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Die Corsarin hat die Spur des chinesischen Piraten Chu-Li aufgenommen. Durch Zufall geriet ein Amulett in ihren Besitz, das einst ihrem Vater gehörte. Er hatte ihr immer gesagt: "Mit dem Inhalt stürzt du zwei Königreiche." Was das Amulett barg, wurde aber entfernt. War es Chu-Li? Was ist das Geheimnis? Estrella macht sich auf die Suche. Da erhält sie in einem Hafen von einem britischen Kauffahrer die Nachricht, dass San Luca von den Engländern erobert wurde und man ihre Schwester Lucia nach England in den Tower bringt. Die Corsarin startet nun eine wahnwitzige Rettungsaktion. Steckt auch hier wieder Madame Vaubernier hinter der Sache? Was führt sie überhaupt im Schilde?
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Seitenzahl: 272
DIE CORSARIN
Band 4
DIESCHWARZEDSCHUNKE
von
Inhalt
IMPRESSUM
Zuletzt erschienen:
Vorschau:
DIE CORSARIN
Herausgeber:
ROMANTRUHE-Buchversand.
Cover: Shutterstock.
Satz und Konvertierung:
DigitalART, Bergheim.
© 2019 Romantruhe.
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Die Personen und Begebenheiten der
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Internet: www.romantruhe.de
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Produced in Germany.
Die Corsarin ist auch
Band 1: Estrellas Rache
Band 2: Die Depesche des Königs
Band 3: Der Degen der Freiheit
Band 4: Die schwarze Dschunke
In Vorbereitung:
Band 5: Die Spiegel von Versailles
Band 6: Das Siegel der Zarin
Band 7:
»Kannst du mir mal sagen, was das soll?«
Helen hatte sich vor Sam Bush aufgebaut und deutete nach oben.
»Wir schippern jetzt seit zwei Wochen durch das Chinesische Meer und Tag für Tag hockt sie da oben!«
Der Erste Offizier der SILVER STAR zuckte nur hilflos mit den Schultern. »Frag Estrella selbst.« Damit wandte er sich um und stiefelte zum Bug.
Helen stampfte wütend mit dem Fuß auf die Planken. Dann schaute sie nach Backbord. Dort stand Agathe in den Wanten und blickte aufs Meer.
»Hat sich gemacht, das Mädel«, murmelte sie. »Sie kotzt wenigstens nicht mehr.«
Die Sonne senkte sich zum Horizont. Da rutschte die Corsarin vom Krähennest auf das Deck herab.
Helen hielt sie am Arm fest. »Ich möchte jetzt wissen, weshalb du uns in diese von Gott verdammte Gegend geführt hast und was du dauernd im Ausguck tust!«
Estrella blickte ihre Schwester nur kurz an, ehe sie knurrte: »Ich suche jemanden. Er hat etwas, was mir gehört.« Damit ließ sie ihren Commodore stehen und verschwand in der Kajüte.
Helen warf die Arme in die Luft und stieß zischend die Luft aus. Dann stakste sie auf das Kapitänsdeck hinauf. Ein frischer Wind blähte die Segel. Es knisterte leicht in Leinwänden und Abspannungen.
Helen lehnte sich an die Reling. Ihre Gedanken gingen zurück. Sie hatten Lucia in San Luca Bay abgesetzt, waren noch vier Tage geblieben und dann Richtung Hawaii geschippert. Kurz vor der Inselgruppe hatten sie einen indischen Kauffahrer aufgebracht. Die Beute zeigte sich gut. Kostbare Tuche – die man eintauschen konnte, dann Schmuck und etwas Munition. Estrella hatte in der Kapitänskajüte ein Ebenholz-Kästchen entdeckt.
Seit diesem Ereignis hütete sie dieses Behältnis wie einen kostbaren Schatz. Niemand durfte einen Blick hineinwerfen. Fragen wurden kurz und brüsk ausweichend beantwortet.
Estrella befahl einen Kurswechsel und war in keiner Weise bereit, über ihre Gründe eine Auskunft zu geben. Seit sie nun das Chinesische Meer erreicht hatten, saß sie tagtäglich oben im Krähennest. Jegliche Begegnung mit anderen Schiffen wurde untersagt. Die Mannschaft murrte bereits, denn zweimal war ihnen fette Beute entgangen.
Die Einzige, mit der die Corsarin ab und zu ein nettes Wort wechselte, war Agathe.
Helen verzog leicht das Gesicht. Dieses Weib war ihr nach wie vor suspekt. Mochte der Teufel wissen, weshalb Estrella sie an Bord belassen hatte.
»Schiff Steuerbord!«, ertönte der Ausruf vom Mast her.
Helens Kopf ruckte nach oben. Automatisch griff sie zu ihrem Fernrohr, das im Gürtel steckte. Da schoss die Corsarin aus der Kajüte – ohne Stiefel – und jagte die Wanten hoch. »Was für ein Schiff?«, schrie sie dabei.
»Chinesische Dschunke!«, kam die Antwort.
»Welche Farbe haben die Segel?«
»Rot!«
Helen sah, wie Estrella mitten in der Kletterpartie verhielt. Sie senkte den Kopf und rief: »Lass sie fahren.« Sie rutschte auf das Deck zurück.
