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^In Venedig ereilt die Corsarin ein Hilferuf von George Washington. Er versuchte, die Stämme der Sioux zu überzeugen, sich auf die Seite der Freiheitskämpfer zu stellen. Doch nun ist er von englischen Truppen – unter Hilfe von Preußischen Hilfsheeren – eingeschlossen. Es gelang, einen Kurier aus St. Louis herauszuschmuggeln. Unter beschwerlichem Weg erreicht er die Hudson Bay. Nur die Corsarin hat durch ihre Verwegenheit die Chance, dort den Mann aufzunehmen und nach Neu Orlean zu bringen. Doch sie muss sich eilen, denn die Bay friert zu. Sie kommt gerade noch rechtzeitig. Aber auf dem Weg nach Neu Orlean gerät sie durch Verrat in eine Falle. Eine wilde, haarsträubende Flucht durch die Bahamagruppe entwickelt sich, auf welcher der Abgesandte Washingtons bald zeigt, was in ihm steckt. Die Vaubernier konnte unterdessen König Louis XV. überreden, das Kopfgeld auf die Corsarin zu verdoppeln. Aber weshalb rettete sie ihr erst das Leben, um ihr dann wieder an den Kragen zu gehen? Estrella erfährt, dass es um viel mehr als nur um Frankreich und seine Krone geht.
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Seitenzahl: 288
DIE CORSARIN
Band 3
DER DEGEN
DER FREIHEIT
von
Inhalt
IMPRESSUM
Zuletzt erschienen:
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DIE CORSARIN
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Die Corsarin ist auch
Band 1: Estrellas Rache
Band 2: Die Depesche des Königs
Band 3: Der Degen der Freiheit
In Vorbereitung:
Band 4: Die schwarze Dschunke
Band 5: Die Spiegel von Versailles
Band 6: Das Siegel der Zarin
Band 7:
Haare und Takelage knisterten förmlich.
Die Luft war geschwängert vom metallischen Geruch eines nahenden Unwetters. Die See rollte bereits mächtig und die ersten Wogen schossen mittschiffs über das Deck der SILVER STAR.
Sie schwankte bedenklich dem schwarzen Nichts entgegen, in das sich das Meer drohend zu verwandeln schien.
Estrella Avilla de Aragon stemmte sich mit ganzer Kraft gegen die katapultartigen Neigungen des Schiffes. Kalte Gischt stach wie tausend Nadeln auf ihrer Haut, als sie sich mühsam den Weg zum Steuer erkämpfte.
»Segel einholen«, schrie sie ihrem Ersten Offizier entgegen.
»Mister Bush, haben Sie Ihre Leute nicht im Griff?!«
Ihre Worte verdampften im Gewimmer der Takelage. Die nackten Zehen in die Planken grabend kämpfte sie sich weiter vor. Ihre Augen weiteten sich, als urplötzlich eine gewaltige, brodelnde Welle ihr Blickfeld ausfüllte.
»Mr. Bush! Hart vier Strich Backbord! Sonst holt uns der Satan! Hauptsegel einholen!« Der Sturm riss ihr die Worte vom Mund.
Innerhalb weniger Minuten hatte sich der Orkan entwickelt. Es gab kaum Zeit für Gegenmaßnahmen. Dichte Schaumkronen bevölkerten das Wasser. Die See schien die Luft anzuhalten. 40, 50 Fuß hohe Wellen brachen sich, um sich kurz darauf zu einer gewaltigen Wassermasse zu vereinen. Einen Augenlidschlag lang schwebte die SILVER STAR in der Luft, nur um gleich darauf in ein metertiefes Tal katapultiert zu werden. Tonnen von Wasser überspannten das Deck, als die Fregatte hart mit dem Bug auf die Wasseroberfläche schlug.
Eine Lawine von Werkzeugen und Gerätschaften wurde aus ihrer Befestigung an Deck gerissen und schlitterte ungebremst über die Holzplanken. Mit an Ironie grenzender Präzision traf das schwere Gerät einen der Matrosen, die Estrella vor Kurzem angeheuert hatte. Der Blick des Mannes wechselte von Schrecken über Entsetzen bis hin zur Erkenntnis des nahenden Todes, als er durch die Wucht des Aufpralles über Bord gespült wurde. Fast sofort war sein Körper in den Fluten verschwunden.
»Lady-Captain!« Der Ruf riss sie aus ihrer Erstarrung. Die Corsarin drehte sich um – und erstarrte. Eine Welle, die mit jeder Meile gewaltiger wurde, bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu. Das Meer schien zu brodeln. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Schreie der Mannschaft, die versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Sicherheit – was für ein Witz. Hinter sich hörte sie verzerrt das hysterische Heulen eines jungen Burschen, der sich panisch zu einem Fötus zusammengekauert hatte. Wut stieg in ihr hoch. Grob zerrte sie an seinem Arm und brüllte ihn an.
»Scheiß dir nicht in die Hosen, Mann! Sieh zu, dass du unter Deck kommst! Binde dich fest – und bete.« Damit schubste sie den Jungen in Richtung Niedergang. Ruckartig drehte sie sich um. Die Teufelswelle hatte sie fast erreicht. Leben erwachte in ihr und sie kämpfte sich durch den Gegenwind zur Takelage vor. Sie war nicht schnell genug. Mit voller Wucht trafen die Wassermassen das Schiff und begruben die Corsarin unter sich. Sie überschlug sich mehrmals und spürte, wie sie unaufhaltsam auf den Fockmast zugezerrt wurde. Salzwasser drang in ihre Lungen, als sie reflexartig den Mund zum Schrei öffnete. Der Schmerz des Aufpralls raubte ihr den Atem. Panisch versuchte die Corsarin, ihre Arme um den Mast zu schlingen. Ihre Gliedmaßen schienen schier aus den Gelenken gerissen zu werden. Ihr Aufschrei wurde von dem Getöse des Windes fortgetragen. Helen de Vere hatte sich an der Backbord-Reling festgebunden und verfolgte entsetzt den Kampf ihrer Schwester.
