DIE CORSARIN 7 - Erec von Astolat - E-Book

DIE CORSARIN 7 E-Book

Erec von Astolat

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Beschreibung

Wird Estrella in Potsdam endlich das Rätsel um das Amulett lösen? Wird sie das Geheimnis lüften, das die europäischen Fürstenhöfe in helle Aufregung versetzt? Im Archiv Friedrichs des Großen macht die Corsarin eine eigenartige Entdeckung, die Hinweise auf Wales enthält. Was haben Frankreich und England zu verbergen? Und wer ist die mysteriöse Person, die Estrella immer wieder Hilfestellung leistet? Die neue SILVER STAR beginnt einen Wettlauf mit der Zeit. Die Corsarin kommt kaum zum Luftholen. Ihr gefährlichster Kampf steht bevor – mit einem Gegner, den sie nicht auf der Rechnung hatte.

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DIE CORSARIN

Band 7

IM SCHATTENDES ADLERS

von

Inhalt

IMPRESSUM

Zuletzt erschienen:

Vorschau:

IMPRESSUM

DIE CORSARIN

Herausgeber:

ROMANTRUHE-Buchversand.

Cover: Shutterstock.

Satz und Konvertierung:

DigitalART, Bergheim.

© 2019 Romantruhe.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Personen und Begebenheiten der

Romanhandlung sind frei erfunden;

Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen sowie mit tatsächlichen

Ereignissen sind unbeabsichtigt.

Abdruck, auch auszugsweise,

Vervielfältigung und Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien zum

Zwecke der Veräußerung sind untersagt.

Internet: www.romantruhe.de

Kontakt:[email protected]

Produced in Germany.

Die Corsarin ist auch

Zuletzt erschienen:

Band 1: Estrellas Rache

Band 2: Die Depesche des Königs

Band 3: Der Degen der Freiheit

Band 4: Die schwarze Dschunke

Band 5: Die Spiegel von Versailles

Band 6: Das Siegel der Zarin

Band 7:

»Verfluchte Suppe!«

Sam Bush spie den Priem über Bord. Seine Blicke versuchten die milchige Wand zu durchbohren.

»Wie weit noch bis Travemünde?« Leise, unterdrückt klang die Stimme der Corsarin. Estrella Avilla de Aragon hielt sich an einer Trosse fest. Die SILVER STAR III – kleiner stand darunter nun ESTRELLA DE PLATA – rollte mächtig und das war hier, nahe der Küste gefährlich. Sie besaßen nur schlechte Karten und Untiefen waren zu befürchten.

Der Erste Offizier stieß die Luft aus. »Keine Ahnung. Ich bin noch nie in dieser Gegend gewesen. Wir hätten auf den normalen Routen bleiben sollen.«

Die Corsarin gab einen grunzenden Ton von sich. »Ich habe keine Lust, einem verfluchten Inglis vor die Kanonen zu fahren.«

Sam kratzte sich am Bart. »Sicher, aber hier irgendwo festzufahren, ist auch nicht erquicklich.«

Eine Schiffsglocke ertönte. Estrella und Sam horchten auf.

»Östlich«, brummte der Erste. »Ein Klipper.«

»Der kann nicht weit sein. Also gibt es eine Fahrrinne.«

Sam wiegte den Kopf. »In dem Nebel täuscht das oft. Verflucht! Es wird immer dicker.«

Die SILVER STAR lief nur mit zwei Focksegeln. Da knirschte es seitlich. Estrella und Sam erstarrten. Doch das Schiff ruckte nicht. Es glitt weiter. Sam wandte sich um und rief unterdrückt José zu sich. »Ab an den Bug und loten!«

»Alles klar!«

Flink verschwand er über den Bug. Sam wies Pietro an, die Lotung entgegenzunehmen.

Nach fünf Minuten wussten sie, dass sie in tiefem Wasser liefen.

Da tauchte diffus der fahle Schein einer Schiffslaterne seitlich von ihnen auf. Höchstens achtzig Meter entfernt.

Die Corsarin hielt die Luft an.

»Wer ist das?«, flüsterte sie.

»Keinen Schimmer«, hauchte Bush zurück. Dann schälte sich eine zweite Laterne aus dem Dunst.

Der Erste kniff die Augen zusammen. Ein Hoheitszeichen konnte man absolut nicht erkennen.

»Alles Licht aus!«, befahl Sam Bush.

Wenig später lag die SILVER STAR in völliger Nacht.

Wortfetzen wurden vom Nebel herübergetragen.

»Engländer«, kam es von Estrella.

»Yeah«, machte Sam. »Aber keine Fregatte. Eher ein Schoner. Nicht groß bestückt, nehme ich an.«

Die Laternen tauchten wieder im Nebel unter. Die Corsarin verschwand in der Kapitänskajüte. Sie bot weit mehr Platz als die der SILVER STAR II. Sie wirkte schon wie ein kleiner Salon.{i}

Ihre Schwester Helen schaute von der Seekarte auf. »In etwa einer Stunde müssten wir Travemünde erreichen.«

Die Corsarin nickte. »Hoffentlich kommt uns der Engländer nicht noch mal in die Quere.«

Er kam nicht. Aber dass die Briten so nah an den preußischen Küsten patrouillierten, machte Estrella nachdenklich.

*

Potsdam – Sitz des preußischen Königs.

Eine quirlige kleine Stadt. Gezeichnet vom Betulichen. Alles wirkte unschuldig und irgendwie zuckerbäckerhaft. Wären da nicht immer wieder Soldatentrupps marschiert. Doch irgendwie schien es hier für die jungen Männer erstrebenswert zu sein, in der königlichen Armee zu dienen. Die vorbei promenierenden Damen winkten den Uniformierten fröhlich zu. Es schien, als könne an diesem sonnigen Tag nichts die Lebensfreude trüben. Dabei waren die politischen Konflikte allgegenwärtig. Obwohl König Friedrich Kriege hasste, wurde er immer in die Notwendigkeit hineingezogen.

Estrella und Helen unterschieden sich in keiner Weise von den anderen vornehmen Damen der Stadt, als sie den Hauptboulevard entlang schritten, lächelnd ihre Sonnenschirme drehten und sich die Auslagen der Fenster anschauten.

Vor einem kleinen Kaffeehaus am Brandenburger Tor{ii} blieben sie stehen. Sie verständigten sich mit einem kurzen Blick und traten ein.

Der Duft von Kaffee und köstlichen Backwaren füllte den kleinen, aber gemütlichen Raum völlig aus. »Wie ich das vermisst habe«, wisperte Estrella und inhalierte vernehmbar.

»Ich auch, liebste Schwester«, gab Helen zurück und sog ebenfalls tief ein. »Lass uns dahinten Platz nehmen, da ist noch ein Tisch frei«. Mit dem Schirmstock zeigte sie auf das rote Kanapee im hinteren Teil des Cafés. Um dort hinzugelangen, führte der Weg an den Köstlichkeiten in der Auslage vorbei. Wie angewurzelt blieben die Frauen vor der Glasvitrine stehen, die schier aus allen Nähten platzte. Helen strich mit beiden Händen über ihre schmale Taille und befand, dass die Korsage viel zu eng geschnürt sei.

»Du wirst staunen, was da noch alles reinpasst, liebste Schwester«, neckte Estrella und hakte sich bei ihr ein.

Zwei gackernde Hühner saßen später in einem der vornehmsten, wenn auch nicht der angesehensten Cafés am Platz und waren unbeschwert wie seit Langem nicht. An der Wand über dem Kanapee thronte der Preußenkönig, in einem kostbaren, mit Blattgold verarbeiteten Barock-Rahmen.

»Das passt«, machte sich Helen über den maßgeblichen Frauenfeind lustig und prostete dem Bild mit einem Glas Cherry zu. Auf dem ovalen Tisch fand die dritte Kristallkaraffe gefüllt mit edlem Cherry aus British Columbia, zwischen silbernen Kaffeekannen, Mokkatassen und Kuchentellern aus feinstem Porzellan kaum noch Platz. Das Fräulein hinter der Theke mit der weißen Schürze und dem Häubchen hatte offensichtlich alle Hände voll zu tun, und es war nicht zu übersehen, dass es ihr peinlich war, wie sich die beiden Frauen aufführten.

»Ich platze gleich, Helen, und müde bin ich auch.« Estrella gähnte. »Wollen wir nicht gehen?«

»Verzeihung, meine Damen, wenn ich Sie anspreche …« Die sonore Stimme vom Nachbartisch ließ die Frauen aufhorchen. Von einer Minute zur anderen war Estrella wach. Nicht hellwach, aber aufmerksam. Ihr Blick traf den von Helen. Unauffällig fuhr sie mit einer Hand unter den Tisch, unter ihre Röcke. Das Messer war noch da. Natürlich war es noch da, schließlich spürte sie das Leder, mit dem sie das Messer um ihren Schenkel geschnürt hatte und wie es drückte. Kontrolle ist besser, dachte sie, was auch Helen befand. Versteckt machte auch sie den Kontrollgriff und zwinkerte ihrer Schwester zu.

»Ist es erlaubt, mich zu Ihnen zu setzen?«, fragte der Fremde höflich und zog den Hut.

Wortlos wies Estrella mit der Hand auf den Stuhl und der Fremde nahm Platz.

»Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Henry Kopinski. Mutter Engländerin, Vater aus Brandenburg … Aber ich möchte sie nicht mit meiner Herkunft langweilen, meine Damen«, plauderte der Mann, während er mit der Hand nach der Bedienung fuchtelte. »Bringense uns noch mal dat Gleiche, Frollein«, warf er ein, korrigierte aber direkt seinen Slang. »Sie müssen wissen, ich bin Arzt«, sprach er gewählt weiter und zündete sich einen Zigarillo an.

