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Nihal, die letzte Halbelfe der Aufgetauchten Welt, und ihr Gefährte, der junge Magier Sennar, haben nicht mehr viel Zeit, um ihre Welt vor dem Untergang zu bewahren. Erst wenn sie die acht magischen Elfensteine gefunden und in einem geheimnisvollen Amulett vereint haben, können sie die Macht des Tyrannen brechen. Doch auf ihrem Weg lauert der Tod.
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Seitenzahl: 732
Für Giuliano, mit Dank für alles
Ich heiße Sennar und bin Zauberer. Nihal habe ich vor fünf Jahren kennengelernt, hoch oben auf der Terrasse von Salazar, einer Turmstadt im Land des Windes, als ich sie im Zweikampf besiegte und ihren Dolch gewann. Sie war dreizehn, ich fünfzehn Jahre alt. Seit damals ist viel geschehen. Der Tyrann, der bereits über vier der acht Länder der Aufgetauchten Welt herrschte, eroberte auch noch Salazar, und Nihals Vater Livon wurde dabei getötet. Kurze Zeit später fand Nihal heraus, dass sie die letzte Überlebende des Volkes der Halbelfen ist, das der Tyrann Jahre zuvor ausgelöscht hatte. Wild entschlossen, Kriegerin zu werden, um so den Tod ihres Vaters und das Massaker an ihrem Volk zu rächen, bestand sie die harten Aufnahmeprüfungen, die ihr der Oberste General Raven abverlangte, und wurde Schülerin an der Akademie der Drachenritter. Dort auf der Akademie lernte sie Laio kennen, ihren einzigen Freund in jenen einsamen Monaten der Ausbildung. Dann kam der Tag ihrer ersten Schlacht, und darin fiel der Mann, in den sie sich verliebt hatte, der Drachenritter Fen. Dieser war jedoch der Geliebte Soanas gewesen, jener Zauberin, die Nihal mit den magischen Künsten vertraut gemacht hatte. Für ihre weitere Ausbildung wurde sie schließlich dem Gnomen Ido zugeteilt, bei dem sie endlich auch ihren eigenen Drachen erhielt. Er heißt Oarf.
Zu jener Zeit übertrug mir der Rat der Magier, dem ich angehöre, eine bedeutende Mission. Und so kam es, dass ich vor ungefähr einem Jahr zu einer Reise in die Untergetauchte Welt aufbrach, ein Kontinent, über den viel fabuliert wurde, dessen genaue Lage aber niemand kannte. Ziel meiner Fahrt war es, die Bewohner jener Welt um militärischen Beistand in unserem Kampf gegen den Tyrannen zu bitten.
Es war eine beschwerliche Reise. An Bord eines Piratenschiffes unter dem Kommando Kapitän Rools und seiner Tochter Aires stach ich in See. Großen Gefahren hatten wir zu trotzen, gewaltigen Stürmen und dem Schlund eines Ungeheuers, das das Unterwasserreich bewachte. Der letzten Prüfung stellte ich mich allein. Ich ließ mich in einem Beiboot aussetzen und erreichte den einzigen bekannten Zugang zur Untergetauchten Welt, einen enormen Wasserkrater, der alles verschlang.
Ich glaubte, sterben zu müssen. Die Gewalt des Strudels, das schlingernde Boot, das bald schon in tausend Splitter zerbarst, während das Wasser in meine Lungen eindrang und mich zu ersticken drohte …
Doch ich konnte mich retten und erreichte die Untergetauchte Welt. Nachdem mich eine einheimische Familie gefunden und einige Tage gepflegt hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem Grafen, dem ich mein Ersuchen vortragen konnte.
Zalenia, wie die dortigen Bewohner ihre Heimat nennen, ist gefährlich für alle, die wie ich aus der Aufgetauchten Welt stammen. Denn jedem, der sich erkühnt, in die Tiefen jenes Reiches hinabzusteigen, droht die Todesstrafe. Kurz darauf nahm man mich gefangen und warf mich in einen Kerker, wo mir, gänzlich unerwartet, Hilfe zuteil wurde. Ich lernte ein wunderschönes Mädchen kennen, Ondine mit Namen, die süßeste und traurigste Erinnerung an jene drei Monate, die ich tief unter dem Meeresspiegel verbrachte.
Ondine umsorgte mich in meiner Zelle und half mir, als die letzte Hoffnung verloren schien, indem sie sich beim Grafen Varen für mich einsetzte. Nachdem ich dann selbst mit Varen sprechen und ihn von meinem Vorhaben überzeugen konnte, wurde ich zu König Nereo vorgelassen. Ondine hatte ich auf die Reise in die Hauptstadt, wo der Souverän residierte, mitgenommen, weil ich sie brauchte und weil ich sie zu lieben glaubte.
In Zalenia erreichte ich, was ich mir erhofft hatte – doch zu einem hohen Preis.
Während ich vor den Augen des gesamten Volkes König Nereo anflehte, uns militärisch beizustehen, versuchte ein Abgesandter des Tyrannen ein Attentat auf den Herrscher. Damit hielt der Krieg nun auch dort, in einer bis dahin friedlichen Welt, Einzug.
Als mein Auftrag erfüllt war, schien es mir, als kehrte ich nun in die Wirklichkeit zurück, und mir wurde klar, dass ich mich in meinen Gefühlen für Ondine getäuscht hatte. Ich ließ sie in ihrer Welt zurück, musste ihr aber beim Abschied ein Versprechen geben, das ich eines Tages hoffe einlösen zu können.
Während ich in meiner Mission unterwegs war, ist auch in der Aufgetauchten Welt viel geschehen. Nihal wurde Drachenritter und forderte den stärksten Krieger des feindlichen Heeres heraus, den Mann, der Salazar zerstört hatte: den Gnomen Dola. Sie konnte ihn bezwingen, musste sich dazu jedoch eines verbotenen Zaubers bedienen, der die Heerscharen der Geister, die sie bedrängten, noch weiter vermehrte.
Die härteste Phase jenes Kampfes kam aber erst, als Nihal bereits gewonnen hatte. Da erfuhr sie, dass ihr Gegner Idos Bruder war. Wie Dola hatte auch ihr Lehrer früher einmal dem Tyrannen gedient und war zudem an der Ausrottung der Halbelfen beteiligt gewesen. Doch Ido und Nihal verbindet etwas Besonderes, ein Band, das sich nicht einfach zerreißen lässt, und so gelang es ihnen, auch noch diese Prüfung zu meistern.
Nihal und ich fanden uns wieder, und auch Soana kehrte zu uns zurück. Sie war umhergereist auf der Suche nach der Magierin Rais, die einmal ihre Lehrmeisterin gewesen war, und richtete Nihal nun aus, dass diese sie zu sehen wünschte.
Gemeinsam suchten wir sie auf. Rais ist eine boshafte Greisin. Mit hasserfülltem Blick verriet sie uns, dass Nihal einem Gott mit dem eigentümlichen Namen Shevrar geweiht sei und dass es allein in Nihals Hand liege, die Welt vom Tyrannen zu befreien. Dazu müsse sie die acht magischen Edelsteine zusammentragen, die auf Heiligtümern in den acht Ländern der Aufgetauchten Welt verteilt seien, und sie nebeneinander in einen Talisman einfügen. Damit lasse sich dann ein mächtiger Zauber ausüben, mit dem die Aufgetauchte Welt von der Schreckensherrschaft zu erlösen sei. Wir erfuhren auch, dass die Albträume, die Nihal so lange schon quälten, von Rais hervorgerufen wurden, um die Halbelfe dazu zu drängen, sich in dieses Abenteuer zu stürzen. Ich brachte Nihal von Rais fort und überzeugte sie davon, sich nicht auf den Weg zu machen, sich auf nichts von dem einzulassen, was Rais von ihr erwartete.
Doch die Ereignisse überstürzten sich, als der Tyrann eine neue, entsetzliche Armee aufstellte. Es gelang ihm, die Geister unserer Gefallenen wiederauferstehen zu lassen, und so mussten wir gegen unsere toten Waffengefährten kämpfen, denen unsere Schwerthiebe nichts anzuhaben vermochten.
Soana und ich konnten immerhin einen Zauber entwickeln, der es dem Eisen ermöglicht, die Leiber der Toten zu durchdringen, sodass sie sich in Rauch auflösten. Doch dies änderte nichts mehr an dem Debakel. An einem einzigen Tag ging ein Großteil des Landes des Wassers verloren, und Nihal wurde vom Geist ihres geliebten Fen verwundet.