»Estrella!«, schrie sie und machte sich daran, die Taue von ihrer Taille zu lösen. Die Blicke der Schwestern trafen sich.
»Neeiiin!«, schrie Estrella panisch, doch Helen erkämpfte sich bereits den Weg zu ihr. Der Corsarin blieb das Herz fast stehen. Der nächste Brecher musste Helen unweigerlich über Bord spülen. Die Schwester strauchelte, als die SILVER STAR von einer zwölf Meter hohen Woge erfasst wurde. Hart schlug Helen auf den Planken auf. Auf allen vieren kroch sie weiter. Die sprühende Gischt nahm ihr fast komplett die Sicht. Das eiskalte Wasser betäubte ihre Haut. Nicht aufgeben!, schoss es ihr durch den Kopf. Dann hatte sie den Fockmast erreicht und zog sich an Estrella hoch.
»Nimm das Seil, ich binde dich fest«, brüllte sie ihrer Schwester ins Ohr. Schon hatte sie ein Ende des dicken Taus um ihre Taille gewunden und zurrte das Seil fest.
Das Schiff krängte{i} mächtig über, die Spitzen der Rahen neigten sich gefährlich dem Wasser zu, nur um kurz darauf schlagartig in die entgegengesetzte Richtung geschleudert zu werden.
Oh, Gott, steh uns bei, fuhr es der Corsarin durch den Kopf. Ihr Körper schrie beinahe nach der erlösenden Schwärze, die Estrellas Sinne immer mehr in Besitz nahm. Entschlossen kämpfte sie den Schwindel nieder, der ihren Kopf in Nebel hüllte.
Währenddessen arbeitete sich Helen auf das Steuer zu, wo Sam Bush, fest vertäut versuchte, gemeinsam mit dem Steuermann, dem Sturm zu trotzen. Zu dritt stemmten sie sich in das mächtige Steuerrad.
»Sam! Wir müssen die Nase in den Wind drehen! Sonst saufen wir ab!«
»Achtern schlagen!«, brüllte Bush gegen den Wind. »Wir müssen versuchen, synchron zu den Wellen zu laufen!«
Mit vor Anstrengung verzerrten Zügen versuchten sie, das Steuer zu drehen. Millimeterweise bewegte sich das Rund nach Achtern. Helens Fingerknöchel traten weiß hervor. Ein taubes Gefühl schlich sich in ihre Knochen. Ihre Arme hielten der Belastung kaum noch Stand, Schmerz raste aus ihren Händen in die Unterarme und zog immer stärker an, sodass der Gedanke, einfach loszulassen, übermächtig in ihr wurde.
»Wir … schaffen es … nicht«, stieß sie hervor.
»Wir müssen!«, schrie Sam. Doch auch er spürte, dass seine Kräfte nachließen.
Estrella blinzelte, um das Salzwasser aus ihren Augen zu vertreiben. Durch den Schleier aus Gischt und Schaum nahm sie den Kampf wahr, den Sam, Helen und Maurice am Steuer fochten. Entschlossen löste sie die Fesseln von ihrer Mitte und warf das Tau achtlos zu Boden. Sie mobilisierte all ihre Kräfte, die mit schierer Verzweiflung Hand in Hand zu gehen schien, und stemmte sich gegen den Wind, der das krängende Schiff in seinen Fängen hielt. Keuchend erreichte sie das Ruderdeck und postierte sich neben ihrer Schwester.
»Bist du verrückt?«, schrie Helen sie an.
»Das Schiff ist mein Leben! Wenn es sein muss, gehe ich mit ihm unter. Und glaub mir – heute ist nicht der Tag zum Sterben!«
*
»Das ist ja gerade noch mal gut gegangen«, murmelte Helen, während sie mit Sam Bush die letzten Vorratsfässer in die Senkrechte stemmte. Vier Glasen hatte das Unwetter in der Labrador See gewütet.
Sie lehnte sich an den durchnässten Rand des Holzfasses.
Mit leerem Blick meinte sie: »Weißt du, Sam, als wir uns ins Steuerrad gekrallt haben, konnte ich nur noch daran denken, dass wir hier mitten auf dem Ozean sind. Und dass, wenn wir es nicht schaffen, unser letztes Stündlein geschlagen hat. Aber das Seltsamste ist«, sie schluckte, »als diese Riesenwelle auf uns zu kam, war die Angst wie weggewischt. Ich hatte die Wahl – mit dem Leben abzuschließen und es einfach geschehen lassen …«
»Oder weiter kämpfen und versuchen, zu überleben«, meinte Sam.
Helen nickte.
Sam fuhr fort: »Zu kämpfen lohnt sich immer. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn es sein muss, würde ich dem Teufel meine Seele verkaufen, um unser Ziel zu erreichen.«
»Wenn man den Engländern Glauben schenken soll, haben wir doch bereits einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.« Estrella hatte sich unmerklich genähert. Ihr Blick schweifte über die kläglichen Überreste an Deck, die dem Sturm nicht zum Opfer gefallen waren.