»Jetzt reicht’s!«, zischte Helen und sprang die Stufen des Niedergangs herab und baute sich vor ihrer Schwester auf. »Wenn du mir nicht sofort sagst, was hier abgeht, entziehe ich dir das Kommando über die SILVER STAR!«
Der in der Nähe stehende Sam Bush versteifte sich sichtlich. Aus Estrellas Augen schien es zu glühen. Ihre Haare vollführten ein Eigenleben und stellten sich etwas vom Kopfe ab. Sie ballte die Fäuste.
»Du wagst es … du halbenglisches Flittchen …« Weiter kam sie nicht, denn Helens Haken beförderte sie mehrere Meter über das Deck. Krachend schlug sie mit den Rücken auf und blieb liegen. Ehe sie sich aufrappeln konnte, spürte sie Helens Degenspitze am Hals.
»Nenn mich nie … nie wieder so!«, kam es heiser.
Sie zog die Waffe weg, schob sie in den Gürtel und ging steifbeinig auf das Kapitänsdeck zurück.
Estrella blickte ihrer Schwester nach, als sei ihr ein Geist begegnet. Einer Marionette gleich rieb sie sich das anschwellende Kinn und versuchte, auf die Beine zu kommen. Sam reichte ihr die Hand, doch sie schlug diese brüsk weg. Wacklig kam sie in die Waagerechte und verschwand dann stumm in der Kajüte. Agathe hatte der Auseinandersetzung mit ängstlichem Gesicht zugesehen. Sie rannte zur Kajütentür. Doch kaum hatte sie diese auch nur einen Spalt geöffnet, flog ihr krachend eine Vase entgegen. Erschreckt sprang die Engländerin zurück.
Helen beugte sich über die Reling zum Mitteldeck und bemerkte süffisant: »Ich würde ihr aus dem Weg gehen, Sklavin. Madame Capitain ist nicht gut drauf.«
Sam Bush straffte sich. Er rückte den Degengürtel zurecht und ging festen Schrittes auf die Kajüte zu. Vor der Tür blieb er stehen und rief: »Ich komme rein, Estrella. Und wenn du mit etwas wirfst, verhaue ich dir deinen Arsch!«
Dann riss er die Tür weit auf und ging hinein. Krachend fiel sie hinter ihm ins Schloss.
Helen vernahm laute, erregte Stimmen. Hysterisch von Estrella – dann wieder den festen Bass von Sam.
Drinnen ging es hoch her. Einige Männer der Mannschaft näherten sich der Kajüte. Helen sprang über das Geländer des Niedergangs und schrie: »Verpisst euch! Das geht euch nichts an!
Einer der Männer blieb stur stehen. »Commodore, wir wollen endlich wieder Beute machen.«
Helen stemmte die Arme in die Seiten und funkelte den Mann an. »Ist das der Beginn einer Meuterei?«
Sie kannte den Mann als sonst sehr zuverlässig. Er hieß Joshua Careras und stellte so etwas wie eine Verbindungsperson zwischen Mannschaft und Corsarin dar.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Commodore, Ihr wisst, dass wir für Euch und den Lady-Captain durch die Hölle fahren würden. Aber bitte versteht auch die Mannschaft.«
Helen entspannte sich und nickte. »Ja, das tue ich. Das nächste Schiff, wenn es eben möglich ist, gehört euch.«
Careras nickte und ging zu seinen Leuten zurück. In diesem Moment kam Sam Bush mit wütendem Gesicht aus der Kajüte. Mit einem Tritt rückwärts schlug er die Tür zu. Dann lief er strammen Schrittes zum Bug.
Die Nacht brach herein. Tausende von Sternen reihten sich wie Perlen über das Firmament. Die SILVER STAR machte rasche Fahrt.
*
»Ich freue mich, Sie zu sehen, Monsieur!«
Lucia Avilla de Aragon schritt lächelnd auf den Abgesandten des französischen Königs zu.
In dem großen Ratssaal von San Luca knisterte ein anheimelndes Kaminfeuer. Ein Tisch zeigte sich festlich gedeckt.
Daniel de Verdun verneigte sich und küsste die Hand der Gouverneurin.
»Ich bin entzückt, eine so wundervolle Dame zu treffen.«
Lucia lachte glockenhell. »Sie sind ein Schmeichler, Monsieur. Bitte nehmen Sie Platz.« Sie deutete auf einen Stuhl an der Tafel.
De Verdun schaute die Gouverneurin an. »Sie erwarten noch einen Gast?«
»Ja, Señor Diego de Ferrer.«
Der Franzose zog die Augenbrauen hoch. »Aus Valparaiso?«
»Ganz recht. Ein alter Freund und uns sehr zugetan.«
De Verdun setzte sich. »Er ist auch frankreichfreundlich.«
»Richtig, deshalb bat ich ihn dazu.« Sie setzte sich ebenfalls. Ein Diener schenkte Wein ein.
»Auf Ihr wohl Monsieur und das Ihres Königs.«
»Voilà!«
Lucia hob ihr Glas. Nach einem kleinen Schluck bemerkte sie: »Wie ich hörte, befinden sich Schiffe Frankreichs auf dem Weg nach Cape Breton.«
Der Abgesandte nickte. »Das ist korrekt. Wir werden den Engländern den Nachschub abschneiden. Sie rücken auf die kleine Armee von Washington zu. Das könnte für ihn gefährlich werden. Durch die Blockierung des Nachschubs halten wir sie auf. Ein Bote ist zugleich zum General unterwegs.«
Lucia lächelte. »Das Wort General hört er nicht gern. Er sagt immer: ›Um General zu sein, bedarf es einer richtigen Armee.‹«
De Verdun zuckte leicht die Achseln. »Wenn er so weitermacht, kann es ihm gelingen, die einzelnen Siedlerverbände zu einer großen Armee zu vereinen.«
Da trat – im Gegensatz zu seiner sonstigen Art – der Butler, ohne zu klopfen, in den Ratssaal.
