9,99 €
Wer ermordet die schwächeren Magier und Magierinnen Chicagos? Der neunte dunkle Fall des Harry Dresden.
Mein Name ist Harry Blackstone Copperfield Dresden, und ich bin der mächtigste Magier Chicagos. Als solcher sehe ich es als meine Pflicht an, schwächere magische Talente zu beschützen. Besonders als irgendjemand – oder etwas – anfing, Jagd auf sie zu machen. Irgendwie war der Weiße Hof der Vampire in diesen Fall verstrickt. Aber warum sollten Gefühlssauger, die sich von Sex ernähren, Menschen ermorden? Wie wenig ich doch wusste …
Die dunklen Fälle des Harry Dresden: spannend, überraschend, mitreißend. Lassen Sie sich kein Abenteuer des besten Magiers von Chicago entgehen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 636
Buch
Mein Name ist Harry Blackstone Copperfield Dresden, und ich bin der mächtigste Magier Chicagos. Als solcher sehe ich es als meine Pflicht an, schwächere magische Talente zu beschützen. Besonders als irgendjemand – oder etwas – anfing, Jagd auf sie zu machen. Irgendwie war der Weiße Hof der Vampire in diesen Fall verstrickt. Aber warum sollten Gefühlssauger, die sich von Sex ernähren, Menschen ermorden? Wie wenig ich doch wusste …
Autor
Jim Butcher ist der Autor der Dresden Files, des Codex Alera und der Cinder-Spires-Serie. Sein Lebenslauf enthält eine lange Liste von Fähigkeiten, die vor ein paar Jahrhunderten nützlich waren – wie zum Beispiel Kampfsport –, und er spielt ziemlich schlecht Gitarre. Als begeisterter Gamer beschäftigt er sich mit Tabletop-Spielen in verschiedenen Systemen, einer Vielzahl von Videospielen auf PC und Konsole und LARPs, wann immer er Zeit dafür findet. Zurzeit lebt Jim in den Bergen außerhalb von Denver, Colorado.
Jim Butcher
WEISSE NÄCHTE
DIE DUNKLEN FÄLLE DES HARRY DRESDEN
Roman
Deutsch von Dominik Heinrici
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »White Night (The Dresden Files 9)« bei Penguin RoC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Jim ButcherPublished by Arrangement with IMAGINARY EMPIRE LLC
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas
Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Illustrationen: © www.buerosued.de
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30441-6V001
www.blanvalet.de
Für die jüngsten Mitglieder meiner Familie, Jesse und Dara
Für dieses Buch schulde ich, wie auch für den Rest der Reihe, den üblichen Verdächtigen Dank: den Insassen des Beta Foo Asylum, semper criticas; Dank auch an meine Agentin Jenn und meine Lektorin Anne; und ich danke dir, Shannon, mein Engel. Ihr alle habt mir weit mehr geholfen, als euch bewusst ist. Ja klar, gut, Shannon wahrscheinlich mehr als alle anderen. Aber trotzdem Dank an alle!
Viele Dinge sind nicht, wie sie scheinen, und die schlimmsten Dinge im Leben sind es erst recht nicht.
Ich lenkte meinen schlachtenerprobten, bunten alten Käfer in Richtung eines heruntergekommenen Wohngebäudes in Chicago, das keine fünf Blocks von meiner eigenen Kellermietwohnung entfernt war. Normalerweise geht es ganz schön hektisch zu, wenn mich die Cops erst einmal hinzuziehen: Es gibt mindestens eine Leiche, mehrere Autos, eine ganze Menge blinkender blauer Einsatzlichter, gelb-schwarzes Absperrband und Presseheinis – oder zumindest ist klar, dass die in naher Zukunft auf der Bildfläche erscheinen.
Dieser Tatort war völlig ruhig. Ich konnte keine Streifen- und nur einen einzigen Krankenwagen ausmachen, der mit abgeblendeten Lichtern dastand. Eine junge Mutter schlenderte an mir vorbei, einen Sprössling im Kinderwagen, während der andere unsicher an ihrer Hand an mir vorbeizuckelte. Ein älterer Herr führte seinen Labrador an meinem VW vorbei Gassi. Niemand gammelte einfach nur herum, um neugierig zu glotzen oder sonst irgendetwas Ungewöhnliches zu tun.
Verrückt.
Doch auch wenn es mitten an einem sonnigen Nachmittag im Mai war, kroch mir ein Schauer über den Rücken. Normalerweise verliere ich ja erst die Nerven, wenn ich irgendein Ding sehe, das einem Albtraum entsprungen sein mag und sich auf viel zu anschauliche Weise anschickt, etwas Mörderisches zu unternehmen.
Ich schob die Gänsehaut, die ich gerade bekam, auf die Paranoia, die mein fortgeschrittenes Alter mit sich bringt. Zugegeben, ich bin eigentlich nicht besonders alt, vor allem nicht für einen Magier, aber das Alter schreitet nun einmal unaufhaltsam voran, und ich hege den Verdacht, dass es nichts Gutes im Schilde führt.
Ich stieg aus dem Käfer und betrat den Wohnblock. Die Fliesen an den Wänden hätten dringend erneuert oder zumindest einmal ordentlich gewienert werden müssen.
Murphy wartete schon auf mich.
Sie ist knapp über eins fünfzig, bringt kaum fünfzig Kilo auf der Waage und wirkt nicht gerade wie ein zäher Cop aus Chicago, der mit Nerven aus Stahl Monster und Durchgeknallte in Grund und Boden starren kann. Knallharte Bräute wie sie sollten einfach keine Blondinen mit süßem Näschen sein. Manchmal beschleicht mich der Verdacht, Murphy ist einfach nur ein knallharter Cop geworden, um die Inkonsequenz des Universums zu beweisen – egal, wie himmelblau ihre Augen blitzen oder wie harmlos sie auf den ersten Blick erscheint, nichts kann den Stahl in ihrem Wesen verbergen. Sie bedachte mich mit einem Wir-arbeiten-hier-Nicken und einem knappen Gruß. »Dresden.«
»Lieutenant Murphy«, murmelte ich gedehnt und verbeugte mich mit ausgestrecktem Arm, völlig im Gegensatz zu ihrem schroffen Empfang. Ich tat das nicht im Mindesten, um die Inkonsequenz des Universums zu beweisen. So war ich nicht. »Ein weiteres Mal bin ich von Eurer Anwesenheit nahezu geblendet.«
Eigentlich hatte ich ein verächtliches Schnauben erwartet. Stattdessen warf sie mir ein gezwungenes, höfliches Lächeln zu und verbesserte mich sanft: »Sergeant Murphy.«
Fettnäpfchen auf, Fuß rein. Großartig, Harry! Die Anfangsmelodie dieses Falls war noch nicht einmal verklungen, und schon hatte ich Murphy daran erinnert, was es bedeutet, meine Freundin und Verbündete zu sein.
Murphy ist einst Detective Lieutenant der Sondereinheit der Polizei von Chicago gewesen. Die Sondereinheit ist die Antwort der Polizei auf alle Probleme, die man nicht mit ruhigem Gewissen in die Kategorie »normal« einreihen kann. Falls ein Vampir einen Durchreisenden abschlachtet, ein Ghul einen Nachtwächter auf dem Friedhof abmurkst oder eine Fee jemanden verflucht, worauf sein Haar nach innen statt außen zu wachsen beginnt, muss irgendjemand diesen Umtrieben auf den Grund gehen. Jemand muss sich der Sache annehmen und der Regierung und all den braven Bürgern da draußen versichern, die Welt gehe ihren geordneten, normalen Gang. Es ist ein undankbarer Job, aber die Sondereinheit verrichtet ihn durch Mut, Hartnäckigkeit, Gerissenheit und indem sie hin und wieder bei einem Magier namens Harry Dresden anklingelt, der ihr aus der Patsche helfen soll.
Murphys Vorgesetzte warfen ihr vor, sie hätte in einer Krisensituation ihre Pflicht vernachlässigt, dabei hatte sie mich in Wirklichkeit bei der Lösung des Falls tatkräftig unterstützt. Man hatte sie schon mit der Versetzung zur Sondereinheit ins berufliche Sibirien abgeschoben. Indem sie ihr auch noch Rang und Status genommen hatten, für die sie sich den Arsch abgearbeitet hatte, hatten sie Murphy erniedrigt und ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Stolz einen brutalen Tritt verpasst.
»Sergeant«, seufzte ich. »Tut mir leid, Murph. Ich hab’s vergessen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Sorge. Ich vergesse es auch manchmal. Meist, wenn ich einen Anruf beantworte.«
»Dennoch. Ich sollte nicht so dumm sein.«
»Das finden wir alle, Harry«, sagte Murphy und boxte mich spielerisch mit einer Faust gegen den Bizeps. »Niemand gibt dir die Schuld.«
»Das ist ein Zeichen wahrer Größe, Minnie Maus«, erwiderte ich.