»Wir werden neuen Proviant aufnehmen müssen«, gab sie unwillig zu. »Der Sturm hat uns ziemlich weit nach Süden getrieben. Aber wir haben einen Zeitplan einzuhalten. Washingtons Kurier muss an Bord, bevor der Winter voll einbricht. Wir können sonst nicht mehr in die Bay einlaufen, wegen des Packeises.«
»Tja. Tatsachen lassen sich nicht ändern. Können nur hoffen, auf einer der kleinen vorgelagerten Inseln Frischwasser zu finden.«
Abschätzend musterte die Corsarin die Fässer. »Das reicht vielleicht noch vier, fünf Tage.«
»Nicht weit von hier verläuft die Handelsroute der Nordpassage der Holländer«, kam es nachdenklich von Helen. »Denke, wir könnten einem Pfeffersack etwas abnehmen.«
Bush grinste. »Wäre mal wieder ein Spaß, Mädel.«
»Leider bringt das unseren Plan völlig durcheinander«, warf Helen ein.
Ihr Blick wanderte über Deck, wo die Hälfte der Mannschaft damit beschäftigt war, das Chaos zu beseitigen, das der Sturm angerichtet hatte. »Einige Reparaturen werden sich auch nicht vermeiden lassen. Die meisten Brassen sind unbrauchbar und die Backbordreling hat auch einiges abbekommen.«
»Das können wir auch auf See in Schuss bringen«, befand Estrella. Der Verband aus Leinen, den Helen aus einem der Kleider aus der Seemannskiste in der Kapitänskajüte gerissen hatte, war beinahe so weiß wie das Gesicht der Corsarin.
»Du musst erst einmal deine Gehirnerschütterung kurieren.«
»Ich liege doch nicht im Sterben!«, herrschte Estrella sie an und verzog den Mund, als der stechende Schmerz in ihrem Kopf wieder einsetzte. »Wie wär’s mal mit arbeiten!«, brüllte sie zwei junge Spunde an, die sie erst kürzlich in die Mannschaft aufgenommen hatte.
»Ich werde dich nicht von Deck kratzen, wenn du schlappmachst, meine Gute«, bemerkte Helen und stiefelte davon.
»Pfft«, machte Estrella und verschwand wieder unter Deck. Nie und nimmer hätte sie zugegeben, dass Helen nicht ganz unrecht hatte, was ihren Zustand anging. Kurzerhand schnappte sie sich die Flasche Rum von dem schmalen Regal über dem großen Kartentisch und entkorkte sie mit den Zähnen. Sie nahm einen tiefen Zug und spürte, wie nach und nach die Schmerzen in ihrem Kopf betäubt wurden.
»Ein paar Minütchen können ja nicht schaden«, räumte sie sich selbst ein und ließ sich auf die raue Decke ihrer Koje fallen.
Die Morgendämmerung lag auf der See. Graue Leere stieg aus einer größeren Schwärze auf, als es »Schiff voraus« vom Krähennest tönte.
Sofort war Estrella hellwach. Helen, die an der Tür lehnte, beobachtete ihre Schwester mit scharfem Blick.
»Ich brauche kein Kindermädchen«, stieß Estrella hervor, noch bevor Helen einen Ton sagen konnte, und schoss an ihr vorbei an Deck.
Als Helen die milde Morgenluft einatmete, kletterte ihre Schwester bereits behände die Wanten hinauf.
Oben angekommen erspähte die Corsarin den Schoner, der sich fahl am Horizont wie ein Geisterschiff nach Süd bewegte.
»Dachte ich’s doch«, murmelte sie. »Ein fetter Holländer«, brüllte sie Sam Bush entgegen, der mit Helen an der Steuerbordreling lehnte. »Die packen wir uns!«
Helen nickte. »Dänische Handelsflagge hissen und hart Steuerbord!«
Sofort wurde der Befehl ausgeführt. Das scharfe Wendemanöver ließ die SILVER STAR überschwenken, sodass einige unachtsame Matrosen über das Deck schlidderten.
»Was machst du da«, brüllte Estrella. Sie sah, dass die SILVER STAR statt auf den Händler zu – sich von ihm fortbewegte.
Wütend schwang sie sich die Wanten hinunter und stürmte auf Helen zu. Feuer glomm in ihren Augen, als sie ihre Schwester am Kragen packte. »Wieso schwenkst du ab?! Ich sagte, die packen wir uns!«, stieß sie jedes Wort einzeln betont hervor.
»Das werden wir«, kam es gelassen von Helen. »Es ist zwar ein holländischer Händler. Aber der Aufbau des Schoners ist venezianisch verändert.«
Estrella funkelte die Schwester eigenartig an. »Woher willst du das wissen?«
»Habe den Typ in Montpellier gesehen. Acht Kanonen.«
»Also Angriff von hinten?«, nahm Sam Bush an. Diese Finte erschien auch ihm sicherer. Die SILVER STAR war zu angeschlagen, um frontal anzugreifen.
»Ganz genau, Mister Bush. Die werden es bereuen, heute Morgen aufgestanden zu sein.«
Bush grinste. Er kannte Helens Vorliebe für waghalsige Manöver schon zu Genüge. Außerdem hatte er gewaltige Achtung vor ihrem Wissen über Schiffstypen.{ii} Genüsslich kaute er auf seiner alten Tabakspfeife.
Das Mädel hat Schwimmflossen zwischen den Fingern, dachte er und stieß eine dicke blaue Rauchwolke aus der Nase.
Eine halbe Stunde später bellte Helen: »Drei Strich Backbord! Kanonen fertigmachen. Notfalls einen vor den Bug – knapp über dem Wasser! Avanti, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
Der Wind hatte aufgefrischt. Die Segel blähten sich und ein Ruck schien durch die SILVER STAR zu gehen.