Helen und Estrella rührten sich nicht. Nur ihre Blicke trafen sich. Wie aus einem Mund kam: »Äußerst interessant, mein Herr, und was will er damit andeuten?«

»Leibarzt des Königs.«

Helen warf der Corsarin einen wachsamen Blick zu. Diese Begegnung erschien ihr mehr als merkwürdig.

»Ja … und?«, fragte Estrella unschuldig und lächelte freundlich.

Ihr Gegenüber lehnte sich zurück. »Als Leibarzt ist man auch Vertrauter und als ein solcher wird man nicht vor die Tür geschickt wenn … sagen wir mal … Boten kommen oder … na – se wissen schonn, nich?!«

Er fiel wieder ins Berlinern.

Estrella fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und beugte sich interessiert vor. »Ich weiß gar nichts, mein Herr.«

Die Bedienung kam.

Nachdem sich diese wieder entfernt hatte, merkte der Mann an: »Ich bin ein Freund von Peter Antonius.«

Estrella zog die Augenbrauen hoch. »Er hat Sie benachrichtigt?«

Die Corsarin war auf der Hut.

Kopinski beugte sich vor und raunte: »Er sandte mir vor einigen Wochen eine Depesche. Darin stand, dass Sie ihn getroffen haben. Er wollte Sie nach Potsdam schicken.«

Die Corsarin zog die Augen nun zusammen. »Und Sie denken, dass ich … sagen wir mal … diese Person bin.«

Der Arzt nickte. »Er hat Sie genau beschrieben. Außerdem weiß ich, dass andere Kreise auch annehmen, Frau Aragon, dass Sie herkommen werden. Dort ist man – sagen wir mal vorsichtig – nicht erfreut.«

Estrella beugte sich nun weit über den Tisch. Die Nasen berührten sich fast. Die Corsarin roch ein teures Parfüm.

»Peter ist tot.«

Kopinski zuckte erschreckt zusammen. Er wurde kreidebleich.

»Was … wie …«, begann er zu stammeln.

»Er wurde ermordet.« Helens Stimme kam hart herüber.

»Vadammich! Hat es ihn erwischt!« Er fuhr sich durch das etwas wirre Haar. »Aber dann befinden sie sich in ernster Gefahr, Frau Aragon.«

»Wer sagt mir, dass ich Ihnen trauen soll, werter Herr Doktor?«, kam es aus Estrellas Mund.

Der hochgewachsene Mann lehnte sich wieder zurück. Er warf einen Blick über die Schulter – sie waren allein.

»Wahrscheinlich bin ich der Einzige in Potsdam, dem Sie trauen sollten.«

»Was wollen Sie von uns?«, fragte nun Helen.

Der Arzt richtete sich wieder auf. »Ich kann Sie in den Palast bringen. Dort wollen Sie doch hin, oder?« Er zwinkerte mit einem Auge.

*

Helen lief im Zimmer der kleinen Pension unruhig umher. Immer wieder schaute sie durch die Vorhänge auf die Seitengasse.

»Dieser Kopinski macht dir Kopfzerbrechen«, merkte die Corsarin an.

Ihre Schwester seufzte. »Richtig. Er weiß zu viel. Er legt die Karten nicht auf den Tisch.« Sie wirbelte herum. »Wie konnte er uns sogleich in dem Café erkennen? Es war ein Zufall, dass wir dort landeten!«

Estrella zog auf dem Bett sitzend die Beine an und legte den Kopf auf die um die Knie verschlungenen Arme.

»Er ist ein Freund von Peter Antonius. Peter gehörte zum Geheimdienst des Königs. Demnach gehe ich davon aus, dass dieser Leibarzt auch dazugehört. Sonst hätte man ihn nicht so viel mithören lassen. Seine Aussage: als Leibarzt … und so weiter, ist etwas dünn.«

Helen setzte sich neben die Schwester. »Genau das ging mir durch den Kopf. Die preußische Regierung ist an dem, was wir suchen, interessiert. Sie besitzt es. Aber da sie nicht wissen, wonach sie suchen müssen, können sie es nicht finden. Was sagt uns das?«

Estrella hob den Kopf und grinste. »Dass Peter … oder wer auch immer … sehr clever gewesen ist. Die Sache ist in der Bibliothek und so getarnt, dass sie nicht auffällt.«

Helen zog die Augenbrauen hoch. »Wie könnte das aussehen?«

Die Corsarin zuckte leicht mit den Schultern. »Geht man von der Brisanz aus … ich würde es als Buchseite tarnen.«

Helen schüttelte unwirsch den Kopf. »Unsinn! Man muss so ein Buch nur schütteln.«

»Stimmt. Aber nehmen wir an, es gibt Hunderte von Büchern dort. Friedrich ist sehr belesen. Vor allem in der französischen Literatur.«

Helen schnippte mit den Fingern. »Also in einem französischen Buch. Ein anderes hätte man rasch gefunden. Aber eines, das der König nicht sehr oft zur Hand nehmen wird.«

Die Corsarin lachte kurz auf. »Treffer, meine Liebe. Damit das Blatt nicht herausfällt, hätte ich es einbinden lassen.«

Helen riss die Augen auf. »Du bist genial! Aber …«

»Aber?« Estrella hob eine Augenbraue.

»Das Buch muss zum Buchbinder. Wird er schweigen? Wie viele gibt es in Potsdam?«

»Kann das nicht auch in Berlin passiert sein?«

Helen fuhr sich durch das Haar. »Auch da gibt es nicht sehr viele, die diese Kunst beherrschen.«

Estrella erhob sich vom Bett. »Gut, wir werden es morgen herausfinden.«

Von irgendwo schlug eine Uhr die elfte Abendstunde. Helen hatte sich wieder zum Fenster begeben. Plötzlich rief sie: »Licht aus!«

»Was?«, kam es verblüfft von Estrella.

»Lampe aus!«

Die Corsarin blies sie aus. Dann stellte sie sich neben die Schwester. Diese deutete – etwas seitwärts vom Fensterrahmen stehend – nach links.

An der Hauswand eines schmalen Steinhauses, dort, wo das Licht der Talglaterne nicht hinreichte, zeichnete sich ein Schatten ab.

»Jemand beobachtet das Haus.« Helen flüsterte es unwillkürlich.

Die Corsarin atmete hörbar. Dann bemerkte sie: »Wieso sollte derjenige uns meinen?«

Ihre Schwester lachte kehlig. »Ein Zufall, wenn es nicht so wäre.«

Estrella biss sich auf die Lippen. »Denkst du«, meinte sie dann, »wir haben jemanden aufgeschreckt?«

Erneut lachte Helen. »Tun wir doch immer! Aber wenn dieser komische Arzt Bescheid weiß, dann sicherlich auch andere Leute.«

Plötzlich tauchten noch zwei Gestalten neben der beobachteten auf.

Helen wurde unruhig. »Ich denke, wir sollten uns anziehen und auf einen Besuch vorbereiten.«

Das war rasch getan. Sie schlüpften statt in die vornehmen Kleider in Rüschenbluse und Hose. Dann schnallten sie Degen und Pistolen um.

»Was schlägst du vor?«, fragte Estrella leise.

»Ich hab mich hier gründlich umgesehen. Eine Stiege führt am Ende des kurzen Ganges hier oben aufs Dach.«

»Na dann los!«, raunte die Corsarin.

Die uralte Holzleiter knarrte. Doch sie schafften es in kürzester Zeit, hinter einem mächtigen Kamin auf dem Dach zu hocken. Die Straße konnten sie allerdings von hier oben nicht einsehen. Sie war zu schmal und die Dächer hingen über. Aber die Häuser standen dicht an dicht, sodass eine Flucht möglich war.

Sie warteten. Das Fenster ihres Zimmers musste sich schräg unter ihnen befinden.

Helen schlich zurück und öffnete die Dachluke zwei Finger breit. Da vernahm ihr geschärftes Ohr, wenn auch nur sehr vage, Schritte auf den schrägen Holzdielen.

Sanft ließ sie die Luke zurückgleiten und machte ihrer Schwester das Zeichen des Schweigens.

Dann huschte sie zu ihr hinüber.

Der dumpfe Knall des Schusses kam unerwartet.

»Mierda!«, stieß Estrella aus.

Ein weiterer Schuss.

Kein Zweifel – jemand schoss auf gut Glück in das Zimmer. Vermutlich glaubte er seine Opfer im Bett.

»Es wird nicht lange dauern, bis derjenige seinen Irrtum bemerkt«, kam es hastig von Helen.

Die Corsarin ließ den Blick schweifen. »Hier auf dem Dach werden sie zuerst suchen. Also nichts wie dort hinüber!«

Helen folgte dem Fingerzeig der Schwester und wurde bleich. Das konnte Estrella sogar im fahlen Mondlicht feststellen.

»Bullshit!«

Sie robbten zur schrägen Dachkante hinab, nahmen alle Kraft zusammen und …

Wie überdimensionale Vögel katapultierten sie sich auf das Dach der gegenüberliegenden Straßenseite.

Helen kam einigermaßen glatt auf und stützte sich mit den Händen ab. Ihre Finger gruben sich in den Rand zweier Dachpfannen.

Estrella glitt mit den Fingern ab und rutschte an der Schräge abwärts. Helen sah das mit Entsetzen. Die Corsarin versuchte vergeblich mit den Füßen einen Halt zu finden, aber unaufhaltsam kam die Dachkante näher.

Dann hingen ihre Beine über dem Abgrund – pendelten leer.

Da!

Ein eiserner Haken schaute zwischen zwei Pfannen hervor. Estrella reckte sich und …

Sie glaubte die Hand würde ihr abgerissen. Aber sie konnte sich halten. Aber für wie lange? Der Haken begann sich bedenklich zu biegen.