Die Gouverneurin schaute ihn mit gerunzelter Stirn fragend an. Der Mann beugte sich zu ihr herunter und flüsterte, sodass nur sie es verstehen konnte: »Die Engländer haben Ferrer abgefangen. Eine Fregatte kreuzt zehn Meilen vor San Luca.«
Lucia wurde bleich. »Dios mio!«, entfuhr es ihr.
*
Helen hatte die Wachen kontrolliert.
Nun lehnte sie am Heckgeländer des Kapitänsdecks und starrte auf die Linie, an der das Sternenzelt mit der dunklen Fläche des Ozeans zusammenstieß. Sie fuhren mit drei Viertel der Leinwand. Die SILVER STAR lag leicht nach Back über. Der Wind zirpte in der Takelage und den Wanten. Das Schiff machte ruhige Fahrt.
Da vernahm die junge Frau das Klappen der Kajütentür unterhalb des Niederganges. Kurz darauf leichte tappende Schritte von bloßen Füßen. Sie drehte sich nicht um, denn sie wusste, es war Estrella.
Da tauchte auch bereits ihr Schatten neben ihr auf.
Die Corsarin schaute zum Sternenlicht hoch, dann lehnte sie sich gleichfalls auf die Reling.
Schweigen lag über dem Deck.
Endlich kam es leise über die Lippen Estrellas: »Es tut mir leid.«
Erneutes Schweigen.
Minuten lang.
Die Corsarin stieß die Luft aus den Lungen und knurrte: »Sag endlich was!«
Helen wandte nur kurz den Kopf.
Schweigen.
»Bei Neptun!«, kam es von Estrella. »Ich sagte: Es tut mir leid.«
Helen drehte sich ihr halb zu und zog eine Augenbraue weit nach oben.
»Was tut dir leid? Dass ich dir eine getafelt habe? Dass du Agathe hin und wieder mal wie Mist behandelt hast? Oder dass Euer Ehren sich verletzt fühlte?« Der letzte Teil der Aussage kam zynisch über die fein geschwungenen Lippen.
Die Corsarin funkelte ihre Schwester zornig an. Dann machte sie auf der Ferse kehrt und lief zum Niedergang.
Helen seufzte. So ging das nicht!
»Estrella! Warte!«
Die Corsarin verhielt im Schritt. Helen erreichte sie und ergriff die Hand der Schwester.
»Verflucht! Benimm dich nicht wie ein bockiges Kind! Was ist los? Seit du dieses Kästchen bei dem Inder gefunden hast, bist du wie ausgewechselt. Das merkt jeder an Bord. Als Kapitän musst du souverän sein. Vorbild für die Mannschaft. Unterschwellig meutern sie schon. Wenn du also willst, dass man dir weiter folgt, dann rede endlich mit mir!«
Die Corsarin stand wie eine Statue. Dann – unendlich langsam – sank sie auf die oberste Treppenstufe herab und setzte sich. Sie barg das Gesicht in den Händen. Ein tiefer Seufzer entrann ihrer Kehle.
Helen setzte sich neben sie. Sie nahm die Schwester in den Arm und flüsterte: »Vertraust du mir nicht mehr?«
Estrella blickte auf. »Doch.«
Helen wartete.
»Das Kästchen …«, begann die Corsarin. »Es enthält ein Medaillon.«
Helen schwieg. Nach einer halben Minute setzte Estrella erneut an. »Das Medaillon gehörte meinem Vater. Es enthält ein Bild unserer gemeinsamen Mutter – Albany.«
Helen schluckte. »Albany? Weshalb hast du es mir nicht gezeigt?«
»Weil … weil … ach ich weiß nicht … ich war zu überrascht … Bilder der Vergangenheit … oh Helen!« Sie warf die Arme um die Schwester. Es schüttelte sie für einen Moment. Dann hatte sich die Corsarin wieder in der Gewalt.
»Also … das Medaillon habe ich seit Jahren gesucht. Nach der Ermordung meiner Eltern – auch deiner Mutter – war es verschwunden. Vater hatte mir einmal gesagt: Wenn mir etwas passieren sollte, rette das Medaillon. Es enthält etwas von großem Wert. Es kann eine Nation stürzen.«
»Hm«, machte Helen. »Was soll das sein?«
Estrella zuckte die Achseln. »Vielleicht eine Schatzkarte? Keine Ahnung. Aber ich weiß, wer es wissen muss oder sogar hat.«
Helen richtete sich etwas auf. »Wer?«
»Chu-Li!«
»Dieser chinesische Pirat? Wie kommst du darauf?!«
»Vater kannte ihn gut. Er hat ihn einmal vor dem englischen Galgen bewahrt. Weshalb? Ich weiß es nicht. Jedenfalls standen sie in enger Verbindung und trafen sich öfter. Aus dem Logbuch des Inders ging hervor, dass er von Baguio gekommen ist.«
»Ah«, machte Helen. »Philippinen. Das ist wohl das Jagdgebiet dieses Chu-Li?«
Estrella nickte. »Richtig! Jedenfalls zum Teil.«
»Aber was beweist das?«
»Das, was Vater verborgen hat, befand sich hinter einer winzigen Klappe hinter Albanys Bild. Der Inder konnte das unmöglich wissen. Aber dieser winzige Klappenmechanismus ist geöffnet worden.«
Helen lehnte sich auf der Treppenstufe weit zurück und starrte zu den Sternen. »Eine sehr vage Theorie, meine Liebe.«
Die Corsarin stand auf. »Ja – aber die naheliegendste. Genaues kann nur Chu-Li beantworten. Deshalb suche ich ihn. Seine Dschunke besitzt schwarze Segel. Sein Kennzeichen des Schreckens!« Mit diesen Worten verließ Estrella den Niedergang und kehrte in die Kajüte zurück.