Sie schnaubte und drückte den Knopf, um den Aufzug zu rufen. Auf dem Weg nach oben fragte ich: »Hier ist es um einiges ruhiger als an den meisten anderen Tatorten, oder irre ich mich?«
Sie schnitt eine Grimasse. »Das ist keiner.«
»Nicht?«
»Nicht wirklich«, sagte sie. »Nicht offiziell.«
»Aha«, antwortete ich. »Dann tippe ich mal darauf, dass ich genau genommen auch nicht in beratender Funktion hier bin?«
»Nicht offiziell«, sagte sie. »Sie haben Stallings Etat ganz schön fies gekürzt. Er schafft es gerade, unsere Ausrüstung einsatzbereit zu halten und uns pünktlich unsere Gehaltsschecks zu schicken. Na ja, gerade mal so, aber …«
Ich hob eine Braue.
»Ich brauche deine Meinung«, sagte sie.
»Worüber?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will dich nicht beeinflussen. Sieh es dir an, und dann erzähl mir, was du siehst.«
»Das bringe ich gerade noch fertig«, versicherte ich ihr.
»Ich werde dich privat bezahlen.«
»Murph, du musst mich nicht …«
Sie warf mir einen sehr ernsten Blick zu.
Murphys angeschlagener Stolz würde es nicht zulassen, Almosen anzunehmen. Ich gab nach und hob die Arme, um ihr zu zeigen, dass ich mich geschlagen gab. »Was immer Sie sagen, Boss.«
»So gehört sich das auch.«
Sie führte mich zu einer Wohnung im siebten Stock. Einige der Türen auf diesem Flur standen leicht offen, und aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Bewohner uns verstohlene Blicke nachwarfen, als wir an ihnen vorbeigingen. Am Ende des Flurs standen zwei Typen in der Aufmachung von Rettungssanitätern – teilnahmslose, miesepetrige Rettungssanitäter. Murphy und die beiden ignorierten einander, als Murph die Wohnungstür öffnete.
Sie bedeutete mir einzutreten und nahm dann eine lässige Position ein, die mir klarmachte, dass sie zu warten gedachte.
Ich betrat die Wohnung. Sie war klein, abgewohnt und ein wenig schäbig, aber sie war sauber. Ein Miniaturdschungel aus extrem gesunden Topfpflanzen nahm einen Großteil der gegenüberliegenden Wand ein und umrahmte die beiden Fenster. Von der Tür aus konnte ich einen winzigen Fernseher auf einem kleinen Tischchen, eine alte Stereoanlage und ein Sofa erblicken.
Die tote Frau lag auf dem Futon, die Hände über dem Bauch gefaltet. Die Leiche war schon völlig fahl und der Bauch leicht gebläht. Ich tippte darauf, dass sie spätestens am Vortag gestorben war. Es war schwer, ihr Alter zu schätzen, doch sie konnte nicht viel älter als dreißig gewesen sein. Sie trug einen pinken Frotteebademantel, eine Brille, und ihr Haar war zu einem Dutt zusammengefasst.
Auf dem Couchtischchen vor dem Futon lag das Fläschchen eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels, dessen Verschluss abgeschraubt war. Das Fläschchen war leer. Eine Karaffe mit einer goldbraunen Flüssigkeit, die man bereits auf Fingerabdrücke untersucht hatte, stand in einem verschlossenen Plastikbeutel daneben, ebenso ein Wasserglas mit einem letzten Rest Wasser in der Höhe von vielleicht einem halben Zentimeter, genug für ein oder zwei geschmolzene Eiswürfel.
Neben dem Wasserglas lag eine handgeschriebene Nachricht, die man zusammen mit einem Kugelschreiber ebenfalls eingetütet hatte.
Ich sah zu der Frau hinüber. Dann ging ich zum Futon und las die Nachricht:
Ich habe es satt, mich zu fürchten. Mir bleibt nichts mehr. Verzeiht mir.
Janine.
Ich schauderte.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich hatte schon früher die eine oder andere Leiche gesehen. Wenn man es genau nimmt, habe ich Tatorte zu Gesicht bekommen, die genauso gut Fotos aus dem Schlachthof der Hölle hätten sein können. Ich habe auch schon wahrlich Schlimmeres gerochen – ein ausgeweideter Körper gibt einen Gestank ab, der so ekelerregend ist, dass er fast greifbar erscheint. Wenn ich diesen Tatort mit einigen meiner früheren Fälle verglich, war er sogar verhältnismäßig friedlich. Gut organisiert. Ich würde so weit gehen, ihn säuberlich aufgeräumt zu nennen.
Das hier sah ganz und gar nicht aus wie das Zuhause einer toten Frau. Vielleicht war es gerade das, was es so unheimlich machte. Mit Ausnahme von Janines Leiche machte die Wohnung den Eindruck, als wäre ihre Eigentümerin nur schnell irgendwo hin geflitzt, um sich etwas zu essen zu besorgen.
Ich ging umher und gab mir alle Mühe, nur ja nichts zu berühren. Das Bad und das Gästezimmer machten auf mich denselben Eindruck wie das Wohnzimmer: sauber und ordentlich, ein wenig spärlich eingerichtet, nicht luxuriös, aber eindeutig bestens gepflegt. Als Nächstes sah ich mir die Küche an. Geschirr war in dem jetzt kalten Wasser in der Spüle eingeweicht. Im Kühlschrank stand Hühnchen in einer Marinade, und die Glasschüssel war fein säuberlich mit Frischhaltefolie versiegelt.
Ich hörte leise Schritte hinter mir und sagte: »Eine Selbstmörderin legt gewöhnlich keine Mahlzeit in Marinade ein, und das Geschirr, das hier zum Spülen eingeweicht ist … Außerdem behalten die doch auch für gewöhnlich ihre Brillen nicht auf.«
Murphy gab ein unverbindliches Schnaufen von sich.
»Nirgendwo Bilder«, sinnierte ich. »Keine Familienfotos, Schnappschüsse von einem Schulabschluss oder Bilder von der ganzen Bande in Disneyland.« Ich fügte dem Mosaik noch weitere Steinchen hinzu, als ich mich in Richtung des zweiten Schlafzimmers umwandte. »Keine Haare im Abfluss oder im Abfalleimer im Bad. Kein PC.«
Ich öffnete die Tür zum Schlafzimmer und schloss die Augen, um mit meinen Sinnen ein Gefühl für den Raum zu bekommen. Ich fand, was ich erwartet hatte.
»Sie war magisch begabt«, flüsterte ich.
Janine hatte ihren Altar auf einem niedrigen Holztisch an der östlichen Wand errichtet. Als ich mich näher herantastete, spürte ich eine subtile Energie wie die Hitze, die von einem Feuer aufsteigt, das fast vollständig zu Asche heruntergebrannt ist. Die Energie, die den Tisch umgab, war nie stark gewesen, und seit dem Tod der Frau verflüchtigte sie sich unablässig. Beim nächsten Sonnenaufgang würde sie komplett verschwunden sein.
Einige Gegenstände waren sorgsam auf dem Tischchen angeordnet, darunter eine Glocke und ein dickes ledergebundenes Buch, wahrscheinlich eine Art Tagebuch. Da war auch ein alter Zinnkelch, einfach, aber ohne die geringste Spur einer Patina, und ein schlanker Mahagonistab, an dessen Spitze mit Kupferdraht ein Kristall befestigt war.
Eines jedoch schien nicht an seinem angestammten Platz zu liegen.
Ein uralter Dolch, wahrscheinlich aus der Frührenaissance, als Misericordia oder Gnadgott bekannt, lag direkt vor dem Tischchen auf dem Teppich.
Ich ging durch den Raum zu dem Messer. Grübelnd kauerte ich mich nieder und ließ den Blick über die Klinge bis zum Heft des Dolches schweifen. Ich ging zur Schlafzimmertür zurück und spähte zum Wohnzimmer hinüber.
Das Heft des Dolches wies eindeutig in Janines Richtung.
Ich betrat erneut das Schlafzimmer und blickte auf die Messerspitze. Sie wies auf die gegenüberliegende Wand.
Ich warf Murphy, die nun in der Tür stand, einen kurzen Blick über die Schulter zu.
»Was hast du entdeckt?«, fragte sie.