»Sie scheinen uns noch nicht gesehen zu haben.« Estrella stand auf dem Kapitänsdeck und spähte dem Handelsschiff entgegen. »In einer Stunde haben wir sie.«
»Aye, Lady-Captain.« Sein Herz schlug höher vor Schadenfreude. »Was werden die Pfeffersäcke fluchen, wenn ihnen ihre wertvolle Ladung abgenommen wird!«
*
Tatsächlich schafften sie es, im Frühdunst unsichtbar zu bleiben. Die SILVER STAR hatte sich bis auf zwei Meilen dem Schoner genähert. Das Corsarenschiff hatte die Sonne im Rücken – und somit einen entscheidenden Vorteil.
»Wir werden wie ein Phantom über sie kommen«, scherzte Lucia, die sich zu ihren Schwestern auf das Kapitänsdeck gesellt hatte. »Die Sonne scheint ihnen direkt in die holländischen Visagen.«
»Kann uns ja nur zugutekommen«, erwiderte Estrella und bellte kurz darauf: »Zweites Focksegel setzen und Kurs halten!« Sie grinste teuflisch, als sie durch das Fernrohr spähte. Meile um Meile rückte der Schoner näher.
»Scheinen keinen Verdacht zu schöpfen«, bemerkte Helen, das Fernrohr einklappend. Mittlerweile konnten sie die Gestalten auf dem Schiff klar erkennen. »Halbe Leinwand! Nur Royalsegel!{iii}«
Die Finger der Corsarin umkrampften den Griff ihres Degens. Nur noch wenige Minuten, und sie hatten zu dem Händler aufgeschlossen. Der Kapitän stand an der Backbordreling und winkte dem vermeintlichen Kollegen zu.
Als Estrella schrie »Klar zum Entern!«, fiel ihm alles aus dem Gesicht. Hektisches Treiben setzte ein, als er versuchte, abzudrehen. Vergebens, denn gegen die Wendigkeit des Corsarenschiffes kam er nicht an.
»Jetzt!«, schrie die Corsarin. Das metallische Klacken der Enterhaken, die sich in die Reling und die Wanten des Handelsschiffes bohrten, vermischte sich mit dem Gebrüll der Corsaren. Noch bevor an Bord des Schoners irgendwelche Gegenmaßnahmen getroffen werden konnten, war alles vorüber. Estrella setzte dem Kapitän ihr Entermesser an die Kehle und knurrte: »Besser, du pfeifst deine Mannschaft zurück!« Der feiste Mann schluckte.
»Waffen runter!« Klirrend fielen Messer und Degen zu Boden.
»Geht doch«, stieß die Corsarin hervor und baute sich breitbeinig vor dem Kapitän auf.
»Ladung?«, fragte die Corsarin knapp.
»Stoffballen.« Estrella zog die Augenbraue hoch und starrte dem Kapitän ins Gesicht. Seine Augen begannen unter ihrem Blick zu flackern.
»Rum … und Waffen«, beendete er die Bestandsaufnahme.
»Für wen?« Der Kapitän wischte sich die feuchten Hände an seiner Jacke ab. Mit zusammengepressten Lippen wandte er den Blick ab.
»Ah, ja. Aber das Geld lockt, nicht wahr? Wen unterstützt ihr? Briten, Franzosen?«
»Ich …«, stotterte er.
»Na was? Soll ich dir erst Beine machen?!«, fauchte die Corsarin.
Der Dicke wurde bleich. »Es geht nach Island und wird dort von einem Briten übernommen.«
»Pech für ihn!«, knirschte Estrella. »Jetzt gehört alles uns.«
*
Nach einer Stunde war die Beute verstaut. Zufrieden blickte Estrella auf die hundertdreißig Musketen, die sie erbeutet hatten.
»Das stockt den Bestand bei den Freiheitskämpfern enorm auf.«
»Wir liefern sie auf dem Rückweg ab. Ich möchte so schnell es geht nach Grew.«
»Sicher. Washington hat in seiner Depesche höchste Eile geboten. Die Lage spitzt sich zu. Von dem Abkommen mit Le Langudoc hängt viel ab.«
Estrella nickte. »Mit einer solchen Vereinbarung ist schon viel gewonnen.«
Lucia blickte ihre Schwester versonnen an. »Ich staune noch immer über dein Verhandlungsgeschick, Estrella. Es war ein harter Kampf, bis du König Louis davon überzeugt hast, dass seine Unterstützung für die Freiheitskämpfer für ihn nur von Vorteil sein kann.«
Estrella schnaubte. »Das, meine liebe Lucia, war abzusehen. Locke mit Gold und Louis überlegt schon, wie er es am besten wieder ausgeben kann. So verschwenderisch, wie sein Lebensstil ist, kann er jeden Krümel Gold brauchen.«
»Sicher, damit hast du die Türen weit genug geöffnet, um sein Interesse zu wecken. Jetzt hat er Blut geleckt. Ich hoffe nur, dass die Verhandlungen mit Spanien fruchten.«
»Oh, das hoffe ich auch. Eine gemeinsame Nutzung der Kriegshäfen von Frankreich und Spanien würde den verdammten Briten ein echtes Problem bescheren.«
»Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Du weißt, wie unberechenbar Louis sein kann. Und wer weiß, ob er nicht seine Meinung über deine Gefangennahme ändert, wenn er sein Ziel erst mal erreicht hat …«
»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist, Schwesterchen. Vorerst können wir uns über die jüngste Entwicklung freuen. Damit, dass er mich zwischendurch jagt … denke an meine Flucht in die Ägäis.«
An Sam Bush gewandt fuhr sie fort: »Kanonen klar. Volle Breitseite unter der Wasserlinie.«
An der Steuerbordreling lehnend beobachtete Estrella, wie der Holländer gurgelnd versank.