Helen blieb nachdenklich sitzen.
*
Der Schoner fuhr ohne irgendwelche Lichtquellen.
»Dort ist der Engländer!«, rief Daniel de Verdun unterdrückt.
Nachdem Lucia die Nachricht erhalten hatte, gab sie den Befehl, sogleich einen Schoner klar zu machen. Gegen drei Uhr in der Früh sahen sie die Silhouette des britischen Kriegsschiffes.
»Eine Fregatte mit etwa sechzig Kanonen«, flüsterte Lucia.
»Ja, er kreuzt im Golf umher.«
Der Kapitän des Schoners ließ die Leinwand einholen. Das Schiff verlangsamte sogleich die Fahrt.
»Er hat den Mond Backbord. Deshalb sieht er uns noch nicht«, raunte der Kapitän. »Wir sollten rasch wieder verschwinden.«
»Weshalb kommt er nicht näher an San Luca heran?«, fragte die Gouverneurin stattdessen zurück.
De Verdun rieb sich das Kinn. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine – er hat keine Information, wie viele Schiffe von uns im Hafen von San Luca liegen. Schließlich kann er nicht ahnen, dass ich über Land gekommen bin. Die andere Möglichkeit – er wird es tun.«
Lucia biss sich auf die Lippen. Dann flüsterte sie: »Wie weit ist er weg?«
De Verdun hob ein wenig die rechte Hand. »Es liegen etwa noch sechs Meilen zwischen ihm und uns.«
»Gut nur, dass Ferrer nichts weiß.«
Der Franzose nickte. »Seine Gefangennahme nützt den Briten also nichts. Ich frage mich nur, weshalb die Fregatte ihn so zielsicher hier erwartete. Es ist nicht das Gebiet der Flotte.«
Lucia sog die würzige Nachtluft durch die Nase ein. Dann stellte sie fest: »Jemand muss die Briten informiert haben.«
»Ein Spitzel in Valparaiso?«
Die Gouverneurin verschränkte die Arme vor der Brust. »Oder bei uns.« Dann gab sie ihrem Kapitän das Signal der Rückkehr nach San Luca.
*
Der Morgen zeigte sich eben im ersten Licht, als der Ruf: »Schiff voraus!« aus dem Krähennest erschallte. Sogleich war die Corsarin auf den Beinen. Doch auch diesmal handelte es sich nicht um eine Dschunke mit schwarzen Segeln. Es war ein europäischer Handelssegler. Durch das Fernrohr erkannte Estrella die französische Flagge am Royalmast.
»Den holen wir uns!«, rief die Corsarin. Helen, die bereits neben ihr stand, klatschte in die Hände. »Endlich erkenne ich dich wieder!«
Die Schwester grinste. »Dann übernehmt, Commodore!«
Das ließ Helen sich nicht zweimal sagen. Der Franzose musste ihre Route kreuzen.
»Vier Strich Backbord, Mr. Bush! Alles an Leinwand, was wir haben! Wir schneiden ihm den Weg ab!«
Sogleich ging der Befehl an den Rudergänger. Die SILVER STAR legte sich über und die Bugwelle verstärkte sich. Der Franzose schien bemerkt zu haben, dass man auf ihn zuhielt. Er versuchte auszuweichen.
»Rote Flagge!«, rief Estrella.
Da blaffte drüben auf dem Handelsschiff eine Kanone auf. Die Kugel jaulte allerdings weit über die SILVER STAR hinweg.
»Oh!«, machte die Corsarin. »Er zeigt uns, dass er schießen kann.« Sie wandte sich um. »Diego! Zeig ihm, dass wir es besser können. Knall ihm einen vor den Bug und einen zweiten in den Bugsteven!«
»Mit Vergnügen, Lady Captain!«, kam es zurück und der Chefkanonier strahlte förmlich.
Inzwischen hatte sich die SILVER STAR auf drei Meilen genähert. Wieder donnerte es drüben los.
»Kopf weg!«, schrie Helen. Sofort warfen sich alle platt auf die Decksplanken. Die Kugel sauste zischend knapp über die Steuerbord-Reling und streifte beinahe das Geländer des Kapitänsdecks.
»Jetzt werde ich aber böse«, witzelte die Corsarin und lachte dann aus vollem Hals.
Die beiden Schüsse aus den Kanonen der SILVER STAR erfolgten kurz hintereinander. Nur einen halben Meter vor dem Bug fiel die erste Kugel ins Wasser und ließ eine gewaltige Fontäne hoch spritzen. Die zweite Kugel riss den Bugsteven in Stücke.
