Die Deutsche Revolution (2 Bände) - Pierre Broué - E-Book

Die Deutsche Revolution (2 Bände) E-Book

Pierre Broué

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Beschreibung

Das 1971 in Paris erschienene und bislang nur ins Englische übersetzte Standardwerk wird nun erst mals in deutscher Sprache herausgegeben. Auf über 1.000 Seiten stellt der Historiker Pierre Broué die Ereignisse der revolutionären Periode in Deutschland bis 1923 dar. Dabei stützt er sich auf umfangreiches Originalmaterial, um die Auseinandersetzungen in der Arbeiter*innenbewegung über eine revolutionäre Politik nicht nur wiederzugeben, sondern er unterzieht sie einer Analyse. Dabei verengt er den Blick nicht auf Deutschland, sondern liefert tiefe Einblicke in die Wirkung, die die Russische Revolution auf die Arbeiter*innen in Deutschland hatte und wie die Entwicklungen der Kommunistischen Internationale die Politik der KPD in Deutschland beeinflussten, aber auch, welchen großen Einfluss die revolutionäre Bewegung auf die Geschehnisse in der Sowjetunion hatte. Immer wieder diskutiert der Autor die Entwicklungen und gibt damit einen Ansatzpunkt für Leser*innen, selbst nachzuvollziehen, was warum geschah und sich selbst ein Bild von den Ereignissen zu machen. Broués Werk sollte und wird einen Platz im Regal aller Menschen finden, die sich ernsthaft und tiefgründig mit dem Aufschwung und dem Scheitern der deutschen Revolution in den Jahren 1917 - 23 auseinandersetzen wollen. »Was Broués Buch von anderen unterscheidet ist einmal der unglaubliche Quellenreichtum. So hat er ein umfassendes und detailliertes Bild der Entwicklungen, Diskussionen und Haltungen verschiedener Akteur*innen der sozialistischen und kommunistischen Bewegung gezeichnet. Statt eine vermeintliche Neutralität in der Geschichtswissenschaft vorzugaukeln, die es nicht gibt, bezieht Broué Position. Als Internationalist geht er sehr tiefgründig auf die Entwicklungen der Kommunistischen Internationale und die Wechselwirkung zwischen der KPD und ihr ein. Er stellt nicht nur historische Fakten dar, sondern analysiert sie, versucht aus ihnen Entwicklungstendenzen abzuleiten und diskutiert immer wieder die gewonnene Erkenntnis. Selbst wenn man seinen Schlussfolgerungen nicht an jedem Punkt voll zustimmt, bekommt man doch zumindest einen Anhaltspunkt für weitergehende Fragen und die entsprechenden historischen Grundlagen geliefert. Aus meiner Sicht ist das Buch ein Standardwerk, das alle lesen sollten, die sich fundiert mit der revolutionären Periode bis 1923 auseinandersetzen wollen.« Wolfram Klein, Übersetzer und Herausgeber

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Inhaltsverzeichnis

Teil III Von der Eroberung der Massen zur kampflosen Niederlage

Kapitel XXVIII: Schwer bewahrte Einheit

Kapitel XXIX: Neuanfang

Kapitel XXX: Die Wende von Rapallo

Kapitel XXXI: Für die Einheitsfront gegen Elend und Reaktion

Kapitel XXXII: Die »Kommunistische Massenpartei«

Kapitel XXXIII: Die Arbeiter*innenregierung

Kapitel XXXIV: Ausarbeitung der Taktik

Kapitel XXXV: Die Ruhrbesetzung

Kapitel XXXVI: Krise in der KPD

Kapitel XXXVII: Eine beispiellose vorrevolutionäre Situation

Kapitel XXXVIII: Der Sturz der Regierung Cuno

Kapitel XXXIX: Die Vorbereitung des Aufstandes

Kapitel XL: Die deutsche Revolution von Moskau aus gesehen

Kapitel XLI: Der deutsche Oktober

Kapitel XLII: Neue Nachwehen der Niederlage

Teil IV Ein von der Geschichte verdammtes Unternehmen?

Kapitel XLIII: Geschichte und Politik

Kapitel XLIV: Die Übertragung des Bolschewismus auf den deutschen Körper

Kapitel XLV: Paul Levi oder die verpasste Gelegenheit?

Kapitel XLVI: Karl Radek oder die Verwirrung der Genres

Kapitel XLVII: Bilanz eines Scheiterns

Nachbemerkungen

Chronologie

Biografische Notizen zu den wichtigsten zitierten Aktivist*innen

Bibliografie

Impressum

Vorwort zur deutschen Erstausgabe

Die Bedeutung der Revolution 1918-1923 in Deutschland

Im 20. Jahrhundert hat es eine ganze Reihe von Revolutionen gegeben. Unter diesen Revolutionen nimmt aber die Revolution in Deutschland 1918-1923 einen besonderen Platz ein, weil sie in einem der damals bereits wirtschaftlich entwickeltsten kapitalistischen Länder stattfand. Revolutionen in vergleichsweise rückständigen Ländern hat es mehrere gegeben, 1917 im zaristischen Russland, 1949 in China, 1959 auf Kuba sind nur die bekanntesten. Sie haben für ihre Länder beträchtliche Verbesserungen gebracht, haben aber bestätigt, was Marxist*innen schon vor ihnen klar war: Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ist in einem einzelnen Land nicht möglich und in isolierten rückständigen Ländern schon gar nicht. Statt dessen führten Rückständigkeit und Isolation dazu, dass sich in ihnen Karikaturen auf den Sozialismus entwickelten, die wir als Stalinismus bezeichnen.

Wenn die Revolution in Deutschland 1918-1923 gesiegt hätte, wenn sie nicht nur den Kaiser gestürzt, sondern auch die Kapitalistenklasse enteignet und die Machteliten gestürzt hätte, hätte die Weltgeschichte einen wesentlich anderen Verlauf nehmen können. Das revolutionäre Russland mit seiner Landwirtschaft und seinen Rohstoffen im Bündnis mit einem revolutionären Deutschland mit seinen Millionen qualifizierter Arbeiter*innen in der modernsten Industrie, seinem Know How, hätte ganz andere Bedingungen für eine sozialistische Entwicklung gehabt … und auch eine noch viel größere Anziehungskraft für die arbeitenden Menschen anderer Länder und damit die besten Chancen auf eine weitere internationale Ausdehnung der Revolution in ohnehin durch den Ersten Weltkrieg in revolutionäre Gärung versetzte Nachbarländer. Die Isolation der russischen Revolution hätte beendet und ihre Fehlentwicklung zum Stalinismus statt zu einem wirklichen Sozialismus hätte gestoppt werden können.

Statt dessen wurde die Revolution in Deutschland durch die Politik der SPD-Führung auf den Sturz der Monarchie begrenzt. Die alten Eliten in Wirtschaft und Verwaltung, beim Militär und in den Gerichten, in den Medien usw. behielten ihre Macht und nutzten sie, um die politische Macht 1933 Hitler auszuhändigen, der damit genau das machte, was sie von ihm wollten: Er zerschlug die Arbeiter*innenbewegung und bereitete einen neuen Weltkrieg mit zig Millionen Opfern vor.

Dass der Sieg der Revolution ausblieb, zu dem aber, wie gerade dieses Buch zeigt, nicht viel gefehlt hat, hatte also für die Geschichte des 20. Jahrhunderts tiefgreifende Folgen weit über Deutschland und Europa hinaus. Um es drastisch zu sagen: Wenn die Revolution in Deutschland gesiegt hätte, wäre sowohl der Name Hitler als auch der Name Stalin heute nur einem winzigen Kreis von Fachhistoriker*innen bekannt.

Die Aktualität der Revolution

Aber nicht nur für historisch Interessierte lohnt es sich, sich mit der Geschichte der Revolution in Deutschland zu beschäftigen. Wenn wir uns umschauen, bekommen wir den Eindruck, die Welt gerate immer mehr aus den Fugen: steigende Preise, wachsende Kluft zwischen arm und reich, Kriege wie der in der Ukraine, die verschiedenen Auswirkungen der Klimakatastrophe, die Corona-Pandemie, Millionen Menschen auf der Flucht und so weiter. Wenn wir etwas tiefer blicken, zeigt sich uns auch, dass all dies mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zusammenhängt, das wachsende Teile des Planeten unbewohnbar macht.

Zugleich müssen wir die Erfahrung machen, dass einfache Regierungswechsel keine Wende zum Besseren bringen, dass »Reformen« häufig entweder in Wirklichkeit die Beseitigung von in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam erkämpfter wirklicher Reformen bedeuten oder nur Politik im Interesse der Kapitalisten variieren, aber nicht grundlegend verändern.

Wenn wir uns das anschauen und unsere Gedanken zu Ende denken, kommen wir zu dem Schluss, dass der revolutionäre Sturz des Kapitalismus eine historische Notwendigkeit ist, dass Rosa Luxemburgs Satz »Sozialismus oder Untergang in die Barbarei« heute aktueller denn je ist.

Und da lohnt es sich für uns in Deutschland ganz besonders, uns daran zu erinnern, dass es auch bei uns revolutionäre Traditionen gibt.

Das soll sicher auf keinen Fall heißen, dass sich die Erfahrungen der deutschen Revolution eins zu eins auf heute übertragen ließen. In Broués Buch ist einer der roten Fäden die Auseinandersetzung darüber, wie weit sich die Erfahrungen der russischen Revolution 1917 auf Deutschland 1918-1923 übertragen lassen. Was über das Verhältnis von Russland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg galt, gilt natürlich für das Verhältnis von vor hundert Jahren und heute erst recht.

Trotzdem bleibt vieles relevant. Zentrale Aspekte der Revolution waren die Rolle der Arbeiter*innenklasse, die Wichtigkeit der systematischen Arbeit in den Gewerkschaften. Dadurch dass die KPD sie in den ersten Monaten nach dem Beginn der Revolution vernachlässigte, wurde viel wertvolle Zeit verloren.

Eine wichtige Debatte betraf die Bedeutung von Übergangsforderungen. Das zeigt auch, dass das keine trotzkistische Erfindung ist, wie noch heute oft behauptet wird, sondern in der Komintern vor deren Stalinisierung zum Kernbestand gehörte. Es unterstreicht den trotzkistischen Anspruch, die Tradition der Anfangsjahre der Komintern fortzusetzen, die vom Stalinismus über Bord geworfen wurde.