»Bin noch nicht sicher. Warte ’ne Sekunde.« Ich schlenderte zur Wand hinüber, streckte die Hand aus, ließ die Handfläche jedoch einen guten Zentimeter davor verharren. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf den Nachhall von Energie, den ich dort vermutete. Nach einigen Augenblicken höchster Konzentration ließ ich die Hand sinken. »Irgendwas ist da«, sagte ich. »Aber es ist schon zu schwach, als dass ich es ohne meinen Magierblick ausmachen könnte, und der hängt mir allmählich wirklich zum Hals raus.«
»Was heißt das denn jetzt schon wieder?«, fragte mich Murphy.
»Das heißt, ich brauche ein paar Sachen. Bin gleich wieder da.«
Ich ging zu meinem Auto und schnappte mir meinen Angelkasten, um mich erneut auf den Weg hinauf ins Schlafzimmer der toten Frau zu machen.
»Das ist ja mal was Neues«, sagte Murphy.
Ich stellte den Kasten auf den Boden und öffnete ihn. »Ich habe meinem Lehrling Thaumaturgie beigebracht. Um der Sicherheit willen verziehen wir uns immer irgendwohin aufs Land.« Ich kramte im Kasten, bis ich schließlich eine Plastikröhre voller feinster Metallspäne hervorzog. »In den ersten paar Wochen habe ich den ganzen Kram einfach in ein paar Einkaufstüten geworfen, aber schließlich musste ich feststellen, dass es im Endeffekt einfacher ist, ein etwas dauerhafteres mobiles Magierset zusammenzustellen.«
»Was ist das denn?«, fragte Murphy.
»Kupferspäne«, sagte ich. »Die leiten Energie. Wenn wir hier irgendein Muster haben, kann ich es hiermit vielleicht ausmachen.«
»Ah. Du nimmst sozusagen Fingerabdrücke.«
»Das könnte man so sagen«, bestätigte ich.
Ich zog ein Kreidestück aus der Tasche meines Staubmantels und zeichnete einen schwachen Kreidekreis auf den Teppich. Als ich den Kreis vollendete, schloss ich ihn mit einiger Willensanstrengung. Ich konnte fühlen, wie er aktiv wurde, eine unsichtbare Wand aus purer Macht, die zufällige Energien, die in der Luft waberten, von mir abhalten und mir dabei helfen sollte, meine Magie zu bündeln. Dies war ein Zauberspruch, der einiges an Fingerspitzengefühl erforderte, zumindest in meinem Fall, und wenn ich ihn ohne einen Kreis versucht hätte, hätte ich genauso gut probieren können, ein Streichholz in einem Wirbelsturm anzuzünden.
Ich schloss die Augen, konzentrierte mich und ließ ein oder zwei Unzen Kupferspäne auf meine rechte Handfläche rieseln. Mit meinem Willen zwang ich einen Hauch von Energie in die Späne, gerade genug, um sie magisch aufzuladen, sodass die matten Energieströme an der Wand sie magnetisch anzogen. Als ich fertig war, murmelte ich: »Illumina Magnus.« Dann brach ich den Kreis, indem ich ihn mit dem Fuß verwischte. Das setzte den Zauber frei, und ich schleuderte die Metallspäne in die Luft vor mir.
Sie glitzerten in einem kleinen blauweißen Funkenregen auf und knisterten hörbar, als sie die Wand berührten und dort kleben blieben. Der Geruch von Ozon erfüllte die Luft.
Ich beugte mich vor und blies sanft auf die Wand, um widerspenstige Späne zu beseitigen, die von selbst haften geblieben waren. Dann trat ich zurück.
Die Kupferspäne hatten deutliche Umrisse angenommen – um genau zu sein, handelte es sich um Buchstaben und Zahlen:
EXODUS 22:17
Murphy runzelte die Stirn und starrte sie an. »Ein Bibelvers?«
»Ja.«
»Den kenn ich nicht«, gab sie zu. »Du?«
Ich nickte. »Das ist einer der wenigen, die mir im Kopf geblieben sind: ›Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen.‹«
»Also Mord«, sagte Murphy.
Ich schnaufte. »Sieht so aus.«
»Der Mörder wollte, dass du es herausfindest.« Sie kam zu mir herüber und blieb an meiner Seite stehen, um die Wand nachdenklich anzustarren. »Ein Cop hätte das nie und nimmer bemerkt.«
»Ja«, sagte ich. Die leere Wohnung knarrte, als das Gebäude in seinen Fundamenten arbeitete, heimelige Geräusche, die dem Opfer vertraut gewesen wären.
»Also, womit haben wir es hier zu tun? Irgendeiner Art von durchgeknalltem religiösem Fanatiker? Einem Fan der Hexenverbrennungen von Salem? Der wiederauferstandenen Inquisition?«
»Würden die Magie benutzen, um eine Botschaft zu hinterlassen?«, gab ich zu bedenken.
»Spinner können auch Heuchler sein.« Sie runzelte die Stirn. »Aber wie ist die Nachricht überhaupt dahingekommen? War dafür Magie vonnöten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nachdem der Mörder Janine umgebracht hat, musste er nur den Finger in ihren Kelch tauchen und mit dem Wasser auf die Wand schreiben. Das Wasser ist zwar getrocknet, aber Spuren sind zurückgeblieben.«
»Von Wasser?«
»Gesegnetes Wasser aus dem Kelch auf ihrem Schrein«, erklärte ich. »Stell es dir einfach wie Weihwasser vor. Es ist auf dieselbe Weise mit positiver Energie durchdrungen.«
Murphy betrachtete mit zusammengekniffenen Augen zuerst mich und dann die Wand. »Weihwasser? Ich dachte, bei Magie ginge es immer um Energie, Mathematik, Gleichungen und so Zeug. Wie bei Elektrizität oder Thermodynamik.«
»Nicht jeder denkt so.« Ich nickte zum Altar hinüber. »Das Opfer war eine Wicca.«
Murphy runzelte die Stirn. »Eine Hexe?«
»Sie war auch eine Hexe«, sagte ich. »Nicht jede Wicca hat auch die angeborene Kraft, Magie zu wirken. Bei einem Großteil ist kaum etwas von wahrer Macht bei deren Riten und Zeremonien im Spiel.«
»Warum machen sie das Zeug dann überhaupt?«
»Liebe Gemeinde, wir sind heute zusammengekommen, um diesen Mann und diese Frau durch den heiligen Bund der Ehe zu einen. In jeder Glaubensrichtung gibt es Zeremonien.«
»Dann ging es hier um eine religiöse Auseinandersetzung?«, schlussfolgerte Murphy.
Ich antwortete mit einem Schulterzucken. »Ernsthafte Wicca geraten nur selten mit anderen Religionen aneinander. Es gibt Glaubensgrundsätze, denen neunundneunzig Prozent der Wicca folgen, aber der Kern dieses Glaubens ist die individuelle Freiheit. Wicca sind der Meinung, dass man tun und lassen kann, was man will, und dass man seinen Glauben ausleben sollte, wie man es für richtig hält, solange man niemand anderem dabei Schaden zufügt. Also unterscheiden sich ihre jeweiligen religiösen Überzeugungen häufig leicht voneinander. Sie sind individueller.«
Murphy, die mehr oder weniger katholisch war, meinte: »Auch das Christentum sagt so einiges über Vergebung und Toleranz. Dass man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte.«
»Klar doch«, entgegnete ich, »und dann hatten wir da die Kreuzzüge, die Inquisition …«
»Genau darauf will ich hinaus«, unterbrach mich Murphy. »Egal, ob wir es mit Wicca oder dem Islam zu tun haben, jede Religion besteht im Endeffekt aus Menschen, also haben auch alle Religionen ihre Arschlöcher.«
»Ja, sogar der Ku-Klux-Klan zitiert gern die Bibel«, stimmte ich zu. »Das tun auch viele andere reaktionäre Organisationen. Auch wenn sie die jeweiligen Textstellen meist aus dem Kontext reißen.« Ich wies auf die Wand. »Wie hier.«
»Also, ich weiß nicht … ›Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen.‹ Für mich ist das verdammt eindeutig.«
»Allerdings solltest du bedenken, dass diese Stelle in demselben Buch der Bibel steht, das auch die Todesstrafe für Kinder fordert, die ihre Eltern verfluchen, für die Besitzer von Ochsen, die durch Fahrlässigkeit jemanden verletzen, für alle, die an einem Sonntag ein Feuer schüren, und für jeden, der Sex mit einem Tier hat. Du darfst auch nicht vergessen, dass der Originaltext vor Jahrtausenden entstand, und zwar auf Hebräisch. Das Wort im ursprünglichen Vers beschreibt jemanden, der zaubert, um jemandem zu schaden. In der damaligen Kultur gab es einen eindeutigen Unterschied zwischen schädlicher und nutzbringender Magie.«
»Ach«, staunte Murphy. »Ich dachte, in der Bibel ist Zauberei grundsätzlich etwas Schlechtes.«
»Nein, erst im Mittelalter hat sich die Einstellung des christlichen Glaubens dahingehend geändert, dass jeder, der Magie ausübte, von Grund auf böse wäre. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Weißer und Schwarzer Magie, und als der Vers ins Englische übertragen wurde, hatte König James gerade einen ganz schönen Hexenfetisch, also wurde in der Übersetzung aus einem ›Wirker schädlicher Zauber‹ die ›Hexe‹.«
»Ja, so betrachtet hört es sich ganz danach an, als habe jemand den Vers aus dem Kontext gerissen«, stimmte Murphy zu. »Aber das würde dir verdammt viel Streit mit allen möglichen Leuten einbringen, die darauf bestehen, dass die Bibel nicht irren kann und man sie wortwörtlich verstehen muss, weil Gott nicht zulassen würde, dass sich solche Fehler in die Heilige Schrift einschleichen.«
»Ich dachte, Gott hätte allen Menschen den freien Willen geschenkt«, entgegnete ich. »Was letztlich – und erwiesenermaßen – die Freiheit mit einschließt, bei der Übersetzung von einer in eine andere Sprache Fehler zu begehen.«
»Jetzt hör endlich auf, meinen Glauben in Zweifel zu ziehen«, forderte Murphy nicht ganz ernst.