Die Schreie der ertrinkenden Seeleute ebbten langsam ab. Angewidert schaute Lucia weg.
»Dinner für die Haie.« Das Schicksal der Männer schien die Corsarin völlig kalt zu lassen.
Ihre Schwester zeigte wieder einmal von einer Minute zur anderen ein völlig neues Gesicht. Noch immer hatte Lucia sich nicht daran gewöhnen können, dass ihre Schwester ihr Herz versteinern konnte, wenn es darum ging, Beute zu machen oder den Feind zu schädigen.
»War das nötig?«, fragte Lucia leise.
»Nötig oder nicht, immerhin haben wir verhindert, dass die Waffen ihr Ziel erreichen. Wir befinden uns im Krieg, falls du es noch nicht bemerkt hast.«
Lucia schüttelte unmerklich den Kopf. Sicher, die Worte ihrer Schwester ergaben Sinn, doch das Leben auf See und die Probleme, mit denen Estrella zu kämpfen hatte, waren ihr bis jetzt noch nicht richtig klar gewesen. In ihrer Stellung als Gouverneurin hatte sie zwar Einfluss auf die richtigen Leute und konnte die Freiheitskämpfer auf ihre Art unterstützen, doch das harte Leben auf See war nicht ihre Welt.
»Bei all den unschuldigen Toten – kannst du nachts eigentlich noch ruhig schlafen?«, flüsterte sie und ging leise davon.
Als Estrella zu einer scharfen Bemerkung ansetzte, war ihre Schwester bereits unter Deck verschwunden.
Lange stand die Corsarin unbewegt an der Reling. Ihre Finger strichen unruhig über das glatte Holz. Dass Lucia ihr – wenn auch nicht direkt – Herzlosigkeit und Skrupellosigkeit vorwarf, traf sie tief. Kämpften sie nicht auf derselben Seite? Verfolgten sie nicht beide das gleiche Ziel? Die Unabhängigkeit Amerikas, keine Fremdherrschaft in der Neuen Welt, keine Feinde, die die Siedler bekämpften?!
Seufzend strich sie sich eine tiefschwarze Haarsträhne aus der Stirn.
Helen beobachtete ihre Schwester, die noch immer regungslos an der Reling stand. Der Wind frischte auf und wehte Helen das blonde Haar ins Gesicht. Sie lehnte sich an das hölzerne, polierte Geländer.
»Was ist los?«, fragte sie leise. Estrella schwieg. Sacht drehte Helen das Gesicht der Schwester zu sich.
»Hast du nichts Besseres zu tun, als hier rumzustehen?«, fuhr sie Helen an.
»Na, du ja anscheinend auch nicht«, konterte Helen. Sie bereute ihre Worte, als sie die feuchten Augen ihrer Schwester erblickte.
»Estrella«, meinte sie sanft und drehte sacht das Kinn ihrer Schwester zu sich.
»Bin ich … ein schlechter Mensch?«, schluchzte Estrella. Helen legte ihre Hand sacht auf den Arm der Corsarin. »Nein. Das bist du nicht. Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen.«
»Lucia …«
»Ich habe sie gerade getroffen«, unterbrach Helen. »Sie macht sich nur Sorgen, Estrella. Sie ist das Leben auf See nicht gewohnt und hat nun ihre erste Erfahrung damit gemacht, was es heißt, zu überleben. Sicher, sie taktiert geschickt. Aber von ihrer Stellung aus ist es anders als bei dir, schließlich ist auf ihren Kopf kein kleines Vermögen ausgesetzt.«
Estrella lachte gequält. »Wahr gesprochen, Helen. Manchmal überlege ich, was Albany – unsere Mutter – wohl sagen würde, wenn sie mich sehen könnte.«
»Sie wäre sicher stolz auf dich«, flüsterte Helen und schloss ihre Schwester in die Arme.
*
Grew, zwei Tage später.
Die SILVER STAR arbeitete sich vorsichtig durch die bereits dünnen Eisschichten der Hudson Bay.
»Endlich«, bemerkte Estrella, die mit dem Fernrohr Ausschau nach dem verabredeten Liegeplatz suchte.
»Wir werden den Kurier per Beiboot aufnehmen müssen. Die Klippen sind zu gefährlich.«
»Kaum gefährlicher als unser Aufenthalt in Venedig. Wir können von Glück sagen, dass wir den Boten von Washington noch erwischt haben. Sonst wäre die Depesche in die falschen Hände geraten. Und das wäre ein harter Rückschlag gewesen.«
»Bei Einbruch der Dämmerung lassen wir das Boot zu Wasser« stimmte Helen ihr zu. Gemeinsam stiegen sie den Niedergang hinunter und betraten die Kapitänskajüte. Der verführerische Duft nach Gebratenem erfüllte die Luft.
»Hm«, machte Estrella. »Das riecht verdächtig nach Abendessen!«
Schmunzelnd steckte Sarah Correll den Kopf durch die Tür. »Einer muss ja dafür sorgen, dass ihr im Futter bleibt. Haltet ihr noch ein paar Minuten aus? Bin gleich fertig.«
Wenig später saßen die Schwestern gemeinsam mit Sarah um den großen, grob behauenen Holztisch, der die Mitte der Kajüte in Beschlag nahm.