Auf der anderen Seite gibt es auch große Unterschiede. Ein großes Hindernis für die Revolution war damals die Verbundenheit proletarischer Massen mit der Sozialdemokratie, die sie vor 1914 zu politischem Leben erweckt hatte. Damals konnte die SPD diese Verbundenheit für die Rettung des Kapitalismus nutzen. Davon ist heute kaum etwas übrig, den Rückgang der Parteibindungen stellt auch die Politikwissenschaft fest.

Wenn dieses politische Problem wesentlich geringer ist, so ist die Kehrseite davon, dass der positive Beitrag, den die SPD vor 1914 zur Erweckung des proletarischen Klassenbewusstseins geleistet hatte, inzwischen auch verpufft ist. Das Klassenbewusstseins ist in vielen Fragen ungeheuer zurückgeworfen. Dabei sollten wir uns aber hüten, die Arbeiter*innenklasse der Vergangenheit zu idealisieren. Sie bestand nicht nur aus Industriearbeiter*innen, die in Großbetrieben gemeinsam arbeiteten und gemeinsam zu kämpfen lernten, es gab auch Millionen Landarbeiter*innen, Heimarbeiter*innen, Dienstmädchen, die sehr zerstreut arbeiteten und viel schwerer zu organisieren waren. Und wenn sich heute Gewerkschafter*innen darüber sorgen, wie sie Kolleg*innen im Home-Office erreichen können, dann war die Überwindung solcher Vereinzelung mit den damaligen Kommunikationsmitteln noch viel mühsamer.

Zugleich sind viele neue Fragen aufgetaucht oder haben eine viel größere Bedeutung bekommen, z.B. der Kampf gegen Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie. Das heißt aber auch, dass es oberflächlich wäre, nur das zurückgeworfene Bewusstsein zu sehen. In vielen Fragen ist das Bewusstsein heute viel weiter als damals. Wenn man Berichte liest, wie weit verbreitet vor 100 Jahren z.B. häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder war, dann kann man sich sicher nicht nach der »guten alten Zeit« zurücksehnen, sondern nur auf eine Zukunft hinarbeiten, die ein hohes Klassenbewusstsein mit einem hohen Bewusstsein in Fragen von Unterdrückung verbindet.

Frauen spielten in der Geschichte der Revolution 1918-1923 eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Rolle. Rosa Luxemburg war neben Karl Liebknecht das prominenteste Mitglied und die anerkannte Theoretikerin der Spartakusgruppe und der neugegründeten Kommunistischen Partei, deren Ideen auch in den Jahren nach ihrer Ermordung eine wichtige Rolle spielten. Clara Zetkin war nicht nur Spitzenkandidatin der KPD bei den ersten Reichstagswahlen 1920 (»Denkt an Liebknecht. Wählt Kommunisten (Spartakus). Liste Zetkin« hieß es auf Plakaten), sondern auch in den folgenden Jahren eine führende Vertreterin der Partei, die außer in frauenpolitischen Fragen, die vor dem Krieg ihr Spezialgebiet gewesen waren, in wichtigen innerparteilichen Debatten mitwirkte und die Partei nach außen vertrat. Ruth Fischer entwickelte sich zur prominentesten Vertreterin des linksradikalen Flügels der Partei.

Trotzdem wirkte die aus vorindustriellen Zeiten überkommene Vorstellung, dass der Mann der Ernährer der Familie sei, dass die Frau nur ein Zubrot verdiene, dass ihr Aufgabengebiet in Haushalt und Familie liege (und sie sich darüber hinaus höchstens noch in der Kirche verdummen lassen dürfe) stark nach. Auch sehr viele Frauen aus der Arbeiter*innenklasse sahen ihre Erwerbsarbeit als eine Lebensphase vor der Heirat oder einen Notbehelf, aber nicht als etwas, was zu ihrer Identität gehörte und waren daher auch kaum bereit, sich in der Arbeiter*innenbewegung zu engagieren. Daran änderte auch das von der Revolution erkämpfte Frauenwahlrecht alleine noch nichts. Klagen über die politische Rückständigkeit der Frauen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Literatur gerade der damaligen kommunistischen Frauenbewegung (nicht nur in Deutschland, sondern international). In dieser Frage haben sich die Verhältnisse heute in Deutschland und vielen anderen Ländern regelrecht umgekehrt.1

Außerdem wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass es z.B. Kontroversen um Identitätspolitik damals nicht gegeben hätte. Es gab zwar den Begriff noch nicht. Aber wenn die Zentrumspartei Kapitalist*innen und Arbeiter*innen, Großgrundbesitzer*innen und Bäuerinnen und Bauern auf der Grundlage ihrer Identität als in Preußen-Deutschland diskriminierte katholische Minderheit organisierte, was war das anderes als Identitätspolitik? In diesem Sinne war das Zentrum, das im Kaiserreich mehrfach die stärkste Fraktion im Deutschen Reichstag stellte, sicher die erfolgreichste identitätspolitische Organisation in der Geschichte des deutschen Kapitalismus.

In den letzten Jahren zeigte die Entwicklung der Klimagerechtigkeitsbewegung beeindruckend, wie schnell Bewegungen sich entwickeln und international ausdehnen können und wie schnell sich in ihnen trotz aller Widersprüche und Unklarheiten Parolen wie »System Change« ausbreiten können.

Wir leugnen keineswegs, dass wir sehr weit von einem revolutionären Massenbewusstsein entfernt sind. Aber im Vergleich zu früheren Zeiten ist trotzdem das Vertrauen in die Institutionen des kapitalistischen Staats beträchtlich erschüttert. Leider ist gleichzeitig das Vertrauen in die eigene Kraft, die Verhältnisse gemeinsam grundlegend verändern zu können, auch so weit zurückgeworfen, dass die meisten sich so etwas kaum noch vorzustellen vermögen, geschweige denn bereit wären, sich dafür zu engagieren. Wir sind aber zuversichtlich: Wenn die kapitalistischen Verhältnisse die arbeitenden Menschen zwingen, für ihre Interessen zu kämpfen, werden auch sozialistisches und revolutionäres Bewusstsein wieder entstehen und auf einer breiteren und solideren Grundlage. Eine entscheidende Rolle wird dabei spielen, ob es uns gelingt, neue sozialistische Massenparteien der Arbeiter*innenklasse aufzubauen, die wie die frühe SPD und später die KPD die Entwicklung dieses Bewusstseins vorantreiben.

Die Bedeutung und Aktualität von Broués Buch

Broués Buch über die Geschichte der Revolution in Deutschland ist schon vor über 50 Jahren auf Französisch erschienen. Seitdem ist die historische Forschung natürlich weitergegangen. Insbesondere sind heute Quellen zugänglich, die damals der historischen Forschung (oder zumindest nichtstalinistischen Forscher*innen) verschlossen waren. Welchen Sinn macht es angesichts dessen, dieses Buch heute noch zu übersetzen und herauszugeben?

Es stimmt, dass inzwischen viele neue Details bekannt sind. Einen gewissen Einblick darin bietet Broués eigenes, 1997 – also gewissermaßen »auf halbem Wege« zwischen Broués Buch über die deutsche Revolution und der Gegenwart und nach der Öffnung der Archive in der Sowjetunion und der ehemaligen DDR – auf Französisch erschienen Buch über die Geschichte der Kommunistischen Internationale2, in dem ein Großteil der in diesem Buch behandelten Themen ebenfalls behandelt werden. In diesem neueren Buch kam Broué nicht zu grundlegend anderen Schlussfolgerungen.

Einige Jahre später erschienen als Gemeinschaftsprojekt verschiedener Historiker*innen in der Reihe »Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts« verschiedene Quellenbände. Für uns sind besonders die Bände 3 (2003, über den »deutschen Oktober« 1923), 5 und 6 (2014 und 2015, Sekundärliteratur bzw. Dokumente zu »Deutschland, Russland, Komintern«) interessant. In dem ausführlichen Anmerkungsapparat zum Dokumentenband 6 wird sehr häufig Broués Buch als Quellenangabe genannt, was unterstreicht, dass es auch in der akademischen Geschichtsforschung keineswegs als veraltet gilt.

Tatsächlich wurden die politischen Debatten in der Arbeiter*innenbewegung und damit auch in der Revolution weitestgehend öffentlich geführt und konnten daher von Historiker*innen schon vor 1989 rekonstruiert werden. Für Historiker*innen der DDR oder Sowjetunion stellte sich aber das Problem, dass die historische Realität beträchtlich von der offiziellen stalinistischen »Parteilinie« abwich. Aber das war eine Frage dessen, was man sagen und schreiben durfte, nicht, was man wissen konnte. Broués Buch, das solchen Zwängen und Deformationen nicht ausgesetzt war, ist das beste Beispiel dafür, dass sich diese Fragen schon vor 1989 grundlegend richtig klären ließen.

Anders war es sicherlich bei vielen organisatorischen Fragen, insbesondere bei solchen, die damals mit gutem Grund heimlich behandelt wurden. Aber auch zum Beispiel die damalige starke finanzielle Abhängigkeit der KPD von Sowjetrussland war kein Geheimnis. Sie spielte auch in den politischen Debatten eine Rolle, auch wenn Details nicht allgemein bekannt waren.

Hier gilt aber zweierlei:

Erstens wird die Geschichte zwar von Menschen gemacht, aber »nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«, wie Marx 1852 im »18. Brumaire des Louis Bonaparte« schrieb. Deshalb hat das Handeln der einzelnen Menschen auf den Verlauf der Geschichte nur begrenzte Auswirkungen. Daher kommt ja gerade die Bedeutung von Revolutionen, in denen nicht einzelne Menschen, sondern riesige Menschenmassen zu handelnden Akteur*innen der Geschichte werden. Das ist einer der Gründe, warum Marxist*innen nichts von Verschwörungstheorien halten: Selbst die Verschwörungen, die es wirklich gab, hatten nur sehr begrenzte Wirkungsmacht.