Ich grinste. »Siehst du? Genau deshalb bin ich nicht religiös. Ich könnte nie lange genug die Klappe halten, um mit all meinen Brüdern und Schwestern gut auszukommen.«
»Ich dachte, das liegt daran, dass du niemals eine Religionsgemeinschaft für voll nehmen könntest, die dich freiwillig aufnimmt.«
»Das auch«, gab ich zu.
Wir schwiegen kurz. Die Dielen knarzten.
Schließlich wurde Murphy wieder ernst. »Mord«, sagte sie und starrte die Wand an. »Vielleicht jemand auf einem Kreuzzug.«
»Es ist zu früh, darüber Spekulationen anzustellen. Warum hast du mich gerufen?«
»Wegen des Altars.«
»Niemand wird einen magischen Schriftzug an der Wand als Beweisstück akzeptieren.«
»Das ist mir bewusst. Offiziell wird sie in den Akten als Selbstmörderin geführt werden.«
»Was bedeutet, dass sich der Ball in meiner Hälfte befindet«, schlussfolgerte ich.
»Ich habe mit Stallings gesprochen und nehme ab morgen ein paar Tage Urlaub. Ich bin dabei.«
Ich runzelte die Stirn. »Das ist nicht der einzige Selbstmord, hab ich recht?«
»Im Augenblick bin ich noch im Dienst«, erklärte Murphy, »darum darf ich mit dir nicht darüber reden. Ich bin ja nicht Butters.«
»Verstanden«, antwortete ich.
Ohne Vorwarnung fuhr Murphy plötzlich herum, so schnell, dass ihr mein Blick kaum folgen konnte. Sie vollführte mit ihrem Bein in Knöchelhöhe einen Bogen hinter sich, wie eine Sense, die durch Gras schneidet.
Ich hörte einen dumpfen Schlag, danach das Geräusch von etwas Schwerem, das zu Boden krachte. Murphy hechtete sich auf etwas, das ich nicht sehen konnte, ihre Hände bewegten sich in hektischen kleinen Kreisen, dann schnappten sie zu. Sie schnaufte, versteifte die Arme und verdrehte leicht ihre Schultern.
Eine junge Frauenstimme keuchte schmerzerfüllt auf, und von einem Augenblick auf den nächsten erschien unter Murphy ein Mädchen.
Murphy hatte sie bäuchlings auf den Boden genagelt, wobei sie einen ihrer Arme hinter ihrem Rücken in einem schmerzhaften Hebel hielt.
Das Mädchen stand an der Schwelle zur Frau. Es trug Kampfstiefel, eine schwarze Hose im Army-Look und ein T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln. Sie war groß, gut einen Kopf größer als Murphy, und gebaut wie eine Amazone. Ihr wasserstoffblondes Haar war zu einer kurzen Stachelfrisur gestutzt. Eine Tätowierung an ihrem Hals verschwand unter ihrem Shirt und setzte sich auf dem sichtbaren Teil ihres nun entblößten Bauchs fort, nur um dann erneut unter ihrer Kampfhose zu verschwinden. Sie trug mehrere Ohrringe, einen Nasenring, einen Ring durch die Augenbraue und einen Silberstecker unter der Unterlippe. An der Hand, die Murphy hinter ihrem Rücken verdreht hielt, baumelte ein Armband mit schwarzen Glasperlen.
»Harry?«, stieß Murphy in einem Tonfall hervor, der keine Zweifel offenließ, dass ich um eine Erklärung nicht herumkommen würde, auch wenn sie sich noch so gesittet und geduldig gab.
Ich seufzte. »Murph. Du erinnerst dich an meinen Lehrling Molly Carpenter?«
Murphy beugte sich leicht zur Seite, um das Profil des Mädchens genauer unter die Lupe zu nehmen. »Klar«, bestätigte sie. »Ich hab sie bloß ohne ihr rosa-blaues Haar nicht sofort erkannt. Außerdem war sie das letzte Mal nicht unsichtbar.« Sie warf mir einen fragenden Blick zu, um zu erfahren, ob sie Molly gestatten sollte aufzustehen.
Ich zwinkerte Murphy zu und hockte mich neben dem Mädchen auf den Teppich, um Molly mit meinem exquisitesten finsteren Gesichtsausdruck zu bedenken. »Ich habe dir eigentlich aufgetragen, in der Wohnung zu warten und ein wenig deine Konzentration zu üben.«
»Das ist völlig unmöglich und tierisch langweilig.«
»Übung macht den Meister, Kleine.«
»Ich hab mir doch schon den Arsch abgeübt!«, protestierte Molly. »Ich kann mindestens fünfzig Mal so viel wie letztes Jahr.«
»Wenn du die nächsten fünf bis sechs Jahre so weitermachst«, knurrte ich, »bist du vielleicht – vielleicht – so weit, dass du versuchen kannst, dich allein durchzuschlagen. Bis es so weit ist, bist du der Lehrling, ich bin der Lehrer, und du tust gefälligst, was ich dir sage.«
»Aber ich kann dir helfen!«
»Aus einer Gefängniszelle nicht«, gab ich zu bedenken.
»Sie haben widerrechtlich einen Tatort betreten«, klärte Murphy sie auf.
»O bitte«, sagte Molly voller Aufmüpfigkeit und Verachtung. (Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, Molly hat ein Problem mit Autorität.)
Das war höchstwahrscheinlich das Schlimmste, was sie in dieser Situation hatte sagen können.
»Gut«, sagte Murphy, zog ein Paar Handschellen aus ihrer Jackentasche und ließ sie um Mollys Handgelenk zuschnappen. »Sie haben das Recht, zu schweigen.«
Mollys Augen weiteten sich, und sie starrte zu mir empor. »Was? Harry …«
»Sollten Sie auf dieses Recht verzichten«, fuhr Murphy fort, die das wie ein lange eingeübtes Ritual herunterbetete, »kann alles, was Sie ab jetzt sagen, später vor Gericht gegen Sie verwendet werden.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, Kleines. Das ist das wirkliche Leben. Aber sieh’s positiv, deine Jugendstrafakte ist geschlossen, also wirst du wie eine Erwachsene behandelt. Erstvergehen. Ich bezweifle, dass du länger sitzen wirst als … Murph?«
Murphy hielt in ihrem Miranda-Mantra inne. »Vielleicht dreißig bis sechzig Tage.« Dann fing sie wieder an.
»Na bitte, siehst du? Ist doch keine große Sache. Wir sehen uns in ein bis zwei Monaten.«
Molly wurde bleich. »Aber … aber …«
»Oh«, fügte ich noch hinzu, »achte darauf, dass du an deinem ersten Tag jemanden verprügelst. Angeblich erspart dir das jede Menge Scherereien.«
Murphy zog Molly hoch. »Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«
Mollys Mund klappte auf. Ihr Blick pendelte zwischen Murphy und mir hin und her, und ihre Züge waren in Entsetzen eingefroren.
»Oder«, schlug ich vor, »du könntest dich entschuldigen.«
»Tut … tut mir leid, Harry«, sagte sie.
Ich seufzte. »Nicht bei mir, Kleines. Das ist nicht mein Tatort.«
»Aber …« Molly schluckte und sah Murphy an. »Ich habe doch nur da g-gestanden.«
»Tragen Sie Handschuhe?«, fragte Murphy.