Helen atmete schwer. Der Fluch auf ihren Lippen verlor sich im Nachtwind.

Sie nestelte ihren Gürtel vom Hosenbund und versuchte, während sie sich mit einer Hand an einer Dachpfanne festkrallte, diesen Estrella mit einem Ende zuzuwerfen.

Da tauchte auf dem gegenüberliegenden Dach an der Luke ein Schatten auf.

Die Corsarin hörte das Geräusch des herangleitenden Gürtelendes.

Sie griff zu.

Da fegte der Schuss scharf über sie hinweg und riss Splitter aus einer Dachpfanne neben ihr.

»Los!«, rief Helen. »Rasch!«

Sie sah, wie der Schütze eine zweite Pistole aus der Kleidung hervorzog.

Mit aller Anstrengung zog Helen an dem Gürtel und die Schwester versuchte sie durch Robben zu unterstützen.

Die zweite Kugel zog Estrella bald einen Scheitel. Sie spürte den heißen Luftzug. Dann kam das Gefühl von Blut. Irgendwie musste das Geschoss sie doch noch gestreift haben.

Keuchend kam sie neben Helen an. Sie saßen auf dem Dachfirst. Auf dem Nachbardach versuchte der Mordschütze schnell eine Pistole erneut zu laden.

»Weg hier!«, kam es heiser von Helen.

Sie richteten sich auf und liefen über den schmalen Grad auf das angrenzende Dach und konnten dort hinter einem Kamin Deckung nehmen.

»Schätze«, knurrte Helen, »der Bursche hat noch mehr Freunde und die werden versuchen die Hauseingänge zu blockieren, wenn wir uns nicht beeilen.«

Da knallte der nächste Schuss. Er prallte vom Mauerwerk des Kamins ab.

»Jetzt! Die zweite Waffe kann er noch nicht geladen haben!«

Estrella hechelte den Satz fast.

Sie rasten los. Nun kam ihnen zugute, dass sie selbst bei Sturm auf dem schwankenden Schiff auf den Rahen herumturnten.

Als erneut ein Schuss aufblaffte, hatten sie bereits sechs Häuser weiter eine Dachluke gefunden, die sich öffnen ließ.

Im Stockdunkeln stolperten sie mehr die schmale Steige hinunter. Irgendwo hörten sie die Stimme eines erschreckten Bewohners, doch dann standen sie im Hausflur hinter der Eingangstür.

Die Corsarin öffnete sie einen Fingerbreit und schaute auf die nur dürftig erleuchtete Gasse. Sie sah niemanden.

»Raus!«, flüsterte sie.

Nun standen die beiden Frauen auf dem rauen Straßenpflaster. Die Gasse machte einen sanften Bogen. Von dort hörten sie das Geräusch rennender Stiefel. Estrella riss die Schwester in einen Hauseingang auf der anderen Seite. Sie versanken im tiefen Schatten. Da rannten bereits fünf dunkel gekleidete Gestalten an ihnen vorbei. Helen stieß die Schwester aus der Haustür. »Dort lang!«

Sie rannten die Gasse entgegengesetzt. Zwei Häuser weiter entdeckten sie einen schmalen Durchlass, gerade so breit, dass ein Mensch hindurchpasste.

Schwer atmend drückten sie sich an eine der hohen Hauswände. Da vernahmen sie Stimmen.

»Sie müssen hier irgendwo herauskommen. Haltet die Türen im Auge!«

»Wir trennen uns und postieren uns an den beiden Abzweigungen. Dann entgehen sie uns nicht.«

»Gut!«

Helen stieß die Luft aus. Vorsichtig tasteten sich die beiden Frauen vorwärts. Bald erweiterte sich der Gang und sie standen in einem Hof. In der Finsternis konnten sie nicht viel ausmachen, aber als der Mond sich durch eine Wolke gearbeitet hatte, erkannten sie einen Obstgarten.

»Meistens sind die Gärten miteinander verbunden. Wir könnten eine Parallelgasse erreichen«, flüsterte Estrella.

Sträucher zerkratzten ihnen die Gesichter. Aber die Corsarin hatte recht. Bald standen sie auf einer breiteren Straße, die auf die Hauptstraße zuführte. Dort hin, wo sich auch das Café befand, in dem sie Kopinski getroffen hatten.

Diese Erkenntnis führte dann auch zu Helens Frage: »Könnte Kopinski dahinterstecken?«

»Woher soll ich das wissen? Bei Neptun!«, fauchte Estrella und fuhr sich über den brennenden Schädel. Etwas Blut klebte an ihren Fingern danach.

»Wenn ich den Kerl erwische, schieße ich ihm die Eier ab.«

Helen lachte leise. »Dazu müssen wir erst mal abtauchen. Dahinten hinüber. Dort unter den Bäumen der Allee sind wir einigermaßen unsichtbar.«

Gesagt, getan.

Sie erreichten eine parkähnliche Anlage und dann erkannten sie auch die Silhouette von Sanssouci.

»Na sieh mal …«, dehnte Estrella.

Helen blieb einen Moment stehen, dann ergriff sie den Arm der Schwester und zischte: »Denkst du das, von dem ich denke, dass du es denkst?«

»Wenn wir uns schon mal die Nacht um die Ohren schlagen müssen … Außerdem bin ich stockwütend.«

»Ah ja«, machte Helen. »Und was hast du vor? Friedrich zusammenscheißen?«

Die Corsarin lachte rau. »Wäre doch nicht übel, oder? Aber ich denke, wir sollten mal schauen, ob man nicht an den Wachen vorbeikommt. Gibt es eigentlich diese Langen Kerls noch?«

»Keine Ahnung«, nuschelte die Schwester.

Durch das Wäldchen arbeiteten sie sich an die Außenmauer des Schlosses heran. Da vernahmen sie eine leise, aber feste Stimme hinter sich.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Estrella und Helen wirbelten herum.

In dem diffusen Licht sahen sie eigentlich nur einen Dreispitz. Doch dann kam die Gestalt näher. Ein nicht sonderlich großer Mann in der einfachen Uniform des Heeres. Er ging leicht gebeugt auf einen Krückstock gestützt.

Die Corsarin versuchte die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, sah aber sonst niemanden.

Der Mann kam näher und dann erkannte die Corsarin die zwei listigen Augen unter der angeschmuddelten Puderperücke.

»Na so was …«, kam es von dem Männchen. »Zwei Damen – Bon soir.« Er verbeugte sich leicht.

Helen zog etwas die Augen zusammen. Die Corsarin holte tief Luft und sagte dann: »Es scheint Leute in Potsdam zu geben, die etwas gegen uns haben. Die uns gerne aus dieser Welt schießen möchten.«

Auf der Stirn des Alten entstand eine scharfe Falte. Er reckte das Kinn vor und stützte sich noch schwerer auf seinen Stock.

»So, so …«, kam es leise über die schmalen Lippen. »Sagt sie das …«

Er machte ein paar Schritte und ließ sich auf einem Stein nieder. Den Stock zwischen den Beinen, beide Hände auf den Griff gestützt.

»Gäbe es einen Grund dazu?«

Estrella kam etwas näher und ging neben dem Mann in die Hocke.

»Wenn der Befehl nicht von Ihnen kommt, dann hat jemand bei Hofe sehr viel Angst. Angst davor, dass ich etwas wissen könnte, was ich besser nicht wüsste.«

Die wachen Augen des Mannes richteten sich auf die Sprecherin. »Was sollte das sein?«, fragte er in ruhiger Art.

Estrella hob ein wenig die Hände. »Ich weiß es eben selbst nicht.«

Der Alte wandte den Blick und schien in eine unbekannte Ferne zu schauen.

»Ihre Spur führt Sie nach Potsdam?«

»Richtig!«

»Weshalb interessieren Sie sich dafür?«

Die Corsarin ließ einige Sekunden vergehen, ehe sie antwortete: »Zu viele Tote hat es deswegen gegeben. Das muss aufhören. Außerdem hoffe ich, einen Hinweis auf die Person zu finden, die meinen Vater ermorden ließ.«

Ihre Stimme klang zuletzt hart.

Schweigen lag längere Zeit auf der Szene. Endlich erhob sich der Mann, machte ein paar Schritte, verhielt dann und drehte den Kopf. Er schaute die Corsarin lange ernst an. Dann: »Kommen Sie morgen um neun Uhr in den Rosengarten des Schlosses. Sagen Sie der Wache, Fritz habe Sie bestellt.« Damit ging er davon. Seine gebeugte Gestalt verlor sich in der Dunkelheit.

Helen ergriff fest den rechten Arm der Schwester. »Bist du verrückt? Wer war das? Wieso erzählst du ihm alles?«

Die Corsarin schaute der Schwester in die Augen. »Es war der König.«

Helen klappte den Mund auf.

*

Auf Umwegen hatten sie ihre Pension erreicht. Sie ließen alle Vorsicht walten. Im Zimmer sah es verheerend aus.

»Da war jemand gründlich«, knurrte Helen.

Estrella bestätigte das. »Aber unsere Kleider sind noch da. Die sollten wir morgen früh anziehen.«

Der nächste Tag brach strahlend an.

Frühzeitig machten sich Estrella und Helen auf den Weg. Was ihnen auffiel, war, dass überall Grüppchen von Menschen zusammenstanden und über irgendwas diskutierten. Unruhe war überall zu spüren und sie steigerte sich, als sie sich dem Schloss näherten.

»Da stimmt was nicht«, raunte Helen. »Die Leute wirken nervös.«

»Ist mir auch aufgefallen … warte mal.« Die Corsarin senkte etwas den Sonnenschirm und näherte sich einer Gruppe Soldaten.