Zum anderen beantworten neue Fakten noch nicht die Frage ihrer historischen Bewertung. In unserer kapitalistischen Gesellschaft gilt es als völlig normal, wenn Unternehmer*innen Arbeiter*innen ausbeuten. Als ebenso normal gilt es, wenn sie die aus den Arbeiter*innen herausgepressten Profite nicht nur für Investitionen, Spekulation und ihren persönlichen Luxus verwenden, sondern auch für die »politische Landschaftspflege«: für Parteispenden, Lobbyarbeit etc., die sicherstellen sollen, dass die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erhalten, verbessert, weiterentwickelt werden, die ihnen die Ausbeutung ermöglicht. Für Menschen, die auf der Grundlage dieser Gesellschaft stehen, mag es daher empörend sein, dass die Bolschewiki nach der russischen Revolution 1917 stattdessen nicht nur den bisher herrschenden Großgrundbesitzer*innen und Kapitalist*innen den Teil ihres Reichtums, dessen sie habhaft werden konnten, weggenommen haben, sondern einen Teil davon zu verwenden versuchten, auch bei der Entmachtung von deren Klassenbrüder und -schwestern international zu helfen. Für Menschen, die aber nicht auf dem Boden dieser Ausbeutungs- und Unterdrückungsgesellschaft stehen, sollte es eher ein Grund zur Freude sein, zu lesen, wie z.B. Brillanten in Schuhsohlen von Russland nach Deutschland gebracht wurden, um die KPD finanziell zu unterstützen, wie also hier ein Teil des von den arbeitenden Menschen im Schweiße ihres Angesichts erzeugten Reichtums zu deren Befreiung international verwendet wurde. Zu beklagen ist aus diesem Blickwinkel vor allem, dass das nicht mehr Nutzen gebracht hat.

Als Beispiel dafür, wie politische Standpunkte Beurteilungen beeinflussen, will ich keinen verbohrten Reaktionär anführen, sondern zwei Beispiele aus dem Aufsatz »Zum Verhältnis von Komintern, Sowjetstaat und KPD« in Band 5 der erwähnten »Archive des Kommunismus« herausgreifen. Verfasser war Hermann Weber, der zweifellos erstens ein anerkannter und verdienstvoller Wissenschaftler und zweitens politisch links stehend war. Auffällig ist in seinem langen Text (S. 9-139) aber z.B.: S. 33 ist im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch davon die Rede, dass die Berliner KPD »jede Verteidigung des »Noske-Regimes« strikt ablehnte.« S. 79 taucht der Name »Noske« in einem Zitat aus einem Text Ernst Thälmanns auf. Ansonsten kommt ein Mensch mit dem Namen Gustav Noske in dem ganzen 131 langen Text nicht vor. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden »von Soldateska ermordet«, Leo Jogiches fiel »dem Terror der erstarkenden Rechten zum Opfer.« Noske und seine SPD scheinen mit beidem nichts zu tun gehabt zu haben.

Beispiel 2: Im Band 6 (S. 80-82) wird ein kurzer, wenig sachkundiger und sehr negativer Brief des zeitweiligen sowjetischen Botschafters in Berlin, Adolf Joffe, von Anfang März 1919 über die Münchner KPD und Eugen Leviné wiedergegeben. Joffe war sich nicht einmal klar, dass Eugen Leviné und Max Levien zwei verschiedene Personen waren. Er schreibt von einer Niederlage der Räterepublik, die damals, am 5. März 1919, noch nicht einmal ausgerufen war. Aber daraus, dass ein sowjetischer Vertreter einen deutschen Kommunisten sehr negativ beurteilt hat, den andere sowjetische Vertreter sehr viel positiver bewertet haben, zu folgern: »Schon in der Frühzeit ist also zwischen offiziellen Verlautbarungen und wirklichen Meinungen in der Komintern zu unterscheiden. Bald schon wurden Doppelzüngigkeit und Heuchelei üblich« (S. 26), das scheinen mir doch, gelinde gesagt, etwas weitreichende Schlussfolgerungen aus einer Quelle zu sein.

Wenn man erkennt, dass die Überwindung des Kapitalismus historisch notwendig ist, wenn die Menschheit überleben soll und dass dafür eine Revolution notwendig ist, dann ist Broués Buch, das die historischen Tatsachen unter diesem Blickwinkel bewertete, aktueller als neuere Bücher, die aus einem völlig anderen Blickwinkel geschrieben wurden. Wer diese Sichtweise nicht teilt, kann Broués Buch trotzdem als sachkundige Wiedergabe der historischen Tatsachen lesen, ohne mit den Schlussfolgerungen des Verfassers einverstanden zu sein. (In einem Nachwort zum zweiten Band werde ich ein paar kleinere Fragen ansprechen, bei denen ich selbst bei den Schlussfolgerungen andere Akzente setzen würde.)

Ich habe oben argumentiert, dass die neuere Forschung und die Öffnung der Archive zwar viele neue Details ans Tageslicht gebracht haben, aber die Grundlinien nicht anders gezeichnet werden müssen. Dass Broué 1971 manche Details nicht behandeln konnte, finde ich nicht sehr bedauerlich; es ist in gewissem Sinne sogar ein Vorzug, wenn man z.B. Broués Geschichte der Revolution in Deutschland mit seiner Geschichte der Komintern vergleicht. In letzterem Buch gehen die politischen Kontroversen leicht etwas unter gegenüber den verschiedenen historischen Details, biografischen und organisatorischen Fragen. Inwieweit man sich als Historiker*in, oder allgemein als geschichtsinteressierter Mensch mehr für das eine oder andere interessiert, ist in gewissem Sinne eine Geschmacksfrage. Aber um aus vergangenen Revolutionen für die Gegenwart und Zukunft zu lernen, sind die von Broué 1971 ausführlich geschilderten politischen Kontroversen hilfreicher als eine ausführliche Schilderung von biografischen Zufälligkeiten. In diesem Sinne ist Broués über 50 Jahre altes Buch so aktuell wie Trotzkis über 90 Jahre altes Buch über die russische Revolution, das wir im Manifest Verlag 2021 neu herausgegeben haben.

Technisches

Wir haben uns bei der Übersetzung eng an den französischen Text gehalten, was ganz im Sinne Broués sein dürfte, da er es bei der Übersetzung der Zitate in seinem Buch ebenso gehandhabt hat.

Wir haben die allermeisten deutschen Zitate nach den deutschen Quellen zitiert und Zitate aus anderen Sprachen direkt aus den Originalsprachen übersetzt oder vorhandene deutsche Übersetzungen zitiert. Wir haben oft auch in Passagen, in denen Broué nicht wörtlich zitiert, sondern Quellen paraphrasiert, die Begrifflichkeiten der Quellen verwendet.

Wir haben Broués Text gegendert, aber nicht die wörtlichen Zitate. Dort haben wir allerdings auch die aktuelle Rechtschreibung verwendet, damals übliche Abkürzungen mit Punkten »S. P. D.«, »K. P. D.«, »U. S. P. D.« etc. in die heute übliche Schreibweise ohne Punkte geändert.

Wir haben bei den Quellenangaben versucht, deutsche Ausgaben der von Broué in anderen Sprachen verwendeten Quellen zu ergänzen bzw. neuere, leichter zugängliche Ausgaben (z.B. die Werksausgaben von Rosa Luxemburg und Paul Levi, die nach dem Erscheinen von Broués Buch veröffentlicht wurden).

Broué hat für sein Buch den Nachlass Paul Levis ausgiebig genutzt, der damals in den USA war und sich inzwischen im Archiv für soziale Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung befindet. Der Umzug hatte zur Folge, dass die Archivbestände, die in den USA in »Paketen« organisiert waren, jetzt in »Mappen« und »Boxen« aufgeteilt ist. Mit Hilfe von Findbüchern und hilfsbereiten Archiv-Mitarbeiter*innen war es aber möglich, nicht nur diejenigen Zitate zu finden, die nicht in der Levi-Werksausgabe enthalten sind, sondern auch für viele andere Quellenangaben Broués aus dem Levi-Nachlass die aktuellen Signaturen anzugeben.

Wolfram Klein (geboren 1967) lebt in Plochingen. Er ist Autor verschiedener Bücher und Broschüren im Manifest Verlag. Er promoviert zur Geschichte des Trotzkismus nach dem Zweiten Weltkrieg und betreibt die Website Sozialistische Klassiker 2.0. Klein ist Mitglied im Bundesvorstand der Sozialistischen Organisation Solidarität - Sol. Im Manifest Verlag ist zuletzt sein Buch »Rosa Luxemburg. Ihre politischen Ideen« (2021) erschienen.

»Die Geschichte der K.P.D. (…) ist nicht das schwarz-weiße Epos des Kampfes der Gerechten gegen die Bösen, gegen die Opportunisten der Rechten oder die Sektierer der Linken. (…) Sie stellt einen Moment im Kampf der deutschen Arbeiter*innenbewegung um ihr Bewusstsein und ihre Existenz dar und kann nicht außerhalb der Krise der Sozialdemokratie verstanden werden, die lange latent und unterschwellig, seit 1914 manifest und öffentlich war.«

Pierre Broué: Revolution in Deutschland

Einleitung

Im Jahr 1970 findet im großen Amphitheater des Polytechnischen Museums in Moskau, einer der wichtigsten Städte der sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa, ein Geschichtskurs über die russische Revolution statt, die den Weg zum Sieg des Sozialismus in Europa eröffnete. Der Professor erinnerte soeben an die schwierigen Bedingungen des Kampfes in den ersten Jahren des Sowjetstaates, an die Hindernisse, die durch den ländlichen Charakter, die Rückständigkeit des Landes, und seine anfängliche Isolation entstanden. Er erklärt:

»Wenn die Revolution im Westen zu lange auf sich hätte warten lassen, hätte eine solche Situation Russland zu einem vom europäischen Proletariat unterstützten sozialistischen Angriffs gegen den Westen zwingen können. Dies geschah nicht, weil zu dieser Zeit nach dem Gesetz seiner eigenen inneren Entwicklung die proletarische Revolution im Westen bereits vor der Tür stand.«3

Nach einer langen Periode der Doppelherrschaft, insbesondere in Deutschland, gab die Machtübernahme der Arbeiter*innenräte in mehreren Industriezentren das Signal für einen heftigen Bürgerkrieg, aus dem die deutschen Arbeiter*innen als Sieger hervorgingen. Aber dieser Sieg löst einen Angriff der kapitalistischen Regierungen von Frankreich und Polen aus. Die Rote Armee der Sowjetunion schlägt zurück, während die imperialistischen Regimenter, von innen durch revolutionäre Propaganda unterminiert, im Inferno der deutschen Revolution zerfließen. Die französischen und polnischen Arbeiter*innen erheben sich ihrerseits. Die europäische Revolution triumphiert, und die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa werden konstituiert. Der Sprecher schließt:

»Das neue Räte-Europa hatte eine neue Seite auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Entwicklung aufgeschlagen. Die industrielle Technik Deutschlands vereinigte sich mit der russischen Landwirtschaft, und auf dem Territorium Europas begann sich der neue Wirtschaftsorganismus schnell zu entfalten und zu stärken; er deckte gewaltige Möglichkeiten und einen mächtigen Anstoß zur Entfaltung der Produktivkräfte auf. Zugleich übernahm jetzt Sowjetrussland, das vorher Europa politisch überholt hatte, bescheiden seinen Platz als rückständiges Land hinter den fortgeschrittenen Industrieländern der proletarischen Diktatur ein.«4

So stellte sich der junge kommunistische Führer Preobraschenski 1922 vor, wie ein halbes Jahrhundert später die jüngeren Generationen über den Verlauf des Endkampfes belehrt werden sollten, dessen erste Episoden seine Zeitgenoss*innen gerade durchlebten. Noch handelte es sich es nur um eine Antizipation, die in Form von literarischer Fiktion präsentiert wurde. Doch ein Jahr später schrieb einer der wichtigsten Führer*innen Sowjetrusslands, der Präsident der Kommunistischen Internationale, Grigorij Sinowjew, in der »Prawda«, dem Zentralorgan der russischen Kommunistischen Partei, eine Reihe von Artikeln über die kommende deutsche Revolution:

»Die Ereignisse in Deutschland entwickeln sich mit der Unerbittlichkeit des Schicksals. Der Weg, für den die russische Revolution zwölf Jahre brauchte, von 1906 bis 1917, wurde von der deutschen Revolution in fünf Jahren zurückgelegt, von 1918 bis 1923. Während der letzten Tage überstürzten sich die Ereignisse besonders. Erst die ›Koalition‹, dann die ›große Koalition‹, darauf die ›Kornilowiade‹ (…), das Ministerium der ›Männer vom Fach‹, die persönlichen Kandidaturen (…), dann wiederum eine beinahe ›große Koalition‹ — mit einem Wort: Kabinettswirren ohne Ende. So sieht es ›oben‹ aus. Aber ›unten‹, in den tiefsten Volksmassen, da gärt die Unzufriedenheit, da beginnt der Kampf, der in sehr kurzer Zeit das Schicksal Deutschlands entscheiden wird. Die proletarische Revolution pocht an die Tore Deutschlands. Nur ein Blinder könnte dies übersehen.

Die nahenden Ereignisse werden von welthistorischer Bedeutung sein. Noch eine kurze Spanne Zeit, und jedem wird klar werden, dass die Herbstmonate des Jahres 1923 nicht nur in der Geschichte Deutschlands, sondern durch diese auch für die gesamte Menschheit einen Wendepunkt bedeuteten. Mit zitternder Hand wendet das deutsche Proletariat die wichtigste Seite in der Geschichte des weltweiten Kampfes der Arbeiterklasse um. Die Stunde schlägt. Ein neues Kapitel in der Geschichte der proletarischen Weltrevolution hat begonnen.«5

Der Vorsitzende der Internationale fügte hinzu:

»Die Hauptsache jedoch ist, dass die deutsche Revolution eine mächtige industrielle Basis besitzt. (…) In dieser Hinsicht bleibt die Prophezeiung des Genossen Lenin richtig: Europa (vor allem solche Länder Europas wie Deutschland) wird es schwerer fallen, die proletarische Revolution zu beginnen, aber leichter, sie fortzusetzen und zu beenden. (…) Das deutsche Proletariat kann (…) jetzt schon nicht mehr verfrüht an die Macht gelangen. (…) Die objektiven Voraussetzungen zum Siege der deutschen Revolution sind längst vorhanden. (…) Die deutsche Revolution wird sich die Lehren der russischen Revolution zunutze machen und bemüht sein, ihre Fehler nicht zu wiederholen. (…) Was für Wunder an Tatkraft das kampferprobte, geschulte, an Organisation gewöhnte, zwanzigmillionenköpfige deutsche Proletariat verrichten wird, wenn es sich zum entscheidenden Kampf für den Sozialismus erhebt – das lässt sich in diesem Augenblick überhaupt noch schwer voraussehen.«6

Lenin und seine Mitstreiter*innen in der bolschewistischen Partei führten in Russland eine Revolution, die in ihren Augen nur ein Vorhutkampf war. Aber die große Schlacht fand nicht statt, die russische Vorhut blieb isoliert. Die deutsche Revolution - der entscheidende Schritt für alle Revolutionär*innen dieser Zeit - scheiterte schließlich, nach fünf Jahren des Auf und Ab.

Viele Kommentator*innen haben seitdem je nach den Erfordernissen ihrer Ideologie oder Politik ihre Schlüsse gezogen, einige über die überlegenen revolutionären Fähigkeiten des russischen Volkes, des neuen Messias, andere über den tiefen demokratischen Sinn oder - im Gegenteil - die angeborene Gefreitenhaftigkeit des deutschen Volkes, und alle über die Illusionen der Utopist*innen, die geglaubt hatten, sie könnten die revolutionäre Erfahrung des russischen Oktobers in ein westliches Land, in eine fortgeschrittene Gesellschaft verpflanzen.

Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges schrieb ein bedeutender Germanist, dass die gescheiterte deutsche Revolution »nur ein unruhiges Zwischenspiel« gewesen sei, »dessen Ursache in der vorübergehenden Krise des nervlichen Ungleichgewichts zu suchen ist, die durch die physischen Entbehrungen des Krieges und den physischen Zusammenbruch nach der Niederlage und dem Kollaps des Reiches hervorgerufen wurde.«7 Andere hatten so versucht, die Pariser Kommune durch das zu erklären, was sie ein »Belagerungsfieber« nannten. Aber unser Autor, der offenbar dem demokratischen Ideal anhing, gab eine eher politische Erklärung für das Scheitern der Revolution:

»Sehr bald begriff der organisierte deutsche Arbeiter den fundamentalen Unterschied, der Deutschland von Russland trennte, und sah die nicht wiedergutzumachende Katastrophe voraus, die die plötzliche Verwirklichung des integralen Kommunismus, wie er in Russland verwirklicht worden war, für ein Land wissenschaftlich organisierter Hochindustrie wie Deutschland, mit sich gebracht hätte.«8

Die Aussage erschien uns in dem Maße erinnerungswürdig, als die Revolution in Deutschland tatsächlich durch eine Konterrevolution verdrängt wurde, die einige Jahre später unter dem Namen Hitlerismus einen Ansturm der Barbarei auf die Welt entfesseln sollte, von dem man sich fragt, mit welcher anderen »Katastrophe« er verglichen werden könnte, selbst von einem »organisierten Arbeiter«! Man wird die Männer dieser Konterrevolution im Laufe unserer Seiten kennenlernen: Faupel, jenen Stabsoffizier, der die Delegierten der Soldatenräte zum Narren hält und zwanzig Jahre später die Legion Condor in Spanien kommandieren wird; Canaris, jenen Marineoffizier, der Komplize bei der Flucht eines der Mörder von Rosa Luxemburg war und der, zwanzig Jahre später, die Abwehr befehligen wird, diesen politischen Offizier, graue Eminenz der bekannteren Generäle, Major Kurt von Schleicher, kurzlebiger Kanzler 1932, aber auch Adolf Hitler und Hermann Göring, Krupp, Thyssen und der I. G. Farben. Die Schlacht, die zwischen 1918 und 1923 in Deutschland geschlagen wurde, hat unsere Vergangenheit geprägt und beeinflusst zweifellos unsere Gegenwart.

Dies betrifft auch unsere Zukunft. Der Kampf von 1918 bis 1923, im Deutschland der Revolutionen, war nicht nur ein täglicher Straßenkampf, ein Ansturm auf Barrikaden, nicht nur ein Kampf mit Maschinengewehren, Mörsern und Flammenwerfern. Es ist auch und vor allem der undurchsichtige Kampf in den Fabriken, in den Bergwerken, in den Volkshäusern, in den Gewerkschaften und in den Parteien, in öffentlichen Versammlungen und Ausschusssitzungen, in politischen und wirtschaftlichen Streiks, in Straßendemonstrationen, in Polemiken, in theoretischen Debatten. Es ist ein Klassenkampf, und zwar in erster Linie ein Kampf innerhalb der Arbeiter*innenklasse, bei dem es um den Aufbau einer revolutionären Partei in Deutschland und in der Welt geht, die entschlossen ist, die Welt zu verändern. Der Weg, der zu diesem Ziel führt, ist weder geradlinig noch einfach, noch überhaupt leicht erkennbar. Zwischen »Linksradikalismus« und »Opportunismus«, »Sektierertum« und »Revisionismus«, »Aktivismus« und »Passivität« werden die deutschen Revolutionär*innen vergeblich darum gerungen haben, ihren Weg in die Zukunft zu finden, um sowohl durch ihre eigenen negativen Erfahrungen als auch durch das siegreiche Beispiel ihrer russischen Genoss*innen die Mittel zu entdecken, die Machtübernahme der Arbeiter*innenklasse in ihrem Lande zu gewährleisten.

Um diesen Versuch zu beleuchten, fehlten uns viele entscheidende Dokumente: Politische Zwänge verdammen sie vorerst dazu, in Archiven zu schlummern, zu denen uns der Zugang verwehrt wurde. Denn nicht das geringste Problem, das sich hier stellt, ist die Rolle, die die Kommunistische Internationale, und innerhalb dieser die bolschewistische Partei, in der Geschichte der gescheiterten Geburt einer kommunistischen »Massen«-Partei spielt.

Kapitel I: Das Schlachtfeld

Als Friedrich Engels Anfang der 1890er Jahre die Perspektiven der deutschen Arbeiter*innenbewegung analysierte, schrieb er:

»Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenig Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluss. Die Berliner Regierung sieht es kommen, ebenso gut wie wir, aber sie ist ohnmächtig.«

In der Tat sah Marx‘ Wegbegleiter auf dem Weg zum Sieg des Sozialismus nur noch die Möglichkeit eines großen Hindernisses: des Krieges.

»Ein Krieg würde das alles ändern. (…) Kommt aber der Krieg (…), dann ist nur eins sicher: Dieser Krieg, wo fünfzehn bis zwanzig Millionen Bewaffneter sich untereinander abschlachten und ganz Europa verwüsten würden wie nie vorher - dieser Krieg muss entweder den sofortigen Sieg des Sozialismus bringen oder aber die alte Ordnung der Dinge derart von Kopf zu Fuß umstürzen und einen solchen Trümmerhaufen hinterlassen, dass die alte kapitalistische Gesellschaft unmöglicher würde als je und dass die soziale Revolution zwar um zehn oder fünfzehn Jahre hinausgeschoben würde, dann aber auch siegen müsste nach um so rascherem und gründlicherem Verlauf.«9

In der Sichtweise dessen, der mit Marx den wissenschaftlichen Sozialismus begründete, stand Deutschland damit im Zentrum des Schlachtfeldes, auf dem sich Bourgeoisie und Proletariat im Endkampf gegenüberstehen sollten.