Und so kam es, dass die Götter, erzürnt über das hochmütige und törichte Betragen der Bewohner Vemars, deren Ende beschlossen. Damit richteten sie ihren Zorn gegen jenes Land, das sie Jahre zuvor gesegnet hatten, und es entstand ein entsetzliches Wirrsal. Das Meer erhob sich, bis es den Himmel berührte, das Festland stürzte in die Tiefe, und Feuerfluten begruben Vemar unter ihren wahnwitzigen Strömen. Drei Tage und drei Nächte vermengten sich Erde und Meer, während die Menschen zu den Göttern flehten, um deren Zorn zu besänftigen. Am vierten Tag erhob sich Vemar zum Himmel, wurde umgestürzt und in die Fluten zurückgeworfen. An der Stelle aber, wo es gelegen hatte, war nur noch eine weite, makellos gerundete Bucht. Vemar, der »Augapfel« der Götter, existierte nicht mehr, es war ersetzt worden durch den Golf von Lamar, den »Zorn« der Götter. Die Türme inmitten der Bucht verkünden seitdem, dass niemand mächtig genug ist, um sich zu den Göttern zu erheben.
ANTIKE GESCHICHTEN, KAPITEL XXIV,AUS DER KÖNIGLICHEN BIBLIOTHEK DER STADT MAKRAT
Nihal mummelte sich bis über die Nase in ihren Umhang ein. Um diese Jahreszeit war es schon kalt im Wald. Die Pinien rauschten in einem eisigen Wind, der ihr Lagerfeuer zu löschen drohte.
Die Letzte aus dem Volk der Halbelfen – wie ihre blauen Haare und die spitz zulaufenden Ohren bezeugten – war durch ein Fieber geschwächt und wurde gequält von den Stimmen der Geister, die ihre Albträume beherrschten. Sie betrachtete das Medaillon, das sie am Hals trug, jenen Talisman, der sie das Leben kosten und gleichzeitig die Rettung der Aufgetauchten Welt bedeuten konnte, und verlor sich im Anblick der acht leeren Fassungen, die so viele Fragen und Zweifel aufwarfen.
Ihre Gefährten Sennar und Laio lehnten schlummernd an einem Baumstamm. Auch Oarf, ihr Drache, schlief; an ihrem Rücken, der auf seiner smaragdgrünen, schuppigen Haut ruhte, konnte Nihal seine langsamen, regelmäßigen Atemzüge spüren.
Sechs Tage zuvor hatten sie sich auf den Weg gemacht, nach einem weiteren Besuch bei der Zauberin Rais. Vor dem Feuer sitzend, schloss die Halbelfe die Augen und konzentrierte sich auf Oarfs beruhigenden Atem, um die Erinnerung an diese Begegnung zu vertreiben. Erneut sah sie die fast weißen Augen der Greisin und deren krumme Finger vor sich, und ihr war, als könne sie sogar ihre hasserfüllte Stimme hören.
Obwohl der Wind bitterkalt war, schwitzte die Halbelfe. Erneut betrachtete sie den Talisman. Der Edelstein in der Mitte funkelte in der Dunkelheit, im rötlichen Schein des Lagerfeuers, so wie er in Rais’ Hütte die verpestete Luft erhellt hatte. Die Worte der Zauberin dröhnten durch Nihals Schädel.
»Der Talisman wird dir, und nur dir allein, Sheireen, verraten, wo die Heiligtümer zu finden sind. Bist du dorthin gelangt und hast den magischen Edelstein erhalten, so sprich die Worte der Eingeweihten: Rahhavni sektar aleero, ›ich erflehe die Macht‹. Füge den Edelstein daraufhin in die passende Vertiefung des Amuletts ein, und seine Kraft wird auf dich übergehen. Zuletzt begib dich in das Reich des Tyrannen, in das Große Land, und rufe die acht Naturgeister herbei, indem du sie einzeln beim Namen nennst: Ael, Wasser; Glael, Licht; Sareph, Meer; Thoolan, Zeit; Tareph, Erde; Goriar, Finsternis; Mawas, Luft; Flar, Feuer. Dadurch werden alle acht Steine aktiviert und ihre Geister beschworen. Der Talisman wird deine Lebenskraft aufsaugen und sich davon nähren, um die Geister herbeizurufen. Die Kraft, die dir damit genommen wird, wird sich im Talisman sammeln. Sie kann entweder für einen weiteren Zauber genutzt werden – aber dadurch ginge sie ganz verloren und du stürbest –, oder sie wird freigesetzt, indem man den Talisman mit einer Klinge aus schwarzem Kristall zerschlägt. Doch vergiss nicht, der Talisman ist nur für dich allein bestimmt; trägt ihn ein anderer, so verliert er Glanz und Macht und beraubt den unrechtmäßigen Träger seiner Lebenskraft.«
Nihal erschauderte. Sie steckte den Talisman zurück und zog ihren Umhang noch fester um sich.
In aller Eile waren sie aufgebrochen, denn ihre Mission duldete keinen Aufschub. Sie selbst hatte darauf gedrungen, nicht zu warten, bis die Wunde an ihrer Schulter verheilt war, die ihr der Geist des gefallenen Fen zugefügt hatte, sondern sich gleich auf den Weg zu machen.
Nihal hätte es lieber gesehen, wenn Laio, ihr Knappe, im Hauptlager zurückgeblieben wäre, aber er wollte sich ihnen unbedingt anschließen. Sogar Ido, ihr Lehrer, hatte das einsehen müssen. »Es wäre sicher besser, ihn hierzulassen«, grummelte er zwischen zwei Pfeifenzügen. »Er ist einfach kein Krieger und überhaupt nicht für den Kampf geschaffen. Aber Laio würde sich niemals damit abfinden, im Lager zu bleiben und hier auf dich zu warten. Auch wenn du dich heimlich auf den Weg machtest, er würde dir folgen und sich wieder in Lebensgefahr bringen. Nein, ich sehe keine andere Möglichkeit: Du musst ihn mitnehmen.«
Der Knappe ließ sich nicht lange bitten, packte unverzüglich seine Sachen, mit einem Lächeln, das sein von blonden Locken eingerahmtes Gesicht erstrahlen ließ, und fieberte ungeduldig dem Aufbruch entgegen.
Als Nihal zum ersten Mal den Talisman befragte, tat sie es widerwillig. Solange sie seine Kräfte nicht erprobt hatte, konnte sie sich vormachen, nichts weiter zu sein als Nihal, die Drachenritterin. Sheireen, die Geweihte, jener Name, mit dem Rais sie angesprochen hatte, war mehr der Schatten eines Albtraums für sie.
Doch kaum hatte sie das Medaillon zur Hand genommen, da überkam sie eine Vision.
Ein verworrenes Bild. Nebel. Ein Sumpf. Und in der Mitte ein verschwommenes, bläuliches Gebäude. Dazu ein Wort: »Aelon«. Und eine Richtungsangabe. »Nach Norden, den Großen Fluss entlang, bis dorthin, wo er sich ins Meer ergießt.« Das war alles.
Dann stimmte es also. Sie war die Geweihte.
Von den düsteren Umrissen der Bäume umgeben, lag Nihal da und fand keinen Schlaf. Das Fieber war noch gestiegen, und die Wunde an der Schulter pochte. Sie schien sich entzündet zu haben.
Nihal blickte zu ihren Begleitern, dem Zauberer und dem Knappen, und ihr Blick blieb an Sennars rotem Haarschopf hängen, der unter seinem Umhang hervorschaute, und wieder einmal fragte sie sich, ob es ihnen tatsächlich gelingen würde, den Weg bis zu Ende zu gehen.
Am Morgen darauf brachen sie erst auf, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Sie zogen nach Norden, während es leicht zu schneien begann und der Wind die Baumkronen schüttelte und sich Oarfs Flügeln entgegenstemmte.
So flogen sie über Ebenen mit verschneiten Wäldern und über die Nebenflüsse des Saar. Zwischen dem kahlen Geäst erblickten sie von Menschen bewohnte Dörfer und Bäume, auf denen die Nymphen lebten. Nihal spürte, dass sie ihrem Ziel schon recht nahe waren.
»Hier müsste es sein«, rief sie irgendwann und ließ Oarf tiefer fliegen.
Unter ihnen teilte sich der Große Fluss in unzählige Arme, die den Boden tränkten, und die Bäume traten zurück und machten einem Feuchtgebiet Platz. Das mussten die Sümpfe sein, die Nihal bei der Befragung des Talismans erblickt hatte. Sie flogen näher heran, doch bald trübte dichter Nebel ihre Sicht. Hier und dort erblickten sie das dürre Geäst des einen oder anderen Baumes.
»Wir müssen ganz runter, sonst sehen wir gar nichts«, meinte Laio.
Kaum hatten sie wieder, umfangen vom weißlichen Licht des Nebels, festen Boden unter den Füßen, da stieg ihnen der Geruch fauligen Wassers in die Nase. Die Sümpfe.
Sie setzten sich auf einen Baumstamm, um zu beraten, was zu tun sei.