»… sollte endlich Nägel mit Köppe machen, der Alte«, sagte gerade ein uniformierter Veteran. »Immer der Ärger in Schlesien!«

»Ich weiß nicht, warum Kaiserin Maria Theresia Preußen nicht in Ruhe lässt«, kam es von einem jungen Leutnant.

»Tja«, machte der Veteran. »Wenn die Bayern sich uns anschließen würden …«

Ein dritter zupfte an seiner Uniformmütze. »Jedenfalls hat Friedrich den ganzen Rat vor einer Stunde versammelt.«

Estrella entfernte sich von der Gruppe und zog ihre Schwester sanft mit sich auf die andere Straßenseite.

»Unser schöner Plan ist leider etwas durchkreuzt worden«, sagte sie dabei. »Maria Theresia legt sich wegen Schlesien wieder mit Preußen an.«

Helen blieb stehen. »Das heißt?«

»Dass der König andere Probleme hat, als sich um irgendwelche ominösen Dokumente oder Gerüchte zu kümmern.«

Helen lachte leise. »Ist doch fein. Dann haben andere auch keine Zeit. Mobilmachung bedeutet immer Chaos. Das erleichtert unser Vorhaben.«

Die Corsarin schaute ihrer Schwester ernst in die Augen. »Du hast denselben Gedanken wie ich.«

Sie gingen weiter.

»Lass uns Kaffee trinken«, schlug Estrella vor.

Bald saßen sie wieder in dem Lokal, in dem sie Kopinski getroffen hatten.

»Es gibt viele Cafés hier. Hat das einen Grund?«, erkundigte sich Helen.

Estrella schürzte die Lippen. »Vielleicht erleben wir ja eine Überraschung.

Tatsächlich tauchte nach einer halben Stunde Dr. Kopinski auf. Er schaute sich um und steuerte dann zielstrebig auf den Tisch der beiden Frauen zu. Verbeugung und: »Darf ich mich setzen?«

Estrella lächelte zuckersüß. »Aber sicher, Doktor.«

Kopinski verbeugte sich wieder und nahm Platz. Er bestellte Kaffee.

Estrella und Helen verhielten sich strategisch abwartend. Als der Arzt seinen Kaffee bekommen hatte, räusperte er sich. Dann beugte er sich verschwörerisch etwas vor. »Frau Aragon, ich denke, dass ich Ihnen helfen kann.«

Die Corsarin hob die Augenbrauen und schwieg.

»Sie haben sicher die Nervosität allgemein in dieser Stadt bemerkt«, fuhr er fort. Estrella bestätigte das.

»Ja«, machte Kopinski. »Es droht wieder eine Auseinandersetzung betreffend Schlesien.«

Estrella zuckte die Achseln. »Nun – das berührt uns nicht. Wir reisen heute noch ab.«

Als sie bemerkte, dass Helen die Stirn runzelte und etwas erwidern wollte, trat sie diese unter dem Tisch vor das Schienbein.

Kopinski zeigte sich überrascht. »So? Ich dachte, Sie suchen etwas Bestimmtes hier in Potsdam?«

Die Corsarin nickte. »Richtig, aber das hat sich erledigt. Wir wissen, was wir wissen müssen.«

Täuschte sie sich oder wich Kopinski etwas das Blut aus dem Gesicht?

Leicht fahrig nestelte er an seinem Halstuch. »Sie wissen … hm … ja … darf ich fragen …?«

Nun lachte Estrella hell auf. »Von wem? Vom König natürlich.«

Nun schien es mit der Beherrschung des Arztes etwas schwer bestellt zu sein. »Vom … König …«, stammelte er.

Die Corsarin beugte sich vor. »Zufällig trafen wir ihn in der Allee vor dem Haupttor des Schlosses. Er kannte mich noch aus der Zeit, als ich klein war. Nun, er hat mir gesagt, was ich wissen wollte. Ihn persönlich schien es wenig zu interessieren. Er meinte nur: Meine Minister machen immer zu viel Aufhebens von solchen Dingen. Was soll ich mit dem Wissen anfangen?«

Innerlich lachte die Corsarin, als sie bemerkte, dass Kopinskis Hand zitterte, als er die Tasse zum Mund führte. Als er sie nach einem tiefen Schluck wieder absetzte, atmete er nervös.

»Ja dann …« Er erhob sich. »Verzeihen Sie meine Damen. Dann ist ja alles zu Ihrer Zufriedenheit. Ich muss zurück. Es gibt eine Krisensitzung und der König regt sich immer sehr schnell auf. Da ist es gut, wenn ich in seiner Nähe bin.«

Er zahlte an der Theke und verließ eilig das Café.

»Was sollte das?« Helens Gesicht stellte ein großes Fragezeichen dar.

Estrella antwortete nicht, sondern stand rasch auf. »Komm! Wir müssen ihm hinterher!«

Sie warf einen ausreichenden Geldbetrag auf die Theke und rauschte aus der Tür. Helen raffte den Rock und folgte ihr.

»He! Nun warte doch!«

Rasch holte sie die Corsarin ein. »Ich will wissen, was du …«

Estrella unterbrach sie unwirsch. »Er ist etwas aus der Fassung geraten. Deshalb wird er sogleich zu seinen Kumpanen oder Auftraggebern eilen.«

Helen pfiff durch die Zähne.

Sie hielten solchen Abstand, dass sie Kopinski gerade noch in der promenierenden Menschenmenge ausmachen konnten. Er folgte dem Boulevard und bog dann zum Brandenburger Tor ab.

Estrella und Helen folgten.

Ohne sich einmal umzusehen, betrat der Arzt ein zweistöckiges Gebäude im Renaissance-Stil mit weiß gestrichener Fassade.

Die beiden Beobachterinnen blieben hinter einem Rosenbusch stehen.

»Fein«, kam es trocken von Helen. »Was nun?«

»Abwarten«, kam es kurz von Estrella.

Tatsächlich bewegte sich nach fünf Minuten in der ersten Etage an einem Fenster eine Gardine.

»Das dachte ich mir«, flüsterte die Corsarin. »Er wollte doch sichergehen, dass niemand das Haus beobachtet. Wir warten noch zwei Minuten, dann sehen wir uns das mal näher an.«

Gesagt – getan.

Unauffällig näherten sie sich dem Haus. Es gab keinerlei Hinweisschilder auf die Bewohner. Das signalisierte, dass man es mit einem inoffiziellen Regierungsgebäude zu tun hatte.

»Friedrichs Geheimdienst?«, fragte Helen.

»Gut möglich.«

Vorsichtig öffnete Estrella die große Tür. Sie blickte in ein komfortables Treppenhaus.

»Also eine Mietskaserne ist das hier nicht«, kam es leise von Estrella.

»Wir können hier nicht einfach reinmarschieren«, flüsterte ihre Schwester.

»Tun wir auch nicht. Komm!«

Sie verließen den Hauseingang und strebten wieder dem Ortsmittelpunkt zu. In der Pension packten sie ihre Sachen zusammen und begaben sich zur Postkutschen-Station.

Die Königliche Post war pünktlich.

Schnaubend hielten die Pferde an. Die Tür des gelben Wagens öffnete sich. Zwei Damen der höheren Gesellschaft stiegen aus. Dann folgte ein großer, rotbärtiger Mann in einer wildledernen Reisejacke und Stulpenstiefeln. Auf dem Kopf thronte ein breitrandiger weicher Hut. In der rechten Hand hielt er einen typischen Landarztkoffer.

Er blieb kurz stehen, reckte sich und lief dann scheinbar geistesabwesend auf Estrella und Helen zu. Er blickte die Straße entlang und stieß so mit Estrella zusammen.

»Oh … ich bitte vielmals um Verzeihung«, stammelte er etwas hilflos. Er nahm den Hut ab und verbeugte sich. »Ich bin wohl ganz in Gedanken gewesen.«

»Es ist ja nichts passiert«, kam es kokett von der Corsarin zurück. Dann raunte sie: »Sam – wir müssen hier verschwinden. Jemand ist sehr erpicht darauf, uns aus dem Weg zu räumen. Einen Kilometer vor Potsdam ist eine alte Mühle. Dort treffen wir uns am Abend.«

Laut sagte sie: »Trotzdem sollten Sie etwas mehr auf den Weg achten.«

Sam verbeugte sich und setzte den Hut wieder auf. Dann stiefelte er auf ein Kaffee-Haus zu.

Estrella und Helen bestiegen die Kutsche. Die Corsarin fühlte hautnah, dass man sie beobachtete. Als die Kutsche anruckte, erhaschte sie beim Blick aus dem Fenster die Gestalt des angeblichen Leibarztes des Königs.

Die Postkutsche wendete in einem weiten Bogen und verließ durch das Brandenburger Tor die Stadt. Der Weg wurde schmaler und die Bewaldung dichter.

Estrella beugte sich aus dem Fenster und rief dem Kutscher zu: »Anhalten! Wir müssen wieder aussteigen!«

Der Kutscher zeigte sich zwar erstaunt, hielt aber den Wagen an.

Als das Gefährt in einer Staubwolke um die Wegbiegung verschwand, ergriffen Estrella und Helen ihre Reisetaschen und schlugen sich rasch in das Dickicht. Da vernahmen sie auch schon das Näherkommen von Hufschlag.

Zwei Reiter tauchten auf. Sie hielten ihre Pferde an. »Die beiden sind abgereist. Ohne Zweifel! Wir sollten umkehren«, meinte einer der Reiter.

»Die Anweisung lautete, der Kutsche zu folgen.«

»Quatsch!«, kam es von dem ersten Sprecher. »Was soll das bezwecken? Die beiden steigen nicht mitten im Wald aus. Da würden sie rasch vor Berlin unter die Räuber fallen.«

Er wendete sein Pferd, der andere folgte.

