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Mai 1940: Die Nazis erobern Westeuropa. In einer der dunkelsten Stunden der Weltgeschichte steht der frisch gewählte britische Premierminister Winston Churchill persönlich und politisch vor der Herausforderung seines Lebens. Soll er sich Hitler-Deutschland um eines Friedens willen annähern oder entschlossen in den Krieg ziehen? Innerhalb kurzer Zeit muss er sich entscheiden und das britische Volk auf seine Seite bringen. Anthony McCarten, Romancier und Autor der Bestseller Superhero und Licht, entwirft ein spannendes Historiendrama und zeigt, wie Winston Churchill zur Ikone eines ganzen Jahrhunderts werden konnte.
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Das Buch
Mai 1940: Großbritannien befindet sich im Krieg. Deutschlands schreckliche Blitzkriege haben einen demokratischen Staat nach dem anderen in Westeuropa zu Fall gebracht. Eine Invasion Großbritanniens scheint kurz bevorzustehen.
Nur wenige Tage nach seiner Ernennung zum Premierminister muss sich Winston Churchill dieser Herausforderung stellen – und dabei innenpolitisch gegen enorme Widerstände ankämpfen. Zweifel und Unsicherheit kennzeichnen diese brisante Phase der Geschichte. Sogar ein möglicher Frieden mit Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt möglich. Bestsellerautor Anthony McCarten zeigt, wie aus Zweifel Entschlossenheit werden konnte – eine Entschlossenheit, die Churchill mit Hilfe seiner legendären Reden auf die gesamte Nation übertrug und sie so in den Kampf gegen Nazi-Deutschland führte.
Der Autor
Anthony McCarten wurde für sein Drehbuch zum Film Die Entdeckung der Unendlichkeit zweimal für den Oscar nominiert und gewann zwei British Academy Film Awards. Der international gefeierte Romanautor schreibt auch erfolgreich Theaterstücke und lebt abwechselnd in London und Los Angeles.
ANTHONY MCCARTEN
Die dunkelste Stunde
Churchill – Als England am Abgrund stand
Aus dem Englischen vonHenning Dedekind undWolfram Ströle
Ullstein
Die von Charles Eade gesammelten Reden Churchills erschienen erstmals in sieben Bänden auf Deutsch im Europa Verlag Zürich zwischen 1946 und 1950. Deutsche Erstausgabe dieser Auswahl © 2014 by Europa Verlag AG Zürich durchgesehene, erweiterte und korrigierte Auflage, die erstmals auch die »Züricher Rede« enthält.
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ISBN 978-3-8437-1735-9
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Copyright © Anthony McCarten, 2017
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © 2017 Universal Studios.
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlag
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Einleitung
DIENSTAG, 7. MAI 1940
1. Ein Haus ist uneins
2. Der Taugenichts
FREITAG, 10. MAI 1940
3. Ein Führer strauchelt
4. Der heilige Fuchs
SAMSTAG, 11. MAI 1940
5. Der große »Diktator«
MONTAG, 13. MAI 1940
6. Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß
DIENSTAG, 14. MAI 1940
7. Die Lage verschlimmert sich
MONTAG, 20. MAI 1940
8. Ängste, Zweifel und Druck von innen
MONTAG, 27. MAI 1940
9. Krise in Kabinett und Führung
MITTWOCH, 29. MAI 1940
10. »Wir werden an den Stränden kämpfen«
Epilog: Der Wahrheit zu Ehren
Danksagung
Bildteil
Bildnachweise
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Über die Jahre standen in meinen Bücherregalen immer ein paar Bände, deren Thema sich grob mit »Große Reden, die die Welt veränderten« umreißen ließe. Die These dieser Bücher ist, dass die fragliche Großtat unter den richtigen Gegebenheiten häufig vollbracht worden ist: die richtigen Worte mit dem richtigen, zeitgemäßen Inhalt, gesprochen von einem brillanten Redner am Puls der Zeit.
Wie zu erwarten, fand ich in jeder dieser Anthologien mindestens eine Rede von Winston Spencer Churchill. Oft auch zwei oder drei. Sie klangen leicht angestaubt, etwas hochtrabend, mit einer zur Theatralik neigenden Wortwahl, doch enthielten sie immer ein Grundkorsett eleganter Sätze und herausragender Zitate, die ein Publikum 1000 Jahre in der Vergangenheit ebenso angesprochen hätten wie 1000 Jahre in der Zukunft.
Als ich begann, mich in meinem bescheidenen Rahmen mit den Reden von Nehru, Lenin, George Washington, Hitler, Martin Luther King und anderen zu beschäftigen, empfand ich wachsende Bewunderung für die Redekunst und den Pfeilregen aus Worten, den diese Männer niedergehen ließen. Wenn sie zur Höchstform aufliefen, gelang es ihnen, die unausgesprochenen Gedanken eines ganzen Volkes zum Leben zu erwecken, grundverschiedene Emotionen zu einer gemeinsamen Leidenschaft zu verschmelzen, durch die es möglich war, das Undenkbare Realität werden zu lassen.
Was ich bei Churchill besonders bemerkenswert fand, war, dass er drei dieser Reden innerhalb von nur vier Wochen schrieb. Für ihn war der Mai des Jahres 1940 eine Phase schierer Wortgewalt. Obendrein schrieb er alles selbst. Was machte diesen historischen Moment aus, dass er ihn zu solchen Höhenflügen anspornte? Welche politischen und persönlichen Zwänge trieben ihn, dass er dreimal innerhalb weniger Tage Kohle in Diamanten verwandelte?
Die simple Antwort? Großbritannien befand sich im Krieg. In Europa wütete der Blitzkrieg, und in rascher Folge fiel eine Demokratie nach der anderen unter die Knute der Nazis. Im Antlitz dieses Grauens, mit dem Füller in der Hand und einer Sekretärin zur Seite, fragte sich Großbritanniens neuer Premierminister, mit welchen Worten man das Land zu einem heroischen Widerstand aufrufen könnte, wenn die Invasion durch einen schrecklichen Feind eine Frage bloß von Stunden schien.
Das vorliegende Buch und das Drehbuch für seine Verfilmung ergaben sich aus diesen Fragen und der Faszination daran. Ziel ist es, Arbeitsweisen, Führungsqualitäten, Denken und Psyche eines einzelnen Mannes in diesen entscheidenden Tagen zu untersuchen – eines Mannes, der am Grunde seiner recht poetischen Seele fest an die Macht der Worte glaubte, daran, dass sie etwas bewirken und letztendlich die Welt verändern könnten.