»Solange sich der Nebel nicht lichtet, können wir nicht weiterfliegen«, erklärte Sennar.
»Aber wir wissen doch gar nicht, wie weit das Heiligtum noch entfernt und wie ausgedehnt das Sumpfgebiet ist«, gab Laio zu bedenken.
Nihal schwieg. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken, und ihr Gesicht glühte. Sie versuchte, sich zu sammeln, und hörte nicht, was Laio und Sennar sagten. Schließlich entschied sie: »Wir müssen zu Fuß weiter.«
»Einverstanden«, antwortete Laio und machte Anstalten aufzustehen.
»Du kommst nicht mit«, hielt Nihal ihn zurück.
Laio erstarrte. »Warum das denn?«
»Es ist besser, wenn du bei Oarf bleibst.«
»Ach, du willst mich doch nur aus dem Weg haben«, empörte sich der Knappe, um gleich darauf jedoch eine reuige Miene aufzusetzen.
Nihal blickte ihn streng an. »Wie du vorhin selbst gesagt hast: Wir wissen nicht, wie weit es überhaupt noch ist. Oarf ist erschöpft, und du musst dich um ihn kümmern.«
»Schon, aber …«
»Kein Aber. Mein Entschluss steht fest. Sennar und ich machen uns morgen auf den Weg. Und du bleibst hier.«
An diesem Abend fand Nihal keinen Schlaf. Das Fieber war noch weiter gestiegen, und der Gedanke, dass sie in Kürze das erste Heiligtum betreten würde, versetzte sie in freudige Erregung und ängstigte sie zugleich. Sennar würde bei ihr sein, doch der Entschluss des Magiers, sie bei diesem Abenteuer zu begleiten und dafür seine Stellung im Rat aufs Spiel zu setzen, war eine zusätzliche Bürde für diese bereits arg belastete Mission.
Als Nihal vor dem Rat der Magier ihren Entschluss mitgeteilt hatte, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, war Sennar ruckartig aufgesprungen.
»Ich bitte um die Erlaubnis, sie zu begleiten.«
Nihal drehte sich zu ihm um. »Sennar!«
»Ausgeschlossen«, antwortete Dagon, »wir brauchen dich hier. Ohne deine magischen Künste wäre die Niederlage noch viel verheerender ausgefallen. «
»Bitte erlaubt mir, mit ihr zu dieser Mission aufzubrechen«, beharrte Sennar. »Auch ihr können meine magischen Künste von Nutzen sein.«
Dagon blickte ihn lange an. »Dann geben wir ihr eben einen anderen Zauberer mit. Du bist uns zu wertvoll, als dass wir auf dich verzichten könnten.«
»Auch Nihals Fähigkeiten sind wertvoll für unser Heer.«
»Du bleibst hier, Sennar. Die Sache ist entschieden.«
In diesem Moment ließ sich Sennar zu einer unerhörten Geste hinreißen. Er riss sich das Medaillon vom Hals, das seine Zugehörigkeit zum Rat bezeugte, das Symbol all der Werte, an die er geglaubt und für die er gekämpft hatte. »Dann bin gezwungen, meinen Abschied aus dem Rat zu nehmen.«
Ein verblüfftes Raunen durchlief den Saal.
»Ist dir der Rat so wenig wert?«, ergriff Sate, der Vertreter des Landes der Sonne, das Wort.
»Der Rat ist mein Leben, doch es gibt viele Wege, der Aufgetauchten Welt zu dienen. Der Drachenkämpferin Nihal bei ihrem schwierigen Unternehmen beizustehen, ist einer davon.«
»Wer soll deinen Platz einnehmen?«, fragte die Nymphe Theris. Soana erhob sich von ihrem Sessel. »Solange Sennar fort ist, stelle ich mich als Vertretung zur Verfügung.«
Dagon dachte lange nach. »Einverstanden«, erklärte er schließlich. »Sennar, ich stimme deinem Aufbruch zu. Doch wisse: Der Rat behält sich das Recht vor, dich nicht wieder in seinen Reihen aufzunehmen, wenn du zurückkehrst.«
Sennar nickte.
Als sich Nihal und Sennar am nächsten Morgen in die Sümpfe wagten, wurden sie bald immer mutloser. Der Nebel war so dicht, dass sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnten, und sie mussten darauf achten, beieinander zu bleiben, weil sie sonst Gefahr liefen, sich nicht wiederzufinden.
Sie kamen sich vor wie in einer anderen Welt. Die Luft roch widerlich, und der Boden war derart von Feuchtigkeit durchtränkt, dass sie bei jedem Schritt bis über die Knöchel einsanken. Allein das Quaken der Frösche und das Krächzen der Raben durchbrachen die Stille.
Je länger sie unterwegs waren, desto mühsamer schleppte sich Nihal vorwärts. Irgendwann blieb sie zurück. Als Sennar es bemerkte, machte er kehrt und ergriff ihre Hand.
»Was ist …?«
»So können wir uns nicht verlieren«, antwortete der Magier. »Wenn wir bloß genau wüssten, wo sich das Heiligtum befindet, könnte ich uns hinzaubern.«
»Solch einen Zauber beherrschst du?«
»Ja, aber es geht nur für kurze Entfernungen und für Orte, deren genaue Lage ich kenne. ›Flugzauber‹ heißt das, obwohl man dabei eigentlich gar nicht fliegt.«
»Hört sich gut an.«
Sennar lächelte. »Eines Tages werde ich’s dir beibringen.« Schnell verloren sie ihr Zeitgefühl. Um sie herum war alles grau in grau, und es kam ihnen so vor, als wären sie Stunde um Stunde nur im Kreis gelaufen. Ein Baum war wie der andere, alle Steine sahen gleich aus.
Mit einem Mal brach die Finsternis herein, und es war Nacht. Inmitten der Sümpfe irrten sie umher und hatten nicht die leiseste Ahnung, wie weit es noch sein mochte. Hier ein Nachtlager aufzuschlagen, war unmöglich, sie mussten einen Unterschlupf finden, doch in dieser feuchten Weite war das leichter gesagt als getan.
Nihal wusste nicht mehr, wo Sennar genau war, bis plötzlich eine Lichtkugel in der Hand des Zauberers aufleuchtete und sein Gesicht erhellte; er wirkte erschöpft und mitgenommen, die Narbe auf seiner Wange, die Nihal ihm vor mehr als einem Jahr in einem Wutanfall beigebracht hatte, stach aus seinem blassen Gesicht hervor. Seine blauen Augen strahlten jedoch Zuversicht aus.
»Hier in den Sümpfen können wir nicht schlafen«, meinte er, »aber wir werden schon eine Lösung finden. Halte durch!«
Vom Schein seiner Lichtkugel geleitet, stapfte der Magier wieder los.
Noch eine Weile streiften sie umher, bis Sennar irgendwann auf einen Felsblock deutete, der aus den Sümpfen herausragte, breit genug, um sich darauf ein behelfsmäßiges Lager einzurichten. Sie legten sich, in ihre Umhänge gewickelt, nieder und versanken bald schon, von Müdigkeit überwältigt, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen war Nihals Stirn schweißgebadet, und ihre Schläfen glühten. Die Wunde schien nicht heilen zu wollen.
»Halb so wild, wir sind ja sicher bald am Ziel«, entgegnete sie auf Sennars besorgten Blick.
»Nein, so können wir nicht weiter. Du hast dich überanstrengt. Am besten geben wir Laio Bescheid und suchen uns irgendein Dorf. Wenn es dir dann besser geht, machen wir uns noch mal auf den Weg.«
Nihal schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Ruhe, bis wir nicht den ersten Edelstein gefunden haben. Danach kann ich mich immer noch erholen«, erklärte sie und wollte sich erheben, spürte jedoch sofort, dass ihre Beine zitterten.
Sennar nötigte sie, sich wieder hinzusetzen. »Wenn du unbedingt weiterwillst, muss ich dich wohl oder übel tragen.«
Wieder schüttelte Nihal den Kopf.
»Es ist doch immer wieder das Gleiche mit dir«, verlor Sennar die Geduld. »Du musst dir endlich auch einmal helfen lassen. Deshalb habe ich mich doch dazu durchgerungen, aus dem Rat auszutreten. Ich wusste ja, dass du mich brauchst.«
Schließlich gab Nihal klein bei und ließ sich von ihrem Freund auf die Schultern nehmen.
Auf diese Weise schleppten sie sich den ganzen Morgen vorwärts. Bei jedem Schritt sank Sennar bis zu den Knien im Schlamm ein. Dann endlich lichtete sich der Nebel, und sie erblickten etwas am Horizont. Zunächst glaubte Nihal, ihr Fieber sei weiter angestiegen und spiegele ihr eine Erscheinung vor. Sie sah, wie ein Bauwerk aus dem Nebel auftauchte, das aber frei im Nichts zu schweben schien. Je näher sie kamen, desto sicherer fühlte sie, dass sie ihrem Ziel ganz nahe waren.