Bei dem Franzosen ging die weiße Fahne hoch.
»Na bitte«, kam es von Estrella. »Fertig zum Entern!«
Dem französischen Kapitän schlotterten die Knie.
Die Corsarin zwickte ihn in den Hintern. »Wenn du pissen musst, geh an die Reling. Wäre schade für die schöne weiße Hose.«
Der hagere Franzose lief vor Scham rot an.
»Was treibt ihr hier in der See der Schlitzaugen?«, wollte Estrella wissen.
»Wir … kommen von Victoria.«
Die Corsarin zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das ist britisch. Wieso lassen die einen Franzosen dort rein?«
Der Kapitän zuckte die Schultern. »Weshalb nicht?«
Estrella kam nahe an den zitternden Mann heran. »Weil England und Frankreich sich in Amerika die Köpfe einschlagen.«
Der Franzose schüttelte den Kopf. »Madame, das interessiert hier niemanden.«
Estrella schürzte die Lippen. »Ah … so ist das. Dort Feind – hier Freund. Geld stinkt nicht. Na dann … Also, welche Ladung habt ihr?«
»Seide und Opium.«
»Opium?!« Die Corsarin machte große Augen. »Seit wann handeln Franzosen mit Opium?«
»Es ist für den Markt von Osaka. Dort erhalten wir dann Porzellan.«
Die Corsarin lachte laut auf. »Das nenne ich freien Handel!«
Sie winkte Sam Bush heran. »Ich denke, wir werden das Geschäft übernehmen. Auf Oshima zahlt man für Opium und Seide Höchstpreise.« Dann gab sei den Befehl zum Umladen.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie wandte sich wieder an den Kapitän. »Sagt, Ihr seid mit vielen Leuten in Kontakt gekommen. Sagt Euch der Name Chu-Li etwas?«
Der Mann zögerte und verneinte dann.
»Schade«, kam es aus dem Mund der Corsarin. »Wenn Ihr mir weitergeholfen hättet, könntet Ihr Euer Schiff behalten. So muss ich es versenken.«
Der Kapitän schluckte. »Wartet!«, kam es heiser. »Ihr meint diesen Piraten mit der schwarzen Dschunke?«
Estrella blickte abwartend.
»Ich … weiß es nicht genau … aber …«
»Aber? Mach es nicht so spannend, Junge!«
»Man erzählte mir, er sei vor einigen Tagen bei den Borodino Inseln gesehen worden.«
»So? Wer hat das erzählt?« Die Corsarin funkelte den Mann gefährlich an.
»Ein Händler aus Shanghai. Er war von Miyazaki herübergekommen und hatte dort einen befreundeten Händler getroffen. Der kam von Borodino.«
»Und er hat die Begegnung mit Chu-Li überlebt?«
»Er hat die Dschunke wohl in der Nacht gesehen. Das ist sein Glück gewesen.«
Die Corsarin wehrte ab. »In der Nacht wird er wohl kaum die Farbe der Segel ausgemacht haben.«
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Nein. Aber den charakteristischen Heckaufbau des Piraten. Die schwarze Dschunke ist bereits eine Legende hier.«
Estrella nickte. »Ich bin heute guter Laune. Behalte dein Schiff.«
Das Verladen der Waren verlief zügig. Die Corsarin wollte schon das Signal zum Verlassen des Händlers geben, als sie stutzte. Aus der Kajüte hatte kurz ein Kopf herausgeschaut. Rasch war er aber verschwunden.
»Mr. Bush!«, rief sie. »Hat jemand die Kapitänskajüte untersucht?«
Der alte Bush kratzte sich am Kopf. »Thunder«, knurrte er und stiefelte los. Wenig später kehrte er zurück und meldete: »Niemand da.«
Estrella schüttelte ungläubig den Kopf. Dann fragte sie den Kapitän: »Habt Ihr noch einen Passagier an Bord?«
»Nein«, lautete die Antwort. Doch Estrella kam sie ein wenig zu rasch.
Sie schaute den Mann einige Sekunden an, dann rief sie: »Alles von Bord! Schiff anzünden!«
»Oh Gott! Nicht!«, schrie der Franzose kreidebleich.
»Keine Angst.« Die Corsarin klopfte ihm auf die Schulter. »Ihr kommt alle mit auf mein Schiff.«
Der Mann öffnete stumm den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn.
Estrella machte eine aufmunternde Geste. »Oder wollt Ihr mir noch etwas sagen, Monsieur?«
»Ich … habe jemanden an Bord. Von meiner Kajüte führt eine versteckte Treppe in einen Verschlag.«
Die Corsarin pfiff durch die Zähne. »Ein interessantes Schiff habt ihr. Ich denke, Ihr seid kein so harmloser Händler, wie Ihr tut. Los! Zeigt mir Euren Verschlag!«
Der Mann begann erneut zu zittern wie Espenlaub.
In der Kajüte staunte die Corsarin nicht schlecht. »Na sieh mal einer an! Ihr habt’s aber faustdick hinter den Ohren.«
Eng aneinander geschlungen schauten die beiden Chinesinnen der Corsarin entgegen.
