniger.

„Wir sollten nicht mit ihnen feiern“, platzte es mit einem Mal wütend aus Jadoch heraus, seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn.

Verwundert hob Ajend eine Augenbraue. „Wen meinst du mit ihnen?“, hakte er nach, während er die Stirn runzelte.

„Die Magier“, spie Jadoch förmlich aus. Ungeheure Abscheu erfüllte ihn, und es war ihm egal, dass der Drachenbruder seine Ablehnung spürte. Die Abneigung gegenüber den Magiern saß tief in Jadoch. Schon seit jeher galten sie für ihn als Feindbild. „Es ist nicht richtig, mit ihnen zu feiern.“

„Aha“, fiel Ajends knappe Antwort aus. Gedankenvoll zog er ein Bein an und stützte den Arm auf seinem Knie ab, während er stumm den See unter ihnen betrachtete.

Wut tobte in Jadoch wie ein entfesselter Sturm, und plötzlich sprang er erzürnt auf. „Wie kannst du hier einfach herumsitzen, obwohl Doron den gleichen Fehler noch einmal macht?“, warf er Ajend vor, seine Stimme zitternd vor Empörung.

„Er ist dein Vater“, wies Ajend ihn bestimmt zurecht.

Jadoch fauchte verächtlich. Doron mochte vieles sein: ein brillanter Stratege, ein großartiger Anführer, ein perfekter Drache. Aber als Vater versagte er kläglich. Den Titel hatte er nicht einmal ansatzweise verdient.

„Der Mann, der mich mein ganzes Leben belogen hat?“, schnaubte er. Nicht nur stammte er von einer Magierin ab, sondern ausgerechnet sie hatte auch den verhängnisvollen Bann über die Drachenwandler ausgesprochen und sein Volk ins Verderben gestürzt. Sein Hass auf sie konnte nicht größer sein.

Ajend ließ sich einen Moment Zeit, bevor er mit Bedacht seine nächsten Worte wählte. „Doron hat seinen Fehler sehr bereut und über viele Jahre dafür gebüßt. Denkst du nicht, dass auch er ein wenig Glück verdient?“

Jadoch biss so fest die Zähne zusammen, dass sein Kiefer schmerzte. Ellenie war wundervoll – ruhig, sanftmütig und mit einem reinen Herzen. Unheimlich gern hielt er sich in ihrer Gegenwart auf und lauschte ihrer melodischen Stimme, wenn sie über Magie sprach. Dabei saugte er jedes Wort auf. Eine tiefe Sehnsucht nach eben jener Macht erfüllte ihn, und gleichzeitig schob er sie vehement fort. Jadoch wusste, dass er besonders war, einzigartig auf dieser Welt. In seinen Adern floss nicht nur Drachenblut, sondern auch das Erbe der Magier. Welche Ironie des Schicksals!

Fest presste er die Lippen zusammen und kämpfte gegen das Verlangen an, die Magie, die in ihm schlummerte, weiter zu erforschen. Der bloße Gedanke daran fühlte sich falsch an, wie ein Hunger, der nicht existieren durfte. Hastig schob Jadoch diesen Teil seines Selbst beiseite, vergrub ihn tief in den dunkelsten Ecken seines Geistes. Er betrachtete sich als Drachenwandler, nicht als Magier. Unter keinen Umständen wollte er so sein wie diejenigen, die sein Volk so lange gedemütigt hatten. Wenn er an die Grausamkeiten dachte, die die Magier seinem Volk zugefügt hatten, wurde ihm übel. In Fluganzügen mussten sie gegen die Harpyien kämpfen, anstatt sich in ihre natürliche Drachengestalt zu verwandeln.

„Ellenie und Doron werden Usha guttun. Gib ihnen eine Chance, Magier und Drachen zu versöhnen.“

Jadochs Brust fühlte sich an, als hätte jemand brutal hineingegriffen und sein Herz herausgerissen. „Ellenie ist nicht das Problem,“ gestand er schließlich mit gepresster Stimme.

Ganz im Gegenteil. Mit Ellenie fühlte er sich auf wundersame Weise verbunden, nahezu magisch von ihr angezogen. Vielleicht, wenn die Dinge anders verlaufen wären, hätten auch sie beide eine Chance gehabt. Doch Ellenie hatte sich für Doron entschieden. Dennoch wünschte sich Jadoch manchmal, sie würde ihn nicht nur als Freund sehen, sondern auch als Mann wahrnehmen.

Aber was war er schon neben dem mächtigen Drachenkönig Doron. Lediglich ein bedauerliches Nebenprodukt einer verhängnisvollen Affäre, die seine Art, die Drachen, beinahe ausgelöscht hätte.

„Hast du darüber nachgedacht, Ellenies Angebot anzunehmen und dich von Koroel unterrichten zu lassen?“

Jadoch schnaubte verächtlich. Das fehlte ihm gerade noch! Die Magie, die er beherrschte, genügte für alltägliche Dinge. Früher hatte er dafür einen magischen Handschuh benutzt, nun konnte er darauf verzichten. Doch jedes Mal, wenn er nach den Fäden der Magie griff, um mit seinen Händen etwas Neues zu erschaffen, überkam ihn ein schlechtes Gewissen. Es fühlte sich nicht richtig an, diese Macht in sich zu tragen. Leider zeigte sich Magie nicht immer von ihrer hellen und guten Seite; meistens war sie böse und zerstörerisch. So wie Rayel, der die Wiese vor der Drachenhöhle einst vertrocknen ließ. So wie Florenie, die einen brutalen Krieg angezettelt hatte, der Usha beinahe vernichtete und hunderte von Drachen umbrachte, indem sie die Gestaltwandler in ihre menschliche Form bannte und unzählige seiner Brüder so in den Tod stürzten.

Mühsam unterdrückte er die aufsteigenden Tränen. Auch wenn das alles vor seiner Geburt geschehen war, bewegte ihn das tief. Bis er sich das erste Mal in einen Drachen verwandeln durfte, hatte es weit über sechzig Jahre gedauert. Für Menschen mochte das eine lange Zeit sein, für einen Drachen war er dennoch immer noch ziemlich jung.

Tröstend legte Ajend ihm eine Hand auf die Schulter. Sie benötigten keine Worte. Die Drachenwandler verband ein unsichtbares Band, das ihnen erlaubte, die Emotionen des anderen zu spüren, wenn sie sich in der Nähe befanden. In der schützenden Dunkelheit der Grotte existierten in diesem Moment nur sie beide, und Jadoch empfand tiefe Dankbarkeit, hier unten vor den anderen Drachenwandleremotionen Ruhe zu haben. Eine Woge von Mitgefühl strich über seinen Geist hinweg, die er jedoch beiseiteschob. Ajends Verständnis machte die Schuld nur noch unerträglicher für ihn.

„Es ist nicht alles schlecht“, bemühte Ajend sich, ihn aufzubauen. „Du hast die Magie nun einmal in dir.“

Jadoch ahnte, was nun kommen würde. Dieses Thema hatten sie schon einige Male durchgekaut.

„Ich will das nicht.“ Die Erinnerung an den Moment, als seine Kräfte außer Kontrolle gerieten, drängte sich ihm auf. Vor einigen Wochen hatte er mitten im Innenhof von Sodar gestanden, als die Erde aufgebrochen und eine riesige Dornenhecke emporgewachsen war. Zum Glück hatten sich andere Magier auf der Festung befunden, die dem Wildwuchs, den er verursacht hatte, Einhalt geboten.

„Große Kraft erfordert große Kontrolle. Karael, der hohe Magier der Natur, wird dich unterrichten und dir beibringen, deine Magie zu beherrschen.“

Tief in seinem Herzen wusste Jadoch, dass dies der richtige Weg war, und trotzdem widerstrebte es ihm. „Ich habe keine großartigen magischen Kräfte“, widersprach er trotzig.

„Mag sein, aber dennoch kann es nicht schaden, die Magie in dir beherrschen zu lernen.“ Abwartend, ob er widersprach, zog der glatzköpfige Krieger eine Augenbraue nach oben. Jadoch gingen die Argumente aus, und so schwieg er.