»Das muss es sein«, sagte sie. »Vielleicht haben wir ja Glück.«
Das Bauwerk schien nicht mehr weit entfernt, und doch mussten sie sich noch lange durch den Sumpf kämpfen, bis sich irgendwann die Umrisse klarer abzuzeichnen begannen. Es war ein mit zahllosen Spitzen und Türmchen verziertes Bauwerk von der Farbe kristallklaren Wassers.
Vor dem Palast angekommen, blieben sie stehen. In der Mitte der Fassade öffnete sich ein spitzbogiges Tor; die Mauern wirkten wie eine riesengroße Stickerei, durch deren Öffnungen das Licht ein- und austrat. Mehr noch aber verblüffte das Material, aus dem der Palast gefertigt war: Wasser. Das Wasser stieg von den Sümpfen auf und bildete die Mauern, umspülte sprudelnd die Fialen und stürzte dann wasserfallartig herab, um das Tor zu formen. Wasser, es war aufsteigendes und herabfallendes Flusswasser, aus dem der ganze Palast bestand.
Nihal streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, und ihre Finger durchdrangen die Mauern und wurden vom Wasser umspült. Sie zog die Hand zurück und legte sie an ihre Wange: Sie war nass.
»Welch ein Wunderwerk«, murmelte Sennar.
Das Mädchen hob den Blick und bemerkte über dem Tor einen Schriftzug in eleganten, verschnörkelten Buchstaben: »Aelon«. »Lass uns hineingehen«, forderte sie den Magier auf.
Sie zog das Schwert und überschritt die Schwelle. Vorsichtig blickte Sennar sich um und folgte ihr.
Auch der Fußboden war aus Wasser, trug aber dennoch ihr Gewicht. Das Innere war vollkommen leer. Hatte der Palast von außen nicht übermäßig groß gewirkt, so vermittelte er nun einen völlig anderen Eindruck. Sie erblickten einen langen Gang, in dem nichts war außer dem Plätschern des Wassers, das von den Wänden widerhallte. Der Korridor schien keinen Anfang und kein Ende zu haben und verlor sich in der Finsternis.
Nihal witterte Gefahr und umfasste noch fester das Heft ihres Schwertes. Sie warf einen Blick auf das Medaillon: Der mittlere Edelstein strahlte in seiner Fassung.
Am Ende des Ganges, wo sich wahrscheinlich der gesuchte Stein befand, war nichts zu erkennen. Nihal ging vor, und Sennar folgte ihr. So liefen sie eine Weile, bis die Halbelfe plötzlich stehen blieb.
Sennar blickte sich um. »Was ist denn los?«, fragte er.
Nihal antwortete nicht. Ihr war, als habe sie eine Stimme gehört oder ein Lachen.
Sennar ließ seine Hand aufleuchten, um jederzeit mit einem Zauber eingreifen zu können.
»Ich dachte, ich …« Erneut spitzte Nihal die Ohren, hörte jetzt aber nichts anderes mehr als das Rauschen des Wassers. »Doch ich hab mich wohl getäuscht.«
Sie liefen weiter. Das Rauschen wurde immer leiser, bis es ganz verklungen war. Nihal hätte nicht sagen können, wie weit sie bereits in das Innere des Heiligtums vorgedrungen waren. Jetzt blieb sie stehen und ließ das Schwert sinken.
In diesem Moment tauchten plötzlich unzählige Gesichter auf der flüssigen Wand auf, reckten sich den beiden entgegen und vergrößerten sich dann zu den ätherischen Körpern junger Mädchen. Man hätte sie für Nymphen halten können, wäre da nicht dieses bösartige Funkeln in ihren Augen gewesen. Sennar und Nihal drückten sich aneinander. Die Halbelfe hob ihr Schwert und versuchte, die Wesen zu treffen, doch sie waren aus Wasser, und die Klinge durchdrang sie, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Plötzlich hörten sie ein Geräusch hinter sich. Nihal umklammerte ihr Schwert, drehte sich um und sah, wie aus der Wasserwand eine Frau, gleichfalls aus Wasser, hervorzutreten begann. Zunächst ihr Gesicht, aus dem die Augen sich mit einem eiskalten, bösen Blick auf die beiden Besucher richteten, dann tauchten Schultern, Brüste, schließlich Unterleib und Beine auf.
Die Frau wurde immer größer, bis sich ihre gigantische Gestalt mächtig über Nihal und Sennar aufbaute. Sie war majestätisch und wunderschön, und ihre vollkommenen Gesichtszüge strahlten eine Furcht einflößende Kraft aus.
Das Schwert in Nihals Hand zitterte.
Ganz plötzlich öffnete die Frau die Lippen zu einem rätselhaften Lächeln, das jedoch im nächsten Augenblick so schnell erlosch, wie es gekommen war. »Wer bist du?«, fragte die Frau.
Unwillkürlich antwortete Nihal mit zittriger Stimme: »Ich bin Sheireen.«
»Sheireen tor anakte?«
Nihal war verwirrt. »Sheireen, ich bin Sheireen und komme in friedlicher Absicht«, stammelte sie.
Die Frau schwieg einen Moment. »Wem bist du geweiht?«, fragte sie dann in einer Nihal verständlichen Sprache.
»Shevrar. Ich bin Shevrar geweiht.«
Die Miene der Frau schien sich aufzuhellen. »Shevrar, der Gott des Feuers und der Flammen, aus denen alles gezeugt ward, aber auch der Gott jener Glut, die alles zerstört. Durch Ihn entsteht alles, durch Ihn stirbt alles. In den Schmiedefeuern jener Vulkane, die Ihm geweiht sind, wird die todbringende Klinge für den Krieg geschmiedet, doch der Schein Seines Feuers schenkt auch all jenen Leben und Wärme, die Ihn lieben. Leben und Tod, Anfang und Ende sind in Ihm.«
Nihal hörte zu, verstand aber nicht.
»Und dieser dort?«, fragte die Frau. »Wer ist dieser Unreine in deiner Begleitung?«
»Ich bin Sennar«, antwortete der Angesprochene mit fester Stimme, »Mitglied im Rat der Magier.«
Die Frau starrte ihn einen Moment lang an, und plötzlich bewegten sich zwei Zipfel ihres Gewandes auf Sennar zu, wurden immer länger, wanden sich um seine Arme und Beine und fesselten ihn. »Du hättest dich nicht bis hierher vorwagen dürfen. Deine unreinen Füße sind nicht würdig, den Boden meiner Wohnstatt zu berühren.«
Sennar versuchte, sich zu bewegen, doch obwohl es nur Wasser war, das ihn festhielt, gelang es ihm nicht.
»Lass ihn frei! Ich bin es, an die du dich wenden musst. Er hat mich nur auf meiner Mission begleitet«, rief Nihal.
Die Frau schwieg eine Weile, während ihr prüfender Blick auf Nihal ruhte. »Ich spüre etwas Finsteres in dir, etwas, das einer Geweihten nicht zu eigen sein dürfte.«
Nihal war sich darüber im Klaren, nicht vollkommen rein zu sein, denn sie wusste, wie stark der Hass war, den sie auf den Tyrannen verspürte. »Ich bin nicht vollkommen und vielleicht auch nicht würdig, deine Kräfte zu erhalten«, erklärte sie. »Aber das Schicksal hat es so gewollt, dass es mir als Einziger gelingen kann, die acht Edelsteine zusammenzubringen. Nicht für mich bitte ich dich, sondern für alle, die unter der Tyrannei leiden: Für sie musst du es tun. Es ist ihre letzte Hoffnung, eine Hoffnung, die ich ihnen nicht versagen will. Und ich hoffe, auch du wirst dies nicht tun.«
Nihal spürte, wie der forschende Blick dieses Geschöpfes bis in ihre Seele vordrang, und hoffte, dass ihm all das Dunkle, das dort zu finden war, verborgen blieb.
Plötzlich lächelte die Frau versöhnlich. »So sei es, Sheireen, ich habe verstanden, um was du mich bittest, und habe in deine Seele geblickt. Ich weiß, dass du die Macht nicht missbrauchen wirst.«
Die Frau ließ die Auswüchse ihres Wassergewandes wieder zurückschnellen, und Sennar war frei; dann führte sie eine Hand zu ihrem Gesicht, riss sich ein Auge aus der Höhle und reichte es Nihal. Die Halbelfe nahm den Edelstein entgegen. Er war glatt und glitzerte in einem blassblauen Licht. Die schäumenden Fluten des Saar schienen in ihm eingeschlossen zu sein.