»So langsam werde ich unruhig«, nahm Sarah das Gespräch auf. Die Anführerin der Untergrundbewegung Schwarze Möwe fuhr sich durch das dichte Haar. »Ich brauche wieder festen Boden unter den Füßen. Meine Männer warten auf Nachricht.«
»Die paar Stunden hältst du jetzt auch noch durch. Der Kurier erwartet uns in der Spelunke direkt am Hafen. Von dort kannst du dich unauffällig aus dem Staub machen.«
»Gott, ich hoffe, es ist ihm gelungen, unsere Leute in Neu Amsterdam vor dem Vorrücken der Briten zu warnen.«
»Washington würde keinen Kurier schicken, der noch grün hinter den Ohren ist. Was man sich von Jack Well erzählt macht mich zuversichtlich, dass er seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt hat.«
Sarah seufzte. »Washington hat ein hartes Stück Arbeit vor sich. Es gibt erschreckend viele Siedler, die weit genug vom Schuss leben und lieber ihr eigenes Süppchen kochen.«
»Jeder, der auf diesem Kontinent lebt, wird früher oder später die Waffen der Briten zu spüren kriegen. Oder sie werden von den Indianern, die für Feuerwasser oder falsche Versprechungen der Franzosen alles tun, überfallen und niedergemetzelt.«
»Dann können wir nur hoffen, dass Washingtons Aufruf auch bei den Ignoranten bald auf offene Ohren stößt.«
Die Schiffsglocke schlug an. Helen schob ihren Stuhl zurück und verließ die Kajüte. Gedämpft hörte Estrella ihre Stimme an Deck.
»Ist das Boot startklar?«
»Aye, Commodore. Wird gerade zu Wasser gelassen.«
Wie auf Kommando erhob sich nun auch Estrella, zog ihre Stiefel über und stieß Sarah in die Seite. »Na, dann los. Ich hoffe, wir erleben keine unangenehmen Überraschungen.«
Nacheinander seilten sie sich von der Bordwand ab und nahmen ihre Plätze im Beiboot ein. Der Ruderer legte sich in die Riemen.
Helen stieß ihre Schwester in die Seite. »Ich glaub es nicht. Wenn man vom Teufel spricht …«
Estrella zog die Augenbraue hoch.
»Links von uns. Die NOTRE DAME. Hoffen wir mal, dass der versoffene Ciraque auf dem Weg ins Land der Träume ist, wenn wir den Boten einsammeln.«
»Vielleicht ist er ja nicht von Bord gegangen«, meinte Estrella lahm.
»Na hör mal, Ciraques Ruf eilt ihm voraus. Der lässt keine Gelegenheit aus, wenn er rumhuren und saufen kann.«
Die Kaimauer rückte näher. Mit einem dumpfen Plopp sprang Hannings, der Ruderer, auf den schmalen Steg und schlang das Seil um den dicken Holzpflock.
»Warte hier. In einer Stunde müssten wir zurück sein. Ansonsten fahr zurück und gib Bush Bescheid. Er weiß, was zu tun ist.«
Ohne das Nicken des Mannes abzuwarten, sprang die Corsarin auf den Steg, gefolgt von Helen und Sarah.
Dick vermummte Gestalten bewegten sich auf den zugefrorenen Straßen, ohne nach links oder rechts zu schauen. Proviant wurde verladen, Waren verschiedener Länder wechselten den Besitzer.
Zielstrebig schritt Estrella voran. Vor einem Haus, das eher einer Bretterbude glich, machte sie halt.
»Verhaltet euch bloß unauffällig, im Sailors Heaven geht es meistens ziemlich heiß her«, nuschelte sie, als sie das Tuch fester um die dichten Haare schlang. Entschlossen stieß sie die Tür auf. Sofort wurden sie von dichtem Rauch eingehüllt. Durch den dichten Tabaknebel glichen die Gäste der Spelunke eher Schatten als Menschen aus Fleisch und Blut.
»Hölle!«, stieß Helen hervor und rieb sich die tränenden Augen. »Der Laden platzt ja aus allen Nähten.«
Mit den Ellenbogen bahnten sie sich durch die stinkende, angetrunkene Meute den Weg zum Tresen.
»Bier«, bellte die Corsarin und ergriff kurz darauf einen der Krüge vom Tresen. Dann bugsierte sie Helen in eine dunkle Ecke.
Sarah lehnte ein paar Schritte weiter an einem Pfeiler. Per Handzeichen bedeutete sie den Schwestern, zu ihr zu kommen.
»Ich habe einen Tisch ergattert«, rief sie und schob den schnarchenden Kerl kurzerhand vom Hocker.
»Sehr gut. Hier haben wir einen guten Überblick.« Sie rümpfte die Nase, als die Fahne des Mannes ihr entgegen wehte. Schwankend kam er auf die Beine und taumelte dem Ausgang entgegen.
»Wie willst du den Boten erkennen?«, murmelte Helen.
»Wird sich schon finden.«
Sarah rutschte tiefer in ihren Sitz. »Da vorne ist Carpenter von der Miliz. Wenn der mich erwischt, kann ich auch gleich freiwillig in den Kerker gehen.«
Als hätte Carpenter es gerochen, näherte er sich grinsend. Sarah drehte den Kopf Richtung Fenster und hielt ihre Handfläche vor ihr Profil, ganz so, als wäre sie höchst interessiert an den Vorkommnissen auf der Straße.
»Na, wen haben wir denn da?«, säuselte er. »Hat euch noch keiner gesagt, dass man sich besser nicht allein in einer solchen Umgebung aufhalten sollte – besonders, wenn man dem schwachen Geschlecht angehört?«
Estrella zog die Augenbraue hoch und legte die Hand an den Schaft ihres Degens. Sie setzte zu einer scharfen Antwort an, als Helen sich erhob.