»Na, da sind wir ja noch gerade rechtzeitig abgetaucht«, murmelte Helen.

»Was jetzt?«

»Zur Mühle!«

Helen hielt ihre Schwester am Ärmel des Kleides fest. »Sag mal, wieso ist Sam hier und von welcher Mühle redest du?«

Die Corsarin kicherte. »Denkst du, ich stürze mich unvorbereitet in ein Abenteuer? Du erinnerst dich, dass ich in Berlin in einen bestimmten Block wollte. Dort gibt es eine Kneipe. Die betreibt ein alter Freund von Sam.«

Helen schaute die Schwester mit einem Ausdruck von Erstaunen und Hochachtung an. »Du bist ein Fuchs!«, stieß sie dann aus.

Sie machten sich auf den Weg.

Sie erreichten einen Trampelpfad, der sich bald an einem Bächlein entlang zog. Der Wald lichtete sich etwas und sie gelangten zu einem Weiher. Halb unter dichten Trauerweiden verborgen blinkte ein Mühlrad hervor.

»Diese Mühle ist stillgelegt?«, fragte Helen und angelte nach ihrer Pistole.

»Ja«, bestätigte Estrella. »Der letzte Müller starb vor einem Jahr. Seitdem kümmert sich keiner darum.«

»Hoffentlich hat sich dort kein Gesindel eingenistet.«

Die Corsarin lachte rau. »Ich hoffe nicht. Sonst müssten wir denen Beine machen. Komm!«

Helens Sorge zeigte sich unbegründet. Dem Staub nach hatte hier seit langer Zeit niemand mehr die Tür geöffnet.

»Bueno! Dann wollen wir uns mal etwas einrichten«, sagte die Corsarin.

*

Zu später Stunde trafen in einer Kneipe in Travemünde vier Herren zusammen. Dem einen sah man den Engländer bereits auf mehrere Meter an. Bei einem anderen handelte es sich zweifelsfrei um einen Franzosen und die anderen beiden waren Preußen.

Das Quartett nahm an einem runden Ecktisch Platz, von dem aus sie einen guten Teil des Hafens überschauen konnten. Talglichter und Laternen der Schiffe blinken herüber.

Beim Wirt, einem dicken gemütlichen Nordländer, bestellten sie Bier.

»Monsieur«, begann einer der Preußen, »ich kann Ihre Unruhe verstehen. Aber es ist ja noch nichts konkret.«

Der Angesprochene knetete seine Finger. »Die Sache ist brisant!« Er wandte sich an den Engländer. »Ich denke, Ihr König kann auch nicht an einem Skandal interessiert sein. Die Sache könnte eskalieren. Um das Gesicht zu wahren, könnte es Krieg geben.«

Der zweite Preuße, ein Mann von vielleicht sechzig Jahren mit einem blonden Backenbart, fingerte an seinem Gehrock herum. »Ich denke nicht, dass es einen Krieg geben wird. Das würde nichts ändern. Aber beide Könige hätten arge Probleme. Louis wäre bloßgestellt und England … na ich weiß nicht, ob Georg damit gedient ist, die Lage zu nutzen. Es brächte wenig Vorteile.«

Der Franzose nahm einen Schluck Bier. Dann bemerkte er: »Es darf nichts an die große Glocke gehängt werden. Da gebe ich Ihnen recht. Aber diese Corsarin wird die Wahrheit für sich nutzen. Sie könnte beide Länder aufeinanderhetzen.«

Der Preuße schüttelte den Kopf. »Was hätte sie davon?«

Der andere Preuße, ein recht junger glatt rasierter Mann, als Einziger in einer militärischen Uniform, die ihn als Oberleutnant auswies, trommelte mit den Fingern auf die polierte Tischplatte.

»Die beiden Mächte England und Frankreich könnten sich nicht mehr auf die Neue Welt konzentrieren. Die Siedler würden sich zusammenraufen und einen Aufstand durchführen. Dieser … wie heißt er noch … Washington könnte versuchen, eine Unabhängigkeit durchzusetzen.«

Der ältere Preuße schüttelte nun den Kopf. »Papperlapapp! Das wird nie passieren. Außerdem, der französische König soll doch, so verlautet es in diplomatischen Kreisen, eventuell die Siedler gegen England unterstützen wollen.«

Der Franzose winkte ab. »Ach was! Das gäbe nur Frust mit England. Mein König will nur Louisiana zurück. Den Rest kann sich England einverleiben.«

Der Engländer zog eine Augenbraue hoch. »Das wäre neu!«

Der Oberleutnant beugte sich vor. »Meine Herren! Es gibt doch jetzt Wichtigeres. Preußen darf nicht in eine internationale Verwicklung geraten. Wir haben Probleme mit Österreich und Schlesien. Mal wieder! Dann ist da noch Russland. Man weiß nie, auf welche Seite sich Katharina schlägt.«

»Die Corsarin soll ihr ja das Leben gerettet haben, so munkelt man«, kam es von dem Franzosen.{iii}

Der Engländer nickte. »Also besteht die Gefahr, dass Russland sich in Amerika einmischt.«

Der Franzose beugte sich nun vor. »Monsieurs, wir müssen dieses Dokument … oder was es ist … vernichten. Es darf keinen Beweis geben!«

In diesem Moment erschien ein Bote. Abgehetzt. Er musste einen Gewaltritt hinter sich haben.

»Großkurth!«, rief der Leutnant. »Was ist passiert? Sind die Österreicher einmarschiert?«

Der Mann verneinte und ließ sich erschöpft auf einem Stuhl nieder. »Diese Corsarin ist mit der Postkutsche abgereist.«

Der Leutnant schaute irritiert. »Und?«

»Sie kennt den Inhalt des Dokumentes oder besitzt es.«

Alle wurden bleich.

»Wie das?«, kam es rau von dem Engländer.

»Der König selbst gab es ihr.«

Minutenlanges Schweigen. Dann stand der Leutnant auf. »Wir müssen sie abfangen!«

Der Franzose stand ebenfalls auf. »Eine Katastrophe! Aber wo sollen wir sie finden? Wo liegt ihr Schiff?«

Der Leutnant blickte aus dem Fenster. »Ich weiß es nicht. Aber möglicherweise vor unserer Nase.«

*

Der Regen rauschte wie ein gewaltiger Wasserfall.

In dem Kamin der Mühle brannte ein anheimelndes, wärmendes Feuer. Langsam wurde es gemütlich. Trotz des vielen Staubes, den die beiden Frauen bisher nur notdürftig beseitigen konnten.

»Sam wird bald kommen«, sagte Estrella leise.

Helen nickte. »Hoffentlich wird er nicht beschattet.«

»Das ist unwahrscheinlich. Ein alter Landarzt auf der Durchreise. Wer sollte ihn verdächtigen?«

Helen machte eine vage Handbewegung. »Ich denke nicht, dass der preußische Geheimdienst dumm ist.«

Sie hatten vorsichtshalber die schweren Blendläden kontrolliert. Es drang kein Licht nach außen. Nur den Rauch aus dem Kamin mochte man sehen. Doch der Regen drückte ihn tief in den Wald.

Sie zuckten zusammen, als es viermal klopfte. Estrella machte das Zeichen des Schweigens.

Dann noch einmal nach einer Pause zweimal.

»Das ist Sam«, flüsterte Helen, ergriff aber vorsichtshalber den Degen, ehe sie öffnete.

Der Erste Offizier der SILVER STAR sah aus, als sei er den Weg geschwommen. Er nahm den Hut vom Kopf und schüttelte ihn. Eine große Wasserlache bildete sich sogleich auf den alten Dielen.

»Thunder!«, knurrte er. »Teufelswetter!«

Estrella klopfte ihm auf die nasse Schulter. »Dann sind die Aussichten gut, dass du nicht verfolgt worden bist.«

»Ich hab aufgepasst. Keine Maus hat mich gesehen!«

Etwas später saß er in eine warme Decke gehüllt am Kamin an dem großen eckigen Tisch und trank Rum. »Als Landarzt hat man ja immer Medizin dabei«, feixte er und seine listigen Augen funkelten belustigt.

Seine nassen Sachen hatte Helen zum Trocknen aufgehängt.

»Dann hast du also mit Friedrich persönlich gesprochen«, brummelte der Alte später, nachdem die Corsarin ihm einen Bericht gegeben hatte. »Was ist er für ein Typ?«

Estrella lachte leise. »Ein netter älterer Herr. Das heißt … er sieht wohl älter aus, als er ist.«

Sam schmunzelte. »So, so …«

Helen hatte sich auch etwas Rum aus der Flasche eingeschenkt. »Wir stehen vor dem Problem, dass durch die politische Krise ein Besuch im Schloss nicht einfach möglich ist. Friedrich hat andere Probleme. Außerdem scheint es mir, dass gewisse Kreise am Hofe nicht daran interessiert sind, dass wir anwesend sind.«

Die Corsarin musste nun laut auflachen. »Das hast du aber schön gesagt!«

Sie setzte sich nun ebenfalls. »Jemand hat bestimmte Leute gewarnt. Dieser angebliche Leibarzt gehört dazu. Dadurch, dass er nun vermuten muss, wir würden den Inhalt des Dokumentes kennen, wird man uns jagen.«

»So ist es!«, murrte Helen. »Wir hätten uns leise verabschieden sollen.« Sie warf der Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu.

Diese winkte ab. »So wissen wir doch wenigstens, wen wir aufgescheucht haben. Man wird uns in Berlin suchen.«

Sam verzog das Gesicht. »Oder die Häfen nach der SILVER STAR abklappern.«

Estrella grinste. »Das neue Schiff kennt aber niemand. Wenn unsere Mannschaft keinen Blödsinn macht, können wir den Spionen direkt vor der Nase ankern.«

»Diego hat sie unter Kontrolle«, versetzte Sam.