Meine ersten Nachforschungen brachten mich dazu, die Zeitspanne zwischen Churchills unerwartetem Aufstieg zum Premierminister am 10. Mai 1940 bis zur beinahe vollständigen Evakuierung der eingekesselten britischen Armee aus Dünkirchen (die den bevorstehenden Fall Frankreichs ankündigte) am 4. Juni in den Fokus zu stellen – jenen Tag, an dem er übrigens die letzte Rede seiner rhetorischen Trilogie hielt.
Das Nationalarchiv erwies sich als wahrer Quell für meine Recherchen, denn es bot Zugang zu den Original-Protokollen der Sitzungen des Kriegskabinetts, bei denen Churchill in jenen dunklen Tagen den Vorsitz hatte. Diese brachten Licht in eine seltene Phase der Unsicherheit in seiner Karriere, eine Unebenheit in einer ansonsten steten Führung. Podeste sind jedoch etwas für Statuen, nicht für Menschen. Das genauere Studium der Protokolle zeigt nicht nur eine Führungspersönlichkeit in Schwierigkeiten, die von allen Seiten angegriffen wird und bisweilen unsicher ist, welche Richtung sie einschlagen soll, sondern offenbart auch eine Geschichte, die ich noch nicht gehört hatte: die Geschichte eines Kriegskabinetts, das, hätte es mit dem Feind Frieden geschlossen, die Welt für immer verändert hätte. Wie nahe kam Churchill einem Friedensabkommen mit Hitler? Gefährlich nahe, wie ich feststellte.
Die Frage, vor welcher dieses Kriegskabinett stand, das im Jahre 1940 zunächst in den Räumen der Admiralität (von Downing Street nur einen kurzen Fußmarsch auf der Whitehall entfernt) und danach in einem Bunker tief unter dem Schatzamt zusammenkam, war folgende: Sollte Großbritannien alleine weiterkämpfen, vielleicht bis zur Aufreibung seiner Streitkräfte und sogar der Nation selbst, oder sollte es auf Nummer sicher gehen und ein Friedensabkommen mit Hitler in Erwägung ziehen? Der italienische Botschafter in London hatte – im Gegenzug für einige Kolonialhandelsanteile in Afrika, Malta und Gibraltar – angedeutet, er sei bereit, den faschistischen Führer Italiens, Benito Mussolini, zu bitten, bei einem solchen Abkommen als Vermittler zu agieren. Da Churchills Amtsrivale Lord Halifax nachdrücklich forderte, diese Option zumindest so lange nicht zu verwerfen, bis Hitlers Bedingungen erkennbar seien, und Churchills Vorgänger im Amt, Neville Chamberlain, zustimmte, dies sei der einzig vernünftige Weg, einer so gut wie sicheren Vernichtung zu entgehen, verbrachte der Premierminister einige äußerst einsame Stunden, in denen er sich nur auf sein eigenes Gespür verlassen konnte.
Viele Leser werden erstaunt sein, zu erfahren, dass der große Winston Churchill, der in den Geschichtsbüchern als standhafter und unnachgiebiger Feind Hitlers dargestellt wird, seinen Kollegen im Kriegskabinett sagte, er sei im Prinzip nicht gegen Friedensgespräche mit Deutschland, »wenn Herr Hitler bereit wäre, Frieden zu schließen unter der Bedingung der Wiederherstellung deutscher Kolonien und der Vorherrschaft in Mitteleuropa«. Einmal, am 26. Mai, ging er sogar noch weiter und soll gesagt haben, »dass er dankbar wäre, aus unseren gegenwärtigen Schwierigkeiten herauszukommen, vorausgesetzt, wir bewahrten die Grundlage unserer Lebenskraft, selbst auf Kosten einiger Gebietsabtretungen«. Welche Gebiete? Nicht nur europäische, sondern britische Gebiete. Und das war noch nicht alles.
Am 27. Mai notierte Chamberlain in sein Tagebuch, Churchill habe vor dem Kriegskabinett gesagt: »Wenn wir aus diesem Schlamassel herauskämen, indem wir Malta und Gibraltar und ein paar afrikanische Kolonien aufgäben, würde er [Churchill] diese Gelegenheit beim Schopfe packen«.
Dachte Churchill ernsthaft darüber nach, Friedensgespräche mit einem gemeingefährlichen Irren aufzunehmen, der ihm über alle Maßen verhasst war? Es hat den Anschein. Er stand unter derartigem Druck, dass er nicht nur mit diesem Gedanken spielte, sondern Halifax gestattete, ein streng geheimes Memorandum an die Italiener zu entwerfen, in dem die britischen Bedingungen dargelegt wurden. Dies war der erste Schritt in einem Prozess, bei dem ergründet werden sollte, wie einschneidend die Forderungen Hitlers wären.
Manche mögen nun vielleicht finden, dass das Bild eines Churchill, der gewillt ist, ein solches Abkommen ernsthaft in Betracht zu ziehen, diesen großen Mann herabsetzt und seinen Ruf beschädigt. Ich möchte jedoch das Gegenteil behaupten: dass das öffentliche Bild eines streitlustigen Kämpfers, der nie an sich zweifelt, ihm nicht gerecht wird; es lässt ihn unwirklich erscheinen, als Klischee, weniger als dreidimensionales menschliches Wesen denn als Produkt eines kollektiven Traums. Seine Fähigkeit, zur Aufrechterhaltung der Moral Stärke zu demonstrieren, während er verschiedene Lösungen erwog, schmälert sein Andenken nicht wegen persönlicher Unentschlossenheit, sondern spricht vielmehr für ihn.
Dies sind also die dunklen Stunden, auf die sich der Buchtitel bezieht. Gerade wegen der großen Herausforderungen zog Churchill danach jedoch zwei Überraschungen aus dem Hut, großartige Beispiele sprachlicher Überzeugungskraft: Die erste Rede hielt er vor Mitgliedern des äußeren Kabinetts, die in die Gespräche des Kriegskabinetts nicht eingeweiht waren, die zweite vor dem versammelten Parlament und somit vor den Ohren der ganzen Welt. Die erste diente zum Aufwärmen für die eigentliche Ansprache. Es existiert keine vollständige Mitschrift, doch die Tagebucheinträge zweier Männer, die Churchill zuhörten, enthalten grobe Umrisse und viele Schlüsselsätze. Die zweite Rede ging im selben Moment in die Geschichte ein, in welchem Churchill die Worte sprach, als er Strände, Landeplätze, Felder, Hügel, Meere und Ozeane aufzählte, wo die Briten den verhassten Hunnen bekämpfen würden.