Ein fortgeschrittenes kapitalistisches Land

In der Tat haben Marx und Engels von der Entwicklung der Produktionskräfte innerhalb des kapitalistischen Systems, von der zahlenmäßigen Vermehrung und Konzentration des Proletariats, seiner Organisation und der Entwicklung des Klassenbewusstseins die Bedingungen für den Sieg des Sozialismus in der Welt erwartet. Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehört zu den fortgeschrittenen Ländern, in denen nach dieser Analyse die Aussichten auf einen revolutionären Sieg gleichzeitig am nächsten und am realistischsten sind.

In den letzten Jahren des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Deutschland eine tiefgreifende wirtschaftliche Umgestaltung. Seine natürlichen Kohlevorkommen, die Grundlage der damaligen industriellen Wirtschaft, die extrem schnelle demografische Entwicklung, die es 1913 auf eine Gesamtbevölkerung von 67.800.000 Einwohner*innen10 brachte, die langjährige kommerzielle Entwicklung, die das für die industrielle Revolution notwendige Kapital akkumulierte, brachten es in wenigen Jahrzehnten in die Gruppe der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder. Mit einer Förderung von 190 Mio. Tonnen war Deutschland im Jahr 1913 der zweitgrößte Steinkohleproduzent der Welt11. Mit einer - nicht ausreichenden - Produktion von 27 Millionen Tonnen Eisen ist es der erste europäische Produzent von Gusseisen und Eisen12. Seine Kohlebergwerke und Kalireserven - 10 Millionen Tonnen wurden 1913 gefördert - haben ihm erlaubt auf den ersten Rang in der Produktion der chemischen Industrie zu gelangen13. Ab 1890 war es der erste europäische Staat, der sich in industriellem Maßstab mit der Erschließung neuer Energiequellen beschäftigte, sowohl mit elektrischem Strom als auch mit dem Verbrennungsmotor14. Am Vorabend des Jahres 1914 war das Land der führende Hersteller von elektrischen Geräten in Europa. Nicht nur war seine industrielle Vorherrschaft so deutlich, dass es nur mit den Vereinigten Staaten verglichen werden konnte, sondern es zeigte auch eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich an neue Techniken und Prozesse anzupassen15. Kein anderes Land hatte ein wissenschaftliches Forschungssystem aufgebaut, das so eng mit der industriellen Anwendung verbunden war: Durch seine Forschungslabors sowie seine technischen Bildungseinrichtungen steht Deutschland an der Spitze des Fortschritts und der wissenschaftlichen Organisation der Produktion16.

Die deutsche Wirtschaft kann, in gleicher Weise wie die britische und amerikanische, zur Untersuchung der imperialistischen Phase des Kapitalismus dienen, obwohl sie aufgrund der späten Entwicklung kein an Frankreich oder Großbritannien heranreichendes Kolonialreich besitzt. Im Jahr 1913 betrug das Volumen seines Außenhandels 22.500.000 Mark, doppelt so viel wie das Frankreichs und 85 Prozent des Volumens Großbritanniens17.

Es steht in Handelsbeziehungen mit der ganzen Welt, und sucht weltweit nach Absatzmöglichkeiten für eine Produktion, die der heimische Markt nicht mehr aufnehmen kann.

Eine unvollendete bürgerliche Revolution

Der deutsche Staat ist eine sehr junge Schöpfung. Lange Zeit stellte sich nur die Frage »der« Deutschen Länder. Die Bewegung der Nationalitäten, die Europa im 19. Jahrhundert erschütterte, schien 1848 Deutschland auf den Weg der revolutionären Verwirklichung seiner nationalen Einheit zu ziehen. Aber die deutsche Bourgeoisie hatte weder die Kühnheit der französischen Bourgeoisie von 1789, noch ein solches Vertrauen in die eigenen Kräfte. Bedroht von der proletarischen Bewegung, die sich auf der extremen Linken der demokratischen Bewegung entwickelte, zog sie die Sicherheit des monarchischen Staates dem volks-demokratischen Abenteuer vor. Zwischen politischem Liberalismus und den Profiten, die die Einigung des Landes unter preußischem Zugriff bringen würde, traf sie ihre Wahl. Die deutsche Einheit wurde, wie man sagte, in den Jahren 1852-1857 »auf Kohle und Eisen« gebaut, und »St. Manchester war der Taufpate des neuen Reiches«; aber es war die von Bismarck geführte preußische Armee, die sie in die Wirklichkeit der Grenzen und des Rechts einschrieb. Preußen prägte so dem vereinigten Deutschland den Abdruck seines Doppelgesichts auf, das des triumphierenden Bürgertums, welches mehr von der Suche nach Profit als von den »sterilen Spielen« der Politik eingenommen war, und das der Krautjunker des Ostens, der behelmten und gestiefelten Junker, deren Arroganz und militärische Stärke Europa seit den sechziger Jahren zittern ließ.

Dieses Doppelgesicht ist in die Komplexität der kaiserlichen Verfassung eingeschrieben. Das Reich ist kein Einheitsstaat, sondern ein Bundesstaat, der aus fünfundzwanzig Staaten besteht - von Preußen, das mehr als die Hälfte der Bevölkerung und neun Zehntel der Bergbau- und metallurgischen Ressourcen hat, über kleine Fürstentümer mit 50.000 Einwohner*innen bis hin zu Bayern, Sachsen und Württemberg, die einige Millionen Einwohner*innen haben, und den drei »Freien Städten« Hamburg, Bremen und Lübeck18. Jeder dieser Staaten hat seine Verfassung beibehalten. Preußen hat seinen König, der auch der Kaiser von Deutschland ist. Bayern, Sachsen und Württemberg haben ihre Könige, Baden und Hessen ihre Großherzöge und die freien Städte ihre Senate. Alle haben ihre gesetzgebenden Versammlungen, das ernannte Oberhaus, das gewählte Unterhaus. Das Wahlsystem war von Staat zu Staat unterschiedlich: Württemberg führte das allgemeine Wahlrecht ein, in Baden ist jeder wahlberechtigt, der beim Finanzamt in gutem Ansehen steht. In Bayern und Hessen wählt man, wenn man Steuern zahlt. Der preußische Landtag wird nach dem komplizierten System der »Klassen« gewählt, das die Wähler nach ihrem Vermögen gruppiert19: 1908 gab dieses System in Köln 370 reichen Wählern der ersten Klasse genauso viel Gewicht wie den 22.324 Wählern der dritten Klasse - oder ermöglichte es Herrn Heffte, einem Wurstfabrikanten und dem einzigen Wähler der ersten Klasse im 58. Wahlkreis Berlins im Jahre 1903, das Recht, eine eigene Klasse zu bilden20.

Die kaiserliche Regierung ist für die allgemeinen öffentlichen Angelegenheiten zuständig: Auswärtige Angelegenheiten, Armee und Marine, Post und Telegraf, Handel, Zoll, Kommunikation. Der Kaiser, der über umfangreiche exekutive Befugnisse verfügt, delegiert diese Befugnisse an einen Reichskanzler, der ihm gegenüber verantwortlich ist. Die gesetzgebende Gewalt teilten sich der Bundesrat, der sich aus Delegierten der Länder zusammensetzte, und der Reichstag, eine in allgemeinen Wahlen gewählte Volksvertretung21. Tatsächlich schränkten die Einteilung der Wahlkreise, die ländliche Wähler begünstigte, die Praxis, Wahlen unter der Woche abzuhalten und somit viele arbeitende Wähler auszuschließen, die Praxis der offiziellen [d.h. vom Staatsapparat unterstützten] Kandidatur und das Fehlen von Abgeordnetendiäten die Reichweite des Wahlprinzips ein. Die Befugnisse des Reichstages waren begrenzt: Er konnte keine Gesetze initiieren, kein Gesetz ohne Zustimmung des Bundesrates verabschieden und keinen Kanzler stürzen, auch nicht, indem er ihn in die Minderheit brachte22.

Dieses Regime, das weder parlamentarisch noch demokratisch ist, war zudem durch die Dominanz Preußens in der Reichsregierung gekennzeichnet. Der König von Preußen war Kaiser, der Reichskanzler war preußischer Ministerpräsident. Die siebzehn preußischen Delegierten im Bundesrat können jede Maßnahme stoppen, die ihrer Regierung missfällt, von der sie ein imperatives Mandat erhalten haben23. Nichts ist im Reich möglich ohne die Zustimmung dieser Regierung, die ihrerseits die Emanation eines nach dem Klassensystem gewählten Landtags ist. Aber Preußen bleibt die Bastion einer Kriegeraristokratie von Junkern. Das Offizierskorps ist eine stolze Kriegerkaste, in der sich die Arroganz des Feudalen und die Überlegenheit des Technikers konzentrieren, die dem Kaiser persönlich untertan sind, überzeugt davon, die Hüter einer heiligen Mission zur Verteidigung des Staates zu sein. Die Junker bildeten die überwältigende Mehrheit des Führungspersonals und ihre Mentalität war in der Militärhierarchie die Regel. Das Gleiche gilt für die kaiserliche Bürokratie. Die Mehrzahl der Beamten des Bundes waren Preußen, die aus dem gleichen Holz geschnitzt waren wie die militärischen Führer, deren Arroganz und Auffassung von Autorität sie teilten. Dieser Kaste kann der Kaiser die ungeteilte Macht übergeben, indem er den Belagerungszustand ausruft, der alle Freiheiten und verfassungsmäßigen Garantien außer Kraft setzt und eine regelrechte Militärdiktatur errichtet.

Eine vorsozialistische Gesellschaft

In Wirklichkeit ist diese politische Struktur in Bezug auf die soziale Entwicklung ein enormer Anachronismus: einer jener Widersprüche, die Revolutionen diktieren. Die soziale Struktur Deutschlands weist alle Merkmale einer für den Sozialismus reifen Gesellschaft auf. Während 1871 ein Drittel der Deutschen in Städten lebte, sind es 1910 schon zwei Drittel. Die Bevölkerung, überwiegend aus der Arbeiter*innenklasse, konzentrierte sich in sehr großen Städten. Im Jahr 1910 zählte man dreiundzwanzig Städte mit mehr als 200.000 Einwohner*innen. Groß-Berlin hatte 4.200.000, Hamburg 930.000, München und Leipzig 600.000, Köln 500.000, Essen und Düsseldorf zwischen 300 und 350.000, Bremen und Chemnitz zwischen 250 und 300.000.24

In Mittel- und Süddeutschland gibt es viele kleine und mittlere Bauernhöfe, aber es gibt 3.300.000 Landarbeiter*innen im ganzen Land, und die großen Betriebe - 369 davon mit mehr als 1.000 Hektar - bedecken ein Viertel der Fläche25. Dieses mittelalterliche Relikt schafft die Möglichkeit des den Marxist*innen wichtigen Bündnisses zwischen dem städtischen Proletariat und den armen Bäuerinnen und Bauern, dem Landproletariat.