»Sheireen, du stehst erst am Anfang. Viele, viele Meilen wirst du noch zurücklegen müssen und nach mir andere Wächter treffen. Sei auf der Hut, denn nicht alle werden so wie ich sein. Sie werden sich dir in den Weg stellen. Nun aber liegt bereits eine enorme Macht in deiner Hand. Missbrauche sie nicht, sonst werde ich selbst es sein, die dir nachstellt, um dich zu töten. Mögen dir die Schritte immer leichtfallen auf deinem Weg, und möge dein Herz jenes Ziel erreichen, nach dem es strebt. Und nun tue, was du zu tun hast«, schloss die Frau.
Nihal nahm den Edelstein fest in die Hand und fügte ihn in die passende Vertiefung ein. »Rahhavni sektar aleero«, murmelte sie.
Da begannen die Wasser zu sprudeln, aus denen das Heiligtum errichtet war, die Wände zerflossen, die Türmchen lösten sich auf, und auch die Frau wurde in den sich bildenden Strudel hineingezogen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollten die gewaltigen Wassermassen auf Nihal einstürzen. Doch dann flossen sie alle in dem Edelstein zusammen.
Die Halbelfe schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, waren um sie herum nichts als Nebel und Sümpfe.
Hinter sich hörte sie einen Seufzer der Erleichterung, drehte sich um und blickte in Sennars lächelndes Gesicht.
»Im Grunde war das ziemlich leicht«, sagte er.
Nihal nickte. »Vielleicht hat sie gespürt, dass wir es ehrlich meinen. Jetzt müssen wir aber los.«
Doch plötzlich verließen Nihal die Kräfte. Sie sackte auf die Knie in den Schlamm.
»Was ist los?«, fragte Sennar besorgt.
»Es geht schon …, mir ist nur ein wenig schwindelig …«
Der Zauberer legte ihr die Hand auf die Stirn.
»Du glühst ja. Lass mich mal die Wunde sehen«, forderte er sie auf.
Bevor sich Nihal wehren konnte, hatte er schon ihren Verband gelöst. An einigen Stellen war die Wunde wieder aufgegangen, und hier und dort waren klare Anzeichen einer Entzündung zu erkennen.
Sennar versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, doch sie spürte, wie besorgt er war.
»Wir müssen Laio herbeirufen«, erklärte der Zauberer.
Nihal war zu keinem klaren Gedanken fähig. Ihre Augen brannten, und eiskalte Fieberschauer durchfuhren ihren ganzen Leib. »Das hat doch keinen Sinn … «, widersprach sie. »Wie soll er uns mit Oarf denn finden?«
Sennar legte ihr seinen Umhang um, damit ihr warm wurde. »Ich werde ihm den Weg beschreiben. Du kannst nicht weiter, und ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll. Mit meiner Magie kann ich zwar Verletzungen behandeln, aber gegen solch ein Fieber bin ich machtlos. Vielleicht können ja die Kräuter deines Knappen mehr ausrichten.«
»Aber ich …«
»Mach dir keine Gedanken, ruh dich einfach aus.«
Er nötigte sie, sich auf einem umgestürzten Baumstamm in ihrer Nähe niederzulegen, pfiff dann einmal kurz, und schon flatterte ein schwarzer Rabe zu ihnen herab. Der Zauberer riss sich einen Stoffzipfel von seinem Gewand ab und schrieb mit Zauberkraft eine kurze Mitteilung für Laio darauf. Dann wickelte er die Botschaft um ein Bein des Vogels und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin sich der Rabe wieder in die Lüfte erhob. Der Magier wandte sich wieder Nihal zu, deckte die entzündete Wunde auf und begann eine Heilformel zu sprechen.
Einige Stunden später traf Laio bei ihnen ein. Sennar hatte ein magisches Feuer entzündet, sodass der Junge sie ohne Schwierigkeiten hatte finden können. Problematischer wurde es dann allerdings, Oarf zu besteigen, denn wäre der Drache in den Sümpfen gelandet, wäre er dort für immer versunken. So musste Sennar Nihal so weit hochstemmen, dass Laio sie hinaufziehen konnte. Dann sprang er, klammerte sich an Oarf fest und zog sich mit Laios Unterstützung auf den Drachenrücken hinauf.
Laio erschrak, als er die Halbelfe ansah. »Was ist denn passiert? «, fragte er besorgt.
Nihal öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch Fieber und Schüttelfrost ließen es nicht zu.
»Die Wunde ist wieder aufgegangen und hat sich entzündet«, erklärte Sennar.
»Und was sollen wir jetzt tun? Die passenden Kräuter habe ich nicht dabei, und hier wüsste ich auch nicht, wo ich sie suchen sollte. Wir sind so tief im Sumpfgebiet, und es ist kalt …«
Bevor sie die Augen schloss, sah Nihal noch, wie Sennar Laios schmächtige Schultern umfasste. »Ganz ruhig. Vor allem dürfen wir nicht in Panik geraten. Wir müssen uns zu einem geschützten Ort durchschlagen, besser noch einem Dorf, alles andere wird sich dann ergeben. Bis dahin kann ich
Oarf flog, so schnell er konnte, und bald ließen sie die Sümpfe hinter sich und schwebten über weiten Waldgebieten. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und Sennar drückte Nihal ganz fest an sich, um sie gegen den Wind zu schützen.
Von Dörfern war aber weit und breit keine Spur, und unter den Flügeln des Drachen zog lediglich das dichte Meer der Baumkronen vorbei. Lange Zeit waren sie nun schon in der Luft, hatten aber immer noch nichts gesichtet, was ihnen weitergeholfen hätte.
Plötzlich deutete Laio auf einen Punkt am Horizont. »Sennar, was ist denn das da hinten?«
Sennar blickte in die angegebene Richtung. Vor ihnen in der Ferne lag eine zunächst noch kaum auszumachende schwarze Linie. Doch bald schon zeichneten sich die Umrisse immer deutlicher ab, und sie hatten die Realität in ihrer ganzen Grausamkeit vor Augen: Es war die Front.
»Das ist doch nicht möglich … «, murmelte Laio.
»Doch, das ist es. Vor zwei Wochen sind wir aufgebrochen, und wie du weißt, war die Lage damals schon sehr verzweifelt. «
»Ja, schon, aber so weit kann der Feind doch unmöglich vorgerückt sein«, rief Laio.
»Wir fliegen allerdings auch sehr hoch, das heißt, er ist noch nicht so nahe, wie man glauben könnte. Dennoch, es ist ein Drama.«
Rasch überdachte Sennar die Lage: Der Tyrann musste, den Saar entlang vorrückend, den gesamten Süden des Landes und Teile des Westens erobert haben. Wohin sollten sie sich jetzt bloß wenden? Loos war noch weit, und andere Orte kannte er nicht. Es blieb also bloß der Wald.
»Das Beste wird sein, sich Richtung Nordosten zu halten, dort sind wir noch am sichersten«, erklärte der Zauberer schließlich.
»Kennst du denn dort ein Dorf?«, fragte Laio.
»Nein, vielleicht müssen wir auch mit dem Wald vorliebnehmen. «
»Dort im Wald … kenne ich … « Nihals Stimme klang matt.
»Was meinst du?«, fragte Sennar nach.
»Dort im Wald kenne ich jemanden …, der kann uns vielleicht helfen. Ich erkläre euch, wie wir zu ihm gelangen. Aber es muss dunkel sein, wenn wir zu ihm kommen.«
Mit Mühe wies Nihal ihnen den Weg. Sie flogen, bis der Abend hereinbrach und sich eine weitere eiskalte Nacht über das Land des Wassers zu legen begann. Erst dann landeten sie auf einer kleinen Lichtung, auf der Oarf kaum Platz zum Aufsetzen hatte. In der Mitte der verschneiten Wiese ragte ein Felsblock hervor.
»Was wollen wir denn hier, Nihal?«, fragte Sennar verwirrt.
»Warte nur, das wirst du schon sehen.«
Sie mussten sich nicht lange gedulden. Mit einem Mal erwachte der Fels unter der Schneedecke zum Leben, und Sennar beobachtete, wie im Mondschein ein Greis mit einem runzligen Gesicht und einem endlos langen, schlohweißen Bart Gestalt annahm.
Der Greis musterte sie der Reihe nach in aller Ruhe und lächelte angesichts der Verblüffung seiner Besucher. Dann hefteten sich seine lebhaften Augen auf die feucht glänzenden von Nihal. »Ich habe immer gewusst, dass wir uns einmal wiedersehen, Nihal«, begrüßte er sie.
»Du hast dich gar nicht verändert, Megisto.« Nihal lächelte. »Meine Freunde und ich brauchen einen Unterschlupf.«
»Nichts leichter als das. Meine Höhle ist ohnehin zu groß für mich. Ich freue mich, euch als meine Gäste begrüßen zu dürfen.«
Er führte sie in seine Grotte, wo Sennar als Erstes Nihal half, sich auf dem Strohlager des Alten niederzulegen. Die Halbelfe hatte hohes Fieber und wälzte sich bald schon in einem unruhigen Schlaf.