In beiden Reden sowie in einer früheren – die er einige Wochen zuvor gehalten und in welcher er der Öffentlichkeit, ob sie dies nun wollte oder nicht, Blut, Mühen, Schweiß und Tränen versprochen hatte – wandte er sämtliche Tricks aus dem Lehrbuch an. Das waren die Lektionen, die er vorwiegend von den Griechen und den Römern gelernt hatte, insbesondere von Cicero: Es galt, erst Sympathien für sein Land, sich selbst, seine Mandanten und seine Sache zu wecken und dann auf eine direkte emotionale Ansprache hinzuarbeiten (was die römischen Autoren als epilogos bezeichneten), mit dem Ziel, dass im gesamten Haus nicht ein einziges Herz ungerührt und kein Auge trocken blieb.
Freilich gibt es Vorbilder für jene Art Feuerwerk, wie er es im Mai 1940 dreimal abbrannte – insbesondere die Rede von Marcus Antonius zur Verteidigung des Aquillius, während derer Antonius die Tunika des Aquillius aufriss, um dessen Kampfnarben freizulegen –, doch hatten das britische Unterhaus und die britische Öffentlichkeit etwas Derartiges noch nie gehört. Mit Worten veränderte Churchill die politische Stimmung und stärkte den nervösen Willen eines ängstlichen Volkes, das er auf einen ungewissen Weg schickte, welcher schließlich – entgegen aller Wahrscheinlichkeit und mit allen Opfern, die Churchill vorhergesagt hatte (und noch einigen mehr) – mit einem vollständigen Sieg endete.
Das ist schon eine beachtliche Geschichte.
Als Winston Churchill starb, hieß es von ihm, er habe in jenen dunklen Tagen des Jahres 1940, als Großbritannien einem monströsen Feind gegenüberstand, die englische Sprache mobilgemacht und in die Schlacht geschickt. Das ist nicht bloß eine hübsche Metapher. Worte waren tatsächlich alles, was ihm damals zur Verfügung stand. Dafür aber, dass ihm nichts anderes mehr zum Kämpfen blieb, schlug er sich äußerst wacker.
HITLER WAR BEREITS IN DER TSCHECHOSLOWAKEI, IN POLEN, DÄNEMARK UND NORWEGEN EINMARSCHIERT
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NUN WAR ER IM BEGRIFF, AUCH DAS ÜBRIGE EUROPA ZU EROBERN
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IN GROSSBRITANNIEN HATTE DAS PARLAMENT DAS VERTRAUEN IN SEINEN FÜHRER, NEVILLE CHAMBERLAIN, VERLOREN. DIE SUCHE NACH EINEM ERSATZMANN HATTE BEREITS BEGONNEN
Das britische Parlament befand sich in einem Aufruhr aus Ablehnung und Beschimpfungen. »Raus, raus!«, grölte es von den oberen Galerien, wo sich Adlige und Mitglieder des Oberhauses nach vorn beugten, um besser sehen zu können. »Tritt zurück, Mann! Tritt zurück!« In der britischen Politik hatte es so etwas noch nicht gegeben. Mitglieder der Opposition rollten ihre Tagesordnungen dolchartig zusammen und warfen sie in Richtung der in sich zusammengesunkenen, bereits scheiternden und still leidenden Gestalt, die vor der Dokumententruhe saß – des konservativen Premierministers von Großbritannien, Neville Chamberlain.
Aus vielerlei Gründen zögerte Chamberlain jedoch, als Regierungschef zurückzutreten – nicht zuletzt wegen seiner tiefen Unsicherheit dahingehend, wer ihm nachfolgen könnte.
Großbritannien befand sich seit acht Monaten im Krieg und war bislang ziemlich erfolglos gewesen. Sowohl Politiker als auch die Öffentlichkeit schrien nicht nur nach einem neuen Führer, sondern, wie es alle großen Zeiten erfordern, nach einem großen Führer – einem, der sagen könnte, was nur große Führer sagen können: Worte, die bewegen und aufrütteln, überzeugen und inspirieren, Worte, die in den Herzen der Menschen Gefühle erwecken können, von denen sie selbst nichts wissen. Aus diesen Worten werden Handlungen, die wiederum, abhängig von ihrem Wesen, zu Sieg oder blutiger Niederlage führen.
Daneben gab es vielleicht noch etwas, was sich eine Nation in der Krise ebenfalls von ihrem Führer wünscht, so überraschend das klingen mag: Zweifel. Die wichtige Fähigkeit, die eigene Beurteilung anzuzweifeln, einen Geist zu besitzen, der zwei sich widersprechende Gedanken gleichzeitig fassen und dann auch abwägen kann; nicht voreingenommen zu sein und somit im Austausch mit allen bestehenden Ansichten zu bleiben. Dies stand im Gegensatz zu einem entschlossenen Geist, der nur mit einer einzigen Person im Gespräch bleiben konnte: sich selbst. Großbritannien hatte damals geringen Bedarf an einem Ideologen. Was man brauchte, war ein 360-Grad-Denker.
Wie Oliver Cromwell 1650 an die Kirche von Schottland schrieb: »Im Namen Christi ersuche ich Euch, betrachtet es als möglich, dass Ihr irrt.« In jenen Tagen voller Zweifel und angesichts der Herausforderungen, vor denen die britische Nation stand, welche so ernst waren, dass ihre gesamte Zukunft vom nächsten Schritt abhing, lautete die große Frage: Wo ließe sich ein solcher Führer finden?
»In Anbetracht Ihrer jüngsten Erfolge sitzen Sie schon viel zu lange hier. Gehen Sie, sage ich, und befreien Sie uns von sich. Im Namen Gottes, gehen Sie!«1 Leo Amery, Abgeordneter für Sparkbrook in Birmingham, nahm unter donnerndem Applaus wieder seinen Platz ein. Es war der erste Abend der heute legendären Norwegendebatte, Dienstag, 7. Mai 1940. Das Haus tagte nun schon seit beinahe neun Stunden. Es war ein warmer Frühsommerabend und bereits dunkel. Seine Worte waren wie ein Messerstich in die Seite seines konservativen Kollegen Chamberlain.
Großbritannien war ein geteiltes Land, und die Regierung stand nicht etwa zusammen, sondern war gespalten durch Egos und kleinmütige Streitereien, die zu den katastrophalen militärischen Misserfolgen sowohl auf dem Schlachtfeld als auch auf hoher See beigetragen hatten. Die Aussicht auf einen Sieg des Faschismus und ein Ende der Demokratie in Europa war nicht mehr unvorstellbar.