»Nein.«
»Schuhe?«
»Ja.«
»Was angefasst?«
»Ähm.« Molly schluckte nochmals. »Die Tür. Hab sie einfach ein wenig aufgedrückt. Diese chinesische Vase, in der sie ihre Minze gepflanzt hat. Die mit dem Sprung.«
»Was wiederum bedeutet«, meinte Murphy ungerührt, »dass bei einer gründlichen forensischen Untersuchung Ihre Fingerabdrücke, Abdrücke Ihrer Schuhe und, wenn ich mir ansehe, wie spröde Ihr Haargel ist, wahrscheinlich auch abgebrochene Haare auftauchen werden, wenn ich beweisen kann, dass wir es hier mit einem Mord zu tun haben. Da Sie weder eine mit der Untersuchung betraute Polizeibeamtin noch eine offizielle Beraterin sind, werden diese Beweismittel so ausgelegt, dass Sie sich an einem Tatort befunden haben, und das wiederum würde Sie in eine Mordermittlung hineinziehen.«
Molly schüttelte verzagt den Kopf. »Aber Sie haben doch gerade gesagt, dass es sich hier offiziell um einen Selbstmord handelt …«
»Selbst wenn das so ist, sind Sie nicht so mit dem Polizeiprotokoll vertraut wie etwa Harry. Allein Ihre Anwesenheit kann den Tatort verunreinigen und wertvolle Beweismittel vernichten, die uns zum wahren Mörder führen könnten. Wodurch es schwerer wird, diesen aufzustöbern, ehe er erneut zuschlägt.«
Molly starrte sie einfach nur bestürzt an.
»Aus genau diesem Grund gibt es Gesetze, was Zivilisten und Tatorte betrifft. Das hier ist kein Spiel, Miss Carpenter«, sagte Murphy kühl, auch wenn sie nicht wirklich wütend war. »Was Sie hier treiben, könnte Menschenleben kosten. Verstehen Sie?«
Molly blickte erneut panisch zwischen Murphy und mir hin und her, und ihre Schultern sackten nach unten. »Ich wollte nicht … Es tut mir leid.«
»Entschuldigungen bringen die Toten nicht wieder ins Leben zurück«, sagte ich sanft. »Du hast immer noch nicht gelernt, die Konsequenzen deiner Taten abzuschätzen, und das kannst du dir nicht leisten. Nicht mehr.«
Molly zuckte unmerklich zusammen und nickte.
»Ich vertraue darauf, dass das hier nie wieder passieren wird«, sagte Murphy.
»Nein, Ma’am.«
Murphy bedachte Molly mit einem zweifelnden Blick und linste dann zu mir herüber.
»Sie meint es gut«, versicherte ich ihr. »Sie wollte nur helfen.«
Molly warf mir einen dankbaren Blick zu.
Murphys Tonfall wurde gutmütiger, als sie ihr die Handschellen abnahm. »Tun wir das nicht alle?«
Molly rieb sich die Handgelenke und verzog das Gesicht. »Ähm … Sergeant? Woher haben Sie gewusst, dass ich da war?«
»Knarrende Dielen, ohne dass jemand darauf steht«, sagte ich.
»Ihr Deo«, ergänzte Murphy.
»Du hast dein Zungenpiercing einmal gegen deine Zähne geschlagen«, sagte ich.
»Ich spürte eine leichte Luftbewegung, die sich nicht wie ein Luftzug anfühlte«, vervollständigte Murphy unsere Liste.
Molly schluckte und errötete. »Oh.«
»Aber wir haben dich nicht gesehen, oder, Murph?«
Murphy schüttelte den Kopf. »Nicht mal ein bisschen.«
Ein wenig die Luft aus dem Ego zu lassen und eine Prise Erniedrigung sind gut für Lehrlinge. Meiner seufzte erbärmlich.
»Nun«, sagte ich, »da du schon einmal da bist, kannst du auch genauso gut mitkommen.« Ich nickte Murphy zu und wandte mich zum Gehen.
»Wohin?«, erkundigte sich Molly. Die beiden gelangweilten Sanis blinzelten und sahen verdutzt aus der Wäsche, als Molly mir aus der Wohnung folgte. Murphy trat hinter uns auf den Flur und wies die beiden an, den Leichnam fortzuschaffen.
»Wir statten einem Freund einen Besuch ab«, sagte ich. »Stehst du auf Polka?«
Ich war seit diesem Nekromanten-Überfall zwei Jahre zuvor nicht mehr in dem forensischen Institut an der West Harrison gewesen. Das Gelände hatte nichts Gruseliges an sich, wenn man nicht daran dachte, dass hier die Reste menschlicher Wesen in diversen Untersuchungen zerpflückt wurden. Es handelte sich um einen kleinen Industriepark mit grünen Rasenflächen, ordentlich gestutzten Büschen und frisch gezogenen weißen Linien zwischen den einzelnen Parkplätzen. Die Gebäude selbst waren unaufdringlich und zweckmäßig, ja fast schon ansprechend.
Dennoch war es einer der Orte, die immer wieder als Kulisse für meine Albträume dienen. Ein Mann, den ich gekannt hatte, war hier in ein magisches Kreuzfeuer geraten und als eine Art Superzombie wiederauferstanden, der mein Auto mit bloßen Händen fast in seine Einzelteile zerlegt hätte.
Seit damals war ich nicht mehr hier gewesen. Ich hatte Besseres zu tun, als Gedenkausflüge an Stätten wie diese zu machen. Aber als ich eintraf, den Wagen abstellte, ausstieg und auf die Eingangstür zuhielt, war es nicht so schlimm, wie ich es mir ausgemalt hatte, und so betrat ich das Gebäude ohne Zögern.
Es war Mollys erster Besuch hier. Auf meine Bitte hin hatte sie sich all ihres Gesichtsschmuckes entledigt und eine alte Baseballkappe der Cubs über die wasserstoffblonden Locken gestülpt. Auch so machte sie nicht gerade den Eindruck einer respektablen Geschäftsfrau, ich muss allerdings zugeben, dass mich mein eigenes Outfit auch nicht gerade vor Seriosität strotzen ließ. Der schwere Staubmantel jedenfalls ließ mich bei dem viel zu warmen Wetter wahrscheinlich ganz schön bizarr wirken.
Der Wachmann, der am Empfangspult saß, an dem Phil damals gestorben war, erwartete mich, Molly aber nicht. Er erklärte mir, dass sie ein wenig würde warten müssen, und ich erwiderte, dass auch ich so lange warten würde, bis Butters ihre Zugangsberechtigung bestätigte. Der Wachmann warf mir einen giftigen Blick zu, denn immerhin hatte ich ihn zu der monumentalen Anstrengung gezwungen, eine Nummer in sein Telefon zu tippen. Er knurrte in den Hörer, grunzte einige Male, dann betätigte er einen Schalter. Daraufhin öffnete sich surrend die Sicherheitstür, und Molly und ich gingen hindurch.
Im Leichenschauhaus befanden sich mehrere Untersuchungssäle, doch es war nie besonders schwer herauszufinden, in welchem sich Butters gerade befand. Man sperrte einfach die Ohren auf und lauschte nach Polka.
Ich hielt zielsicher auf ein beständiges Humpa-humpa einer Tuba zu und vernahm dann auch eine verzerrte Klarinette und das Gequietsche eines Akkordeons. Untersuchungssaal drei. Ich klopfte an, öffnete die Tür, trat jedoch nicht ein.
Waldo Butters war tief über seinen Schreibtisch gebeugt und starrte auf seinen Computermonitor, während sein Hintern und seine Beine im Takt der Polkamusik hüpften. Er murmelte etwas, nickte und tippte im Rhythmus seines stampfenden Absatzes mit dem Ellenbogen auf die Leertaste, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. »He, Harry.«
Ich blinzelte. »Ist das ›Bohemian Rhapsody‹?«
»Yankovic«, erwiderte Butters. »Der Mann ist ein Genie. Gib mir ’ne Sekunde, hier alles herunterzufahren, bevor du reinkommst.«
»Kein Problem.«
»Du hast schon mal mit ihm zusammengearbeitet?«, fragte mich Molly leise.
»Mhm«, erwiderte ich bestätigend. »Er ist im Bilde.«
Butters wartete, bis sein Drucker zu knattern begann, schaltete dann den Rechner aus, ging zum Drucker, schnappte sich ein paar Seiten und tackerte sie zusammen. Dann ließ er sie auf einen Papierstapel fallen und verpackte diesen mit einem riesigen Gummiband. »Gut, das sollte reichen.« Er wandte sich mir mit einem breiten Grinsen zu.
Butters ist ein absonderlicher Kauz. Er ist nicht viel größer als Murphy, doch die ist vermutlich um einiges muskulöser. Das schwarze Haar auf seinem Kopf sieht aus wie das Ergebnis einer Explosion in einem Stahlwollewerk, er hat ein hageres, kantiges Gesicht, aus dem eine Hakennase ragt, und seine Augen blitzen hell hinter den dicken Gläsern seiner Krankenkassenbrille.