Megisto machte sich sogleich an die Arbeit, erhitzte Wasser über dem Feuer und trug Stroh für neue Lager zusammen. Wie und wohin er sich auch bewegte, immer folgte ihm das unheimliche Klirren der Ketten, die er an Knöcheln und Handgelenken trug.
Sennar beobachtete ihn verwundert. Wie kann sich ein so alter Mann mit diesen Gewichten nur derart behände bewegen?, fragte er sich. Schließlich wandte er den Blick von seinem Gastgeber ab und versuchte, sich irgendwie bei Nihal nützlich zu machen. Doch Laio schob ihn sachte zur Seite.
»Ich glaube, das ist eher meine Aufgabe«, erklärte er mit einem Lächeln.
Mit prüfendem Blick verschaffte sich der Knappe ein Bild von Nihals Zustand, wandte sich dann an Megisto und fragte ihn nach einigen Kräutern, deren Name Sennar noch nie gehört hatte.
»Nein, die habe ich nicht da. Aber ich weiß, wo sie wachsen. Wenn du willst, bringe ich dich hin«, antwortete der Greis.
Laio nickte. Wenn auch ungern, musste sich Sennar eingestehen, dass der Knappe jetzt, weit mehr als er selbst, Herr der Lage war.
»Wachst du hier bei ihr?«, fragte Laio.
»Gewiss«, murmelte der Magier.
So blieben er und Nihal allein in der Stille der Höhle zurück. Noch einmal versuchte Sennar, ihr mit seiner Magie zu helfen. Doch vergeblich.
Irgendwann öffnete Nihal die Augen, die geschwollen und gerötet waren.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Sennar sogleich.
»Lass nicht zu, dass ich auch so werde … «, murmelte sie.
»Wovon redest du?«, unterbrach sie der Magier, obwohl er genau wusste, was sie meinte. Auch ihm hatte sich der Gedanke schon aufgedrängt: Stürbe Nihal, würde sie sich wohl auch in das Heer jener Geister einreihen, die für den Tyrannen kämpften.
»Lass nicht zu, dass ich zu einem todbringenden Gespenst werde. Dann lösch lieber meinen Geist für immer aus.«
»Hör doch auf mit dem Unsinn«, rief Sennar mit erregter Stimme.
»Mit deiner Magie wärest du doch dazu imstande, oder nicht? Du musst einen Weg finden, mich für immer sterben zu lassen … «
»Du wirst nicht sterben«, versicherte ihr Sennar, bemüht, in erster Linie sich selbst davon zu überzeugen.
Doch Nihal war schon wieder eingeschlafen.
Kurz darauf kehrten Laio und Megisto mit allen nur denkbaren Kräutern in die Höhle zurück.
Laio machte sich sofort an die Arbeit und stellte aus den Kräutern einen Brei her, mit dem er Nihals Wunde bestrich. Bis tief in die Nacht behandelte er sie immer wieder auf diese Weise, bis sich Nihals Stirn tatsächlich ein wenig kühler anfühlte und ihr Schlaf friedlich wurde.
Megisto legte Sennar eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube, es ist Zeit, dass ihr beide, du und dein Freund, euch auch etwas ausruht.« Dann bereitete er ihnen eine Kastaniensuppe zu und reichte dazu schwarzes Brot.
Während sie die Suppe aßen, konnte Sennar den Blick nicht von ihrem Gastgeber abwenden. Bei ihrer Ankunft war er zu erschöpft und besorgt um Nihal gewesen, um sich darüber Gedanken zu machen, in welchem Zusammenhang er dessen Namen schon einmal gehört hatte. Irgendwann war es ihm dann eingefallen: Bald nach Soanas Rückkehr hatte Nihal ihm von Megisto und ihrer Einführung in die Schwarze Magie erzählt, mit deren Hilfe sie Dola hatte besiegen können. Sennar betrachtete den Greis. Niemals hätte er in diesem Mann, dessen Leib von der Last der Jahre und den Ketten gequält wurde, einen der grausamsten Gefolgsleute des Tyrannen vermutet.
Kaum hatten sie fertig gegessen, da überfiel sie die Müdigkeit, und sie legten sich zur Ruhe auf den Strohlagern, die Megisto für sie hergerichtet hatte.
Und dennoch konnte Sennar nicht einschlafen, dachte weiter über die Worte nach, die Nihal in ihrem Fieberwahn gemurmelt hatte.
Wozu bin ich eigentlich mitgekommen, wenn ich ihr noch nicht einmal in dieser schlimmen, aber doch einfachen Lage helfen kann?
Nun musste sich Sennar eingestehen, dass er Laio gegenüber sehr ungerecht gewesen war, hatte er doch geglaubt, dieser würde nur eine Last für sie sein. Doch den ganzen langen Weg bis in das Sumpfgebiet hatte sich Laio nicht ein einziges Mal beschwert, obwohl ihn der Magier manches Mal abends dabei überrascht hatte, wie er sich nach den langen Stunden auf dem Rücken des Drachen das schmerzende Kreuz massierte. Und misstrauisch hatte er auch beobachtet, wie der Knappe mit seinen vielen Kräutern herumhantierte, wobei sich die von ihm hergestellten Pasten in den seltsamen Farben dann doch als sehr wirksam gegen Nihals Fieber erwiesen.
Sennar lauschte Nihals Atemzügen. Er machte sich große Sorgen um sie. In ihren violetten Augen las er, dass sie alles für ein Gelingen ihrer Mission opfern würde, und spürte, dass sich in ihrem Innern eine alte Wunde geöffnet hatte, die sie in den Abgrund zu ziehen drohte. Noch nie war ihm Nihal so weit von ihm entfernt vorgekommen. Er dachte zurück an die letzten Worte, die er zu Ondine gesprochen hatte, dort unten in ihrer Welt auf dem Meeresgrund, und er verfluchte sich, weil es ihm nicht gelang, dieses Versprechen zu halten.
Der nächste Tag in der Höhle verging langsam, während draußen der Schnee sachte über dem Wald niederging. Als sie erwachten, war Megisto schon fort, war bereits wieder zu Fels erstarrt. Er hatte ihnen mit Ambrosia gefüllte Becher und ein wenig Brot zurechtgestellt. Nachdem sie sich gestärkt hatten, wechselten sich Sennar und Laio mit der Wache an Nihals Lager ab.
So wurde es Nachmittag, und während sich nun der Knappe wieder um die Halbelfe kümmerte, dachte der Magier über den Fortgang ihrer Mission nach. Der nächste Edelstein, den es zu suchen galt, war der seiner Heimat, des Landes des Meeres. Er konnte nicht von sich sagen, es besonders gut zu kennen. Als Kind hatte er nur die dortigen Schlachtfelder gesehen, doch immerhin würden sie sich in einem Gebiet bewegen, das ihm vertraut war.
Am Abend schlief Nihal immer noch, das Fieber aber schien weiter gefallen zu sein. Nach Sonnenuntergang kehrte Megisto in die Höhle zurück und brachte Käse und Brot mit. Sennar machte Feuer, und die drei ließen sich zum Essen davor nieder.
Der Magier biss in ein Stück Käse, warf dann einen Blick auf Nihal, die ruhig schlummernd dalag, und sagte zu Laio: »Kompliment. Deine Kräuter haben das geschafft, was meine Zauberei nicht vermocht hat.«
Vor Staunen wäre Laio beinahe das Brot aus der Hand gefallen. Seine Augen strahlten vor Stolz, und Sennar kam nicht umhin zu lächeln.
Am Morgen des dritten Tages ihres Aufenthalts in Megistos Höhle öffnete Nihal die Augen. Neben ihr lag der im Halbschlaf dösende Sennar.
»Na? Gut geschlafen?«, fragte er lächelnd, als er merkte, dass Nihal sich regte.
Mühsam hob Nihal den Kopf. »Wie lange sind wir schon hier? Wir müssen uns wieder auf den Weg machen. Uns bleibt keine …«
Sennar unterbrach sie. »Laio hat offenbar verhindern können, dass wir dich verlieren. Du willst doch nicht, dass all seine Bemühungen umsonst waren?«
Nihal sank auf das Lager zurück. »Ich hab mächtig Hunger«, stöhnte sie.
»Laio muss gleich zurück sein. Dann gibt’s was zu essen.«
Kurz darauf traf der Knappe ein und brachte Beeren und Nüsse, die er im Wald gefunden hatte. Als er sah, dass Nihal wach war, lief er zu ihr und umarmte sie stürmisch, wobei er ihre Wunde völlig vergaß. Nihal stöhnte auf. »Oh, Entschuldigung, tut mir leid«, stammelte Laio verlegen, während er sich mit geröteten Wangen von ihr löste.