Die Saat, die bei dieser berühmten Parlamentsdebatte an jenem Abend aufging, wurde fünf Tage zuvor gesät: England hatte die Nachricht erreicht, dass Großbritannien seine Truppen aus dem norwegischen Hafen Trondheim abzog, nachdem sie erstmals unter schweren Beschuss durch die Nazis gekommen waren. Leo Amery und Mitglieder von Lord Salisburys Aufsichtsgremium, welches aus konservativen Parlamentsmitgliedern und Lords bestand und die Regierung zur Rechenschaft ziehen sollte, ebenso wie eine All-Parteien-Initiative des Parlaments mit ähnlicher Zielsetzung, die jedoch von dem Liberalen Clement Davies angeführt wurde und Mitglieder der Labour-Partei umfasste, waren übereingekommen, eine Debatte über die Patzer zu erzwingen, die bei dieser ersten Begegnung mit Nazi-Truppen begangen worden waren, und mit dieser Debatte zu versuchen, endlich jenen Führer loszuwerden, der, wie sie fanden, ihnen und dem Land einen schlechten Dienst erwies.
Am 7. Mai, dem ersten von zwei Diskussionstagen, um 15.48 Uhr, hatte Chamberlain erstmals das Wort zum Thema »Kriegsführung« ans Parlament gerichtet. Seine Rede, sein Rettungsversuch, stärkte jedoch weder seine Position, noch konnte er Ängste mindern, dass Großbritannien auf den Abgrund zusteuerte. Vielmehr festigte sie die Wahrnehmung seiner Person als müden und defensiven Mann, der die Nation nur weiter in den Untergang treiben würde. »Gebrochenen Herzens und verschrumpelt«, wie sich ein Kommentator später ausdrückte, machte er unermüdlich weiter, während ihm seine Feinde noch weitaus griffigere Sätze an den Kopf warfen.2 Er kannte diese Sätze nur zu gut, da er sie selbst geprägt hatte: »Frieden in unserer Zeit« (sein hochmütiges Versprechen vom Vorjahr) und »Bus verpasst!« (womit er gemeint hatte, Hitler habe den Anschluss verpasst und stelle keine Gefahr mehr für Europa dar). Nun explodierten sie wie Handgranaten vor seinen Füßen.
Die verhaltene Zustimmung, die Chamberlain während seiner Rede erhielt, beschrieb Labour-Mitglied Arthur Greenwood als »synthetisch«, denn die Stimmung im Hause war nie gedrückter gewesen: »Sein Herz [des Parlaments] ist besorgt. Es ist bange; es ist mehr als bange; es ist beklommen.«3
Als Chamberlain seinen Platz wieder eingenommen hatte, setzte der konservative Abgeordnete Admiral Sir Roger Keyes, gekleidet in voller Uniform (im Unterhaus etwas noch nie Dagewesenes), zu einem theatralischen Auftritt an und brachte das Haus zum Schweigen. Keyes, der dem Premierminister seit langem kritisch gegenübergestanden hatte, warf der Regierung eine »erschreckende Unfähigkeit« vor.4 Er wusste, wovon er sprach: Er hatte das Versagen mit eigenen Augen gesehen.
Der nächste Redner war Clement Attlee, Führer der oppositionellen Labour-Partei. Er war nicht unbedingt für seine Redegewandtheit bekannt, doch das Thema inspirierte ihn offenbar, und er sprach bissig von dem »unfähigen« Umgang mit der Situation durch die Regierung:
Es ist ja nicht nur Norwegen. Norwegen ist nur der Gipfel eines verbreiteten Unbehagens. Die Leute sagen, dass diejenigen, die für die Staatsführung hauptsächlich zuständig sind, Männer seien, die eine fast ununterbrochene Karriere aus Misserfolgen hinter sich haben. Norwegen folgt der Tschechoslowakei und Polen. Es ist immer wieder dieselbe Geschichte: ›Zu spät.‹ Der Premierminister sprach davon, dass Busse verpasst würden. Was ist mit den ganzen Bussen, die er und seine Gefolgsleute seit 1931 verpasst haben? Sie alle haben die Friedensbusse verpasst und stattdessen den Kriegsbus genommen. Die Menschen sehen, dass diese Männer, die in ihrer Einschätzung der Geschehnisse ständig falsch geurteilt haben, dieselben Leute, die glaubten, Hitler würde die Tschechoslowakei nicht angreifen, die glaubten, Hitler könnte befriedet werden, offenbar auch nicht erkannt haben, dass Hitler Norwegen angreifen würde.5
Kurz vor Mitternacht am 7. Mai war Chamberlains Schicksal besiegelt, doch schien es vielen Parlamentsmitgliedern, als wäre der Premierminister selbst nicht in der Lage, dies zu erkennen. Diese Blindheit war nichts Neues. John »Jock« Colville, sein Erster Privatsekretär, hatte am Tag zuvor in sein Tagebuch geschrieben: »Der P.M. ist wegen der Angriffe auf ihn seitens der Presse sehr niedergeschlagen … Ich glaube, er leidet an einer seltsamen Eitelkeit und Selbstüberschätzung, die von München herrührt [Bezugnahme auf September 1938, als man Chamberlain zwar vorwarf, auf sämtliche von Hitlers Forderungen eingegangen zu sein, ihm aber die Wahrung des Friedens zugutehielt] und seitdem trotz mancher Blessuren weiter gediehen ist.«6
So kam es, dass am Morgen des 8. Mai, vor dem zweiten und entscheidenden Tag der Debatte und angesichts der nicht erkennbaren Bereitschaft Chamberlains, als Premierminister zurückzutreten, Mitglieder sowohl des Aufsichtsgremiums als auch der All-Parteien-Initiative noch einmal im Parlament zusammenkamen. Sie beschlossen, ein Abstimmungsverfahren zu erzwingen, bei welchem die Abgeordneten darüber befinden sollten, was laut Parlamentsmitglied Herbert Morrison zeigen würde, »ob sie mit der Führung der Staatsangelegenheiten zufrieden sind, oder ob ihnen die Staatsführung Sorgen bereitet«.7 Mit anderen Worten: Man wollte Chamberlain den K.-o.-Schlag verpassen, indem man ihm die notwendige Anzahl Unterstützer entzog, die er für eine effektive Fortsetzung seiner Amtsgeschäfte brauchte.