»Harry«, sagte er und streckte mir die Hand hin, »lange nicht gesehen. Wie geht’s der Hand?«
Ich erwiderte den Händedruck. Butters hatte lange, gelenkige Finger, die nicht im Mindesten kraftlos waren. Höchstwahrscheinlich hätte ihn niemand für gefährlich gehalten, aber der winzige Kerl hatte Mumm und Grips. »He, nicht so schlecht.« Ich hielt meine behandschuhte Linke hoch und wackelte mit allen Fingern. Mein Ring- und mein kleiner Finger zuckten nur schwach, doch bei Gott, sie bewegten sich, wenn ich es ihnen befahl.
Meine linke Hand war während eines Kampfes mit einer Schar Vampire verbrannt worden und das Fleisch regelrecht geschmolzen. Die Ärzte waren geradezu bestürzt gewesen, dass nicht die Notwendigkeit einer Amputation bestand, doch sie hatten mir versichert, dass ich sie nie wieder würde benutzen können. Butters aber hatte mich unter seine Fittiche genommen und mir ein striktes Physiotherapieprogramm auferlegt, und meine Finger funktionierten wieder ganz gut, auch wenn meine Hand immer noch furchtbar aussah. Doch selbst das hatte sich geändert, zumindest ein wenig. Die hässlichen Klümpchen aus Fleisch und Narbengewebe hatten sich etwas zurückgebildet, wodurch meine Hand um einiges weniger wie ein geschmolzenes Wachsmodell aussah als noch vor einiger Zeit. Auch die Nägel hatten wieder zu wachsen begonnen.
»Gut«, sagte Butters. »Gut. Spielst du noch Gitarre?«
»Ich halte sie, und sie macht Lärm. Ich glaube, wir gehen ein wenig zu weit, wenn wir sagen, ich würde Gitarre spielen.« Ich wies auf Molly. »Waldo Butters, das ist Molly Carpenter, mein Lehrling.«
»Lehrling, hm?« Butters hielt ihr freundschaftlich die Hand hin. »Erfreut, deine Bekanntschaft zu machen«, sagte er. »Na, verwandelt er dich auch in Eichhörnchen und Fische und so wie in ›Die Hexe und der Zauberer‹?«
Molly seufzte. »Schön wär’s. Ich gebe mein Bestes, ihn so weit zu bringen, dass er mir endlich zeigt, wie ich mich verwandeln kann, aber das tut er nicht.«
»Ich hab deinen Eltern versprochen, nicht zuzulassen, dass du dich in eine Schleimpfütze auflöst«, entgegnete ich. »Butters, ich nehme an, jemand – und ich werde jetzt keine Namen nennen – hat dich informiert, dass ich vorbeischauen werde?«
»Jawoll«, bestätigte der kleine Mediziner nickend. Er hob einen Finger, schlich zur Tür und schloss sie, ehe er sich mit dem Rücken dagegen lehnte. »Sieh mal, Dresden, ich muss vorsichtig sein, welche Informationen ich weitergebe. Das ist einfach eine Seite meiner Arbeit.«
»Klar.«
»Also hast du es nicht von mir.«
Ich sah Molly an. »Hast du was gehört?«
»In Ordnung.« Butters kam wieder zu mir herüber und hielt mir das Bündel Papier hin. »Namen und Adressen der Verstorbenen«, erklärte er.
»Opfer?«
»Offiziell reden wir von Verstorbenen.« Er verzog den Mund. »Aber ja, ich bin verdammt sicher, dass es sich um Opfer handelt.«
»Warum?«
Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und runzelte die Stirn. »Hast du je etwas nur aus dem Augenwinkel ausmachen können, aber sobald du genau hingeschaut hast, war es weg? Oder zumindest hast du etwas ganz anderes gesehen, als du zunächst zu sehen gedacht hast?«
»Klar.«
»Hier ist es auch so«, behauptete er. »Die meisten dieser Fälle sehen eindeutig wie klassische Selbstmorde aus. Nur dass immer einige klitzekleine Einzelheiten nicht passen. Verstehst du?«
»Nein«, sagte ich. »Bitte erleuchte mich.«
»Nimm gleich die Oberste«, schlug er vor. »Pauline Moskowitz. Neununddreißig, zweifache Mutter, verheiratet, zwei Hunde. Sie verschwindet Freitagabend und schlitzt sich in einem Hotel so um drei Uhr früh in der Nacht auf Samstag die Pulsadern auf.«
Ich überflog das Dokument. »Sehe ich das hier richtig? Sie nahm Antidepressiva?«
»Aber kein starkes Mittel. Sie war seit acht Jahren auf Medikamenten und stabil. Sie hatte zuvor noch nie Selbstmordabsichten geäußert.«
Ich blickte auf das grauenhafte Foto einer extrem alltäglich aussehenden Frau, die splitternackt und tot in einer trüben Flüssigkeit in einer Badewanne lag. »Was ist dir bei diesem Fall so ein Dorn im Auge?«
»Die Schnitte«, erklärte Butters. »Sie hat ein Paketmesser benutzt. Man fand es bei ihr in der Wanne. Sie hat sich nicht nur die Pulsadern aufgeschlitzt, sondern dabei die Sehnen in beiden Handgelenken durchtrennt.«
»Na und?«
»Na und?«, sagte Butters. »Nachdem sie sich die Sehnen in einem Handgelenk durchgesäbelt hatte, kann sie nur noch minimale Kontrolle über die Finger in dieser Hand gehabt haben. Wie also hat sie es fertiggebracht, sich alle beiden Pulsadern aufzuschlitzen? Hat sie etwa zwei Paketmesser gleichzeitig benutzt? Wo ist dann das zweite?«
»Vielleicht hat sie es im Mund gehalten«, mutmaßte ich.
»Wenn ich das nächste Mal angeln gehe, mache ich einfach die Augen zu, werfe einen Stein und treffe einen Fisch, der gerade an die Oberfläche kommt«, ätzte Butters. »Technisch wäre es möglich, aber es ist ganz schön unwahrscheinlich. Sie hätte die zweite Wunde nie und nimmer so tief und sauber hingekriegt. Diese beiden Schnitte jedoch waren fast identisch.«
Ich runzelte die Stirn. »Was meint Brioche?«
Als ich seinen Boss erwähnte, verzog Butters das Gesicht. »Ockhams Rasiermesser, um seine unglaublich pietätlosen Worte zu verwenden, die wahrscheinlich sarkastisch sein sollen. Das waren alles Selbstmörder, Ende der Diskussion.«
»Aber du meinst, jemand anders hat das Messer geführt.«
Ein düsterer Schatten zog über das Gesicht des kleinen Mediziners, und er nickte, ohne ein Wort zu sagen.
»Das reicht mir«, sagte ich. »Was ist mit der Leiche von heute?«
»Kann nichts Näheres sagen, bis ich einen Blick auf sie geworfen habe.« Butters warf mir einen listigen Blick zu. »Aber du glaubst, es handle sich um einen weiteren Mord, richtig?«
»Ich weiß es«, korrigierte ich ihn. »Aber ich bin der Einzige, bis Murphy Feierabend hat.«
»Klar«, seufzte Butters.
Ich blätterte zur nächsten Serie widerlicher Fotos weiter. Auch eine Frau. Auf den Seiten fand ich ihren Namen, Maria Casselli. Maria war dreiundzwanzig Jahre alt geworden und hatte dreißig Valium mit einer Flasche Abflussreiniger hinuntergespült.
»Wieder ein Hotelzimmer«, bemerkte ich.
Molly blickte mir über Schulter, wurde ganz bleich, als sie den Ausdruck des Tatortfotos sah, und taumelte einige Schritte zurück.
»Ja«, sagte Butters, der meinen Lehrling besorgt betrachtete, »das ist schon ein wenig bizarr. Die meisten Freitode geschehen zu Hause. Generell verlassen Selbstmörder nur dann ihr Heim, wenn sie sich von einer Brücke stürzen oder mit dem Auto in einen See fahren wollen oder so.«
»Mrs. Casselli hatte Familie«, fuhr ich fort. »Ehemann, ihre jüngere Schwester wohnte auch bei ihr.«
Butters nickte. »Du kannst dir wahrscheinlich schon denken, was Brioche sagte.«
»Sie hat ihren Gatten und ihre kleine Schwester im Bett erwischt und wollte dem allen ein Ende setzen.«
»Mhm.«
»Öhm«, meldete sich Molly zu Wort, »ich glaube …«
»Draußen«, erklärte Butters hilfsbereit, während er die Tür aufschloss. »Die erste Tür rechts.«
Molly eilte aus dem Raum hinüber zu der Toilette, zu der Butters sie geschickt hatte.