Als sie am Nachmittag dieses Tages mit Sennar allein war, begann Nihal zu drängen. Sie erklärte, es gehe ihr gut, sie hätten ohnehin schon zu viel Zeit verloren, und nun gelte es, unverzüglich aufzubrechen.
»Nein, das ist noch zu früh für dich, und das weißt du auch«, versuchte der Magier, sie umzustimmen. »Wenn wir uns jetzt auf den Weg machen, wird es dir bald wieder so schlecht gehen wie vor ein paar Tagen.«
»Der Krieg wartet nicht, bis es mir genehm ist. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren.«
»Das wollen wir ja auch gar nicht.«
»Aber das tun wir, wenn ich hierbleibe.«
»Nicht, wenn ich an deiner Stelle gehe.«
Nihal blickte ihn an. »Das kannst du nicht, und das weißt du genau. Nur ich allein darf den Talisman tragen und die Edelsteine einfügen.«
»Hast du vergessen, dass ich ein Magier bin? Auch wenn ich mein Medaillon abgeben musste, bin und bleibe ich doch Mitglied des Rates.«
»Ich verstehe nicht, wie du …«
Sennar wandte sich ab. Er konnte sie nicht anblicken, denn er fürchtete, sie würde die Lüge in seinen Augen erkennen. »Ich kenne viele, viele Zauber, mit denen sich enorme Kräfte binden lassen. Einer davon wird es mir sicher möglich machen, den Talisman zumindest eine Weile von seiner Kraftquelle abzuschneiden, sodass ich ihn gefahrlos mit mir führen kann.«
»Aber was ist mit dem Wächter?«
»Wenn er sieht, dass ich den Talisman trage, wird er sicher nichts gegen mich einzuwenden haben.«
»Aber du weißt doch gar nicht, wo sich das Heiligtum befindet … «, beharrte Nihal weiter.
»Dann musst du mir den Weg dorthin zeigen.«
Sennar schwieg. Auch Nihal dachte nach.
»Das ist viel zu gefährlich. Ich will das nicht«, sagte sie schließlich.
Sennar kniete sich neben sie und ergriff ihre Hände. »Ich lasse dich nicht eher hier fort, bis deine verwundete Schulter ganz geheilt ist.« Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Was soll für einen Mann, der bereits in die Untergetauchte Welt hinabgefahren ist, so schwer daran sein, ein Heiligtum aufzusuchen?«
Sie erwiderte das Lächeln nicht. »Das ist Erpressung …«
»Ich versuche bloß, dir zu helfen.«
Nihal schwieg, und Sennar drückte noch fester ihre Hände. »Schwöre mir, dass du dich nicht unnötigen Gefahren aussetzt, schwöre mir, dass du gleich zu mir zurückkehrst, falls der Zauber nicht wirkt«, gab die Halbelfe schließlich nach.
Sennar errötete. »Ich verspreche es dir.« Dann stand er auf. »Lass uns mal den Talisman befragen und schauen, wohin mich mein Weg führen soll«, schlug er mit bemühter Fröhlichkeit vor.
Nihal zögerte einige Augenblicke, dann nahm sie das Amulett zur Hand.
Sennar beobachtete, wie sie die Augen schloss und sich sammelte.
Als die Halbelfe zu reden anhob, klang ihre Stimme ganz fremd, so als käme sie aus einem Abgrund. »Im Meer, wo sich die Felsen den Wellen entgegenstemmen und die Wellen an den Steinen nagen. Hoch schäumt und spritzt die Gischt, und der Sturm heult durch die Felsspalten. Die Küste. Zwei schwarze Schatten, die sich dicht beieinander vor dem Horizont abzeichnen. Zwei Türme. Nein, zwei mächtige Gestalten, zwei Felsnadeln.« Nihal öffnete die Augen.
»Ist das alles?«, fragte Sennar enttäuscht.
»Ja, mehr habe ich nicht sehen können.«
Sennar seufzte. »Kannst du mir denn keine Richtung angeben? «
Erneut schloss Nihal die Augen, doch Sennar bemerkte, wie sich ihre Wangen vor Anstrengung röteten, und unterbrach sie. »Lass es lieber, wenn es dich zu sehr erschöpft.«
Nihal öffnete die Augen. »Du musst dem Lauf der Sonne folgen, während sie aufgeht.«
»Also gen Osten … «
»Dann das Wort ›Felsnadel‹, es ist mir wie ins Hirn gebrannt. Es wird wohl wichtig sein«, fügte Nihal hinzu.
»Ich werd dran denken.« Sennar stand auf. »Ich geh jetzt auch mal Beeren suchen im Wald«, erklärte er knapp.
Entschlossenen Schritts verließ er die Höhle, so als wolle er rasch Abstand gewinnen von der Lüge, die er Nihal gerade erzählt, und der enormen Tragweite der Entscheidung, die er getroffen hatte.
In der beißenden Kälte der Abenddämmerung wartete Sennar lange vor dem Fels. Er musste unbedingt mit Megisto sprechen, und zwar allein.
Während er auf die Dunkelheit wartete, dachte er wieder an den Talisman. Er hatte Nihal belogen, er kannte keinen Zauber, der dessen Kräfte binden konnte.
Endlich erwachte der Fels langsam zu neuem Leben. Megisto schien nicht überrascht, Sennar zu sehen. »Du musst mit mir reden?«, fragte er, so als kenne er die Antwort bereits.
Sennar nickte und erzählte dann in einem Atemzug all das, was er auch Nihal gesagt hatte.
Megisto hörte aufmerksam zu, und als Sennar geendet hatte, schwieg er zunächst eine Weile. »Es gibt keinerlei Magie, weder eine Schwarze noch eine erlaubte des Rates der Magier, die solch enorme Kräfte versiegeln könnte«, bemerkte er schließlich.
Sennar senkte den Blick. Er hatte sich bereits gedacht, dass er dem Greis nichts vormachen konnte. »Aber ich kann doch die Wirkung abmildern, wenn ich die Formel immer wieder neu spreche … «
»Das ist aber sehr riskant«, fiel ihm Megisto ins Wort.
Langsam wurde der Magier nervös. Das war nicht das, was er eigentlich hatte hören wollen. »Kann sie denn wenigstens bei dir bleiben, wenn ich fort bin?«
»Warum nicht? Aber du möchtest sicher, dass ich sie auch beruhige, dass ich dich decke, dass ich ihr versichere, dass dein Unternehmen nicht zu gefährlich sei …«
Er blickt in meine Seele, erkennt, was ich denke … »Ja«, gab Sennar zu.
»Gut, ich werde es tun, solange es mir möglich ist«, erklärte Megisto. »Aber du solltest wissen, dass ich dein Verhalten nicht gutheiße.«
»Für mich ist nur wichtig, dass Nihal bei dir bleiben kann. Ich selbst habe keine andere Wahl.«
»Dann pass wenigstens gut auf dich auf«, antwortete Megisto, während er aufstand.
Im Morgengrauen des folgenden Tages machte sich Sennar zum Aufbruch bereit. Megisto war schon verschwunden und hatte die drei in der Höhle zurückgelassen.
Der Magier hatte alles vorbereitet. Seine wenige Habe hatte er in einem Quersack verstaut und auf dem Fußboden eine Reihe von schmalen Streifen ausgelegt, die aus langen, faserigen Blättern von einem blassen Grün bestanden. Auf jedem einzelnen war ein blaues Runenzeichen eingeritzt. Sie gehörten zu dem stärksten Blockierungszauber, den er kannte.
»Gib mir den Talisman«, forderte er Nihal auf.
Die Halbelfe streckte die Hand aus. In dem Moment, da Sennars Finger das Medaillon berührten, begann sich der Edelstein aus dem Land des Wassers zu verfinstern, und der Magier spürte, wie seine Kräfte nachließen. Er verbarg den Talisman in seiner geschlossenen Faust, und während er sich gegen seinen Schwächeanfall stemmte, drehte er sich um und legte ihn auf die Blätter. Sobald er losließ, nahm der Edelstein wieder seine natürliche Farbe an.
Sennar wickelte das Amulett in die Blätter und stimmte eine Litanei an. Dann nahm er es wieder zur Hand und zeigte es Nihal mit einem Lächeln. »Wie du siehst, ist es jetzt unschädlich. «
Nihal verzog keine Miene. »Überleg’s dir noch mal. In zwei Tagen könnte ich wohl wieder auf den Beinen sein.«
Sennar schulterte seinen Reisesack. »Sobald ich den Edelstein gefunden habe, gebe ich euch Bescheid und teile euch mit, wo ich mich aufhalte«, erklärte er.
»Pass gut auf dich auf«, ermahnte ihn Laio, als sie sich voneinander verabschiedeten.