Die Konzentration der Wirtschaft in den Händen einiger weniger Industriemagnaten scheint die Bedingungen für ihre Vergesellschaftung geschaffen zu haben, indem sie die mittlere Bourgeoisie enteignet und die Produktionsinstrumente in wenigen Händen monopolisiert hat. Der Bergbau wurde von Kirdorf, Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG und Leiter des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus, dominiert, der 1913 87 Prozent der Kohleförderung kontrollierte26. Fritz Thyssens Konzern war ein Musterbeispiel für vertikale Konzentration: Er besaß sowohl Kohle- als auch Eisenbergwerke, Hochöfen, Walzwerke und Hüttenwerke. Krupp beschäftigte mehr als 70.000 Arbeiter*innen, davon mehr als 41.000 allein in Essen, einer regelrechten Festungsstadt mit eigenen Straßen, Polizei und Feuerwehr und 150 Kilometern internen Schienennetzes27. In der chemischen Industrie beschäftigte die Badische Anilin in Ludwigshafen mehr als 10.000 Arbeiter*innen28; die restliche Produktion wurde von zwei Unternehmen kontrolliert, deren Zusammenschluss 1916 zur Gründung der I.G. Farben führte29. Bei der elektrischen Ausrüstung dominierten einerseits Siemens und andererseits Rathenaus AEG, die in zehn Fabriken im Berliner Raum 71.000 Arbeiter*innen beschäftigte30. Zwei Reedereien, die Hamburg-Amerika-Linie und der Norddeutsche Lloyd, waren für 40 Prozent des Verkehrs verantwortlich31. Außer in den Vereinigten Staaten war die Verschmelzung von Finanz- und Industriekapital nirgendwo so tiefgreifend: Die Banken dominierten die Wirtschaftstätigkeit, und 74 Prozent der Bankaktivitäten waren in fünf großen Berliner Einrichtungen konzentriert32.

Die Magnaten, die Kirdorf, Thyssen, Krupp, Hugenberg, Stinnes, von Siemens, Rathenau, Ballin, Helfferich, sind die Spitze einer sehr dünnen Schicht, etwa 75.000 Familienoberhäupter, die 200.000 bis 250.000 Menschen repräsentieren, die nach nach dem Sozialökonomen Sombart als das wohlhabende Bürgertum gelten können, mit einem Jahreseinkommen von mehr als 12.500 Mark33. Zusammen mit dem mittleren Bürgertum, 650.000 Familienoberhäupter, zwei bis zweieinhalb Millionen Menschen, mit einem Einkommen von 3.000 bis 12.000 Mark34, macht diese Oberschicht die herrschende Klasse aus, nicht mehr als 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung. Am anderen Ende der sozialen Skala zählte Sombart 1907 8.640.000 Industriearbeiter*innen, 1.700.000 Lohnempfänger*innen in Handel und Verkehr, 2.300.000 kleine Angestellte in Industrie und Handel, insgesamt also 12,5 Millionen. Er kommt zu dem Schluss, dass das Proletariat im weitesten Sinne des Wortes, einschließlich Frauen und Kindern, etwa 67 bis 68 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht35. Vermeil schließt seine Studie der deutschen Gesellschaft mit der Feststellung, dass »das Deutschland Wilhelms II. am Vorabend des Jahres 1914 zu drei Vierteln proletarisiert war.«36

Von der allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards profitierte, und zwar nur bis 1908, eine relativ dünne Schicht hochqualifizierter Arbeiter*innen, eine »Arbeiter*innenaristokratie«37, deren Rolle keineswegs immer konservativ war, da aus ihren Reihen viele sozialistische Ausbilder*innen und Organisator*innen hervorgingen. Doch hat das deutsche Proletariat nichts mehr von dem noch rohen, elenden und niedergeschlagenen Proletariat, das zu Beginn der industriellen Revolution die Fabriken füllte. Die deutschen Proletarier*innen waren relativ gut ausgebildete moderne Arbeiter*innen, die mit Technik und Maschinen vertraut waren, und einen Sinn für kollektive Arbeit, Verantwortung und Organisation hatten, um ihre unmittelbaren Interessen zu verteidigen. Sie konnten sich aktivistisch betätigen und sich angesichts einer Gesellschaft, die sie als bloße Werkzeuge sah, bewusst werden, dass ihre Solidarität sie zu einer gesellschaftlichen Kraft macht, die nicht nur in der Lage ist, ihr eigenes Leben zu verändern, sondern auch das des von der kapitalistischen Konzentration erdrückten Kleinbürgertums, von dem sie mit einigem Recht behaupteten, dass sie es zu einem Verbündeten machen könnten.

Krieg oder Revolution

Durch seine allgemeinen Merkmale eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes wie auch durch die spezifischen Merkmale seiner politischen Entwicklung und Struktur stellt Deutschland ein für Arbeiter*innenkämpfe günstiges Schlachtfeld dar. Nicht nur stellt das Proletariat die einzige Kraft dar, die in der Lage ist, für die Vollendung der demokratischen Revolution, die Zerstörung der anachronistischen Macht der Landaristokratie, der Privilegien der Armee und der Staatsbürokratie zu kämpfen, sondern es wird im Laufe dieses Kampfes unweigerlich dazu gebracht, sich selbst als Kandidaten für die Nachfolge der herrschenden Klassen aufzustellen und die Macht im Namen aller Ausgebeuteten für sich zu beanspruchen. Der Kampf für die Demokratisierung des politischen Lebens, für die Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts, verlangt die Durchbrechung des verfassungsmäßigen Rahmens: Er befiehlt einen Klassenkampf, der nur zu einem bewaffneten Kampf und zur gewaltsamen Zerstörung des Offizierskorps, des Bollwerks des Staates, führen kann. Artikel 68 der Verfassung drückt letztlich ihr eigenes essenzielles Wesen aus, da er die Hypothese einer friedlichen Umwandlung mit parlamentarischen Mitteln ausschließt, im Gegensatz zu dem, was die Entwicklung der englischen politischen Strukturen zur gleichen Zeit nahelegt. Aus diesem Blickwinkel führten die - militärischen, sozialen und politischen - Bedingungen der Verwirklichung der deutschen Einheit, Bismarcks Bestreben, gleichzeitig die Macht der Junker und das Expansionsfeld der Unternehmer zu bewahren, dazu, dass Deutschland jener Sicherheitsventile beraubt wurde, die in anderen fortgeschrittenen Ländern eine politische Organisation auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts, des Parlamentarismus, und der demokratischen Ideologie, die den wirksamsten Schutz des kapitalistischen Eigentums darstellt, ermöglichten.

Die internationalen Positionen des deutschen Imperialismus leiden unter der gleichen Unsicherheit. Die industrielle Entwicklung des kapitalistischen Deutschlands fand zu einer Zeit statt, als die Reichtümer der Welt mehr oder weniger aufgeteilt waren, und auf diesem Terrain hat der deutsche Imperialismus nicht die anderen Sicherheitsventile, die die reservierten Märkte der Kolonialreiche um die Jahrhundertwende darstellten. Historiker*innen unterstreichen gewöhnlich unter den Faktoren des Weltkrieges die Rolle der deutsch-britischen Konkurrenz. Ab 1890 gab es tatsächlich in Großbritannien erste Anzeichen für den Niedergang seiner Welthegemonie. Die Vereinigten Staaten und Deutschland überholten es in der Produktion in mehreren Bereichen. Ihre Exporte gingen zunehmend ausschließlich in industriell rückständige Länder, und in diesem Bereich geriet es in Konkurrenz zur deutschen Industrie. Deutschland, der zweitgrößte Industriestaat der Welt, ist unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs fast sicher, die Überhand zu haben, aber ein großer Teil der Welt ist seiner direkten Expansion verschlossen, während die Bildung eines dafür notwendigen Kolonialreichs nur durch einen Konflikt möglich wäre. Unter diesem Gesichtspunkt muss man die deutsch-britische Rivalität auf dem Gebiet der maritimen Rüstung betrachten, ebenso wie den systematischen Widerstand der britischen Diplomatie gegen die Errichtung einer deutschen Hegemonie in Europa: Ein Pokerspiel im Maßstab einer Welt, die für die Bedürfnisse der Protagonisten zu klein geworden ist. Dieser Wettbewerb ist in den Expansionsbedürfnissen des Kapitalismus selbst verankert, und der Krieg ist in dem Maße unvermeidlich, als die Aufteilung der Welt beendet ist und der Vorstoß des jüngsten Neuankömmlings, des deutschen Imperialismus, ihre Neuordnung verlangt. Seit Beginn des Jahrhunderts besteht die Alternative zwischen entweder Bürgerkrieg und Weltrevolution oder imperialistischem Krieg, der, wie Engels voraussah, wiederum in Revolution und Bürgerkrieg umschlagen könnte.

Nationalismus oder Sozialismus

In diesem Sinne jedenfalls definierte der Kongress der Sozialistischen Internationale 1912 in Basel erneut die Haltung der sozialistischen Parteien im Falle eines Krieges:

»Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.«38

Angesichts einer solchen sozialistischen, internationalistischen, proletarischen Position, in einem Land, das immer mehr mechanisiert, standardisiert, proletarisiert wird und in dem das Industrieproletariat einen so wichtigen Platz einnimmt, sind die herrschenden Klassen bei Todesstrafe gezwungen, zu versuchen, nach dem Ausdruck Vermeils »das Proletariat mit dem Reich zu versöhnen«39, indem sie es davon überzeugen, dass es ein integraler Bestandteil der nationalen Gemeinschaft ist. Das ist der Sinn der Bemühungen der Apostel des »sozialen Christentums«, des Bischofs Ketteler sowie des Pfarrers Stoecker, des »nationalen Sozialismus« Friedrich Naumanns oder der »Sozialpolitik« Wilhelms II40. Das ist die Rolle der nationalistischen Ideologie, die auf dem überschwänglichen und beunruhigten Nationalgefühl eines Volkes beruht, das sich seine Einheit erst erkämpfen musste, bevor sie ihm gewährt wurde, auf dem Stolz auf seine gigantischen wirtschaftlichen Leistungen, auf seine überlegene Kultur als »auserwähltes Volk«, und auf dem Gefühl der Frustration einer für die Aufteilung der Welt zu spät gekommenen Macht. Bildung, Presse und Propaganda werden für die Vermittlung dieses Nationalismus mobilisiert.