»Jesus, Harry«, sagte er dann. »Ist die Kleine nicht zu jung für das hier?«
Ich hielt das Foto von Marias Leiche hoch. »So was passiert in letzter Zeit ziemlich häufig, richtig?«
»Ist sie wirklich Magierin? Wie du?«
»Eines Tages wird sie es sein«, sagte ich. »Falls sie bis dahin überlebt.« Ich überflog die nächsten beiden Fälle, beides Frauen um die zwanzig. Beides klare Selbstmorde. Beide hatten mit jemandem zusammengewohnt.
Der letzte Fall aber war anders. Ich las ihn erneut und schielte dann Butters an. »Was ist mit dem?«
»Der passt ins generelle Muster«, sagte Butters. »Frau, tot im Hotelzimmer.«
Ich starrte nachdenklich auf die Seiten. »Todesursache?«
»Das ist der springende Punkt«, gab Butters zu. »Ich konnte keine finden.«
Ich hob die Brauen.
Er breitete die Arme aus. »Harry, ich beherrsche mein Handwerk, und ich gehe den Dingen immer gewissenhaft auf den Grund. Aber ich hab nicht die leiseste Ahnung, warum diese Frau tot ist. Jeder Test war negativ. Jede Theorie, die ich aufgestellt habe, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Vom rein medizinischen Standpunkt aus ist sie in toller Verfassung. Es ist einfach so … als wäre ihr gesamtes System von einem Augenblick auf den nächsten einfach heruntergefahren. Alles gleichzeitig. Ich hab noch nie so was gesehen.«
»Jessica Blanche.« Ich überflog die Angaben. »Neunzehn, aber kein Selbstmord.«
»Wie gesagt: tot in einem Hotelzimmer.«
»Was ist die Verbindung zu den anderen Toden?«
»Kleinigkeiten wie«, sagte Butters, »dass sie eine Handtasche mit Personalausweis darin bei sich hatte, jedoch keine Kleidung.«
»Was wiederum bedeutet, dass die jemand fortgeschafft hat.«
Die Tür öffnete sich, und Molly kam wieder herein. Sie wischte sich den Mund mit einem Papiertuch ab.
»Ist das Mädchen immer noch hier?«, fragte ich Butters. »Ich meine, ihre Leiche?«
»Die von Miss Blanche?« Butters hob die Brauen. »Ja. Warum?«
»Ich glaube, Molly könnte uns weiterhelfen.«
Sie blinzelte und sah zu mir auf. »Äh … was?«
»Ich wage zu bezweifeln, dass es eine angenehme Erfahrung sein wird«, warnte ich sie vor, »aber vielleicht kannst du etwas auffangen.«
»Von einem toten Mädchen?«, fragte Molly leise.
»Du wolltest unbedingt mitkommen«, erinnerte ich sie.
Sie runzelte die Stirn, sah mir ins Gesicht und holte dann tief Luft. »Ja … äh … ja, wollte ich. Ich meine … ja, ich werde es tun. Es versuchen.«
»Ja?«, fragte ich. »Bist du sicher? Das wird alles andere als spaßig. Aber wenn wir dadurch weitere Informationen erhalten, könnte das Leben retten.«
Ich musterte sie einen Moment, bis sich ihre Züge entschlossen erhärteten und sie mir in die Augen sah. Sie straffte ihre Haltung und nickte. »Ja.«
»Gut«, sagte ich. »Bereite dich vor. Butters, wir müssen ihr ein paar Minuten Zeit lassen. Können wir derweil Miss Blanche holen?«
»Äh …«, sagte Butters. »Was genau wird hier denn jetzt geschehen?«
»Nicht viel. Ich werde es dir unterwegs erklären.«
Er knabberte an seiner Unterlippe und nickte schließlich. »Hier lang.«
Butters führte mich den Gang hinunter zum Lagerraum. Auch hier handelte es sich um einen Untersuchungssaal wie den, den wir gerade hinter uns gelassen hatten, mit dem Unterschied, dass in einer Wand menschengroße Kühlfächer eingelassen waren, die dazu dienten, den Verwesungsprozess der Leichen, die darin lagen, zu verlangsamen.
Butters schnappte sich eine fahrbare Trage, studierte ein medizinisches Datenblatt auf einem Klemmbrett und karrte die Trage zu der Wand mit den Fächern.
»Hier, komm her«, forderte er mich auf. »Ich brauch deine Hilfe.«
Ich wollte nicht. Klar, ich bin Magier, aber Leichen sind grundsätzlich nicht mein Ding, selbst wenn sie nicht herumlaufen und mir an die Gurgel wollen.
Doch dann tat ich einfach so, als würde ich einen Wocheneinkauf Lebensmittel in einen Einkaufswagen hieven, als ich Butters half, den Leichnam, der, mit einem weißen Tuch bedeckt, auf einer Unterlage aus Metall lag, auf die fahrbare Trage zu ziehen.
»Also«, sagte er, »was wird sie tun?«
»Sie wird ihr in die Augen sehen«, antwortete ich.
Er bedachte mich mit einem ungläubigen Blick. »Um zu versuchen, den letzten Eindruck auf ihrer Retina zu entdecken oder so? Du bist dir schon bewusst, dass das verdammt mythisch ist, oder?«
»Es bleiben auch andere Eindrücke an einem Körper zurück«, erläuterte ich. »Ab und zu letzte Gedanken. Gemütsbewegungen, Sinneseindrücke.« Ich schüttelte den Kopf. »Technisch gesehen können solche Eindrücke an so ziemlich allen unbelebten Gegenständen haften bleiben. Hast du je von bestimmten Theorien in der Psychometrie gehört, denen zufolge man aus Objekten lesen kann?«
»Das funktioniert?«, staunte er.
»Ja. Aber es ist äußerst knifflig. Außerdem kann man das Objekt höllisch schnell verunreinigen. Davon einmal abgesehen ist es verdammt schwer, das überhaupt hinzubekommen.«
»Oh«, sagte Butters, »aber du glaubst, dass vielleicht etwas an der Leiche haften geblieben ist.«
»Vielleicht.«
»Das wäre echt hilfreich.«
»Eventuell.«
»Wie kommt es, dass du das nicht die ganze Zeit machst?«, wollte er wissen.
»Das erfordert ganz schön viel Fingerspitzengefühl«, gestand ich, »und das ist leider nicht eine meiner stärksten Eigenschaften.«
Er runzelte die Stirn. »Aber dein halb ausgebildeter Lehrling ist gut in so was?«
»Es gibt keine klaren Normen für das Magierhandwerk. Jeder Magier fühlt sich zu gewissen Zweigen der Magie eher hingezogen als zu anderen, da jeder verschiedene angeborene Talente hat.«
»Und was sind deine?«, fragte er.
»Dinge finden, Dingen folgen und vor allem, Dinge in die Luft jagen«, gab ich zu. »Das kann ich gut. Energien ableiten, Energien in die Welt hinausschicken, wo sie widerhallen, sobald sie auf die Energie des Gegenstands stoßen, den ich zu finden versuche. Energie bewegen, lenken oder für später speichern.«
»Aha.« Butters wirkte leicht erstaunt. »Und das erfordert kein Fingerspitzengefühl?«
»Ich hab lange geübt, um mit dieser empfindlichen Magie klarzukommen«, antwortete ich. »Aber … es liegt ein großer Unterschied darin, ob ich auf einer Gitarre ein paar Akkorde klimpere oder ein komplexes spanisches Stück spiele.«
»Und die Kleine spielt spanische Gitarre?«
»Sie ist nicht so stark wie ich, aber sie hat ein Händchen für schwierige Magie. Vor allem bei Gedankenmagie und dem ganzen Emotionskram. Das hat sie auch in Teufels Küche gebracht mit dem …«
Ich biss mir mitten im Satz auf die Zunge. Ich wollte nicht Mollys Verstoß gegen die Gesetze der Magie des Weißen Rates vor jemandem erwähnen, der darin nicht ohnehin eingeweiht war. Es war schwer genug für sie, mit den Folgen ihrer Taten, die sie unwissentlich begangen hatte, fertigzuwerden. Da brauchte ich sie nicht auch noch als Psychomonster-Azubi darzustellen.
Butters musterte mich für einige Sekunden, dann nickte er und ließ es dabei bewenden. »Was, glaubst du, wird sie finden?«
»Keine Ahnung«, gestand ich.