„Lass uns zurück zum Fest gehen!“ Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Befehl handelte, und da dieser von niemand Geringerem als Ajend kam, würde Jadoch ihn befolgen. Der Krieger erhob sich und wartete, bis der Jüngere es ihm gleichtat. Dennoch regte sich Widerwillen bei Jadoch bei dem Gedanken, sich dieser Feier anzuschließen. Zwar mochte er der Sohn des Königs und ein Drachenwandler sein, trotzdem fühlte er sich wegen seiner Magie zu andersartig, um wirklich dazuzugehören. Als Magier sah er sich definitiv nicht, und zu ihnen wollte er auf keinen Fall gezählt werden.

„Gönn dir einen Krug Creewein und tu zumindest so, als würdest du dich für deinen Vater freuen.“

Jadoch reagierte mit einem abfälligen Schnauben. „Und dann zusehen, wie er mit Ellenie zu den Gipfeln aufsteigt?“, stieß er wütend hervor.

Ajend seufzte tief und schüttelte den Kopf. „Es geht hier um mehr als nur diese Zeremonie, Jadoch. Die Tradition, die Gefährtin auf den Berg zu bringen und in die Höhle zu führen, ist weitaus bedeutender, als du dir vorstellen kannst. Eines Tages, wenn du selbst eine Gefährtin erwählst, wird es dich dorthin ziehen,“ weissagte Ajend.

„Wie sieht die Höhle aus?“, wollte Jadoch wissen, doch Ajend schwieg beharrlich. „Warst du nie dort?“, fragte er den älteren Drachen provokant.

„Es ist etliche Jahrhunderte her, seit ich mit Nyx dort war. Leuchtende Kristalle erhellen die Höhle, es ist ein absolut magischer Ort. Nicht umsonst werden viele Drachenbabys dort gezeugt.“

„Hör auf!“, bat Jadoch gequält. Den Gedanken, dass Doron und Ellenie … Vehement schob er die Bilder zur Seite und doch konnte er das aufkeimende Verlangen nach Ellenie nicht völlig unterdrücken.

Jadoch schloss die Augen und kämpfte mit seinen Gefühlen. „Warum aber muss es immer die Höhle auf dem Berg sein?“ fragte er, bemüht, seine Emotionen im Zaum zu halten.

Ajend hielt inne, sein Blick wurde weich. „Weil diese Höhle ein heiliger Ort ist, ein Symbol für den Ursprung unserer Macht und unserer Verbundenheit zur Natur. Dort oben, umgeben von der majestätischen Weite des Himmels und der unumstößlichen Stärke des Berges, erneuern wir unser Versprechen, einander zu schützen und zu lieben. Es ist ein Ort, der an unsere Wurzeln erinnert und uns Kraft gibt. Die Gefährtin dorthin zu bringen, zeigt nicht nur Stärke und Hingabe des Drachenwandlers, sondern auch Respekt und Ehrfurcht vor unserer Geschichte.“

Schlagartig erfüllte Jadoch die Sehnsucht nach einer Gefährtin, nach Zugehörigkeit und nach so viel mehr. Doch er versteckte all das schnell hinter einer Maske aus Trotz. „Ich verstehe, warum das wichtig ist“, seufzte er. „Aber es ändert nichts daran, dass ich sie nicht sehen will. Nimmt niemand Rücksicht auf meine Gefühle?“ Dorons und Ellenies Glück und ihre offen zur Schau gestellte Verliebtheit nervten ihn.

„Gefühle ändern nichts an Traditionen,“ antwortete Ajend leise. „Aber manchmal hilft es, den Blickwinkel zu verändern. Dein König heiratet, und deshalb wirst du mit mir zu diesem Fest zurückgehen.“

Die Diskussion mit Ajend war hoffnungslos. Der Drachenwandler würde seine Beweggründe ohnehin nicht verstehen. Jadoch selbst begriff es doch kaum. Inständig hoffte er, er würde nicht nur Creewein, sondern das deutlich stärkere Nirphoriadestillat finden und so viel davon trinken, bis er den Verstand verlor. Denn das war die einzige Möglichkeit, dieses Fest zu überstehen.

Kapitel 1

 

Drei Jahre später

 

Jadochs Kopf pochte unangenehm, als er die Augen öffnete, also schloss er sie gleich wieder. Etwas bewegte sich an seiner Seite und zwang ihn, die Lider erneut zu heben. Neben ihm lag eine zierliche Frau mit langen blonden Haaren. Die Bettdecke war hinuntergerutscht und entblößte zwei wunderschöne große Brüste, die sich bei jedem Atemzug hoben und senkten.

Bei ihrem Anblick regte sich in ihm nichts. Nur bruchstückhaft tauchten Erinnerungen an die vergangene Nacht auf. Es geschah nicht zum ersten Mal, dass er erwachte und sich nicht an den Namen der Frau erinnern konnte, die neben ihm lag. Ein durchdringendes Bohren fuhr durch seinen Schädel und stöhnend legte Jadoch eine Hand an seine Schläfe. Der Schmerz ließ glücklicherweise nach.

Er roch den Alkohol, der aus jeder seiner Poren strömte. Am vergangenen Abend hatte er Nirphoriadestillat getrunken – jede Menge davon. Einen Niederen hätte bereits ein Glas umgebracht, bei ihm, einem Drachen, bewirkte es lediglich eine gewisse Benommenheit. Ein Zustand, den Jadoch gestern sehr begrüßt hatte und den er sich auch jetzt dringend herbeisehnte.

Doch der Tag war angebrochen, und er hatte Verpflichtungen. Er ärgerte sich über die Zusage, die er Koroel gegeben hatte. Seit einem Jahr testete er seine magischen Fähigkeiten mit dem Hohen Magier aus und da ein Drache stets seine Versprechen hielt, setzte er sich widerwillig auf. Seinem Kopf ging es inzwischen wieder erstaunlich gut. In Windeseile würde sein Körper das übrige Nirphoriadestillat ebenfalls verstoffwechseln, den Rest würde eine Dusche erledigen.

Ohne seiner Bettgenossin weiter Aufmerksamkeit zu schenken, erhob er sich und ging nackt auf das angrenzende Badezimmer zu. Jadoch konnte nicht leugnen, dass er die Annehmlichkeiten seines Zimmers im Vergleich zu der Drachenhöhle sehr genoss. Gleichzeitig wünschte er sich hin und wieder in die unbeschwerte Zeit dorthin zurück.

Grimmig verbot er sich, weiter daran zu denken. Mit einer kreisenden Handbewegung stellte er die Nebeldusche an. Die alltäglichen magischen Gesten waren ihm inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen, und er musste sich kaum noch konzentrieren, um die Magie zu aktivieren.

Der dichte Dampf hüllte ihn ein und belebte seine müden Glieder. Allmählich verschwand der unangenehme Geruch, den das Nirphoriadestillat hinterlassen hatte. Das Wasser spülte auch die Bilder der vergangenen Nacht hinfort, die mit unzähligen weiteren Trinkgelagen und ausufernden Feiern der letzten Zeit verschmolzen. Schon längst hatte Jadoch die Freude daran verloren, aber da es der einzige Weg war, um zumindest für wenige Stunden seinen Qualen zu entkommen, würde er weitermachen.

Genüsslich streckte er sein Gesicht der Düse entgegen und spürte die feinen Tröpfchen auf seiner Haut. Eine Weile verharrte er in der Position, zögerte den Moment hinaus, in dem er sich Koroel stellen musste. Doch schließlich blieb ihm nichts anderes übrig. Mit einer drehenden Handbewegung seinerseits verschwand der Nebel. Jadoch griff nach einem Leinentuch und trocknete sich ab. Dann kehrte er in sein Schlafgemach zurück, um sich anzukleiden. Die Kleidung des vergangenen Tages lag verstreut auf dem Boden umher, ebenso die Habseligkeiten der Frau, die noch immer selig in seinem Bett schlummerte.

Aus der Kommode holte er lederne Beinkleider, ein beigefarbenes Hemd und zog darüber das Lederwams. Nach wie vor lehnte Jadoch es vehement ab, sich wie die Magier zu kleiden, und griff nach seinen ledernen Unterarmschützern. Er gehörte zu den Drachenkriegern, und das sollte jeder sofort sehen. Jetzt schon von der vor ihm liegenden Magiestunde genervt, schlüpfte er in die kniehohen Lederstiefel und verließ mit grimmigem Blick das Schlafzimmer.

Die Niederen und Begnadeten, die seinen Weg kreuzten und geschäftig auf Sodaar ihrer Arbeit nachgingen, bemühten sich, ihm aus dem Weg zu gehen, oder senkten den Kopf. Gut so!