»Jetzt brauchen wir uns ja keine Sorgen mehr zu machen, nicht wahr?« Vertraulich legte sie ihm die Hand auf den Arm. Carpenter, hochgewachsen, wie er war, wagte einen Blick in die Tiefen von Helens Ausschnitt. Die Rüschenbluse zeigte mehr, als dass sie verdeckte. Schäkernd schob sie sich, bei Carpenter eingehakt, zur Theke. »Ich bin schon ganz ausgedörrt«, zwitscherte sie.
Als Carpenter bestellte, rollte Helen mit den Augen und zwinkerte den Gefährtinnen zu.
»Ich verschwinde.« Sarah schob sich um den Tisch herum. »Danke für alles Estrella. Wir sehen uns sicher bald wieder.«
»Da wir uns nicht mehr gegenseitig für feindliche Spione halten, wird unser nächstes Zusammentreffen sicher unter einem besseren Stern stehen als beim letzten Mal.«{iv} Schmunzelnd drückte sie Sarah die Hand.
Sekunden später war die Anführerin der Schwarzen Möwe in der Menge untergetaucht.
»Gott schütze dich«, murmelte Estrella.
Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Unauffällig tasteten ihre Blicke umher und blieben schließlich an einem blonden Mann hängen, der an der Wand neben der Tür lehnte. Wie zufällig streifte er seinen Umhang zu Seite und ließ den Blick auf seinen Gürtel frei.
Estrella nickte kaum merklich und trank ihr Bier aus. Auf dem Weg zur Tür wurde sie von einem Mann angerempelt, der lallend das Glas hob. »Bald wird abgerechnet!«, brüllte er. »Die dreckigen Franzosen kriegen eine Lektion erteilt, die sich gewaschen hat.« Sein Kumpel grölte und schwenkte seinen Krug. Bier schwappte über den Rand und durchnässte Estrellas Bluse. Sie ballte die Fäuste. »T’schuldigung«, lallte der Hochgewachsene. Estrella wich zurück, als er ihr mit seiner großen Pranke über den Ausschnitt streichen wollte. Angewidert stieß sie die Hand fort.
»Was soll ’n das? Wollt doch nur höflich sein«, nuschelte er eingeschnappt.
»Nicht … anfassen …«, stieß Estrella hervor und zwängte sich an ihm vorbei.
»Hey, du biss ja ’n Weib!« Sein Blick wanderte über die derbe Wollhose, die ehemals weiße Bluse und den Degen, der an ihrem Gürtel befestigt war. Was er sah, gefiel ihm und er ließ jede Vorsicht flöten gehen.
Er packte sie an den Schultern und zog sie an sich. Unappetitlich verzogen sich seine Lippen zu einem Kussmund. Estrella fackelte nicht lange und versenkte ihre Faust in seiner Nase. Blut spritzte und der Mann schrie auf. »Blöde Hure«, stieß er hervor, warf seinen Krug fort und griff nach ihrem Umhang. Sie holte gerade erneut zum Schlag aus, als eine Hand sich schraubstockartig um ihren Ellenbogen schloss.
»Kein Ärger«, flüsterte eine Stimme an ihrem Ohr. Estrella erkannte den Blondschopf. Sie schnaubte und riss sich los. Der Betrunkene stand schwankend an einen Tisch gelehnt und hielt sich die blutende Nase. Estrellas Blick schien ihn regelrecht zu durchbohren. Sie machte einen schnellen Schritt nach vorn, woraufhin der Seemann zurückzuckte.
»Sei froh, dass ich heute gute Laune habe«, stieß sie hervor. Dann drehte sich sie schwungvoll um. Ihr Blick huschte zum Tresen, wo Helen bereits die Lage erfasst hatte und sich galant von Carpenter verabschiedete.
Die kalte Luft stach auf ihrer Haut, als Estrella tief durchatmete.
»Jack Well, nehme ich an?«
»Zu Ihren Diensten, Madame. Wer hätte gedacht, dass ich Ihr hitziges Gemüt gleich in den ersten Minuten erlebe.«
Helen schlüpfte durch die Tür. »Tja, Mister Well, daran müssen Sie sich wohl gewöhnen.« Sie gab ihm die Hand. »Helen de Vere.«
»Sehr erfreut, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Na, los. Sam scharrt bestimmt schon mit den Füßen, wenn wir nicht bald zurück sind«, warf Estrella ein und marschierte los.
*
Im Schutz der Nacht ruderten sie zurück.
Wieder an Bord wurde dem Boten George Washingtons sein Quartier zugewiesen. Sie hatten das offene Meer erreicht und die SILVER STAR bewegte sich leicht im Wind.
Die Corsarin hatte es sich mit Helen auf dem Kapitänsdeck bequem gemacht. Seicht klatschten die Wellen an den Bug, die Focksegel knatterten leise im kalten Nordwind. Genüsslich nippte sie an dem teuren Rotwein, den sie dem französischen Händler abgenommen hatte.
»Geschmack haben sie ja, die Franzosen«, seufzte sie und leckte sich einen blutroten Tropfen von den Lippen. »Dein Zug.« Helen rieb sich nachdenklich das Kinn. Minuten verstrichen, in denen keiner ein Wort sagte. Dann beugte sie sich vor und setzte ihren Läufer. »Schach matt.« Zufrieden lehnte sie sich in ihren Kissen zurück und zog die Decke fest um ihre Schultern.
»Langsam wird es zu kalt hier draußen.« Sie stand auf und schlenderte zur Steuerbordreling. Tief sog sie die kühle Luft ein.
»Ich werde später noch einmal nach Well sehen.«
»Na, hoffentlich hat er wenigstens das Abendessen bei sich behalten«, knurrte Estrella.