Man verständigte die sogenannten Whips, die parlamentarischen Geschäftsführer, die unter den Mitgliedern der zahlreichen Wahlblöcke eifrig um Unterstützung warben. Colville notierte in seinem Tagebuch, dass ranghohe Konservative »über eine Regierungsneubildung sprechen und ernsthaft Modelle wie einen Handel diskutieren (den [Lord] Halifax [Herbert] Morrison vorschlagen soll), bei dem die oppositionelle Labour-Partei zur Regierungsbeteiligung eingeladen wäre. Im Gegenzug will man ein paar wichtige hohe Tiere aus der Regierung entlassen – Sam Hoare, Kingsley Wood, [Sir John] Simon usw. –, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass Chamberlain die Führungsposition beibehält.«8
Als das Haus um 14.45 Uhr zusammenkam, um die Kriegsführung zu debattieren, waren die Messer also gezogen und besonders scharf gewetzt.
Bitten an den Labour-Abgeordneten Herbert Morrison, keine Abstimmung zu fordern, waren auf taube Ohren gestoßen. Die Labour-Mitglieder waren fest entschlossen: Sie wollten nicht länger einer nationalen Regierung dienen, der »dieser Mensch« Chamberlain vorstand. Morrison redete zwanzig Minuten lang leidenschaftlich und drängte die Mitglieder des Hauses, bei der Wahl ihrem Gewissen zu folgen und gründlich darüber nachzudenken, ob Großbritannien angesichts der erbärmlichen Kriegsführung in den vergangenen acht Monaten mit dem momentanen Stand der Dinge einfach fortfahren könne. Die Botschaft war schlicht und klar: Nicht nur Chamberlain musste gehen, sondern mit ihm auch all jene, die seine Appeasement Policy (Befriedungspolitik) befürwortet hatten, jenen Irrglauben, der die britische Politik gegenüber Deutschland in den 1930ern beherrscht hatte – nämlich, dass sich ein Diktator, wenn man ihn gut fütterte, zufrieden in seine Höhle zurückziehen würde. Gehen müssten also auch Sir Samuel Hoare (Luftfahrtminister) und Sir John Simon (Schatzkanzler).
Der Entschluss zum Rücktritt blieb Chamberlain überlassen. Geschwächt durch Angriffe von allen Seiten, würde er diesen Schritt bestimmt tun. Und doch widerstand er, blieb auf seiner Bank sitzen und sah nur gelegentlich zu den harschen Blicken auf, aus denen ihm Herabwürdigung und Demütigung entgegenschlug. Als er sich schließlich erhob – so zumindest schildert es der Labour-Abgeordnete Hugh Dalton in seinen Memoiren –, sprang er wütend auf, »zeigte die Zähne wie eine in die Ecke gedrängte Ratte und schrie: ›Ich nehme die Herausforderung an und bitte meine Freunde, und ich habe immer noch einige Freunde in diesem Haus, die Regierung heute Abend in der Lobby zu unterstützen‹«.9
Chamberlains Versäumnis, das Ausmaß der Herausforderung zu erfassen, welcher sich die Nation gegenübersah, steigerte noch den Zorn seiner Gegner im Hause. Bald erhoben sich Mitglieder beider Seiten und versuchten, die Blicke des Redners auf sich zu lenken, um ebenfalls sprechen zu dürfen. Rufe wie »Gehen Sie!« und »Treten Sie zurück!« hallten durch den Saal, doch Chamberlain blieb ungerührt. Offensichtlich bedurfte es eines letzten, vernichtenden Angriffs. Der perfekte Mann, um diesen auszuführen, erhob sich.
Der Lärm im Saal verstummte. David Lloyd George, der ehemalige liberale Kriegsminister persönlich, begann höflich, doch dann zunehmend impulsiver, Chamberlain dafür zu rügen, dass er Großbritannien »in die schlechteste strategische Position« in seiner Geschichte manövriert habe. Dies gipfelte darin, dass er sich direkt an Chamberlains Gewissen wandte: »Geben Sie ein Beispiel für Opferbereitschaft, denn nichts kann mehr zu einem Sieg in diesem Krieg beitragen als eine Aufgabe des Amtssiegels.«10
Von der Galerie aus verfolgte die Frau des Redners, Dame Margaret Lloyd George, das Geschehen und nickte zustimmend. Sie schrieb später:
Ich bin sehr froh, dass mein Ehemann daran beteiligt war, Chamberlain loszuwerden. Eine derartige Szene habe ich nie gesehen, das Haus war entschlossen, ihn loszuwerden & Sir John Simon & Sam Hoare … das Geschrei, das seinen Rücktritt begleitete, war entsetzlich, und die Rufe: »Gehen Sie, gehen Sie!« Ich habe nie einen P.M. zurücktreten sehen, der derart verabschiedet wurde. Er hat eine Misere herbeigeführt, und die Konservativen sagten nach München immer: »Er hat uns vor dem Kriege bewahrt.« Arme Dinger, etwas muss ihnen die Augen geöffnet haben.11
Die Debatte zog sich bis in die Nacht. Chamberlain wollte nicht so einfach seinen Hut nehmen. Es sollte nur ein paar Wochen dauern, bis er in seinem Tagebuch zum ersten Mal einräumte, unter »beträchtlichen Schmerzen« zu leiden,12 verursacht durch den Darmkrebs, an dem er nur wenige Monate später starb. Vielleicht wusste er tief in seinem Herzen, dass dieser Augenblick seine letzte Chance war, zu vermeiden, dass man ihn für den Zusammenbruch Europas, der Demokratie und des britischen Lebensstils verantwortlich machte. Vielleicht hatte sein Widerwille, das Amt niederzulegen, aber noch einen anderen, verborgenen Grund.
Wenige Sitze neben ihm in der vordersten Reihe saß ein Mann, der hinsichtlich des Norwegen-Einsatzes im vergangenen Monat – bei welchem der Verlust von 1800 Männern, einem Flugzeugträger, zwei Kreuzern, sieben Zerstörern und einem U-Boot zu beklagen gewesen war – tatsächlich weitaus schuldhafter gehandelt hatte.
Als erster Lord der Admiralität war Winston Spencer Churchill der oberste Architekt der verheerenden Marine-Strategie des Landes gewesen. Da sich alle Aufmerksamkeit jedoch auf den Premierminister richtete und seine Zeit zu sprechen noch nicht gekommen war, blieb Churchill aus der Schusslinie, wartete ab und hinterließ keine Fingerabdrücke auf der Mordwaffe.
Churchill war nicht beliebt. Vielmehr war er damals so etwas wie eine Witzfigur, ein Egoist, ein »halber Amerikaner«, der, in den Worten des konservativen Abgeordneten Sir Henry (»Chips«) Channon, nur für eines stand: sich selbst. Heute, da in Großbritannien offiziell 3500 Pubs und Hotels, über 1500 Hallen und Einrichtungen sowie 25 Straßen seinen Namen tragen und sein Konterfei alles Mögliche von Bierdeckeln bis hin zu Fußmatten ziert – nicht zu vergessen seine Büste, die sporadisch im Oval Office des Präsidenten der Vereinigten Staaten auftaucht –, ist es schwer vorstellbar, doch im Mai 1940 war er das Letzte, was die Menschen mit Sicherheit verbanden.