»Die beiden sind doch höchstens vierzehn Jahre. Wo habt Ihr die her?«
Der Franzose druckste herum. Estrellas Augen funkelten bereits wieder gefährlich. Der Mann beeilte sich zu sagen: »In Victoria gibt es einen Sklavenmarkt.«
Estrella spuckte angewidert aus. »Monsieur, ich habe Euch versprochen, das Schiff nicht zu versenken. Ich halte mein Wort. Aber zwanzig Hiebe mit der Zuchtpeitsche werden Euch Moral beibringen«
*
Agathe McArthur versetzte die Corsarin wieder mal in Erstaunen.
In perfektem Chinesisch, wenn auch nicht in der regionalen Mundart, hatte sie die beiden Mädchen ausgefragt.
»Ihre Eltern haben sie verkauft. Danach haben sie verschiedene Herren gehabt, bis sie in Victoria gelandet sind.«
Estrella mahlte mit den Zähnen. »Bueno«, meinte sie dann. »Frag sie, ob sie bei uns an Bord bleiben wollen.«
Nachdem Agathe ihnen die Frage übersetzt hatte, fielen sie vor der Corsarin auf die Knie.
»Oh Neptun!«, rief diese aus. »Nicht noch so was! Deine Demutsbezeugungen reichen mir!« Sie riss die Kajütentür auf und schrie: »Helen!«
Nur wenig später kam sie vom Mitteldeck.
»Nimm die Mädels unter deine Fittiche. Vielleicht wird was Brauchbares draus.« Damit schob sie sich an ihrer Schwester vorbei und enterte das Krähennest.
Kopfschüttelnd blickte Helen ihr nach. Dann betrat sie die Kajüte und blickte Agathe fragend an. Diese erzählte kurz, was sie von den beiden Mädchen erfahren hatte.
Auch Helen staunte. »Chinesisch kannst du auch …« Plötzlich zeigten sich ihre Gesichtszüge der Engländerin gegenüber weicher als sonst. »Das könnte nützlich sein.« Zu den beiden Mädchen gewandt sagte sie: »Na, dann willkommen auf der SILVER STAR. Kommt mit!«
Die Worte hatten die beiden zwar nicht verstanden, aber den Wink. Sie schauten ängstlich zu Agathe. Diese beruhigte sie.
Während Helen für eine halbwegs vernünftige Unterkunft der Mädchen sorgte, suchte Estrella den Horizont ab. Doch was sie zu finden hoffte, entdeckte sie nicht. Sie kam auf das Deck herab und rief: »Mr. Bush! Kurs Oshima!«
In der Kajüte fand sie Agathe vor, die gerade damit begonnen hatte, den wertvollen Sextanten zu putzen. Estrella blieb an der Tür stehen. Ihre Blicke glitten an der Frau entlang. Das Haar halblang, etwas wirr, die schlanken Arme, die aus den kurzen Ärmeln des kittelartigen Kleides schauten, die nackten, leicht schmutzigen Füße …
Estrella machte ein paar Schritte auf die Engländerin zu. Diese hielt in ihrer Arbeit inne.
Die Corsarin deutete auf den noblen Schreibtisch, den sie mal einem Pfeffersack abgenommen hatte und der auch als Kartentisch diente. Auf jeder Seite des handgearbeiteten Stückes standen zwei wertvolle Lehnstühle. Mit diesen Möbeln, dem Diwan vor den drei hohen, gotisch wirkenden Heckfenstern und einer Wandbank, vor der ein kleiner Eichentisch stand, sowie zwei schmalen Wandregalen, war die Kajüte vollständig ausgefüllt. Eine mit Eisenbeschlägen versehene Truhe stand noch neben der Tür.
»Setz dich hier zu mir«, forderte die Corsarin. »Aber küss mir um Himmelswillen nicht wieder die Füße!«, setzte sie hinzu.
»Schon gut«, murmelte die Engländerin und setzte sich auf die vorderste Kante des rot gepolsterten Stuhls.
Die Corsarin betrachtete sie einen Moment stumm, ehe sie ansetzte: »Wo ist nur die stolze Agathe McArthur geblieben? Die Frau, die mich aus tiefsten Herzen beschimpft hat?«
Agathe schluckte. »Es tut mir leid. Dafür liebt dich diese McArthur nun aus tiefstem Herzen.«
Estrella verdrehte die Augen und lehnte sich weit in ihrem Lehnstuhl zurück. »Oh ihr Götter des Meeres …«, seufzte sie. Dann beugte sie sich vor und streckte ihren Arm vor. »Gib mir deine Hand.«
Errötend und zögernd folgte die Angesprochene der Aufforderung. Die Corsarin ergriff die abgearbeitete, raue, schwielige Hand.
»Du bist diese Arbeit nicht gewohnt und hast sie doch seit Monaten ohne Murren ertragen. Du hast meine Zornesausbrüche ausgehalten, meine Ungerechtigkeit … trotzdem bist du immer noch da.«
Estrella schüttelte den Kopf. Das alles erinnerte sie an Helen.
»Wie kannst du mich lieben?«, fragte sie leise.
Das Krachen und der Stoß kamen völlig unerwartet. Es knallte, splitterte, Schreie drangen von Deck her in die Kajüte und dazwischen vernahm man das laute Fluchen von Sam Bush.
Agathe wurde vom Stuhl geschleudert, Estrella flog halb über den Tisch.
Die SILVER STAR neigte sich nach Steuerbord. Bücher und Kartenmaterial fielen aus dem Wandregal und scheppernd rollte eine Vase quer durch den Raum.