Sein Weg führte ihn durch die steinernen Flure der Festung und hinaus in den Innenhof. Auf der gegenüberliegenden Seite trat Jadoch in das Gebäude ein, das die Wirtschaftsräume beherbergte. Im Erdgeschoss lag auch der große Speisesaal.

Gähnende Leere empfing ihn dort. Die Tische waren längst abgeräumt und das Essen zurück in die Küche gebracht worden. War es wirklich schon so spät? Ärgerlich über sich selbst streckte er die Hand aus und ließ seinen Zeitmesser erscheinen. Vier Farben waren bereits hindurchgerieselt. Schon vor einer Zeiteinheit hatte man das Frühstück im Speisesaal beendet.

Gerade wollte Jadoch kehrt machen und die Küche aufsuchen, als ein hochgewachsener, glatzköpfiger Mann ihm den Weg vertrat.

Ergeben seufzte der Drache. Jeden anderen hätte er ignorieren können, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, dem auch er unterstellt war, und damit den gewichtigsten Mann in Usha, jedoch nicht.

Ajend sah ihn finster an. „Auch endlich aus dem Bett gekrochen?“

„Hmm …“, brummte Jadoch und wollte sich an ihm vorbeischieben, doch Ajend stoppte ihn, indem er ihm eine Hand auf die Brust legte.

Der Krieger überragte ihn um einen Kopf. Das war jedoch nicht der Grund, warum Jadoch mit einem schlechten Gewissen den Blick senkte. Die wachsamen Augen Ajends musterten ihn durchdringend, und er spürte den unterschwelligen Zorn des anderen und die Enttäuschung über sein Verhalten.

„Dem Nirphoriadestillat in rauen Mengen zugesprochen?“, fragte dieser.

Jadoch zuckte mit den Schultern. Sie wussten beide, dass er bereit wäre, sollte es zu einem Einsatz kommen.

„Du stinkst immer noch danach.“

Das konnte gut sein. Die Nasen der Drachen waren unglaublich sensibel und nahmen auch minimale Spuren wahr.

„Wieder eine Frau im Bett gehabt?“, erkundigte Ajend sich weiter und hob dabei fragend eine Augenbraue. Als Jadoch nicht antwortete, schob der Krieger nach: „Zwei?“

Schnaubend wandte der Drache sich ab. „Meine Frauengeschichten gehen dich nichts an.“

„Oh, doch, das tun sie“, widersprach der Krieger ihm, und Jadochs schlechtes Gewissen meldete sich, da er sich im Unrecht befand. „Wir sorgen uns um dich und würden dir gern helfen. Jeder von uns kann deine Gefühle spüren, jede noch so kleine Regung, und wir alle wissen, was du für diese Mädchen empfindest.“

Nichts. Dies stellte die traurige Wahrheit dar. Er empfand überhaupt nichts für sie. Doch der Schmerz, der ihn innerlich auffraß, ließ sich ertragen. Wenn er ihn in Alkohol ertränkte und sich in belanglosen Sex flüchtete, fühlte er sich anschließend so ausgelaugt, dass er augenblicklich einschlief. Das waren die besten Stunden am Tag. Es sei denn, Ellenie suchte ihn auch in seinen Träumen auf. Ihr Antlitz erschien vor seinem inneren Auge, und gleichzeitig überflutete ihn ein unerträgliches Begehren.

„Lass es!“, fauchte Ajend wütend, der seine Gefühle deutlich spürte, und knallte seine Faust fest gegen Jadochs Brustkorb. Einem Menschen oder Magier hätte er damit sämtliche Rippen gebrochen, Jadoch jedoch brachte der Schlag zur Vernunft.

Hastig verbannte er alle Emotionen, versperrte sie tief in sich. Sein Drache brüllte voller Schmerz auf. Auch ihn fraß das ungestillte Verlangen nach einer Frau auf, die unerreichbar blieb, denn sie hatte bereits jemand anderen gewählt. Nicht nur, dass sie sich für Doron entschieden hatte, obendrein verband sie ein Blutsband mit Jadoch. Sie war seine Tante. Doch all das interessierte den Drachen nicht. Er begehrte sie weiterhin und brachte damit das Tier und den Mann langsam, aber sicher um den Verstand.

„Komm endlich zur Vernunft!“ In Ajends Augen loderte eine mörderische Glut.

Ebenso wie Jadoch fühlten auch die übrigen Krieger die bedingungslose Liebe und das körperliche Begehren ihres Königs Doron seiner Gefährtin gegenüber. Allerdings spürten sie leider auch Jadochs Begierde nach Ellenie, die sich in den vergangen drei Jahren massiv verstärkt hatte. Noch dazu konnte Jadoch mit dem unerfüllten Verlangen nach der Gefährtin seines Vaters nicht umgehen. Und jeder seiner Brüder einschließlich seines Vaters wusste das. Nur selten sprachen sie ihn direkt darauf an, aber er spürte ihre mitleidigen Blicke häufig auf sich. Wie sehr sehnte er sich danach, sich in die Lüfte zu schwingen und fortzufliegen. So weit und so hoch hinaus, bis die anderen ihn nicht mehr spüren konnte.

„Sprichst du mit Doron darüber? Über mich?“ Jadoch spie die Worte regelrecht aus.

„Sei vorsichtig!“, warnte Ajend ihn.

Gequält schloss Jadoch die Augen und kämpfte gegen die blinde Wut an, die ihn innerlich zerriss. Sein Drache wütete in ihm, und es kostete ihn sämtliche Anstrengung, ihn unter Kontrolle zu halten. Verzweifelt fuhr er sich durch die etwas zu langen braunen Haare und brachte sie dadurch in Unordnung.

„Du musst endlich damit aufhören!“ Ajends Worte klangen eindringlich, und gleichzeitig hörte er deutlich das Mitgefühl und Bedauern seines Vorgesetzten und väterlichen Freundes heraus.

Was sollte er darauf antworten? Wenn er einen Weg gewusst hätte, diesen unsäglichen Gefühlen zu entkommen, würde er ihn nehmen. Es bereitete ihm sicher keine Freude, die Gefährtin eines anderen Drachens zu begehren. Die Gefährtin seines Königs. Die Gefährtin seines Vaters.

Resigniert ließ er den Kopf hängen, bis er ein Lachen im Innenhof hörte.

Ajend drehte sich um, und auch Jadoch spähte nach draußen.

Sein Herz floss über vor unverfälschter Liebe zu dem Kind, als Atherie mit ihren kurzen wackeligen Beinen einem Lumynix nachjagte, dessen irisierende Flügel im Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens funkelten. Plötzlich stolperte Atherie, fiel zu Boden und weinte.

Besorgt wollte Jadoch schon losstürmen, als Ajend ihm mit dem Arm den Weg versperrte. Im nächsten Augenblick realisierte er, dass das nicht seine eigenen Gefühle waren, die in ihm tobten, sondern Dorons.

Der imposante Drachenkönig eilte zu Atherie und kniete sich neben sie. Sanft half er dem kleinen Mädchen hoch und setzte es auf sein Knie, um sich zu vergewissern, dass sein zarter Körper keinen Schaden genommen hatte.

Wieder überrollte Jadoch eine Welle von Zuneigung und Sorge, und gleichzeitig stieg in ihm eine so tief verwurzelte Eifersucht auf, dass er sich hastig abwandte.

Nach Luft schnappend, drängte er die unerwünschten Gefühle fort. Diesmal stammten die Empfindungen nicht von einem anderen Krieger. Es handelte sich um seine eigenen, und er hasste sich dafür. Atherie, das süße, wunderbare Mädchen, traf keine Schuld. Im Grunde mochte er die Kleine und würde sich eher selbst das Herz herausreißen, als zuzulassen, dass ihr jemand schadete. Und dennoch konnte er die nagende Eifersucht nicht abstellen. Atherie bekam all die Liebe ihrer Mutter und ihres Vaters, die er nie erhalten hatte. Warum konnte Doron das kleine Mädchen lieben und ihn nicht? Hatte er nicht auch das Anrecht auf die Liebe seines Vaters?

„Jadoch.“ Mitleidig wandte Ajend sich ihm zu.

Er ertrug es keine Sekunde länger. Ajend war ihm mehr ein Vater gewesen, als es sein Erzeuger vermocht hatte. Sein Drache tobte nah an der Oberfläche und wenn es ihm nicht gelang, ihn zu beruhigen, würde er sich hier im Speisesaal verwandeln und alles in Schutt und Asche legen.