Von vielen innerhalb der Partei noch als Wendehals gebrandmarkt, da er »sein Fähnlein nach dem Wind gerichtet hatte« (er war 1904 vom konservativen Lager zu den Liberalen und 1924 wieder zurück gewechselt), hatte Churchill nichtsdestotrotz eine überraschende Loyalität gegenüber Chamberlain bewiesen. So war es auch an diesem Tag. Mitten in Lloyd Georges Rede bot er sich an Stelle des Premierministers als Schuldigen an: »Ich übernehme volle Verantwortung für alles, was die Admiralität getan hat, und werde meinen vollen Anteil an dieser Last tragen.«13
Lloyd George, dessen Redefluss Churchill unterbrochen hatte, entgegnete gewandt: »Der recht ehrenwerte Gentleman braucht sich nicht zum Luftschutzkeller machen zu lassen, damit seine Kollegen nicht von Splittern getroffen werden.«14
Churchills mea culpa war nur die erste Stufe einer vorgetäuschten Rettungsaktion, deren Misslingen von Anfang an kalkuliert war. Sie sollte dazu dienen, seine Kollegen mit einer bewegenden Zurschaustellung seiner Loyalität für sich zu gewinnen – eine großartige Gelegenheit, zu zeigen, wie »premierministerlich« er sein konnte, wenn er es versuchte, und um dadurch seinen eigenen Namen als Geheimfavorit ins Rennen zu bringen.
Als er endlich an die Reihe kam, zu sprechen, was er ausgiebig tat, beugten sich die Rebellen nach vorn, erwartungsvoll, in der Hoffnung auf Sätze der Verdammung, doch er sagte nichts Unrühmliches, ja eigentlich nichts, das sich Chamberlain nicht selbst auf seinen Grabstein hätte schreiben können. Vielmehr hatte Churchill sogar ein wenig Lob für ihn übrig, welches aber derart schwach war, dass es exakt vermittelte, was er wollte: zu wenig, zu spät. Die Rettungsansprache, die Churchill hätte halten können, wurde eindeutig für einen anderen Tag, für eine andere Stunde aufgespart. In ihm reiften bereits andere Reden, heimlich einstudierte Sätze, die in den kommenden Tagen einem anderen, spektakuläreren Zweck dienen und hier nicht verschwendet werden sollten.
Als Churchill wieder seinen Platz einnahm, hatte er mit seiner Rede möglicherweise eines erreicht: Sein eigener Stern, wenn dieser auch noch nicht hell erstrahlte, hatte in einem kritischen Moment ein wenig an Glanz gewonnen, während die Sterne aller anderen erloschen.
Als der Sprecher das Parlament aufrief, sich aufzuteilen und abzustimmen, hatten die meisten keinerlei Zweifel mehr. Chips Channon erinnerte sich:
Wir sahen zu, wie die Aufwiegler die Lobby der Opposition verließen … »Verräter«, riefen wir ihnen zu, »Ratten«, »Ja-Sager«, sie erwiderten: »281 zu 200« … Manche riefen: »Rücktritt! Rücktritt!«, und der alte Affe Josh Wedgwood begann, mit den Armen zu fuchteln und »Rule Britannia« zu singen. Harold Macmillan neben ihm stimmte mit ein, aber sie wurden niedergeschrien. Neville schien angesichts der unheilvollen Zahlen verblüfft und war der Erste, der sich erhob. Er wirkte ernst und sah nachdenklich und traurig aus … an jenem Abend jubelte ihm keine Menge zu, wie es vor München der Fall gewesen war – er war nur ein einzelner Mann, der sein Bestes für England gegeben hatte.15
Trotz dieses knappen Sieges hatte Chamberlain das Vertrauen seiner Partei eingebüßt, da insgesamt 41 Konservative gegen die Regierung gestimmt hatten. Der jüngste von ihnen war John Profumo, der sich mit seinen gerade 25 Jahren aus seiner Kaserne gestohlen hatte, um an der Abstimmung teilzunehmen, und später von dem gefürchteten Chief Whip (dem parlamentarischen Hauptgeschäftsführer) der Tories, David Margesson, schwer gerügt wurde: »Du unglaublich verachtenswürdiger kleiner Kacker … den Rest deines Lebens wirst du dich dafür schämen, was du gestern Abend getan hast.«16 Da die Konservativen eine Mehrheit von lediglich 81 Stimmen errungen hatten, gab es nichts mehr zu debattieren. Was nun notwendig war, war ein öffentlicher Kreuzzug, wie er Chamberlains Parlamentarischem Privatsekretär Jock Colville vorschwebte, der anmerkte, wie »widerlich« es sei, »dass alle ihre Energien auf eine innere politische Krise konzentrieren (à la française), anstatt an morgen und an Hitlers nächsten Zug zu denken«.17 Ein neuer Regierungschef musste gefunden werden. Aber wer? Wer war dieser Aufgabe würdig? Und wer war überhaupt bereit dazu?
Politische Grabenkämpfe hatten über die verzweifelte Situation hinweggetäuscht, in welcher Großbritannien sich befand. Das Land brauchte jemanden, der nicht nur die Konservative Partei einen, sondern auch die Oppositionsparteien und die Streitkräfte, welche es bei dieser ersten militärischen Niederlage, die den sogenannten »Sitzkrieg« der vergangenen acht Monate seit der deutschen Invasion in Polen abrupt beendet hatte, am Willen zur Zusammenarbeit hatten vermissen lassen.
Channon notierte in sein Tagebuch, dass »Gerüchte und Intrigen, Verschwörungen und Gegenverschwörungen«18 unter führenden Politikern inzwischen überhandnähmen. Es war jedoch nicht Churchill, den während der Debatten der vergangenen Tage viele verteidigt und gelobt hatten, der die Unterstützung der Konservativen Partei gewann. Vor allen anderen kristallisierte sich ein Name als logischer Nachfolger Chamberlains heraus. Es war der Name eines Mannes, dem nicht einmal ein Sitz auf einer Seite des Unterhauses zustand. Es war Lord Halifax, der damalige Außenminister und ein Mitglied des Oberhauses, welcher von der Adelsempore aus im Kreise anderer Lords, Botschafter und hoher Würdenträger mit Großbritannien verbündeter Länder die Geschehnisse still verfolgt hatte.