Völlig irritiert rappelte sich die Corsarin hoch. Dann riss sie ihren Degen von der Wand und stürmte auf das Deck.
Hier herrschte das Chaos!
Zuerst sah sie vor Rauch die Hand vor Augen kaum. Sie stolperte über eine Trosse. Dann sah sie einen ihrer Leute blutend über der Reling hängen. Es blitzte auf. Donnernd flogen Teile der Backbord-Reling über das Deck. Als der Wind den Rauch etwas lichtete, sah die Corsarin den Schatten einer riesigen Dschunke. Dann knallte es von der anderen Seite. Eine zweite Dschunke lag quer zum Heck. Die Kugel sauste wimmernd über die Länge der SILVER STAR und bohrte sich krachend in die Planken des Vordecks.
Da sah sie Helen.
Sie befand sich im Zweikampf mit einem hünenhaften Chinesen. Er musste sich mit einem Enterseil von der Dschunke längsseits auf die SILVER STAR geschwungen haben.
Plötzlich tauchte im Nacken von Sam Bush ein Schatten auf. Estrella stürmte vor und stieß ihren Degen in den Rücken des Angreifers. Immer mehr Chinesen drängten an Bord.
»Sie haben Boote zu Wasser gesetzt!«, schrie die Corsarin. Helen wirbelte sofort herum. Dabei schlitzte sie einem ihrer nun vier Gegner den Hals auf.
Estrella spürte einen harten Griff an ihrem Arm. Ihr Kopf ruckte zur Seite. Sie starrte in die mordlüsternen Augen eines glatzköpfigen Angreifers. Sein Messer blitzte kurz auf, da verhielt er mitten in der Bewegung, als sei er zu Erz erstarrt. Langsam kippte er nach vorn. In seinem Genick steckte ein Dolch. Weiter hinten sah sie Agathe – die Hand noch erhoben.
Aber Estrella hatte keine Gelegenheit, lange zu schauen. Zwei Angreifer bedrängten sie. Sie schlug um sich.
Ratsch!
Ein Ohr flog!
Der Chinese schrie auf und ließ den Degen fallen.
»Schiff um neunzig Grad drehen!«, übertönte die Stimme Helens den Kampflärm. Die Corsarin sah, wie ihre Schwester zum Ruder hechtete, dem Rudergänger mit in das große Doppelrad griff und sich in die Speichen stemmte.
»Diego! Breitseite von Back!«
Helens Stimme dröhnte förmlich.
Estrella spürte, wie die SILVER STAR sich bewegte, sich leicht neigte.
Die Corsarin erhielt einen Stoß in den Rücken. Sie stürzte nach vorn. Noch während des Falls wirbelte sie um die eigene Achse. Instinktiv hielt sie den Degen vor den Körper – mit der Spitze voran.
Der Schrei hallte schaurig über das Deck, wurde aber vom Kampflärm beinah wieder verschluckt. Mit weit aufgerissenen Augen rutschte der schwere Körper des Chinesen auf die Klinge. Der Degen bohrte sich durch den bloßen Bauch des muskulösen Mannes – ein dünner Blutfaden zeigte sich – und drang am Rücken wieder heraus.
Das Gewicht zwang Estrella die Waffe aus der Hand.
Sie spannte ihre Armmuskeln und vollführte eine Rolle rückwärts. Dann stand sie auf den Füßen.
»Feuer!«, hörte sie da Helen schreien.
Die SILVER STAR erbebte.
Es krachte! Gewaltiger Rauch der Pulverentladung schwängerte die Luft, nahm den Atem und die Sicht. Innerhalb der Nebelwolke glühte es kurz auf.
Die Corsarin schwankte. Die Decksplanken zitterten.
Auf der Dschunke neben der SILVER STAR splitterte und barst es. Splitter des Hautmastes flogen einher.
Die Explosion!
Ein Flammenball schoss aus der Dschunke. Eine Kugel musste das Munitionsdepot dieses Angreifers getroffen haben.
Estrella sah, wie Helen von einem umherfliegenden Spantenstück getroffen wurde und zusammensackte.
Die Corsarin sprang hinzu. Ein Chinese, der ihr den Weg versperrte, erhielt einen Tritt in die Hoden, dass er jaulend einknickte. Dann hatte sie die Schwester erreicht. Sie blutete am Kopf.
»Helen! Komm hoch!«, schrie Estrella.
Wieder krachten die Kanonen der SILVER STAR.
Estrella griff Helen unter die Achseln und zerrte sie zum Niedergang auf das Kapitänsdeck zu. Da vernahm sie ein Geräusch hinter sich.
Den Dolch ziehen und sich umwenden … alles vollzog sich in einer fließenden Bewegung.
Die Klinge drang dem Angreifer durch die linke Achsel ins Herz.
Ein unartikulierter Laut entrann seiner Kehle.
Wieder eine Explosion.
Estrella hatte keine Gelegenheit, den Ursprung auszumachen. Ihr Schiff neigte sich nach Backbord. Eine Kiste rutschte ihr in die Hacken. Sie stürzte …
*
Es kam überraschend.
Lucia und de Verdun blickten erschreckt auf. Der Butler stand wie versteinert.
»Madam Avilla de Aragon, im Namen des Königs von England habe ich Sie zu verhaften. Die Stadt ist in unserer Hand. Sie stehen unter Hausarrest.«
Der Offizier in der britischen Uniform – flankiert von zwei Soldaten – sagte das völlig emotionslos.