„Ich bin hungrig“, schob er als Ausrede vor und rannte los in Richtung Küche.

Ajends bohrenden Blick im Rücken spürte er ebenso wie die melancholische Traurigkeit Dorons, der ihn davonstürmen sah. All das musste Jadoch hinter sich lassen, sonst würde etwas Furchtbares passieren. Sein Drache würde aus ihm hervorbrechen, wütend und unkontrollierbar, und Sodaar dem Erdboden gleichmachen. Keinesfalls durfte er sich hier im Speisesaal verwandeln! Doron, sein König, wäre dann gezwungen, ein Exempel an ihm statuieren. Unwillkürlich musste er an Ishul denken, dessen Drache von Doron so verstümmelt worden war, dass er nicht mehr fliegen konnte. Ihn durfte nicht dasselbe Schicksal ereilen. Sich zu wandeln und als Drache in die Lüfte zu steigen, stellte die einzige Flucht dar, die Jadoch geblieben war. Ohne diesen Ausweg würde er verrückt werden.

Sein unverhofftes Auftauchen in der Küche überraschte niemanden. Es kam regelmäßig vor, dass Jadoch das Frühstück verpasste und sich in der Küche etwas zu essen holte.

„Nimm dir.“ Aurande, eine begnadete Bäckerin, bot ihm eine der Köstlichkeiten an, die sie gerade aus dem Ofen gezogen hatte.

„Du rettest mir den Morgen.“ Lächelnd zwinkerte Jadoch ihr zu und schnappte sich einen Riegel aus Perlsaat, zerstoßenen Nachtkleekernen und getrockneten Moldbeeren, der mit Nektar gesüßt worden war.

Blitzschnell verschwand er wieder aus der Küche. Eine Verabredung mit Koroel, dem Hohen Magier, stand an, und es kam äußerst unhöflich daher, diesen warten zu lassen.

Geschwind lief Jadoch einen langen Gang entlang, wich einer entgegenkommenden Niederen aus und trat in einen versteckten hinteren Teil des Innenhofes hinaus. Von dort verließ er Sodaar durch eines der unscheinbaren Tore, die ab und an die unüberwindbare Festungsmauer durchbrachen. Von dort führte ein Pfad über grüne Wiesen und ausgedehnte Felder direkt zur alten Drachenhöhle, die nunmehr seit drei Jahren nicht bewohnt wurde.

Wie einfach das Leben doch damals in der Höhle gewesen war. Nur ihn und seine Brüder hatte es gegeben, keine Frauen. Das größte Konfliktfeld war die Wahl und die Zubereitung der Mahlzeiten gewesen.

Gedankenverloren ging er weiter und erreichte schließlich die große Wiese mit den Findlingen, die sich direkt vor der Drachenhöhle befand.

Auch diesen Ort verband er mit vielen Erinnerungen. Hier hatte er zum ersten Mal Magie gewirkt. Zuvor hatte ihm Ellenie erklärt, wie ein Naturmagier das Gras wachsen lassen würde. Heimlich und unbemerkt hatte er sich später aus der Drachenhöhle geschlichen. Die Magiefäden hatten sich so deutlich gezeigt, dass er instinktiv nach ihnen griff. Zu seiner grenzenlosen Verwunderung war das Gras unvermittelt in die Höhe geschossen.

Damals war er gewaltig über sich selbst erschrocken. Erst später hatte er erfahren, dass in ihm nicht nur das Drachenerbe schlummerte, sondern auch das der Magier. Noch heute wünschte er sich, dass er niemals von diesem magischen Erbe erfahren hätte. Die Frau, die ihn geboren hatte, galt als herzlos und böse, aber auch als eine der mächtigsten Magierinnen ihrer Zeit.

Jadoch konnte nicht ändern, wer seine Erzeuger waren, und so hatte er schließlich widerwillig Koroels Angebot angenommen, ihn in Naturmagie zu unterrichten. Der Unterricht bestand daraus zu lernen, gezielt die Fäden der Magie zu lenken. Aktuell reichten seine Fähigkeiten lediglich dazu aus, Magie zu leiten. Damit befand er sich auf der Stufe eines Begnadeten. Nur ein einziges Mal war es ihm gelungen, echte Magie zu wirken und etwas Eigenes zu erschaffen. Damals, als er das Gras hatte in die Höhe schießen lassen. Wie ihm damals das Kunststück geglückt war, die schwarze Wiese wieder zu begrünen und erblühen zu lassen, blieb ihm bis heute ein Rätsel. Nachdem er darüber mit Koroel gesprochen hatte, meinte der hohe Magier, dass die Magie tief in ihm schlummere. Doch manchmal zweifelte Jadoch daran.

Koroel erwartete ihn bereits am verabredeten Treffpunkt. Wie alle Magier kleidete er sich in ein langes, wallendes Gewand in einem dunklen Grün, was seine Naturverbundenheit zeigen sollte. Sein Blick war sanft, und auch von seinem Wesen her war sein Lehrer äußerst nachsichtig.

„Wie schön, dass du pünktlich bist“, begrüßte Koroel ihn mit einem Lächeln.

„Ich habe dir ein Versprechen gegeben“, entgegnete Jadoch und schob sich den letzten Rest seines Riegels in den Mund.

Koroel ging über die augenscheinlich nicht vorhandene Motivation seines Schützlings großzügig hinweg. Beim letzten Mal hatte ihm der Hohe Magier äußerst ausführlich erklärt, warum er ihn unterrichtete und wie wichtig es sei, einen Mentor zu haben. Unkommentiert hatte Jadoch zugehört, und auch wenn er manche Dinge anders sah – schließlich war er ein Drache und kein Magier –, konnte er seine Kräfte seit Koroels Unterricht wesentlich besser kontrollieren.

„Beginnen wir mit dem heutigen Unterricht“, kündigte Koroel an. „Heute werden wir versuchen, die Umgebung zu formen und Wasser zu lenken.“

Hastig wandte Jadoch sich ab, damit sein Lehrer nicht sah, wie er entnervt die Augen verdrehte. Bereits etliche Male hatte Jadoch genau dies versucht und scheiterte jedes Mal kläglich. Warum sollte es heute anders sein?

„Beginn damit, dass du eine kleine Mulde schaffst“, forderte der Naturmagier ihn auf.

„In Ordnung“, stimmte Jadoch ihm widerwillig zu, da er wusste, dass jede Diskussion zwecklos war. Koroel mochte nachsichtig mit ihm sein, das hieß jedoch nicht, dass er schwach war. Was seine Ausbildung anging, blieb er unerbittlich.

Jadoch suchte nach einem festen Stand und atmete tief durch. Sich selbst Mut zusprechend streckte er die Hände aus und befühlte die Magie. Sanft strich sie über ihn, kribbelte auf seiner Haut. Für einen Augenblick erlaubte er sich, in ihr zu schwelgen, ließ sie durch sich fließen und dann griff er nach ihr. Hochkonzentriert fokussierte er eine Stelle auf der Wiese vor ihm. Langsam senkte er die Hand und sah, wie das Erdreich eine Mulde bildete. Das war der einfache Teil.

„Sehr gut“, lobte Koroel ihn.

Noch immer hoch konzentriert tastete Jadoch nach dem Wasser, das sich tief im Erdboden befand, und zog es an die Oberfläche. Zuerst bildete sich eine kleine Wasserblase, dann sprudelte immer mehr Wasser in die Vertiefung, und der Wasserpegel stieg und stieg.

„Etwas langsamer“, riet Koroel ihm. „Sonst wirst du das Wasser nicht stoppen können und die komplette Wiese überschwemmen.“

Jadoch nahm etwas von dem Druck, mit dem er die Flüssigkeit nach oben drückte, und der Pegel stieg nun nicht mehr so schnell.

„Das reicht“, entschied Koroel.

Nun kam der schwerste Teil. So weit wie jetzt war Jadoch schon das letzte Mal gekommen, doch dann war das Wasser wieder im Erdreich versickert. „Denk daran, die Erdschichten zu verschieben, sonst verschwindet das Wasser wieder“, erinnerte ihn sein Lehrer.