Eine der größten Hürden für Halifax, das Amt von Chamberlain zu übernehmen, lag in der Verfassung selbst. Das einzigartige Wesen des britischen Parlamentssystems sieht vor, dass jemand mit einem Sitz im Oberhaus nicht gleichzeitig ein gewähltes Mitglied des Parlaments im Unterhaus sein kann. Wollte Lord Halifax also Premierminister und Fraktionschef werden, stand ihm somit ein ernst zu nehmendes verfassungsmäßiges Hindernis im Weg, auch wenn er selbst kein Parlamentarier wäre.
Halifax’ Biograph Andrew Roberts schildert, wie der Außenminister und der Premierminister während der Debatte des zweiten Tages, am 8. Mai, den bis dato undenkbaren Ausgang diskutierten, dass Halifax Premierminister würde. Chamberlain habe »klargemacht, dass er Halifax als Nachfolger wünsche, sollte er selbst zum Rücktritt gezwungen sein«,19 doch als die Debatte am Donnerstag, dem 9. Mai, ihren Fortgang fand, reagierte Lord Halifax nicht wie erwartet. In sein Tagebuch schrieb er, dass der Premierminister ihn für 10.15 Uhr ins Haus Downing Street Nr. 10 einbestellt habe, wo Chamberlain ihm mitgeteilt habe, er sei »der Ansicht, dass die Position nicht so belassen werden könne, wie sie durch die Abstimmung im Unterhaus geraten sei, und dass es unabdingbar sei, das Vertrauen in die Regierung wiederherzustellen«.20 Abermals sprach Chamberlain die Frage seiner Nachfolge an, worauf Halifax (laut seinem eigenen Tagebucheintrag) erwiderte, »er [Chamberlain] möge weiterhin in der Regierung dienen, wenn es nach mir ginge. Ich brachte alle Argumente vor, die mir gegen mich einfielen, und betonte insbesondere die schwierige Stellung eines Premierministers, der nicht in der Lage wäre, eine Verbindung zum Gravitationszentrum im Unterhaus herzustellen«.21
Man mag versucht sein, hier falsche Bescheidenheit zu unterstellen, da Halifax durch sein nachfolgendes Handeln zeigte, dass ihm sehr wohl daran gelegen war, seine Hände an den Schalthebeln der Macht zu behalten. In seinem Tagebuch vermerkte er: »Das Gespräch und das offensichtliche Abdriften seines [Chamberlains] Geistes verursachten mir starke Bauchschmerzen. Ich sagte ihm erneut, was ich ihm auch bereits am Vortag gesagt hatte, nämlich, dass, sollten die Labour-Leute sagen, sie wollten nur unter mir dienen, ich ihnen antworten würde, dass ich dazu nicht bereit sei.«22
Bauchschmerzen? Der konservative Abgeordnete R. A. »Rab« Butler hielt eine ganz andere Erinnerung an ein Gespräch fest, welches er mit dem gerissenen Halifax nach dessen Treffen mit Chamberlain führte:
Er [Halifax] sagte mir, er glaube, er könne das Amt übernehmen. Er glaube außerdem, dass Churchill einen mäßigenden Einfluss benötige. Und ließe sich diese Mäßigung besser ausüben denn als Premierminister oder als Minister in Churchills Regierung? Selbst, wenn er letztere Rolle wählte, führten Churchills Fähigkeiten und Erfahrung bestimmt dazu, dass er »sowieso den Krieg führen würde«. Halifax’ eigene Position würde dann rasch zu etwas wie einem Ehrenamt werden.23
Entgegen Halifax’ Einwänden erscheint dies als glaubhafterer Grund für die Ablehnung jener Position, die als Gipfel des Erfolges in der britischen Politik gilt. Halifax’ Vorbehalte gründeten hauptsächlich auf seiner Position im Oberhaus, die es ihm verwehrte, als Premierminister ins Unterhaus einzuziehen. Wohin würde Halifax als Führer der Nation dort gelangen?
Für einen Mann von Halifax’ Format und mit seinem Ego war es sicherlich keine besonders attraktive Aussicht, als oberster Führer Großbritanniens keine tatsächliche Macht auszuüben und obendrein andauernd von Churchill untergraben zu werden, der, wie er wusste, der bessere Stratege und Führer war. Doch wie kam es, dass seine Kollegen aus der Politik seine Absichten derart fehlinterpretierten? Die Lords wollten Halifax, König George VI. wollte Halifax, sogar Labour wollte Halifax. Es schien, als unterstützten sie alle gemeinsam einen Mann, der plötzlich kein Interesse mehr daran hatte, den Job zu übernehmen, zumindest nicht innerhalb der aktuellen Rahmenbedingungen.
So kam, was keiner erwartet hätte, nämlich, dass sich Churchills Name bis an die Spitze der Liste vorarbeitete.
Es war ein unglaublicher Schwenk. Was noch Tage zuvor undenkbar gewesen war, wurde nun als praktikable Option in Betracht gezogen. Jedoch stand niemand dieser Wahl sorglos gegenüber, denn Churchill war ein wahres Rätsel, ein Amalgam unvereinbarer Anteile: Showman, Prahlhans, Angeber, Poet, Journalist, Historiker, Abenteurer, Melancholiker, angeblich Alkoholiker, zweifellos im Rentenalter und mit fünfundsechzig ein Mann, der hauptsächlich durch sein Versagen bekannt geworden war, der zuverlässig die Schrift an der Wand fehlgedeutet hatte und allzu häufig in einen Schlamassel geraten war, vor allem dann, wenn dies unbedingt zu vermeiden gewesen wäre. Aufgrund seiner Fehler als Erster Lord der Admiralität während des Ersten Weltkriegs (vor allem der menschlichen Katastrophe in der Schlacht von Gallipoli gegen die Osmanen, bei welcher 45000 Soldaten des Commonwealth ihr Leben verloren) galt er als gefährlicher Kriegstreiber. Die vergangenen zehn Jahre hatte er nach einer ganzen Reihe weiterer Fehler – darunter seine Nichtbefürwortung der indischen Selbstbestimmung und sein brutales Durchgreifen bei einem Bergarbeiterstreik in Wales – in einer politisch-gesellschaftlichen »Einöde« verbracht, wie er selbst sagte.
Nach so vielen Fehlern erscheint es daher nur allzu natürlich, dass sogar Churchill selbst Zweifel an seiner Eignung hegte. Angesichts des Ausmaßes seiner Fehler wäre es wohl äußerst gewagt – und psychologisch nicht haltbar –, einen anderen Schluss zu ziehen.