Edmond Vermeil hat gezeigt, wie Hitlers Nationalsozialismus und Antisemitismus in den Bemühungen der herrschenden Klassen wurzelten, die Masse der Proletarier*innen der internationalistischen revolutionären Ideologie zu entreißen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war der Antisemitismus, der »Sozialismus des dummen Kerls«, wie Bebel es formulierte, für sie das Mittel, um die Wut eines von der Entwicklung des Großkapitalismus erdrückten und von der Proletarisierung bedrohten Kleinbürger*innentums abzulenken. Die deutschen herrschenden Klassen hatten keine andere Möglichkeit zu überleben, als zur Eroberung der Welt zu marschieren, keine andere Möglichkeit, das Proletariat zu beschwichtigen, als es, wie Vermeil schreibt, »in der Atmosphäre des überschwänglichen Nationalismus«41 mitzuschleppen.

Vom Standpunkt der marxistischen Aktivist*innen ging der Kampf um die sozialistische Revolution in Deutschland also zunächst über den Kampf um das Klassenbewusstsein des Proletariats, seine Klassenorganisation in einer sozialistischen Partei innerhalb einer Internationale. Nun ist es unbestreitbar, dass Engels‘ Optimismus seine Berechtigung in den auf diesem Weg errungenen Erfolgen finden konnte, vor allem in der Errichtung des grandiosen Arbeiter*innenbauwerks, das die deutsche Sozialdemokratie vor 1914 war.

Kapitel II: Sozialdemokratie vor 1914

Die Spaltung zwischen Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, die sich ab August 1914 andeutete und 1919 abgeschlossen wurde, hat ein verzerrtes Licht auf die Geschichte der Internationale geworfen. Viele Autor*innen, Politiker*innen und Historiker*innen, die in der Vergangenheit die Wurzeln einer Spaltung von ungeheurem Ausmaß entdecken wollen, behandeln sie als vorhersehbares Phänomen. In der Tat war sie, obwohl sie vor dem Krieg in die Ereignisse und das Verhalten der Menschen eingeschrieben war, noch weit davon entfernt, in ihrem Bewusstsein eingeschrieben zu sein. Die russische bolschewistische Fraktion, die Keimzelle der künftigen kommunistischen Weltbewegung, wollte nur eine russische Fraktion sein, die eine sozialdemokratische Arbeiter*innenpartei – das heißt in der Sprache der Zeit eine marxistische »revolutionäre« Partei – unter den gegebenen historischen Bedingungen des Zarenreichs aufbaute. In seiner Polemik gegen Peter Struve im Jahr 1905 empörte sich Lenin über die spalterischen Interpretationen, die seiner Politik gegeben wurden:

»Wo und wann habe ich den ›Revolutionarismus Bebels und Kautskys‹ als Opportunismus bezeichnet? […] Wo und wann sind zwischen mir einerseits und Bebel und Kautsky anderseits Meinungsverschiedenheiten zutage getreten, die auch nur annähernd so ernst wären wie beispielsweise die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bebel und Kautsky in der Agrarfrage in Breslau?«42

Eine berechtigte Empörung des bolschewistischen Führers im Jahre 1905. Trotz vieler Diskussionen und Differenzen behielt er diese Haltung grundlegend bis 1914 bei und ließ keine Gelegenheit verstreichen, die deutsche Sozialdemokratie, das Vorbild dieser »revolutionären Sozialdemokratie«, die er in Russland aufbauen wollte, zu würdigen gegenüber denjenigen, die er als Opportunist*innen betrachtete, die er aber nur deshalb aus der Partei ausschließen wollte, weil sie deren Notwendigkeit leugneten und sich zu deren »Liquidatoren« machten.

Ein Modell der revolutionären Sozialdemokratie

Für Lenin ist es bis zum Stuttgarter Kongress 1907 »die deutsche Sozialdemokratie, die bisher stets die revolutionäre Auffassung im Marxismus vertreten hatte«43; und wenn er unter diesem Gesichtspunkt die von ihm als opportunistisch beurteilte Haltung der deutschen Delegierten auf diesem Kongress kritisiert, so schließt er sich damit ganz der Kritik an, die von Kautsky geäußert wurde. Diese Analyse hält er bis zum Vorabend des Krieges aufrecht. Am 6. August 1913 schließt er den Artikel in der Prawda, der dem Leben und Werk von August Bebel gewidmet ist, mit diesen Zeilen ab:

»Niemand hat so ausgeprägt die Besonderheiten und Aufgaben dieser Periode verkörpert wie August Bebel. Selbst ein Arbeiter, vermochte er sich den Weg zu festen sozialistischen Überzeugungen zu bahnen, vermochte er zum Vorbild eines Arbeiterführers zu werden, eines Repräsentanten und Mitkämpfers der Lohnsklaven des Kapitals in ihrem Massenkampf für eine bessere Ordnung der menschlichen Gesellschaft.«44

Am 4. April 1914 kritisiert er heftig die opportunistischen Positionen, die der Gewerkschaftsführer Legien während seiner USA-Reise vertrat, und feiert dennoch die »gewaltige[n] Verdienste« der deutschen Sozialdemokratie, ihre »ganz präzise ausgearbeitete Theorie«, ihre »Massenorganisation, Zeitungen, Gewerkschaften, politische Verbände.«45

Unter den Männern, die den führenden und gründenden Kern der Kommunistischen Internationale bilden sollten, scheint vielleicht nur Trotzki das spätere Schicksal der deutschen Sozialdemokratie geahnt zu haben, denn er schreibt in »Ergebnisse und Perspektiven«, im Anschluss an die Revolution von 1905:

»Die Aufgabe der sozialistischen Partei war und ist es, das Bewusstsein der Arbeiterklasse in dem Maße zu revolutionieren, wie die Entwicklung des Kapitalismus die sozialen Verhältnisse revolutionierte. Aber die Arbeit der Agitation und Organisation in den Reihen des Proletariats ist durch eine innere Unbeweglichkeit gekennzeichnet. Die europäischen sozialistischen Parteien, insbesondere die größte unter ihnen, die deutsche, haben einen eigenen Konservatismus entwickelt, der umso stärker ist, je größere Massen der Sozialismus ergreift, je höher der Organisationsgrad und die Disziplin dieser Massen sind. Infolgedessen kann die Sozialdemokratie als Organisation, die die politische Erfahrung des Proletariats verkörpert, in einem bestimmten Moment zum unmittelbaren Hindernis auf dem Weg der offenen Auseinandersetzung zwischen den Arbeitern und der bürgerlichen Reaktion werden.«46

Tatsächlich geht die Kritik an der deutschen Sozialdemokratie, die aus dem Inneren der Zweiten Internationale kommt, nicht von revolutionären Sozialdemokrat*innen aus, sondern von opportunistischen Sozialdemokrat*innen wie den französischen Sozialist*innen. Die deutschen Führer*innen waren die Schüler*innen von Marx und Engels, ihre direkten Nachfolger*innen an der Spitze der sozialistischen Weltbewegung, und niemand kann das »Erbrecht« von Männern wie Bebel und Kautsky bestreiten. Bebel47 verkörpert die Organisation der deutschen Arbeiter*innenklasse in der Zeit des Aufstiegs des Kapitalismus: Dieser Arbeiter, ein Drechsler in der Metallindustrie, Abgeordneter des Reichstages im Jahr 1871, lancierte die Parole »Krieg den Palästen« zu der Zeit, als Bismarcks Truppen den Soldaten von Thiers halfen, die Kämpfer*innen der Pariser Kommune zu zerschlagen. Zweimal inhaftiert und zweimal verurteilt, war er im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der geduldige Baumeister, die Seele des Widerstands gegen die Sozialistengesetze, der breitschultrige Kämpfer, der unermüdlich rekrutierte, anleitete, redigierte und die Arbeiter*innenmassen mit seiner soliden Argumentation und der Zuversicht eines ruhigen Kämpfers davon überzeugte, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen sollten. Der vierzehn Jahre jüngere, 1854 geborene Österreicher Karl Kautsky48 verkörpert den intellektuellen Anspruch des wissenschaftlichen Sozialismus: Neben dem Praktiker Bebel ist er der Theoretiker, der Gelehrte, der den Weg, auf den sich Partei und Massen begeben, klärt und beleuchtet. In der Schweiz war er Redakteur des »Sozialdemokrat«, den die Aktivist*innen zur Zeit von Bismarcks antisozialistischen Ausnahmegesetzen heimlich in Deutschland verbreiteten. Als Freund und Schüler von Engels setzte er die Arbeit der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in den Spalten der theoretischen Zeitschrift »Die Neue Zeit« fort. Seine Gegner*innen sagen, er sei der Papst der Sozialdemokratie und beanspruche Unfehlbarkeit. Das liegt daran, dass seine Autorität immens und sein Prestige beträchtlich ist. Er scheint das flinke Gehirn eines starken Arms zu sein.

Ein neues Universum

In vierzig Jahren ist es den deutschen Sozialdemokrat*innen trotz Verfolgung und Repression gelungen, die Arbeiter*innenklasse auf allen Gebieten zu organisieren, für die politische Aktion in all ihren Formen, aber auch auf der Ebene ihrer unmittelbaren Bedürfnisse, in der Organisation ihrer Freizeit, ihrer Bildung und Kultur. Es sind die Menschen, die im Namen der sozialdemokratischen Partei handeln, die die wirklichen organisierenden Kader der Klasse bilden: Vertrauensmänner49 der Partei in den Orten oder Betrieben, Gewerkschaftsdelegierte, Leiter*innen von Gewerkschaften, Genossenschaften, Massenorganisationen, gewählte Vertreter*innen in verschiedenen Funktionen. Im Staat und gegen ihn haben die Anhänger*innen von Marx und Engels eine Partei aufgebaut, die so mächtig ist, dass sie einen wirklichen Staat im Staat darstellt.