In allen Einzelheiten hatte Koroel ihm gezeigt, wie er die Erdschichten bewegen konnte. Jadoch bemühte sich redlich, alles umzusetzen, was er in der Theorie gelernt hatte und was ihm absolut logisch erschienen war. Er zog am Erdreich, versuchte, die Schichten so ineinander zu schieben, dass sie das Wasser hielten. Als er dachte, es wäre ihm geglückt, ließ er los, musste aber im nächsten Moment zusehen, wie der Wasserpegel augenblicklich sank.

„Das gibt es doch nicht!“, schimpfte Jadoch und senkte frustriert die Hände.

„Du musst weitermachen“, spornte Koroel ihn an. „Du weißt, wie es geht. Es liegt in dir! Du hast die Macht! Konzentriere dich!“

„Das funktoniert nie!“, beschwerte Jadoch sich, der bereits aufgegeben hatte.

„Es ist deine Wut, die dich blockiert“, warf Koroel ihm vor und streckte die Hände aus, um seinerseits den Wasserpegel konstant zu halten. „Deine Emotionen hindern dich daran, dein Potenzial zu entfalten.“

Auch das war ihm nicht neu. In jeder einzelnen Stunde erzählte Koroel ihm das, und Jadoch konnte es nicht mehr hören.

„Vielleicht bin ich doch nur ein Begnadeter“, schnaubte er enttäuscht.

„Du hast das Erdreich bewegt und damit etwas Neues erschaffen. Mit Sicherheit bist du kein Begnadeter“, wies ihn Koroel auf einen unumstößlichen Umstand hin.

Jadoch wünschte sich, ebenso überzeugt zu sein wie sein Lehrer. „Dann eben nur ein mittelmäßiger Magier.“

Es geschah selten, dass der unglaublich sanftmütige Koroel seine Stimme erhob. Doch nun mahnte er: „Du solltest dich glücklich schätzen. Du entstammst einer der mächtigsten Magierfamilien. Dein Erbe …“

„Sei still!“, brüllte Jadoch ungehalten. Er streckte die Arme aus und entriss seinem Lehrer regelrecht die Kontrolle über das Wasser.

Niemand würde ihren Namen aussprechen. Sie hatte ihn verstoßen, und er verabscheute sie. Jadoch hatte nicht darum gebeten, dieses Erbe zu besitzen.

Unkontrolliert schoss eine Wasserfontäne aus der Mulde, wuchs in die Höhe und durchnässte sowohl ihn als auch Koroel.

„Das Werk eines begabten Magiers“, kommentierte sein Lehrer mit unbewegter Miene.

Jadoch sah sich außer Stande, das Wasser zu kontrollieren. Die Wut tobte in seinem Inneren, der Drache brüllte. Entmutigt ließ er die Arme sinken. Er hatte abermals versagt. Die Fontäne fiel in sich zusammen, und das Wasser in der Mulde versickerte viel schneller, als Jadoch es hatte steigen lassen. Niedergeschlagen verspürte er keine Motivation mehr, die Erdschichten zu verschieben, um die Flüssigkeit zu halten. So verschwand es, und lediglich eine leere schlammige Erdmulde blieb zurück.

„Willst du es noch einmal versuchen?“, erkundigte sich Koroel.

Jadoch schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust mehr. Es war doch ohnehin aussichtslos. Nie würde er lernen, die Erdschichten so zu verschieben, dass das Wasser blieb.

„In Ordnung“, lenkte Koroel ein. „Morgen werden wir mit Theorie weitermachen.“

Erleichtert atmete Jadoch auf. Das technische Verständnis von Magie fiel ihm durchaus leicht, nur in der Praxis versagte er auf ganzer Linie und auch wenn er die Magie hasste, musste er doch lernen, damit umzugehen. Nie wieder durfte etwas so Gefährliches wie im Innenhof von Sodaar passieren. Es handelte sich um einen absoluten Glücksfall, dass niemand zu Schaden gekommen war. So etwas durfte er auf keinen Fall noch einmal riskieren. Egal wie, er musste mit dieser verdammten Magie klarkommen. Aber bisher versagte er auf ganzer Linie.

„Nächste Woche werden wir es noch einmal probieren“, entschied sein Lehrer.

Jadoch wusste, dass jedweder Protest sinnlos sein würde, daher nickte er nur.

„Ich denke aber“, setzte Koroel an und unterbrach sich, als ein Schatten über sie hinwegflog.

Zeitgleich hoben sie den Blick. Zuerst konnte Jadoch nichts erkennen, da er geblendet wurde. Doch dann zeigte sich ein weiterer Schatten, verdunkelte für einen kurzen Augenblick die hoch am Himmel stehende Sonne.

„Harpyien!“, rief er Koroel zu.

Entsetzt raffte der Hohe Magier sein Gewand und hastete den Weg nach Sodaar zurück.

Jadoch setzte sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Er rannte über die Wiese und stieß sich mit ausgebreiteten Armen kräftig ab. Augenblicklich begann die Verwandlung. Sein Körper streckte sich. Er spürte genau den Moment, als sich die Schwingen auf seinem Rücken ausbreiteten und er in die Luft gehoben wurde. Sein Kiefer wurde länger und länger, die Beine krümmten sich. Er öffnete das Maul, und der Drache stieß einen wütenden Schrei aus.

Zwei Drachen, ein schwarzblau schimmernder und ein dunkelblauer, befanden sich bereits in der Luft, um die Bewohner Sodaars vor den Angriffen der Harpyien zu beschützen. Jadoch schloss sich Barkley und Ajend an. In Abwesenheit des Königs hatte der dunkelblaue Drache als Anführer der Streitkräfte das Sagen, auch wenn Barkley der ältere und wesentlich erfahrenere von beiden sein mochte. Ajend wies Jadoch die linke Seite und Ealwen, der ebenfalls zu ihnen stieß, die rechte zu. Sie waren heute zu wenige, um in der gewöhnlichen Formation zu fliegen. Fondan befand sich auf einer Aufklärungsmission, um ihren seit langem verschwundenen Drachenbruder Kilgard zu finden. Ishuls Drache blieb weiterhin flugunfähig.

Ein Schwarm Harpyien kreiste über der Festung. Ihre Körper waren von dichten, glänzenden Federn bedeckt, und durch die verschiedenen Schattierungen von Grau, Schwarz und Dunkelgrün verschmolzen die Tiere zu einer Masse. Unvorhersehbar stürzte eines der geflügelten Biester zu Boden, um sich mit seinen kräftigen schuppenbedeckten Klauen einen Menschen zu schnappen. Die Bisse der Harpyien verliefen grundsätzlich tödlich, für Niedere, Begnadete, Magier und Drachen gleichermaßen. Selbst durch den dicken Schuppenpanzer konnten die scharfen Harpyienzähne dringen. Das Gift, das sie dabei absonderten, erledigte den Rest.

Drei Drachen flogen auf den Schwarm Harpyien zu, der aus mehr als zwei Dutzend Kreaturen bestand. Die Viecher rissen ihre Schnäbel auf und fauchten ihnen entgegen.

Auf Ajends Wink öffneten die Drachen ihre Mäuler und spien Feuer. Ein Flammenmeer fegte über Sodaar hinweg, weit über den Köpfen der Bewohner und damit ungefährlich für sie.

Die geflügelten Tiere stoben hastig auseinander, flogen in alle Himmelsrichtungen. Ganz so einfach ließen die Biester sich jedoch nicht vertreiben, und ehe Jadoch es sich versah, umringten ihn etliche Harpyien. Erneut spie er Rauch und Feuer, versengte dabei die Flügelspitzen zweier Tiere. Ihr Geschrei wurde noch durchdringender. Die verletzten Biester zogen sich zurück, die anderen ließen sich nicht so leicht abwimmeln. Immer wieder umkreisten sie die Drachen, griffen sie hinterhältig und heimtückisch an, ganz, wie es ihre Art war.

Jadoch drehte sich in der Luft und spie erneut Feuer. Er sah, wie Ajend mit dem Schwanz ausholte und damit eine Harpyie empfindlich traf. Das Tier fiel wie ein Stein zu Boden. Sie mit dem Schwanz anzugreifen, war effektiv, aber gleichermaßen auch gefährlich. Nur zu gern verbissen sich die Viecher in allem, was in ihre Nähe kam. Barkley wich einem hinterhältigen Angriff dreier Harpyien aus, die sich im Schatten des großen Turms versteckt hatten. In letzter Sekunde gelang es ihm, die Flugrichtung zu ändern, sodass ihre Schnäbel ins Leere bissen.