Wenngleich seine Ambitionen, die Rolle einzunehmen, außer Frage standen (seit seiner Kindheit hatte er Premierminister werden wollen, um eine Familiengeschichte zu vollenden, was seinem verstorbenen Vater Randolph nicht gelungen war), so wusste er doch, welch schlechte Figur er bei diesen vergangenen Krisen gemacht hatte und wie hoch die Verluste an Menschenleben gewesen waren. Er empfand Selbstzweifel zwar als negativ – und sprach von Führerschaft oft als entschlossene Anwendung sachkundigen Weitblicks –, doch gibt es keinen Grund, ihm hierin zuzustimmen. Solange Selbstzweifel keine lähmende Wirkung entfalten, gestatten sie, alternative Sichtweisen in Betracht zu ziehen und gegeneinander abzuwägen. Man kann daher sagen, dass sie eine wichtige Stufe jeder vernünftigen Entscheidungsfindung darstellen.
Typisch für das damals vorherrschende Bild Churchills war die Meinung von Sir Edmund Ironside, Kommandeur des Königlichen Generalstabs, der seine Churchill gegenüber empfundene Ambivalenz in seinem Tagebuch notierte: »Der einzige Mann, der [Chamberlain] nachfolgen kann, ist freilich Winston, aber er ist zu unsicher, wenngleich er das Zeug dazu hat, den Krieg zu beenden.«24
Der Aufstieg in die Spitzenposition war also keinesfalls gewiss. Eines jedoch hatte Churchill Halifax voraus: seine persönlichen Kriegserfahrungen. Seine militärische Erfahrung – er hatte sowohl im Burenkrieg als auch im Ersten Weltkrieg gedient und als Journalist mehrere weitere Kampfhandlungen beobachtet – war trotz aller Fehltritte in jeder Hinsicht der des Außenministers überlegen, welcher von Kampf oder gar militärischer Strategie wenig wusste und nur einen Monat zuvor seine Unkenntnis auf diesem Gebiet kundgetan hatte: Roberts schreibt, als man Halifax gefragt habe, »ob ein Angriff auf Trondheim möglicherweise wirkungsvoller gewesen wäre als einer auf Narvik, blieb ihm nichts, als zuzugeben, dass er nicht kompetent sei, diese Frage zu beantworten«.25
Ein weiterer Minuspunkt für Halifax, der sein öffentliches Ansehen beschädigte, war seine Befürwortung der Appeasement-Politik. Selbst als klar wurde, dass Hitler unersättlich war, hatte Halifax an seinem Glauben an den Frieden um beinahe jeden Preis festgehalten.
Es gab also ungewöhnlich wenige ernstzunehmende Mitbewerber. Selbst Anthony Eden war in Sachen Popularität weit abgeschlagen. Im März 1939 ergab eine Umfrage, dass 38 Prozent der Bevölkerung ihn gerne als nächsten Premierminister sehen wollten. Churchill und Halifax kamen auf magere sieben Prozent. Nachdem ihn Chamberlains Appeasement-Politik zum Rücktritt als Außenminister bewegt hatte, war er als Minister für Dominion-Angelegenheiten in die Regierung zurückgekehrt, doch schloss ihn diese niederrangige Position in jenem Augenblick von einer ernsthaften Kandidatur für das höchste Amt aus.26
Da Halifax vor der Aufgabe einstweilen zurückschreckte, nahm Churchill die Positur, Miene und Sprechweise – vor allem die Sprechweise – einer Führerfigur an.
Um seinem Ziel vorsichtig näher zu kommen, ohne dies direkt erkennen zu lassen, traf sich Churchill am Morgen des 9. Mai mit mehreren seiner engsten Verbündeten. Eden besuchte ihn in der Admiralität, und während sich Churchill rasierte, »berichtete er mir [Eden] von den Ereignissen des vergangenen Abends. Er glaubte, Neville sei nicht in der Lage, Labour ins Boot zu holen, und dass eine Allparteienregierung gebildet werden müsse«.27
Als Nächstes traf sich Churchill mit seinem alten Freund Lord Beaverbrook, der versuchte, ihm eine klare Aussage hinsichtlich der Führungsfrage zu entlocken. Abermals gab Churchill nichts preis, sondern sagte nur: »Ich werde unter jedem Minister dienen, der in der Lage ist, den Krieg zu betreiben.«28
An jenem Tag aß Churchill mit Eden und dem Lordsiegelbewahrer Sir Kingsley Wood zu Mittag. Dabei erklärte Wood, dass er den Ersten Lord der Admiralität als neuen Regierungschef unterstütze, und drängte ihn, »seine Bereitschaft [die Nachfolge anzutreten] zu signalisieren, wenn man ihn danach fragte«. Wie sich Eden erinnerte, hatte es ihn »überrascht, dass Kingsley Wood davor warnte, Chamberlain wolle wahrscheinlich Halifax als Nachfolger vorschlagen und dazu Churchills Zustimmung einholen. Wood riet ihm: ›Stimmen Sie dem nicht zu, und sagen Sie gar nichts.‹ Ich war schockiert, dass Wood so redete, da er stets ganz auf Seiten Chamberlains gestanden hatte, doch es war ein guter Ratschlag, und ich bekräftigte ihn.«29
Chamberlain, der sich inzwischen zum Rücktritt entschlossen hatte, bestellte Halifax und Churchill noch an jenem Nachmittag um 16.30 Uhr zu sich in die Downing Street.
Die widersprüchlichen Berichte über dieses geschichtsträchtige Treffen sind zum Stoff für Legenden geworden. Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass Neville Chamberlain, Lord Halifax, Winston Churchill und Chief Whip David Margesson anwesend waren. Der Premierminister hatte sie alle versammelt, um sie von seinem bevorstehenden Rücktritt zu informieren und zu entscheiden, wem die Aufgabe zufallen sollte, das Land künftig zu führen. Die unmittelbarste Wiedergabe der Ereignisse stammt aus Halifax’ Tagebuch. Er erinnert sich, wie Chamberlain seinen Entschluss, zurückzutreten, bestätigte, jedoch keinen Hinweis darauf gab, wen er als Nachfolger bevorzugte, sondern nur sagte, »er werde unter jedem der beiden Männer gerne seine Pflicht tun«.30 Die Führer der Labour-Partei – die in sämtlichen Gesprächen über eine Einheitsregierung am längeren Hebel saßen – mussten an jenem Abend zu ihrer Konferenz nach Bournemouth reisen. Angesichts des Zugeständnisses der Regierung, in einer neuen Administration prominente Posten mit Labour-Männern zu besetzen, bedeutete dies, dass nun eine rasche Entscheidung gefragt war.
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