Die Corsarin hoffte es. Obwohl sie ihrem Ersten Kanonier und außerdem Zweiten Offizier vertraute.

»Du hast aber hier einen guten Zufluchtsort. Ich denke, der ist sicher«, brummte Sam Bush.

»Ich hoffe es!«, kam es kurz zurück von der Corsarin. »Wir müssen nun überlegen, wie wir weiter vorgehen.«

Der alte Seemann lächelte spitzbübisch. »Wie wär’s mit einem Werbefeldzug?«

Estrella und Helen schauten sich fragend an.

Sam richtete sich etwas auf. »Ich bin doch ein reisender Landarzt. Aber aus welchem Grund bin ich in Potsdam? Wo liegt mein Revier? Also … ich stamme aus Schottland. Das nimmt man mir mit meinem Akzent hier ab. Ich habe ein Mittel erfunden, das gegen die Gicht hilft. Irgendjemand … wir müssen da was aufbauen … hat mich herbestellt.«

Die Corsarin verstand nicht, worauf der Alte hinzielte. Er schlug sich auf die Schenkel. »Friedrich klagt über Gicht. Das ist bekannt. Er verträgt die Kriegslager nicht.«

Estrella pfiff durch die Zähne und Helen machte runde Augen.

»Genial«, dehnte die Corsarin. »Jetzt muss ein Lockvogel her.«

Sam begann seine alte Pfeife zu stopfen. Dabei fragte er: »Ist der Unterschlupf wenigstens eine Woche sicher?«

Estrella nickte. »Ich denke schon.«

»Gut«, kam es von Sam. »Dann hört mal zu …«

*

Der nächste Morgen brach trübe an.

Sam hatte sich bereits vor Einbruch der Dämmerung auf den Weg gemacht.

Estrella reckte sich auf ihrem Lager. Sie hatten es sich einigermaßen gemütlich gemacht. Helen gähnte unterdrückt. Schwaches Licht drang durch eine Ritze zwischen den Holzbrettern der Blendläden. Sie würden es abdichten müssen.

Das Feuer im Kamin war bis auf einen kleinen Rest niedergebrannt.

Die Corsarin blickte dort hinüber und bemerkte: »Wir werden am Tage auf Feuer verzichten müssen.«

Helen erhob sich halb. Sie blinzelte. »Na ja, zum Kaffee machen reicht es noch. Die winzige Rauchfahne wird man nicht sehen.«

Estrella stand auf und lief barfuß zur Tür. Sie zog die beiden schweren Riegel zurück und öffnete vorsichtig.

Was sie erblickte, war dicker, trüber, feuchter Nebel. Man sah gerade den Rand des Mühlenteiches.

»Selbst ein größeres Feuer wird niemand sehen«, brummelte sie.

Helen hatte inzwischen die blecherne Kaffeekanne vorbereitet.

»Wir könnten den Nebel nutzen und ein erfrischendes Bad im Teich nehmen«, schlug ihre Schwester vor.

Helen stimmte zu.

Von dem schmalen Holzsteg vor der Eingangstür der Mühle ließen sie sich ins Wasser gleiten.

Es war kalt. Es erfrischte.

Estrella bekam sogleich einen klaren Kopf. Sie tauchte unter und dann schwammen sie beide in ausholenden Zügen auf die kleine Insel in der Mitte des großen Teiches zu. Ein schmaler Gras- und Moosstreifen umfasste die Insel wie einen Ministrand. Der Rest wurde von zwei Trauerweiden mit tief hängenden Ästen abgedeckt. Sie reichten auf einer Seite bis auf die Wasseroberfläche. Die Insel mochte wohl vier mal vier Meter messen.

Der Dunst lag so tief, dass Estrella ihre Schwester nur schemenhaft sah, obwohl diese sich in nur zwei oder drei Metern Entfernung im Wasser aufhielt.

Estrella hatte die Absicht, die Insel einmal zu umschwimmen und dann zur Mühle zurückzukehren. Helen erkannte die Absicht und lenkte zu ihr herüber.

Da vernahmen sie hohlen Hufschlag. Helen hielt auf die Schwester zu. »Das ist verdammt nah!«, zischte sie.

»Das kann täuschen. Der Nebel verfälscht. Aber lass uns auf die Insel verschwinden.«

Nur kurze Zeit später hockten sie gut gedeckt unter der Trauerweide. Der Hufschlag nahm zu und es schienen mehrere Reiter zu sein.

»Verflucht«, spie Estrella aus. »Wer mag das sein?«

»Sicher keine Freunde von uns«, kam es trocken zurück.

Die Kälte kroch an ihnen hoch. Sie begannen zu zittern.

Der Hufschlag näherte sich vom Westufer des Teiches. Pferde schnaubten, dann schienen sie zu halten.

»Verdammte Suppe«, rief jemand mit Fistelstimme.

»Was sucht ihr eigentlich an der alten Mühle? Da lebt seit längerer Zeit keiner mehr«, murrte ein anderer. Leiser, aber vernehmlich. Der Nebel übertrug jeden Schall besonders gut. Sehen konnte man nichts. »Die Pferde brechen sich nur die Beine.«

»Befehl vom Hauptmann«, kam es kurz von einer Bassstimme.

»Hauptmann!«, kam es verächtlich von der Fistelstimme. »Das kommt von diesem Protowski. Was will der eigentlich hier?«

»Er kennt jemanden im Innenministerium. Irgendeine Sondereinheit aus Sankt Petersburg.«

»Ha!«, rief die Fistelstimme wieder. »Denke eher, er kocht sein eigenes Süppchen. Also … ich kehre jetzt um. Mag der Hauptmann selber nachsehen. Ich will nicht im Mühlenteich ersaufen, nur weil man die Hand vor Augen nicht sieht.«

Einen Moment war es still. Dann sagte der Bass: »Na ja, wir können ja morgen noch mal kommen.«

Helen und Estrella schauten durch die Äste der Trauerweide. Da lichtete sich der Nebel für einen Moment. Sie erkannten drei Reiter in der Uniform der Preußen.

Einer der Männer deutete nach vorn. »Da ist die Mühle. Da ist doch völlig tote Hose. Geschlossene Blendläden – wie immer.«

Da deckte eine neue Nebelwolke einem Leichentuch gleich die Szenen wieder zu.

»Du hast recht. Da ist niemand. Kommt zurück! Die Sache ist erledigt.«

Die Corsarin und ihre Schwester hörten, wie der Trupp sich entfernte. Der Hufschlag verebbte. Zwischendurch vernahm man noch zweimal einen lauten Fluch, weil sich wohl einer der Reiter an einem Ast den Kopf gestoßen hatte.

»Schwein gehabt«, flüsterte Helen mit blauen, zitternden Lippen.

Estrella nickte. »Jetzt aber nichts wie zurück!«

Gegen die feuchte Kälte fühlte sich das Wasser direkt warm an. Sie schwammen durch die dichte Nebelwand auf den Steg zu und befanden sich bald wieder in der Mühle. Die Corsarin fachte das Feuer an. »Das sieht jetzt wirklich niemand«, stieß sie hervor.

»Wer mag Protowski sein?«, murmelte Helen.

»Ha!«, machte ihre Schwester. »Jemand, der hinter dem Dokument her ist.«

Die Corsarin setzte sich auf einen Hocker. »Möchte nur wissen, weshalb man sich die Mühle ansehen wollte?«

»Vielleicht hat der Postkutscher gepetzt«, kam es verächtlich von Helen. Estrella nickte. So könnte es sein. »Jedenfalls müssen wir vorsichtig sein. Vielleicht finden wir ja noch ein sichereres Quartier.«

Nachdem sie sich abgetrocknet und Kaffee getrunken hatten, kleideten sie sich an und löschten das Feuer. Die Corsarin öffnete vorsichtig noch einmal die Eingangstür. Unverändert hing der dicke Nebel über dem Land.

Das ist gut, durchzuckte es sie. Dann sind wir erst einmal sicher.

Am Abend kehrte Sam zurück. Nach dem verabredeten Zeichen hatten sie ihn eingelassen. Die Luft erwies sich jetzt als klar und kühl.

»Ist dir auch niemand gefolgt?«, wollte die Corsarin wissen. Sam verneinte. Sie berichtete von dem Reitertrupp. Sam hatte einiges erfahren.

»Diplomatische Kreise sind sehr beunruhigt. Dieser Protowski ist ein weitläufiger Verwandter der Zarin. Er steht in enger Verbindung mit einigen Geheimdienstkreisen der Preußen. Dieser angebliche Leibarzt des Königs – was er auch ist – gehört mit zu dem Kreis. Er geht im Amt ein und aus. Baron Schöning scheint auch noch zu leben. Wider Erwarten!« Sam spuckte aus. »Eine gewisse Gruppe ist hinter der Information her, die auch du suchst. Vermutlich will man damit entweder die Königshäuser erpressen oder einen Staatsstreich anzetteln.«

Estrella rieb sich das Kinn. »Ein Staatsstreich in Preußen wäre Blödsinn. Friedrich kratzt die Sache nicht.«

Sam wiegte den Kopf. »Einen Vorteil hätte er schon davon. Zwei Großmächte wären beschäftigt und er hätte etwas Luft. Vor allem, da ihm Maria Theresia im Moment wieder die Hölle heißmacht.«

Helen füllte drei Becher mit Rum. »Das Problem ist, an diese … Information zu gelangen.«

Sam kicherte. »Seit heute bin ich niedergelassener Arzt in Potsdam. Es gibt hier nur eine Praxis. Die betreibt ein Doktor Grundner. Der ist schon bald achtzig Jahre. Ich habe mich mit ihm angefreundet. Ich erzählte ihm, ich sei lange Jahre Schiffsarzt gewesen. Bei der englischen Marine. Dann hätte ich eine Praxis in Hampshire gehabt und sei nun in Preußen, weil ein Bruder von mir in Berlin lebt. Da ich auf Gicht spezialisiert sei, wollte ich mein Wissen der Not leidenden Bevölkerung zur Verfügung stellen. Es gäbe da ein Serum. Es sei von mir entwickelt worden und basiere auf einer südamerikanischen Heilpflanze. Um nicht zu dick aufzutragen, flocht ich ein, dass es nicht immer helfe, aber in vielen Fällen. Zumindest betreibe es die Linderung der Anfälle.«

Die Corsarin runzelte die Stirn. »Das hat dir dieser Dr. Grundner abgekauft? Ohne Nachweis?« Zweifel klangen in ihrer Stimme mit.