Sie waren einfach zu wenige Drachen.

Ein ohrenbetäubendes Gebrüll erfüllte die Umgebung, ließ die Luft vibrieren.

Ein schwarzer majestätischer Drache, größer als alle anderen, erhob sich über Sodaar. Zweifelsfrei handelte es sich dabei um ihren König Doron, Jadochs Vater.

In tierischer Gestalt vergaßen sie allen Zwist. Jetzt war er nur Jadochs König, dem er Treue geschworen hatte. Wohin auch immer Doron ihn schickte, er würde nicht zweifeln, sondern seinen Befehlen folgen.

Der schwarze Drache öffnete sein Maul, und eine gewaltige Feuersbrunst breitete sich aus. Ajend, dessen Schwanz den Flammen gefährlich nahekam, reagierte kaum. Die Schuppen schützten sie vor Verbrennungen, und so konnte das Feuer den Drachen nichts anhaben. Ganz im Gegensatz zu den Harpyien. Die Federn eines der Biester gerieten in Brand, und es flatterte kreischend davon, wobei es gefährlich torkelte.

Oh nein, er würde das Vieh nicht entkommen lassen. Mit kräftigen Flügelschlägen verfolgte Jadoch den Feind.

Dorons wütendes Brüllen, das ihn dazu veranlassen sollte, zur Festung zurückzukehren, ignorierte Jadoch. Diese Harpyie würde er erwischen, dann würde er zurückfliegen. Dafür nahm er sogar die unausweichliche Standpauke und eine mögliche Bestrafung in Kauf.

Das Vieh war überraschend schnell und ihm etwa eine Länge voraus. Doch Jadoch gab nicht auf. Er würde es einholen. Immer wieder stieß er eine Rauchwolke aus und hoffte, dem Tier damit die Sicht zu vernebeln. Geschickt ließ sich die Harpyie fallen, flog unter dem undurchsichtigen Dunst hinweg und stieg wieder höher in die Lüfte, sobald sich der Schleier verzogen hatte.

Die Harpyie mochte flink sein und ihm immer wieder entkommen, aber er verfügte über die größere Ausdauer. Wenn es nach ihm ginge, könnte er stundenlang fliegen und würde das Tier bis nach Aspain verfolgen.

Mit Genugtuung stellte er fest, dass das Biest langsamer wurde und er sich ihm zügig näherte.

Gleich war er in Reichweite. Sein Feuer würde ihr das Gefieder vollends versengen, und dann gab es kein Entkommen mehr!

Plötzlich verschwand die Harpyie. Verblüfft wurde Jadoch langsamer. Mit kräftigen Flügelstößen blieb er in der Luft stehen und sah sich suchend um. Tatsächlich flog er sogar ein paar Meter zurück. Das Tier konnte doch nicht einfach ins Nichts entglitten sein? Er blickte hinab zur Erde. Verwundert stellte er fest, dass sich unter ihm bereits der mächtige Taronwald, der Usha von Aspain trennte, erstreckte. Hatte er sich wirklich so weit von Sodaar entfernt? Dann richtete er seinen Blick in den Himmel. Dichte Wolken zogen über ihn hinweg. Auch dort könnte sich die Harpyie verstecken.

Zwischen dem Wald und der schweren Wolkendecke wusste er nicht, wo er zuerst suchen sollte. Entschlossen stieß er nach oben. Mit dem Kopf durchbrach er die Nebelschwaden und schlug weiter mit seinen kräftigen Flügeln. Immer höher stieg er auf, bis er sie schließlich sah.

Da hatte die Harpyie wohl gedacht, sich vor ihm verstecken zu können! Er lachte höhnisch über diese Dummheit, bis ihn etwas stutzen ließ: Das Tier vor ihm wies keine Verletzungen auf, ebenso keine versengte Schwanzspitze, nur ein makelloses Gefieder. Das konnte nicht die Harpyie sein, die er verfolgt hatte.

Bevor er es sich versah, umringten Jadoch zwei weitere Kreaturen. Die Biester hatten ihn in eine Falle gelockt. Verdammt!

Jadoch ärgerte sich maßlos über seine eigene Torheit, doch jetzt musste er handeln, sonst wäre dies sein letzter Flug. Blitzschnell wandte er sich um, als eines der Tiere ihn angriff. Doch da war schon die nächste Harpyie. Auch ihr wich er aus, indem er sich erneut um die eigene Achse drehte. Zu spät bemerkte er jedoch, dass der dritte Raubvogel auf seinen Schwanz abzielte. Hastig zog er ihn fort, und im nächsten Augenblick spürte er, wie sich die messerscharfe Schnabelspitze durch die schuppige Haut seines Beines bohrten und ein ungeheuerlicher Schmerz in ihm explodierte.

Jadoch riss das Maul auf und schrie! Wild und unkontrolliert schlug er um sich. Die Harpyien ließen von ihm ab und verschwanden.

Dieses unsägliche Brennen in seinem Bein benebelte seinen Verstand. Er musste zurück. Mit eisernem Willen flog er weiter und spürte doch gleichzeitig, wie er immer mehr die Kontrolle über seinen Körper verlor.

Abermals brüllte der Drache vor Schmerz, schrie um Hilfe. Doch niemand hörte seine Rufe. Seine Brüder waren zu weit entfernt, um ihre Anwesenheit zu spüren.

Zunehmend benebelte sich sein Verstand. Immer wieder versagten ihm die Flügel. Doch er fing sich jedes Mal und flog weiter. Jadochs ganzer Körper brannte und fühlte sich an, als würde er in Flammen stehen. Der Schmerz fraß sich weiter durch ihn hindurch. Er spürte das Gift, das durch seine Adern rauschte, sich in jeder Zelle des mächtigen Drachenleibs ausbreitete und ihm zunehmend der Kontrolle über seine Funktionen beraubte.

So sollte es nicht enden. Das fühlte sich einfach falsch an!

Jadoch war erschöpft. Irgendwann verlor alles an Bedeutung, und so verspürte er auch kein Bedauern, als die Schwärze ihn einhüllte. Nur noch am Rande registrierte er, dass er fiel. Müde schloss er die Augen und ließ sich immer weiter davontragen. So fand sein Leben ein Ende. Dankbar hieß er das Nichts willkommen.

Kapitel 2

 

Es war einer dieser unglaublich heißen Tage, und ausgerechnet heute musste Evanya Feldarbeit verrichten. Sie hielt einen Moment inne und richtete sich stöhnend auf. Ihre Glieder fühlten sich bereits ganz steif an, und durch das gebeugte Schuften schmerzte ihr Rücken unangenehm.

„Welch eine Hitze heute“, murmelte sie vor sich hin. Da sie häufig allein war, hatte sie sich angewöhnt, mit sich selbst zu sprechen.

Erschöpft strich sie sich eine feuchte Strähne aus dem Gesicht und tastete nach der Schlauchflasche an ihrem Gürtel. Etwas umständlich hielt sie die Flasche mit ihrer verkrüppelten Hand fest, um mit der anderen den Schraubverschluss zu lösen, und trank gierig. Das Wasser war inzwischen warm geworden, doch es löschte ihren Durst.

Evanyas Blick glitt über das karge Feld. Auf den Blättern des Silberwurz hatten sich Molchwürmer festgesaugt.

„Wenn ihr mir nicht die ganze Ernte vernichten würdet, hätte ich die vergangenen Stunden sicher nicht damit zugebracht, Würmer abzuklauben.“ Sie zuckte mit den Schultern und redete weiter mit sich selbst. „Aber ich kann es mir einfach nicht leisten, auf die Ernte zu verzichten. Ohne dieses Feld würde ich im nächsten Jahr verhungern.“ Es lag sowieso äußerst ungünstig am Fuß eines kleinen Hügels und würde nicht viel Ertrag bringen. Der Sand wehte schon jetzt heftig, und in der kommenden Dürreperiode würde es noch schlimmer werden.

„Und dennoch sollte ich froh darüber sein, dass die Dorfgemeinschaft mir dieses Feld zugewiesen hat. Ich sollte mich glücklich schätzen, trotz meiner Unzulänglichkeit Teil des Dorfes bleiben zu dürfen“, äffte sie die Worte der Dorfvorsteherin nach.