Die deutsche sozialdemokratische Partei zählt im Jahr 1914 1.085.905 Mitglieder. Ihre Kandidaten bei den Parlamentswahlen von 1912 erhielten mehr als 4.250.000 Stimmen. Die von ihr gegründeten und geleiteten Gewerkschaften zählten mehr als zwei Millionen Mitglieder und ein Jahreseinkommen von 88 Millionen Mark. Um sie herum konnten ihre Aktivist*innen ein weites Netz von Parallelorganisationen spinnen, die auf der einen oder anderen Ebene fast alle Lohnabhängigen unterstützten und sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erstreckten: sozialistische Frauenvereine, Jugendbewegungen, Volksuniversitäten, Bibliotheken und Lesegesellschaften, Freizeitorganisationen und Freiluftbewegungen, Verlage, Zeitungen, Journale, Zeitschriften. Das Gebäude ruht auf dem soliden Gerüst eines kompetenten und effizienten Verwaltungs- und Technikapparates, der in modernen Methoden der Verwaltung und der Propaganda erfahren ist. In ihren neunzig Tageszeitungen beschäftigt die Partei 267 festangestellte Journalist*innen, 3.000 Arbeiter*innen und Angestellte, Manager*innen, kaufmännische Leiter*innen und Vertreter*innen. Die Mehrheit der Parteiführer*innen – insbesondere die Mitglieder des Parteivorstandes – und der zentralen Büros, die Gesamtheit der Verantwortlichen in den verschiedenen Bundesstaaten, die Mehrheit der Sekretär*innen der Ortsverbände sind hauptamtliche Parteifunktionär*innen, von der Partei berufene Fachleute, die ihre ganze Zeit der Partei widmen, ebenso wie die Mehrheit der gewählten Funktionär*innen, die 110 Abgeordneten im Reichstag, die 220 Abgeordneten in den verschiedenen Landtagen, die 2886 Gemeinderäte. Die Leiter*innen der Gewerkschaftsverbände, der Gewerkschaften und der örtlichen Gliederungen, die selbst seit Jahren professionalisiert sind, sind fast in ihrer Gesamtheit Mitglieder der Partei.

Eine Bewegung dieser Größenordnung, die im kapitalistischen, imperialen Deutschland auf Klassenbasis organisiert ist, kann nicht mit einer einfachen politischen Maschine des traditionellen Typs gleichgesetzt werden, auch nicht mit dem Modell einer »Arbeiterpartei« in einer parlamentarischen Demokratie. Ruth Fischer hat geschrieben:

»Die deutschen Sozialdemokraten hatten einen neuen Organisationstyp geschaffen – nicht nur eine lose Vereinigung von Individuen, die sich von Zeit zu Zeit versammeln, um Tagesfragen zu besprechen, nicht nur eine Partei zur Verteidigung der Arbeiterinteressen, sondern einen Lebensstil. Die Partei war weit mehr als ein politischer Apparat; sie gab dem deutschen Arbeiter Würde und Ansehen in seiner eigenen Welt. Der Arbeiter lebte in seiner Partei, die Partei formte seine täglichen Gewohnheiten. Aus dieser Verschmelzung von Person und Gemeinschaft stammten seine Ideen, seine Reaktionen und seine Haltung.«50

Als Universum oder Gegengesellschaft bietet die deutsche Sozialdemokratie mit ihren Traditionen, Bräuchen, Riten und Zeremonien, die manchmal mit ihren religiösen Gegenstücken übereinstimmen, mehr als eine politische Haltung oder eine Denkweise: Sie bietet einen Rahmen, eine Art zu leben und zu fühlen. Dies erklärt, warum so grundlegend unterschiedliche Tendenzen wie die von Bernstein und Rosa Luxemburg verkörperten im Schoß einer Organisation koexistieren konnten, in der sie beide ihre Wurzeln hatten. So erklärt es sich, dass die Vertreterin des revolutionären Flügels der deutschen Sozialdemokratie gegen die von Lenin in Was tun? entwickelte Konzeption der Partei polemisierte:

»Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse.«51

Reformen oder Revolution

Tatsächlich sind die großen Denkströmungen, um die sich die Arbeiter*innenbewegung organisiert, in allen Phasen der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie in Form von Theorie- und Strategiediskussionen präsent gewesen, ohne jemals ihre organisatorische Einheit zu beeinträchtigen. Während die anderen sozialistischen Bewegungen in Europa in manchmal scheinbar byzantinische Streitereien zerfielen, bot die deutsche Sozialdemokratie das Schauspiel einer geschlossenen Partei, in der Tendenzen koexistierten, deren Äquivalente anderswo die Form rivalisierender Parteien angenommen hatten. Seit dem im Jahre 1875 auf dem Gothaer Parteitag verwirklichten Zusammenschluss der marxistischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von Bebel und Liebknecht mit dem von Ferdinand Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein hat es innerhalb der Partei immer wieder Strömungen gegeben, bei denen ein Spezialist der französischen Arbeiter*innenbewegung keine Schwierigkeiten gehabt hätte, die deutschen Gegenstücke der »Possibilisten«, der »Guesdisten«, der »Blanquisten« oder der »Allemanisten« zu identifizieren. Aber sie bleiben in der gleichen Partei, baden im gleichen Wasser, atmen die gleiche Luft, was ausreicht, um ihren Meinungsverschiedenheiten eine besondere Färbung zu geben, denn Debatten, die durch Kompromisse mit Blick auf das Handeln beigelegt werden, haben eine andere Tragweite als Dialoge zwischen Gehörlosen.

Marx war besorgt über die wichtigen Zugeständnisse, die seine Anhänger*innen im Gothaer Programm gegenüber denen von Lassalle machten.52 Als Bismarck 1878 versuchte, die junge Partei unter den Schlägen seines Ausnahmegesetzes zu erdrücken, wurde eine Meinungsströmung zugunsten eines als »realistisch« qualifizierten Akzeptierens des so gesetzten Rahmens erkennbar. Doch Höchbergs Anhänger*innen wurden von den Marxist*innen schnell besiegt53: Ohne auf die legalen, wenn auch eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten zu verzichten, wie es die ungeduldigen Elemente54, die Vorfahren der »Linksradikalen«, vorschlugen, betrieben die Sozialdemokrat*innen illegale Propaganda, Agitation und Organisationsarbeit, die es der Partei erlaubten, trotz der Repressionen weiter Fortschritte zu machen. 1891 [1890] wurde das Ausnahmegesetz nicht erneuert, und die Sozialist*innen zogen eine Bilanz der so geschaffenen neuen Lage. Gegen die »Jungen«55, die einen Boykott der Wahlen und eine permanente Offensivpolitik forderten, und auch gegen den rechten Flügel um Vollmar, der die Partei auf den Weg des Possibilismus56 und eines ausschließlich auf Wahlen orientierten Kampfes verpflichten wollte, ließen die Führer*innen die von Kautsky entwickelte Konzeption in dem auf dem Erfurter Parteitag57 verabschiedeten Programm triumphieren. Danach kann und muss die Partei, ohne ihr Maximalprogramm, die durch die kapitalistische Expansion in weite Ferne gerückte sozialistische Revolution, aufzugeben, die für die Forderungen eines Minimalprogramms, für Teilziele, politische, wirtschaftliche, soziale Reformen kämpfen, für die Festigung der politischen und wirtschaftlichen Macht der Arbeiter*innenbewegung arbeiten und gleichzeitig das Bewusstsein der Arbeiter*innen erhöhen. So entsteht die Dichotomie, die das Maximalprogramm – Revolution und Sozialismus – vom Minimalprogramm der im Rahmen des bestehenden kapitalistischen Regimes erreichbaren Reformen unterscheidet: eine Trennung, die Theorie und Praxis der Sozialdemokratie für Jahrzehnte dominieren wird.

Nach 1898 kam der erste ernsthafte theoretische Angriff auf die marxistischen Grundlagen des Erfurter Programms aus dem innersten Kern der Partei, von einem Freund von Engels, vom Organisator der illegalen Presse zur Zeit der Verfolgungen: der »Revisionismus« Eduard Bernsteins. Unter Berufung auf die letzten zwanzig Jahre der friedlichen Entwicklung des Kapitalismus stellt Bernstein Marx‘ Perspektiven der Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche und gleichzeitig seine philosophischen Grundlagen, den dialektischen Materialismus, in Frage. In seinen Augen hört der Sozialismus auf, die durch den bewussten Kampf der Arbeiter*innenklasse auferlegte dialektische Konsequenz dieser Widersprüche zu sein, und wird zum Ergebnis der – von ihrer ökonomischen und sozialen Bedingung befreiten – freien Wahl der Menschen, eine moralische Option anstelle einer sozialen Notwendigkeit. Dem, was er als altmodische revolutionäre Phraseologie betrachtet, stellt Bernstein die realistische Suche nach Reformen entgegen, für die sich die Arbeiter*innenklasse mit wichtigen Sektoren der Bourgeoisie innerhalb einer breiten demokratischen Bewegung zusammenschließen müsste.58

Die so eröffnete Debatte, die »Bernsteiniade«, ist zugleich sehr heftig und sehr reichhaltig. Neben Kautsky, dessen Bestreben es war, Bernsteins aus der Ökonomie entlehnte Argumente zu widerlegen59, fand die Gruppe der »Radikalen«, die den Marxismus verteidigten, in der Person Rosa Luxemburgs eine hochwertige Wortführerin, die den revolutionären Atem wiederbelebte, indem sie ihre eigene Interpretation der Erfurter Synthese vorschlug: das Dilemma »Reformen oder Revolution« sei bedeutungslos, der Kampf um Reformen könne nur zu revolutionären Zielen führen und könne von Sozialdemokrat*innen nur mit dieser Perspektive geführt werden60. Der Dresdner Parteitag 1903 schloss die Debatte zumindest formal ab, indem er den Versuch der Revisionist*innen verurteilte, bei der »anstelle der Eroberung der politischen Macht durch die Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt«61.

Die Debatte ging jedoch in den folgenden Jahren weiter. Die russische Revolution von 1905 stellte für die deutschen Sozialdemokraten einen regelrechten Stromschlag dar: Kautsky schrieb, sie sei »was wir seit Jahren, seit Jahrzehnten ersehnt, was vielen von uns ob des langen vergeblichen Harrens schon ganz unglaubhaft geworden war, nun wurde es zum Ereignis«62. Sie fiel mit einem spontanen Aufruhr innerhalb der Arbeiter*innenklasse zusammen, die im selben Jahr mit dem großen wilden Streik der Ruhrbergarbeiter*innen kulminierte63