Wieder kicherte Sam. »Er ist sehr senil. Er war richtig froh, jemanden gefunden zu haben, der ihn entlastet. Ich bin jetzt sein Partner. Doktor Samuel Bush. Meine Papiere seien noch an Bord der MS FERROW in Kiel.«

»Irgendwann wird er sie sehen wollen. Was ist mit Anmeldung an der Präfektur?« Helen wedelte mit den Händen.

Sam winkte ab. »Das hat Zeit und Grundner ist ein angesehener Mann. Aber er wird innerhalb der nächsten zwei Wochen nicht weiter fragen.«

Estrella ergriff seine Hand. »Er wird doch merken, dass du nicht solch großes medizinisches Wissen aufweisen kannst.«

Der Alte begann seine Tabakspfeife zu stopfen. »Als ehemaliger Offizier der Krone weiß ich eine Menge. Nicht immer hatten wir einen Arzt an Bord. Außerdem habe ich sehr viel Grundwissen von deiner Mutter Albany gelernt. Wie du weißt, hat sie mehrere Semester Medizin im Privatstudium absolviert.«

Estrella nickte. Sie wusste, dass ihre Mutter eine sehr gebildete Frau gewesen war. Ihre Großeltern hatten immer für die besten Lehrer gesorgt.

Endlich nickte die Corsarin. »Bueno! Hoffen wir, dass alles gut geht. Aber ich denke, hier ist es für uns nicht mehr sicher.«

»Am Arzthaus – es liegt mitten in der Stadt – gibt es einen Anbau. Dort fallt ihr nicht auf. Ich werde Grundner erzählen, meine beiden Nichten kämen morgen zu Besuch. Sie würden in einigen Tagen nach Colonia weiterreisen.«

Nach kurzer Diskussion stimmten Estrella und Helen Sams Plan zu. Von Potsdam aus konnten sie auch besser operieren. Denn eines war sicher: Sie mussten ins Schloss.

*

Vier Tage später tauchte Diego in Potsdam auf.

In einer Kneipe hatte er nach Doktor Bush gefragt und sogleich Auskunft erhalten. Der alte Grundner sorgte schon für die entsprechende Propaganda und Sams Gichtmittel, was er tatsächlich von Eingeborenen einer kleinen südamerikanischen Insel kannte, war gefragt.

Der Erste, den er geheilt, oder besser gesagt, dem er geholfen hatte, war der achtzigjährige Postmeister Bolten gewesen. Nachdem ihm Sam eingeschärft hatte, wenigstens acht Tage keinen Schnaps zu trinken (»Sonst holt dich der Sensenmann«), ging es dem Alten nach zwei Tagen erheblich besser. Allerdings konnte man das wohl weniger auf das Mittelchen schieben, als darauf, dass der Fusel sich in den Knochen abgebaut hatte.

Doch das war egal! Bolten sorgte für eine super Propaganda. Das Wartezimmer von Dr. Grundner war voll wie nie zuvor und der klatschte vergnügt in die Hände, denn Sam führte einen großen Teil der Einnahmen großzügig an den Potsdamer ab.

Als Sam dann Diego im Wartezimmer sitzen sah, verengten sich seine Augen leicht. Er winkte ihm zu und sagte laut: »Notfälle muss ich vorziehen. Es geht gleich weiter.«

Der Erste Kanonier der SILVER STAR reagierte rasch und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht los.

Im Sprechzimmer zog Sam die Vorhänge zu und raunte: »Wenn du auftauchst, hat es einen ernsten Hintergrund.«

Der Spanier nickte. »Ein französischer Schoner ist eingelaufen.«

Sam zuckte die Achseln. »Weshalb nicht?! Preußen treibt Handel mit den Franzmännern und zahlreiche Diplomaten tummeln sich am Hof.«

»Ich weiß«, kam es von Diego. »Aber erstens ist es kein Händler. Das Schiff hat getarnte Kanonen. Zweitens ging eine Bekannte von uns von Bord.«

Sam runzelte die Stirn und machte die Geste des Weitererzählens.

»Madame Vaubernier«, platzte Diego heraus.

Einen Moment war es still in der Sprechstube. Dann stieß Sam hervor: »Ei der Daus!« Er fuhr sich durch das rötliche Haar. »Das Weib gibt nie auf.«

»Sie wurde von Schöning abgeholt.«

»Tja«, machte Sam und ließ sich auf einen der weißen Holzstühle nieder. »Es gibt immer Leute, die dem Deibel von der Schippe springen. Schöning! Der Baron und Madame! Schönes Gespann!«

Der Erste Offizier der SILVER STAR erhob sich und legte Diego die Hand auf die Schulter. »Danke, dass du den Weg gemacht hast. Es ist besser, wenn du zum Schiff zurückkehrst. Sei vorsichtig. Es ist ein langer Weg.«

Als der Spanier gegangen war, schob sich Estrella durch die Tür. Ihre Miene war finster.

»Jeanne Vaubernier!«, zischte sie. »Was will sie hier?«

Sam lachte hart auf. »Was wohl? Das Geheimnis! Sie wird bald mittels Schöning am Hofe auftauchen.«

Die Corsarin grinste. »Denke, bei Friedrich werden ihr ihre Avancen wenig nützen.«

»Da magst du recht haben.«

Tatsächlich erfuhren Estrella, Helen und Sam am Abend davon, dass eine vornehme Kalesche in Potsdam eingetroffen war und eine Dame und ein Herr sich in der Bäkemühle einquartiert hätten. Der Mühle hat seit kurzer Zeit Otto von Hake ein kleines, aber feines Gasthaus angeschlossen. »Das hängt vielleicht auch mit seinem Zollrecht zusammen. Der Besitz ist sehr groß geworden.«

Estrella schmunzelte. Sie klopfte ihrem Ersten auf die breite Schulter. »Alle Achtung, Sam. Du hast ja schon ein gutes Spionagenetzwerk aufgebaut.«

Estrella und Helen nahmen sich vor, als Personal verkleidet die Zimmer unter die Lupe zu nehmen.«

Am Abend erreichten sie das Gebiet der Mühle.

»Weshalb hat die Vaubernier nicht ein Gasthaus direkt in der Stadt genommen?«, fragte sich Helen.

Die Corsarin schaute sich um. »Sie denkt strategisch. Hier ist sie möglicherweise ungestörter und hat auch im Falle eines Falles Fluchtmöglichkeiten.«

Ihr Blick glitt über den Mühlenbach, in dem sich die letzte Abendsonne spiegelte.

Vor dem lang gestreckten Haus stand eine Kalesche. Auf der Seitentür prangte das preußische Wappen.

»Na schau an …«, flüsterte Estrella. »Madame ist wieder voll bei der Arbeit!«

Helen grinste. »Wundert dich das? Sie hat zwar gesagt, dass sie dich nicht mehr verfolgen will, aber hier geht es ja um politischen Einfluss.«

Gut versteckt warteten sie. Nach einer Weile trat ein Mann aus dem Haus. Er trug Zivil.

Helen staunte. »Das ist doch unser angeblicher Doktor …«

»Hm!«, bestätigte ihre Schwester. »Madame hat Kontakt zum königlichen Geheimdienst aufgenommen. Ob sie dem Doc einen …«

Helen kicherte. »Möglich ist alles.«

Die Kutsche fuhr ab.

»Es sieht nicht so aus, als ob unsere Freundin ihr Domizil noch verlassen will.« Estrella rieb sich leicht mit der linken Hand über das feine Kinn.

Helen musste das auch eingestehen. »Dann schlage ich erst mal den Rückzug vor.«

Am nächsten Morgen herrschte Aufruhr in Potsdam. Überall standen Menschen zusammen und diskutierten. Rasch wurde der Grund klar. Die russische Zarin hatte eine Depesche an Friedrich geschickt. Darin unterstützte sie die Ansprüche der Kaiserin von Österreich. Der König sei aufgebracht.

»Röckeherrschaft sei tödlich für jedes Land!«, soll er wütend gesagt haben.

Man fürchtete einen neuen Krieg.

»Das erschwert den Kontakt zum Hofe«, brummelte Sam Bush.

Estrella stand am Fenster und schaute durch die Gardine. »Es würde mich nicht wundern, wenn Madame Vaubernier sich stracks zum König aufmachen würde, um ihm eine Unterstützung Frankreichs in Aussicht zu stellen.«

Helen lachte auf. »Das ist ihr Spiel.«

Am Nachmittag ergab sich eine Wende in der verfahrenen Lage. Ein Abgesandter des Hofes tauchte in der Praxis auf. Durch seine unbändige Wut hatte der König einen schlimmen Gichtanfall erlitten und man habe einiges über die Wunder des Doktor Bush vernommen.