Evanya schraubte die Schlauchflasche zu und bückte sich erneut, um die Molchwürmer weiter aufzusammeln und in dem Lederbeutel zu verstauen, den sie mit sich trug. Es zauberte ihr ein kleines Lächeln auf die Lippen, wenn sie daran dachte, wie ihre Sandtrampler sich über das Festmahl freuen würden. Solche Leckerbissen gab es sonst für gewöhnlich nicht.

Auf einmal verdunkelte ein großer Schatten die Sonne. Verwundert hob Evanya den Kopf und versuchte herauszufinden, was die Ursache dafür sein könnte. Am Himmel zeichnete sich eine mächtige Kreatur ab. Ganz anders als die Harpyien, die gelegentlich über Zephyria hinwegflogen. Die Kreatur beeindruckte durch ihre gigantischen Ausmaße: weit aufgespannte Schwingen, ein langer, schuppiger Körper und ein mächtiger Schwanz. Die Schuppen, dunkel wie die Nacht, schimmerten rötlich im Licht. Ungläubig klappte Evanya die Kinnlade herunter.

„Ein Drache!“, rief sie staunend und blinzelte, nur um ganz sicher zu gehen, dass sie keinem Trugbild erlag. Doch das mächtige Tier verschwand nicht. „Das ist ein Drache! Ein lebendiger, echter Drache!“

Vor Jahrhunderten waren die mythischen Kreaturen zusammen mit den Göttinnen aus ihrer Welt verschwunden. Lediglich Legenden rankten sich um die majestätischen Tiere und so hatte Eyana nie in ihrem Leben damit gerechnet, eines dieser wunderbaren Wesen jemals zu sehen.

Entgeistert starrte sie das Tier an, das seltsamerweise am Himmel taumelte. Der Drache zog über sie hinfort und verschwand hinter der nächsten Hügelspitze. Augenblicklich brannte die Sonne wieder unbarmherzig auf sie nieder.

„Unglaublich.“Evanya schüttelte den Kopf. „Ich bin von den Göttinnen gesegnet, dass ich so etwas Wundervolles sehen durfte.“

Gerade wollte sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden, sah sich sicherheitshalber aber noch einmal um. Es wäre ja möglich, dass auch die Göttinnen zurückgekehrt waren.

Doch es war nichts Ungewöhnliches zu sehen. In dem Moment, als Evanya sich bücken und ihre Arbeit wieder aufnehmen wollte, bebte der Boden unter ihr.

Erschrocken riss sie die Augen auf und stieß einen kleinen Schrei aus. Aufgrund ihres verkürzten und verkrüppelten Fußes fiel es Evanya schwer, das Gleichgewicht zu halten, doch glücklicherweise stürzte sie nicht. Dann war die Erschütterung vorbei.

„Was mochte das gewesen sein?“, überlegte sie laut. Wie von selbst richtete sich ihr Blick auf den Hügel, hinter dem der Drache verschwunden war. Es hatte sich angefühlt, als wäre etwas sehr Schweres zu Boden gefallen.

„Er wird doch nicht …“, Erschrocken über ihre eigenen Gedanken schlug sie die gesunde Hand vor den Mund. „Nein!“

Die Umgebung um Zephyria zeigte sich karg und unwirtlich und bestand größtenteils aus Sand und Erde. Die Landschaft mochte bergig sein, doch außer Geröll fand man nichts auf den Hügeln. Nur wenige robuste Büsche und kleinere Bäume wuchsen während der Trockenzeit. Dennoch gab es eine geringe Anzahl an Tieren, die sich ebenso wie die Menschen mit dieser Einöde arrangiert hatten. Ein verletztes Tier – und mochte es auch so groß wie ein Drache sein – wäre ein gefundenes Fressen.

Evanya starrte den felsigen Hügel an. Es würde beschwerlich werden, ihn zu erklimmen.

„Ach, was soll’s“, sprach sie zu sich selbst. Zu neugierig, um sich wieder der Feldarbeit zuzuwenden, machte sie sich auf den anstrengenden Weg Richtung Hügelkuppe.

Mit ihrem Klumpfuß gestaltete sich dieses Unterfangen nicht so einfach, und Evanya musste unglaublich aufpassen, um nicht auf dem Geröll auszurutschen. Einige Male musste sie sich mit der gesunden Hand abstützen. Doch dann erreichte sie die Anhöhe. Von dort oben konnte sie die weite Steppe gut überblicken.

„Wie wundervoll“, seufzte Evanya glücklich. Das Land mochte rau und karg sein, doch es blieb ihr Zuhause. Selten genoss sie den Ausblick aus solch einer erhöhten Position.

Von einem Drachen dagegen fehlte jede Spur.

„Ein so großes Tier wäre mit Sicherheit zu sehen.“ Noch einen Moment kostete sie den Ausblick aus und wollte sich gerade abwenden, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Konzentriert kniff sie die Augen zusammen. Zwar nicht annähernd so groß wie ein Drache, aber dennoch bildete sich Evanya ein, dass in der Ferne etwas auf dem sandigen Boden lag.

Sie zögerte. Natürlich könnte sie losmarschieren und nach dem Rechten sehen. Aber das würde bedeuten, dass sie die Arbeit auf ihrem Feld heute nicht mehr beenden konnte. Unschlüssig stand sie da, versuchte, das Unbekannte etwas genauer zu erkennen, aber es befand sich einfach zu weit weg.

Allerdings hatte es nicht annähernd die Ausmaße eines Drachens. Würde es sich lohnen, den beschwerlichen Fußmarsch dorthin auf sich zu nehmen? Aber vielleicht war es etwas Wertvolles, überlegte die junge Frau.

Schließlich siegte ihre Neugier, und sie marschierte los. Auch wenn das hieß, dass sie mit dem Abzupfen des Ungeziefers heute nicht mehr fertig werden würde. Morgen wurde der Tag der Göttinnen gefeiert, was gleichzeitig einen Ruhetag bedeutete. Erst am darauffolgenden Tag würde sie wieder herkommen können, um ihre Arbeit fortzusetzen. Dabei konnte sie nur hoffen, dass die Molchwürmer nicht alles aufgefressen hatten.

Ihr Ziel fest im Blick ging Evanya in der sengenden Hitze über den staubigen Boden. Ihr Fuß schmerzte zunehmend, und einige Male musste sie stehen bleiben, um sich kurz auszuruhen. Sie setzte sich auf einen größeren Stein und nahm einen Schluck aus ihrer Schlauchflasche. Das Wasser neigte sich langsam dem Ende zu.

„Hätte ich geahnt, dass ich heute nicht nur auf dem Feld arbeiten, sondern auch noch einen längeren Fußmarsch unternehmen würde, hätte ich einen zweiten Schlauch eingepackt.“ Aber daran ließ sich jetzt nichts ändern.

Entschlossen erhob Evanya sich und ging weiter. Das seltsame Etwas stets im Blick haltend, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Je näher sie kam, umso besser konnte sie das unbekannte Ding erkennen.

„Ist das ein Mensch?“ Die junge Frau legte die Hand an die Stirn, um die Augen vor der Sonne zu schützen. Es erschien ihr etwas groß, aber konnte durchaus eine Person sein.

Ihre Schritte beschleunigten sich, und als sie näherkam, war sich Evanya ganz sicher, dass dort jemand am Boden lag. „Wie ist das möglich? Ein Mensch kann schließlich nicht fliegen, geschweige denn einfach vom Himmel fallen. Hatte vielleicht der Drache seine Beute verloren?“

In den Erzählungen zeigten sich die Drachen manchmal unbeherrscht, jedoch nie grausam, und in keiner der Geschichten hatten die Tiere je einen Menschen geraubt. Doch so sehr sie es auch drehte und wendete, das war die einzig logische Erklärung, die ihr einfiel. Das, was dort in einiger Entfernung lag, mochte eine ziemlich große Person sein mit ungewöhnlich kurzem Haupthaar, aber es handelte sich definitiv um einen Menschen.

„Hallo!“, rief Evanya schon von weitem. Nichts rührte sich. „Bist du verletzt? Kann ich dir helfen?“ Sie bekam keine Antwort.

Endlich erreichte sie die auf dem Bauch liegende Gestalt und kniete sich daneben.