»Du kannst dich doch nicht beschweren, meine Liebe. Ich war doch diejenige, die die Sauerei jedes Mal aufgewischt hat, wenn er sich wieder einmal die Seele aus dem Leib gekotzt hat.«
»Lange guck ich mir das aber nicht mehr mit an. Wir waren nicht einmal vier Stunden auf See, da wurde unser Bote schon ganz grün im Gesicht.«
»Verpass ihm eine Rosskur. Hat bei mir doch auch Wunder gewirkt.«
»Vielleicht tue ich das auch«, meinte Estrella und rauschte an Helen vorbei den Niedergang hinunter.
Sie hatte die Stufen noch nicht ganz passiert, als es vom Krähennest »Schiff voraus« tönte. Sie machte kehrt und kraxelte die Wanten hoch. Die Corsarin nahm dem Späher das Fernrohr aus der Hand.
»Ist das zu glauben!« Ihre Lippen verengten sich zu einem Strich.
»Volle Leinwand«, rief sie und rutschte das glatte Holz hinab.
»Ein britischer Schoner«, stieß sie hervor. Obwohl es nun schon Jahre her war, kochte noch immer der Zorn in ihr, wenn sie eine britische Flagge nur von Weitem sah. Die Torturen, die ihr am Pranger widerfahren waren, verfolgten sie in ihren Träumen. Prickelnd machten sich die Narben auf ihrem Rücken bemerkbar. Peitschenstrieme, die ihr von einem britischen Soldaten beigebracht wurden. Sie stöhnte leise. Sam Bush legte ihr sacht die Hand auf den Arm.
»Es ist vorbei, Estrella.«
»Für mich wird es niemals vorbei sein, Sam. Mein Hass reicht noch für Hunderte der verfluchten Inglis. Mach die Kanonen klar. Den nehmen wir uns vor.«
Fast die ganze Stunde, die sie benötigten, um den Briten einzuholen, hielt die Corsarin das Fernrohr fest an ihre Augen gepresst. Sie hatten die Handelsflagge gehisst und die SILVER STAR glitt zielstrebig auf den Schoner zu.
»Ein Glück, dass die SILVER STAR II noch nicht so bekannt ist«, warf Helen ein. Die alte SILVER STAR war vor etlichen Monaten zusammengeschossen worden. Dank Lucia hatte die Corsarenmannschaft eine wendige Dreimastbarke mit zwölf Kanonen gekapert.
»Nutzen wir diesen Vorteil, solange es geht. Ich brenne darauf, diesen verfluchten Engländern zu zeigen, mit wem sie es zu tun haben.« Helen zog besorgt die Augenbrauen zusammen. Estrellas Verhalten grenzte beinahe an Fanatismus. Sie legte die Hand über die Brauen und spähte im Halbdunkel zu dem Schoner, der immer näher rückte. Man konnte die Mannschaft erkennen, die ameisengleich an Deck ihrer Arbeit nachging. Sie waren bis auf hundert Yards an das Handelsschiff herangekommen, als Leben in die Corsarin kam.
»Kanonen klar und rote Flagge hissen! Klar zum Entern!« Der Schoner war nun so nah, dass man seine Bugwellen hören konnte. Das »Feuer frei!«, das Sam Bush brüllte, war Musik in Estrellas Ohren.
Die Kanone traf das ihr bestimmte Ziel und Estrella zog ihren Degen.
»Ich werde euch vernichten«, zischte sie und schwang sich mit der Entermannschaft an Deck des Schiffes.
Bevor die Engländer realisiert hatten, dass ihr Schiff verloren war, saßen sie auch schon gefesselt an Deck. Estrella schritt langsam vor den wenigen Matrosen auf und ab.
»Ihr werdet uns ein hübsches Sümmchen auf dem Sklavenmarkt einbringen. Wenn ihr überleben wollt, haltet besser euer verlogenes Maul und tut, was ich sage.«
»Die LEGACY hat dich schon einmal gefangen, wir werden es auch ein zweites Mal schaffen, dich zur Strecke zu bringen, Corsarin«, stieß der Kapitän hervor.
Sie zog spöttisch den Mundwinkel nach unten und beugte sich nah zu dem pockennarbigen Gesicht des Mannes hinunter. »Große Töne für einen Mann in deiner Lage. Für dich denke ich mir etwas ganz Besonderes aus. Dir werden deine dummen Kommentare schon vergehen.« Hart trat sie ihm in die Seite.
»Estrella!« Helen kam auf die Corsarin zugeeilt. »Das musst du dir ansehen.« Sie zog die Schwester mit sich. Schon bevor sie das Zwischendeck erreichten, stach der beißende Geruch nach Krankheit, Blut und Erbrochenem in ihrer Nase.
»Mierda«, stieß sie hervor, als sie den dunklen, klammen Lagerraum betrat. Eine Handvoll ausgemergelter Menschen drängte sich in einer Ecke zusammen.
»Hier«, flüsterte Helen und zog Estrella mit sich. Sie deutete auf ein provisorisch errichtetes Lager. Eine junge Frau lag darauf, von zahlreichen Striemen überzogen, das Gesicht fast zur Unkenntlichkeit angeschwollen. Behutsam ließ Estrella sich nieder und strich der Frau das Haar aus der feuchten Stirn. Mit leerem Blick schaute die Frau sie aus den mit blaugrünen Blutergüssen umrandeten Augen an. Ihre Lippen zitterten.
»Sie glüht förmlich.« Ruckartig stand sie auf und schoss an Deck. »Mister Bush, Gefangene rüber und vier Leute zu mir. Dann den verdammten Kahn versenken!«