So kam es, dass Sam ausgerüstet mit seiner Landarzttasche und Estrella in der Tracht einer Krankenpflegerin mit dem Abgesandten zum Schloss fuhren.

Friedrich lag in seinem spartanisch eingerichteten Schlafzimmer schimpfend und stöhnend auf dem Bett.

Die Corsarin schien er nicht zu erkennen.

Der vermeintliche Doktor begann mit seiner Untersuchung. Der König hielt die meiste Zeit über die Augen geschlossen. Sam erkannte die Symptome und wusste auch, dass der Anfall in zwei Tagen vorüber sein würde. Bei strenger Ruhe. Doch er musste ein bisschen Hokuspokus machen. So schickte er Estrella zur Küche, wo sie angeblich ein Medikament anrühren sollte. Ein Diener wies ihr den Weg. Dort angekommen wandte sie sich mit einem gewinnenden Lächeln an den jungen Mann. »Danke. Hier komme ich schon klar und den Weg zurück werde ich finden.«

Als der Diener sich entfernt hatte, betrat die Corsarin nicht die Küche, aus der das Klappern von Geschirr erklang, sondern eilte auf eine entfernt liegende breite Treppe zu.

Den Grundriss des Schlosses hatte sie im Kopf. Die Bibliothek befand sich im Südflügel. Ein breiter Läufer schluckte ihre Schritte. Sie erreichte den ersten Treppenabsatz gerade, als sie Stimmen vernahm. Die Corsarin duckte sich. Die Personen schienen sich wieder zu entfernen. Sie atmete auf.

Weiter!

Den Flur nach rechts.

Endlos schien er sich zu ziehen. Jeden Moment konnte jemand auftauchen. Sie erreichte eine schmale Eichentür. Von dort, so wusste sie, gelangte man über eine steile Stiege auf einen Zwischenflur und von dort zweigte eine Tür zur Bibliothek ab. Der König hatte das absichtlich so anlegen lassen, denn er wollte nicht erst durch das ganze Schloss marschieren müssen, wenn er den Bedarf nach Lesestoff hatte. Er hätte zwar einen Diener beauftragen können, aber Friedrich liebte es, sich die Bücher selber auszusuchen. Sich quasi inspirieren zu lassen. Außerdem zog er sich in die Bibliothek zurück, um zu komponieren.

Der König war ein begnadeter Komponist, nur wusste es niemand.

Endlich hatte Estrella die Tür erreicht.

Vorsichtig öffnete sie. Der typische Geruch von Pergament, Papier und altem Leder erfüllte den Raum.

Die Corsarin sog die Luft ein. Alles erinnerte sie an den Arbeitsraum ihres Vaters.

Langsam schritt sie zwischen den raumhohen Regalen entlang. Wo sollte sie suchen? Sie dachte nach. Derjenige, der es hergebracht hatte, wollte es verstecken. Andererseits besaß der König womöglich Kenntnis davon …

Innerlich schüttelte sie den Kopf. Nein, das hatte er mit keinem Wort gesagt, als sie sich getroffen hatten. Vermutlich hatte er durch die politische Lage keinerlei Zeit mehr für Nachforschungen.

Wo würde sie so etwas in dieser riesigen Bibliothek verstecken? So, dass es kein zufälliger Bücherfreund fand, andererseits aber musste sie sicher sein, es auch rasch wiederzufinden.

»Mierda!«, entfuhr es ihren Lippen.

Ihre Blicke glitten an den Regalen hoch.

Da klappte eine Tür.

Nicht die, durch welche sie den Saal betreten hatte. Es musste die Haupttür sein. Estrella horchte. Wer mochte von wo kommen? Die Schritte auf dem Parkett kamen näher. Estrellas Blick fuhr hastig rückwärts. Auf Zehenspitzen eilte sie die wenigen Meter zurück und drückte sich an die Schmalwand des Regals.

Gebe Neptun, dass niemand durch die kleine Pforte kommt, durchjagte es sie.

Die Schritte wurden langsamer. So, als ob der Besucher etwas betrachte und langsam daran längs ging. Wer mochte es ein? Soviel ihr bekannt war, duldete Friedrich nur wenige Menschen in seiner privaten Büchersammlung.

Da klappte die Tür erneut. Eine weitere Person betrat den Raum. Die Schritte klangen nach schweren Stiefeln.

Die Corsarin hielt den Atem an.

Hoffentlich saß sie nicht in einer Falle. Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, falls man sie entdecken sollte.

»Da sind Sie ja«, vernahm sie da eine heisere Stimme. Sie musste wohl von den zuletzt gekommen Besucher sein.

»Natürlich bin ich da«, kam es zurück und diese merkwürdige Stimme würde sie aus Hunderten heraushören.

Baron Schöning!

Mit wem traf sich der Intrigant?

»Wie sieht es aus?«, fragte der Heisere wieder.

»Die Kaiserin erwartet eine Truppenverstärkung nach Schlesien.«

»Ha!«, machte Schöning. »Dazu braucht’s keinen Wahrsager. Der König kommt nicht darum herum.«

»Richtig! Aber er hat erst vor Kurzem Leihtruppen in die Neue Welt entsandt. Als Druck gegen die Franzosen, die von Québec aufmarschieren.«

»Ja …«, kam es gedehnt zurück. »Ein Versprechen, das er vor längerer Zeit dem englischen König geben musste.«

»Also besitzt er nicht genug Truppen, um Schlesien und Preußen zu schützen.«

Einen Moment war es still. Dann kam die Frage von Schöning: »Was meinen Sie damit?«

Ein kurzes Lachen erklang. »Die Kaiserin wird warten, bis Friedrich die Truppen in Marsch gesetzt hat, und dann in Preußen einfallen.«

Nun lachte der Baron. »Das wird nicht so einfach funktionieren.«

»Doch! Mit meinen und Ihren Kenntnissen schon.«

Wieder Schweigen. Dann kam es leise von Schöning: »Da mache ich nicht mit!«

»Mein Verehrtester, Sie werden müssen«, kam es nur kurz. Dann entfernten sich die schweren Schritte.

Estrella wartete.

Plötzlich vernahm sie ein Seufzen. »Oh Gott! Worauf habe ich mich da nur eingelassen!?«

Die Gedanken der Corsarin wirbelten. Schöning saß in der Klemme. Konnte sie sich das zunutze machen?

Sie wollte bereits um das Regal herum laufen, als die Tür erneut aufging. Rasch drückte sie sich wieder an die schwere Regalwand.

Trippelnde Schritte erklangen. Eine Frau! Ohne Zweifel.

Die Vaubernier? Wohl eher nicht. Wie sollte sie so rasch Einlass am preußischen Hof finden?

»Da sind Sie ja Baron!« Die Stimme klang energisch.

»Frau von Holwede …«, kam es erstaunt. Er räusperte sich. »Waren Sie beim König?«

»Gestern.«

»Aha. Was hat er auf Ihre Bitte hin gesagt?«

»Ich habe keine Präbende{iv} an Müßiggänger zu vergeben!«

Als Schöning schwieg, setzte die Frau hinzu: »Ich hasse ihn!«

Nun lachte der eben noch am Boden wirkende Schöning meckernd. »Eurem Hass kann geholfen werden. Kommt heute Abend in die Kirche der Heiligen Lucia.«

Erstaunt kam es zurück. »Der Lucia? Die gehört dem merkwürdigen Kloster. Diesen …«

»Genau denen! Passen Sie sich dem Gottesdienst an und wir treffen uns bei der Äbtissin.«

»Ich werde mich nicht so … auf diese Weise erniedrigen.«

Wieder lachte der Baron. »Verehrteste, Sie tun es nur vor Gott.«

Damit verließ er den Raum. Die mit Frau von Holwede Angesprochene folgte wenig später.

Die Corsarin atmete durch.

Was wurde hier für ein Komplott geschmiedet? Eine Agententruppe der österreichischen Kaiserin?

Estrella würde dem auf den Grund gehen. Jetzt musste sie zurück zu Sam. Sonst würde man Verdacht schöpfen. Sie war schon viel zu lang fort.

*

»Was soll ich davon halten?«, fragte Sam später.

»Einfach, dass Schöning eine faule Sache plant. Wie es aussieht, auch unter Druck.«

Sam strich sich durch den Bart. »Etwas gegen Friedrich …«

»Richtig! Mit dieser Frau von Holwede hat er ja eine zornige Mitstreiterin. Ich weiß nicht, was sich Schöning von Österreich verspricht und ob eventuell Madame dahintersteckt – jedenfalls kocht er außerdem sein eigenes Süppchen. Sicher macht er aus der Not eine Tugend.«

»Wie sieht dein Plan aus?«

Estrella grinste. »Vielleicht werde ich heute Abend mal christlich.«

Sams verblüfftes Gesicht löste einen Lachanfall bei der Corsarin aus.

Sie wurden durch Helen unterbrochen. »Da ist ein Herr im Wartezimmer. Er möchte zum alten Doc, aber der ist nicht da.«

»Hm«, machte Sam und kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Was ist das für ein Herr?«

Helen zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig … sieht gut aus …«

»Aha«, machte der Erste Offizier der SILVER STAR nur. Dann stakste er ins Wartezimmer.

Der Mann, der dort saß, erwies sich als sympathischer junger Mensch – gut gekleidet und mit guten Umgangsformen.

»Der Doktor ist nicht da. Aber vielleicht kann ich helfen. Ich bin Doktor Bush.«

Der junge Besucher zog die Augenbrauen hoch. »Engländer?«

»Nein, Schotte.«

Der Mann lächelte. »Verstehe. Mein Name ist Henrik. Graf von Wirtemberg.«{v}

Hinter der Tür horchte die Corsarin auf.

»Was haben Sie für Beschwerden?«, hörte sie Sam fragen.