„Es ist wirklich ein Mensch.“ Mitleidig berührte sie ihn vorsichtig an der Schulter. Reglos lag der Körper da. Evanya packte mit ihrer gesunden Hand kräftiger zu und versuchte, den Menschen wachzurütteln, doch dieser rührte sich nicht. Entschlossen zerrte sie an seiner Schulter und endlich gelang es ihr, ihn umzudrehen.

„Ein Mann!“, entfuhr es ihr. Verblüfft und fasziniert gleichermaßen starrte sie auf die reglos daliegende Person. Zweifelsfrei ein Vertreter des männlichen Geschlechts. Das Gesicht wirkte kantiger als das einer Frau, und auf seinem Kinn zeigten sich Bartstoppeln. Aber es gab auch gewisse Unterschiede zu Sintar, dem einzigen in Zephyria lebenden Mann.

Der Fremde vor ihr war wesentlich größer. Seine Haare waren seltsam kurz geschnitten, und er trug äußerst befremdliche Kleidung. Noch nie hatte sie Schuhe gesehen, die bis zu den Knien reichten. Und was mochte das für ein absonderliches Material sein? Sintar kleidete sich in farbenprächtige lange Gewänder, bestickt mit Goldfäden. Aber die Garderobe dieses Mannes war schlicht und bedeckte nur die Hälfte seines Körpers. Die andere Hälfte steckte in Beinkleidern aus einem glatten Stoff.

Neugierig strich Evanya am Oberschenkel des Fremden entlang. Der Stoff erinnerte an die Haut eines Reptils und wirkte robust. Auf keinen Fall schien es gewebt zu sein wie die Kleider, die sie am Leib trug.

Sie konnte nicht anders, als anzuerkennen, dass dieser Mann ein durchaus ansehnliches Exemplar seiner Gattung darstellte. Jedenfalls war er nicht so wie die Halbwüchsigen, die in regelmäßigen Abständen von den Flügelschwestern aus den Dörfern abgeholt wurden, um ihren Dienst im Tempel der Göttinnen anzutreten, sondern älter und irgendwie männlicher.

Vorsichtig tastete sie mit ihren Fingern an seinem Hals entlang, wie es ihr Thessalia, die Flügelschwester, die in wiederkehrenden Abständen ihr Dorf besuchte, gezeigt hatte. Sie brauchte einige Augenblicke, bevor sie sich sicher war, ein regelmäßiges Schlagen unter ihren Fingerkuppen zu spüren. Erleichtert zog sie ihre Hand fort und starrte auf den leblosen Körper.

„Wo um alles in der Welt kommst du in dieser Einöde her? Stammst du aus einem anderen Dorf?“ Selbstverständlich blieben ihre Fragen unbeantwortet.

Plötzlich zuckte der vor ihr liegende Körper, und Evanya erschrak so fürchterlich, dass sie einen Satz nach hinten machte. Aus sicherer Entfernung starrte sie den Fremden an, der nun wieder reglos dalag.

„Bist du wach?“, rief sie vorsichtig. „Ich bin Evanya“, stellte sie sich vor, auch wenn sie nicht glaubte, dass der Unbekannte sie hörte.

Hilfesuchend sah sie sich um, doch sie befand sich vollkommen allein mit dem Fremden in der Wüste. Sofern sie sich nicht um ihn kümmerte, drohte ihm der Tod. Sobald es Nacht wurde, strichen wilde Tiere durch die Gegend, die in einem reglosen Menschen ein vielversprechendes Mahl sehen würden.

Langsam und vorsichtig näherte Evanya sich wieder, stieß erst seinen Arm an und wartete ab. Doch diesmal blieb er bewegungslos liegen. Mutiger geworden beugte die junge Frau sich über die Gestalt und tastete ihre Arme ab. Der Körper erschien ihr ungewöhnlich fest.

Evanyas Heilkenntnisse waren begrenzt. Sie hatte ihr Wissen lediglich aus den zwei Schriften, die ihr Thessalia mitgebracht hatte, nachdem ihre Bitte, im Orden der Flügelschwestern aufgenommen zu werden, abgelehnt worden war.

„Morana, Göttin der Heilung“, betete sie leise, da ihr nichts Besseres einfiel. „Bewahrerin der Gesundheit. Sei bei diesem Mann, damit er dein ergebener Diener sein kann. Stehe mir bei, leite meinen Geist, damit ich diesem armen Geschöpf helfen kann.“

Ein Stöhnen kam aus dem Mund des Bewusstlosen, und Evanya schwankte zwischen Entsetzen und Erleichterung, denn es bewies, dass der Fremde noch lebte.

Auf jeden Fall konnte sie ihn hier nicht liegen lassen. Er würde elendig zu Grunde gehen, und das konnte sie nicht verantworten. Die Ausmaße des Mannes waren aber so enorm, dass sie ihn nie im Leben forttragen konnte. Selbst wenn sie zwei gesunde Hände und Füße besäße.

Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, nach Zephyria zurückzulaufen und Hilfe zu holen. Doch da es sich um einen Mann handelte, würden sie ihm nicht helfen. Es durfte immer nur einen Mann geben, und Sintar galt als einzig legitimer Mann in Zephyria.

Den Verletzten einfach seinem Schicksal überlassen konnte sie jedoch auch nicht, schließlich hatte sie ihn gefunden. Ein Besitzanspruch, wie sie es noch nie zuvor gespürt hatte, bemächtigte sich ihrer. Aufgrund ihrer Beeinträchtigung durfte sie keine Zeit mit Sintar verbringen, aber von diesem Mann wusste niemand. Natürlich erkannte sie, wie töricht ihre Gedanken waren, denn der Fremde würde nie ihr gehören, und dennoch wollte sie ihm zumindest helfen.

Plötzlich kam ihr eine Idee. „Ich werde den Zugsegler holen“, sagte sie zu dem Verletzen. Sie hatte nicht gewusst, wie viele Beutel Molchwürmer sie einsammeln würde und da sie nicht alle tragen konnte, hatte sie den Zugsegler zusammengerollt und mitgenommen. Er lag bei ihren Habseligkeiten am Rande des Feldes.

„Irgendwie wird es mir gelingen, dich auf die Trage zu hieven und nach Hause zu ziehen. Ich muss etwas holen, um dich von hier fortzubekommen“, erklärte sie, ohne zu wissen, ob der Mann sie hörte. „Ich verspreche dir, ich komme zurück.“

Entschlossen erhob Evanya sich. Es missfiel ihr, ihn allein zu lassen, doch ihr würde nichts anderes übrigbleiben, wenn sie ihm helfen wollte. Je schneller sie jetzt losging, umso schneller wäre sie wieder bei ihm.

Evanya marschierte los. Zurück über den Hügel und hinunter ins Tal. Ihr Bein schmerzte und gab immer wieder nach. Einige Male wäre sie beinahe gestürzt. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich abzufangen. Doch trotz all der Anstrengung weigerte sie sich aufzugeben.

Endlich erreichte sie das Feld. Nur zu gern hätte sie sich auf den Boden gesetzt, eine Pause gemacht und etwas getrunken. Aber sie hatte kaum noch Wasser und wollte sich dieses aufheben. Zusätzlich drängte die Zeit. Der Weg nach Hause war weit.

Hastig sammelte sie ihre Sachen zusammen und griff nach dem Zugsegler, einem langen, robusten Stück Stoff, das, flach auf den Boden gelegt, schwere Dinge transportieren konnte. Auf einer Seite war ein Stock mit einem Seil eingearbeitet. Dies legte sie sich um den Oberkörper, um den Segler zu ziehen. Durch die besondere Beschaffenheit des Stoffes glitt der Zugsegler mühelos über den sandig-steinigen Untergrund, wodurch sich Lasten relativ einfach über den Wüstenboden ziehen ließen. So machte Evanya sich auf den Weg zurück zu dem Verletzten.

Das Laufen fiel ihr immer schwerer, doch sie ignorierte das unangenehme Pochen. Sie biss die Zähne zusammen und erklomm die Anhöhe. In der Ferne konnte sie schon die bewusstlose Gestalt sehen. Der Mann war also weder aufgewacht noch fortgebracht worden.

„Warum erleichtert mich das?“, fragte sie sich selbst.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihn endlich erreichte. Aus der Puste ließ sie sich neben ihm nieder.

„Ich bin wieder da“, verkündete sie.

Ihre Zunge klebte am Gaumen, und jetzt würde sie etwas Wasser trinken müssen, denn sie brauchte ihre Kräfte. Das Schwerste stand ihr noch bevor.