Nach viertägiger Wanderung durch eine verschneite Landschaft gelangte Sennar in sein Heimatland. Zunächst ging es durch den Seewald, wo bereits der herbe Geruch des Meeres viele Erinnerungen an seine Kindheit in ihm wachrief.
Es war der fünfte Tag seines Marsches, und erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie arg er Nihal beschwindelt hatte. Als er etwas Proviant aus seiner Tasche nahm, sah er, wie ein seltsamer Rauch daraus aufstieg. Er griff hinein und holte den Talisman hervor. Wie er feststellte, hatte er schon die Blätter zu zersetzen begonnen, und an mehreren Stellen war bereits der Edelstein aus dem Land des Wassers zu sehen. Gleichzeitig spürte der Magier, dass das Amulett seine Kräfte absaugte, und erneut sah der Stein trüb und bedrohlich aus.
Sennar verlor keine Zeit. Er warf das Amulett zu Boden und begann es mit frischen Blättern neu zu umwickeln. Dann machte er sich wieder auf den Weg.
Nach weiteren anderthalb Tagen erreichte er Laia, das Geburtsdorf seiner Mutter. Er war noch nie dort gewesen, aber es erinnerte ihn stark an das Dorf, in dem er seine Kindheit verbracht hatte: klein, mit dicht beieinander stehenden Häusern, die Luft getränkt von dem beißenden Geruch des Salzwassers. Keine Menschenseele war zu sehen, die Fensterläden waren alle verrammelt.
Das Dorf lag am Kleinen Meer, einer faszinierenden Laune der Natur. An der südlichen Küstenlinie der Barahar-Bucht, einer der beiden großen Buchten, die die zentrale Halbinsel weiter nördlich einrahmten, drang das Meerwasser tief in das Landesinnere vor, breitete sich aus und bildete so ein Binnenmeer, das wie ein großer Salzsee aussah und durchdringend nach Ozean roch.
Es war Nachmittag, als der Magier dort eintraf. Der graue Himmel spiegelte sich in dem silbrigen Wasser des Kleinen Meeres. Ein Unwetter drohte, und heftiger Wind war bereits aufgekommen.
Abends fand Sennar eine Unterkunft in einem kleinen Gasthaus, einem Gebäude aus Stein und Holz direkt am Wasser. Es war schlicht, ja ärmlich, und bot nicht mehr als einen größeren runden Raum mit ein paar Bänken aus grobem Holz, doch das Bier war gut und preiswert. Während er den nächtlichen Blick auf das Kleine Meer genoss, auf den Schnee, der auf die Wasseroberfläche fiel, überlegte er, welche Richtung er nun einschlagen sollte. Nihal hatte von Osten gesprochen, also befand sich das Heiligtum möglicherweise auf der anderen Seite der Halbinsel. Auf schnellstem Weg musste er daher die Küste erreichen und sich dann nach Barahar, dem größten Hafen im Land des Meeres, wenden. Dort angekommen, würde er entlang der Küste weiterziehen und hoffen, auf einen Hinweis zu stoßen.
Am nächsten Morgen stand er zu früher Stunde auf und traf auf die Wirtin, eine beleibte Frau mit roten Wangen, von Schweiß glänzender Haut und einem üppigen, aus der Bluse hervorquellenden Busen. Sie war damit beschäftigt, Gläser zu polieren, und tat das mit einem solchen Eifer, dass Sennar sich wunderte, dass keines dabei zerbarst. Ohne Umschweife fragte er sie, ob sie schon einmal von den »Felsnadeln« gehört habe.
»Ja, möglich«, antwortete sie nachdenklich, »das müssen irgendwelche Klippen sein.«
»Das denke ich auch. Aber wo finde ich die?«
Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung. Aber hier in der Gegend sicher nicht.«
So machte sich Sennar wieder auf den Weg. Die letzten Häuser Laias blieben hinter dem Zauberer zurück, und vor ihm öffnete sich die weite verschneite Ebene, die zwischen dem Kleinen Meer und der Barahar-Bucht lag.
Drei Nächte schlief Sennar unter dem Sternenzelt. Am Morgen des vierten Tages sah er die Stadt Barahar, die sich in der Ferne vor dem tiefblauen Hintergrund des Meeres abzeichnete. An einer Weggabelung wandte er sich nach Osten in Richtung der Brücke, die die Meerenge überspannte, und gelangte endlich vor die mächtigen, aus einem einzigen Marmorblock gehauenen Tore Barahars. Als er darunter hindurchging, zerlumpt und hungrig, wie er war, fühlte er sich so klein und verloren wie selten zuvor.
Vom Land des Meeres kannte der Zauberer nur die kleinen Dörfer zwischen Land und Meer, wellengepeitscht im Winter und sich vom Fischreichtum nährend im Sommer. Diese Stadt jedoch war groß und fremdartig, und der Duft des Ozeans wurde von einer Unzahl anderer Gerüche überlagert. Die typische Bauweise der Häuser, gemauerte Hütten mit Strohdächern neben größeren Gebäuden aus Stein, erkannte Sennar wieder, aber alles andere war fremd: breite, schnurgerade Straßen anstelle des üblichen Labyrinths enger Gassen; weite, rechteckige Plätze anstelle kleiner runder Dorfplätze. Aber vor allem die Menschen wirkten fremd auf ihn, nicht freundlich und natürlich, sondern kalt und gleichgültig.
Da er nun die Küste erreicht hatte, wusste Sennar nicht so recht weiter. Vielleicht war das gesuchte Heiligtum, die geheimnisvollen Felsnadeln, gar nicht mehr weit. Es konnte sich aber auch irgendwo anders, auf der anderen Seite der Halbinsel befinden. Wie sollte er das so genau wissen?
Fast den ganzen Morgen streifte er durch die Gassen der Stadt und hörte sich um, fand aber niemanden, der ihm weiterhelfen konnte. Nur ein alter Kaufmann erklärte, schon einmal von diesen Felsnadeln gehört zu haben, und meinte, sie müssten sich wohl im Osten befinden, vielleicht in der Gegend von Lome.
Erst als Sennar das letzte Wirtshaus betrat, in dem er sich noch nicht erkundigt hatte, merkte er, wie hungrig er war. Doch er trug kein Geld bei sich.
Der Wirt, ein untersetzter Mann mit weit zurückweichendem Haar und einem ordentlichen Bierbauch, hatte Mitleid mit ihm. »Komm später noch mal vorbei, dann schaue ich, ob ich Reste für dich habe«, brummte er.
Sennar bedankte sich.
»Ich kann dir aber nichts versprechen«, fügte der Wirt gleich darauf hinzu. »Das sind keine normalen Tage, mit dem Kommen und Gehen der vielen Soldaten.«
»Wieso? Hat es hier einen Angriff gegeben?«
»Nein, das nicht«, antwortete der Wirt. »Aber eigenartige Soldaten haben gestern Abend spät noch mit ihren Schiffen im Hafen angelegt. Man munkelt, sie kämen aus der Untergetauchten Welt, aber Genaueres weiß man nicht.«
»Im Hafen, sagt Ihr? Wie komme ich am schnellsten dorthin? «, stieß Sennar atemlos hervor.
Der Mann blickte ihn verwundert an. »Draußen gleich rechts, und dann immer geradeaus …« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war der Zauberer schon zur Tür hinaus.
Endlich waren also die so lange sehnlichst erwarteten Truppen eingetroffen. Während er zum Hafen lief, kamen Sennar all die Menschen in den Sinn, die er in Zalenia kennengelernt hatte: Graf Varen, König Nereo … und Ondine. Es drängte ihn, die Soldaten zu sehen, die von so weit hergekommen waren, um ihnen beizustehen, und deren Hilfe nicht zuletzt ihm selbst zu verdanken war. Dem Weg folgend, den der Wirt ihm beschrieben hatte, hörte er bald schon das Rauschen des Meeres.
Kurz darauf erblickte er die Schiffe. Es mochten wohl um die fünfzig sein, lang und majestätisch, schnörkellos elegant und transparent, wie es für Zalenia typisch war. Mit eingeholten Segeln lagen sie in einer langen Reihe im Hafen vor Anker. Die Soldaten trugen auffallend leichte Rüstungen und waren mit langen Lanzen und schmalen Schwertern bewaffnet. Sie erinnerten ihn an die Wachen, die ihn in Zalenia so grob behandelt hatten, doch jetzt überkam ihn bei ihrem Anblick eine eigenartige Sehnsucht nach der Untergetauchten Welt.
Während der Magier dieses Bild der vor Anker liegenden Flotte genoss, wurde jemand von einem der Schiffe auf ihn aufmerksam, kam an Land und ging auf ihn zu. »Ich wusste doch, dass wir uns eines Tages wiedersehen würden.«