Die Gouverneurin blickte den Sprecher an wie einen Geist. De Verdun sprang auf. Der Schuss knallte und der Franzose wurde ein Stück in den Raum hinein geschleudert. Über seiner Nasenwurzel befand sich ein rundes Loch, aus dem etwas Blut austrat.
Der Offizier steckte die noch rauchende Waffe in den Gürtel zurück und befahl: »Ihr bleibt vor der Tür. Niemand verlässt den Raum, bis ich einen anderen Befehl gebe!«
Die beiden Soldaten salutierten. Der Offizier verließ den Ratssaal und schloss die Tür hinter sich.
Lucia saß wie versteinert in ihrem Sessel. Der Butler untersuchte den Franzosen. Dann schüttelte er den Kopf.
Jetzt erst kam wieder Leben in Lucia. Sie stürzte zum Fenster. Unten auf dem Vorplatz marschierten britische Soldaten auf.
»Wie konnten die Engländer San Luca überfallen?«, kam es tonlos von Lucia. Der Butler schüttelte den Kopf. »Vermutlich ist die Fregatte eingelaufen und hat unsere Leute überrannt.«
»Aber wo ist …?« Sie brach ab, als der englische Offizier wieder eintrat.
»Madam de Aragon, ich habe Befehl, Sie auf Seine Majestät Schiff NORFOLK zu bringen. In einer Stunde laufen wir aus nach England. Dort wird man Sie wegen Unterstützung von Aufruhr vor ein Gericht stellen.«
Lucias Wangenmuskeln mahlten. »Was soll das?«, presste sie hervor. »Ich habe niemanden unterstützt.«
Der Offizier winkte ab. »Geben Sie sich keine Mühe. Ihre Schwester ist tot. Die SILVER STAR versenkt. Washington, dieser selbst ernannte Führer der Neuen Welt, hat sich in Halifax zurückgezogen. Er hat aufgegeben, die Siedler zu einen.«
»Sie lügen!«, schrie die Gouverneurin außer sich.
Der Offizier winkte ab. »Wegbringen!«
*
»Nimm das!«
Helen hatte sich aufgerappelt und schlug einem Chinesen ins Gesicht. Sie wischte sich das Blut aus den Augen. Es stammte von einer Platzwunde am Haaransatz.
Estrella zog sich an der Reling hoch. Durch den Rauchschleier sah sie, wie die Dschunke, die versucht hatte, sich an die SILVER STAR heranzuziehen, gurgelnd in den Fluten versank. Hier und da flammte es noch kurz auf wie ein letztes Aufbäumen.
Da knallte es dicht neben ihr. Ein Mann war aus den Wanten gestürzt. In seinem Hals klaffte eine Schusswunde. Es war Gerald Marton, der Segelmacher.
Die Corsarin blickte sich gehetzt um. Sie hatte ihre Waffe verloren. Da sah sie den Krummsäbel eines toten Chinesen. Sie riss ihn aus dessen erschlaffter Hand und stürmte in das Getümmel auf dem Vorderdeck. Blutig bahnte sie sich einen Weg.
Helen stand leicht benommen am Niedergang zum Kapitänsdeck. Da sah sie die zweite, noch unversehrte Dschunke langsam auf das Heck zulaufen. Die Absicht war klar. Man wollte die SILVER STAR am Ruder rammen.
»Bastarde!«, zischte sie. Sie raste die Treppe hinauf. Dort stand die Heckkanone. Helen hatte sie installiert, trotz des Einwandes von Estrella.{i}
Niemand hielt sich im Moment hier oben auf.
In aller Hast lud sie Pulver in das kurze, dicke Rohr. Sie benötigte alle Kraftreserven, um die Kugel anzuheben.
Die Dschunke hatte sich bis auf vierzig Meter genähert.
Die Lunte!, schrie es durch Helens Kopf. Wo ist die verfluchte Lunte?
Endlich fand sie sie unter der Kanone in einem Stoffsäckchen. Nebst dem Feuerstein.
Jetzt der Dolch. Klinge und Feuerstein … Oh Herrgott hilf.
Die Dschunke war nur noch zehn Meter entfernt. Jeden Augenblick würde es krachen.
Da! Der Funke, die Lunte begann zu glimmen. Der Wind entfachte das winzige Hoffnungslicht zur Flamme. Helen hatte keine Zeit mehr zum Zielen. Die Flamme an die Zündschnur. Sie warf sich zurück hinter eine mächtige Taurolle.
Die Detonation wollte ihre Trommelfelle sprengen.
Die Kugel jagte nur knapp über das Deck und … der Vormast splitterte seitlich, die Kugel zerriss zwei Abspannungen, sauste weiter, zerriss den Rudergänger und knallte in die Kajüte. Gleichzeitig traf der Rumpf der Dschunke das Heck der SILVER STAR kurz neben dem Ruderblatt. Es knirschte und jammerte und krachte. Teile der Reling flogen über die liegende Helen hinweg. Sie vernahm die Schreie der Dschunkenmannschaft. Das chinesische Schiff schien plötzlich zurückgestoßen zu werden.
Dann brach der Mittelmast, weil die Abspannungen zerrissen waren.
Langsam knickte der Mastbaum, die schwere Leinwand fiel auf Deck und begrub einen Teil der Mannschaft. Dann stürzte der Mast nach Backbord. Die Dschunke bekam schwere Schlagseite.