»Könntest du das auch?«, fragte er. »Ich meine, wenn du müsstest.«
»Ich hab’s versucht«, erwiderte ich. »Aber wie gesagt, ich bin nicht besonders gut darin, und meist bekomme ich kaum etwas Verwertbares.«
»Du hast zu ihr gesagt, die Angelegenheit würde nicht spaßig werden. Wie meintest du das?«
»Falls da etwas ist und sie es spürt, wird sie die Situation, die das Mädchen kurz vor ihrem Tod erlebt hat, selbst durchleben. In der Ich-Perspektive. Als würde ihr das alles gerade selbst widerfahren.«
»Oh. Ja. Das kann bestimmt ziemlich übel sein.«
Wir gingen wieder zu dem anderen Raum, in dem sich Molly vorbereiten sollte, und ich spähte durch die Tür, ehe ich sie öffnete. Molly saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden, die Beine im Lotossitz verschlungen, und ihr Kopf war leicht nach oben gereckt. Ihre Hände ruhten auf ihren Schenkeln, und sie hatte die Kuppen ihrer Daumen an die Spitzen ihrer Mittelfinger gepresst.
»Leise«, murmelte ich. »Keinen Lärm, bis sie fertig ist.«
Butters nickte. Ich öffnete die Tür ganz, so leise ich konnte, und ebenso leise schoben wir die fahrbare Trage in den Raum. Wir stellten sie vor Molly ab, dann winkte ich Butters zur gegenüberliegenden Wand, wo wir warteten.
Molly brauchte über zwanzig Minuten, um sich auf den vergleichsweise einfachen Zauber zu konzentrieren. Die Absicht zu bündeln, den Willen, ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Magie. Ich habe schon so oft Macht bündeln und die Konzentration darauf über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten müssen, sodass es mich nur noch eine bewusste Willensanstrengung kostet, wenn ich einen besonders komplexen oder gefährlichen Zauber weben will oder der Meinung bin, es sei klüger, langsam und vorsichtig vorzugehen. Meist bedarf es nur eines Sekundenbruchteils, um meinen Willen zu fokussieren – was natürlich ein erheblicher Vorteil ist, wenn es um Schnelligkeit geht. Sabbernde Monstrositäten und übel gelaunte Vampire lassen einem selten zwanzig Minuten, um den ersten Schlag vorzubereiten.
Molly jedoch hatte noch einen verdammt weiten Weg vor sich, auch wenn sie sich sonst als äußerst schnelle, begabte Schülerin erwies.
Als sie endlich die Augen öffnete, schien sie weit in die Ferne zu blicken. Sie erhob sich langsam und begab sich mit sorgsamen Bewegungen zu der fahrbaren Trage mit der Leiche, zog das Tuch weg und legte so das Gesicht des toten Mädchens frei. Dann beugte sie sich mit immer noch entrücktem Blick vor und flüsterte leise ein paar Worte, während sie mit den Fingern die Lider der Toten nach oben schob.
Sofort empfing sie etwas.
Sie riss die Augen weit auf und atmete einige Male stoßartig ein und aus, dann rollten ihre Augen im Kopf nach oben. Für ein paar Sekunden stand sie bebend da. Schließlich entwich ihr der Atem in einem heiseren, rauen Aufschrei, und ihre Knie knickten ein. Sie schlug jedoch nicht zu Boden, eher schmolz sie der Erde entgegen. Sie blieb liegen, atmete schwer und gab einen unablässigen Strom kehliger Seufzer von sich.
Wieder schien sie in die Ferne zu starren. Ihr Körper erbebte, und dann bäumte sie sich, wie von einer Woge erfasst, immer wieder auf und bog den Rücken durch. Schließlich sackte sie in sich zusammen, und ihr Stöhnen verebbte, auch wenn sie nach wie vor bei jedem Ausatmen schwache, nun jedoch eindeutig befriedigte Seufzer vernehmen ließ.
Ich blinzelte sie bestürzt an.
Nun, das hatte ich nun wirklich nicht erwartet.
Butters schluckte vernehmlich. »Äh … Hat sie gerade getan, was ich glaube?«
»Sie … öhm …« Ich hüstelte. »Sie hatte gerade … etwas.«
»Natürlich hatte sie gerade etwas«, brabbelte Butters. »Etwas, das ich vor zwei Jahren das letzte Mal hatte.«
Bei mir war es noch weit länger her.
»Ist sie minderjährig?«, fragte er. »Rechtlich gesehen?«
»Nein.«
»Gut. Dann fühle ich mich nicht ganz so … verspannt.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Was nun?«
Ich versuchte, möglichst professionell und unbeeindruckt zu wirken. »Wir warten, bis sie sich erholt hat.«
»Aha.« Er schaute zu Molly hinüber und seufzte. »Ich sollte mehr rauskommen.«
Dein Wort in Gottes Ohr, Mann, dachte ich und sagte: »Könntest du ihr vielleicht etwas Wasser oder was Ähnliches besorgen?«
»Klar«, sagte er. »Für dich?«
»Butters!«
»Bin gleich wieder da.« Er deckte den Leichnam zu und schlüpfte nach draußen.
Ich ging zu Molly hinüber und kauerte mich neben ihr nieder. »He, Grashüpfer. Hörst du mich?«
Sie brauchte ungewöhnlich lang, um mir zu antworten, gerade so, als telefoniere sie vom anderen Ende der Welt aus mit mir. »Ja. Ich … ich höre dich.«
»Bist du in Ordnung?«
»O Gott.« Sie seufzte lächelnd. »Ja.«
Verflixt, wie oft habe ich schon bei einer Ermittlung irgendeinen grausamen psychischen Schock märtyrerhaft auf mich genommen. Jetzt ging dieser Jungspund an den Start, und was bekam sie?
»Erzähl, was du gefühlt hast. Manchmal verflüchtigen sich die Details fast augenblicklich, als würde man einen Traum vergessen.«
Molly schüttelte den Kopf. »Sie hat sich gut gefühlt. Wirklich, wirklich gut.«
»So viel ist mir auch aufgefallen«, sagte ich. »Was noch?«
»Nichts sonst. Nur das. Es waren einfach nur Empfindungen. Ekstase.« Sie zog die Stirn kraus, während sie sich bemühte, ihre Gedanken zu ordnen. »Als seien ihre übrigen Sinne dadurch irgendwie geblendet gewesen. Ich glaube, da war sonst nichts. Weder zu sehen noch zu hören. Weder Gedanken noch Erinnerungen. Nichts. Sie bekam nicht einmal mit, wie sie starb.«
»Denk darüber nach«, sagte ich leise. »Alles, woran du dich erinnerst, kann wichtig sein.«
In diesem Augenblick kam Butters mit einer kleinen Plastikflasche Wasser. Er gab sie mir, und ich reichte sie an Molly weiter. »Hier«, wies ich sie an. »Trink.«
»Danke.« Sie öffnete die Flasche.
»Was haben wir herausgefunden?«, fragte Butters.
»Sieht aus, als wäre sie glücklich gestorben«, knurrte ich. »Hast du einen Drogentest gemacht?«
»Klar. Ein Rest THC, aber den kann sie sich auch genauso gut auf einem Konzert eingefangen haben. Ansonsten war sie clean.«
»Verdammt«, murrte ich. »Fällt dir sonst noch was ein, was einem Opfer … so etwas antun könnte?«
»Nichts Pharmakologisches«, meinte Butters. »Vielleicht, wenn man ihr einen Draht in die Lustzentren des Gehirns gerammt und diese ständig stimuliert hätte. Aber … äh … da waren keine Spuren, dass man ihr den Schädel operativ geöffnet hätte, und so was wäre mir echt aufgefallen.«
»Mhm«, antwortete ich eloquent.
»Also muss es etwas aus dem gruseligen Eck sein«, schlussfolgerte Butters.
»Könnte sein.« Ich konsultierte erneut den Haufen Papiere, den er mir gegeben hatte. »Was hat sie so gemacht?«
»Tja, das kann ich dir leider nicht sagen«, antwortete Butters. »Wir konnten keine Verwandten ausfindig machen, und niemand hat die Leiche eingefordert. Deshalb ist sie ja noch hier.«
»Auch keine hiesige Adresse?«, fragte ich mit Blick auf die Papiere.
»Nein, nur die auf einem in Indiana ausgestellten Führerschein, aber die entpuppte sich als Sackgasse. Sonst war nicht viel in ihrer Handtasche.«
»Der Mörder hat ihre Kleidung mitgenommen?«
»Offensichtlich. Aber wieso?«
»Vielleicht war etwas an der Kleidung, was niemand finden sollte.« Ich bleckte die Zähne. »Oder etwas, von dem er nicht wollte, dass ich es finde.«
Molly setzte sich plötzlich kerzengerade auf. »Harry, ich erinnere mich an etwas.«
»Ja?«
»Ein Gefühl«, sagte sie. »Es war, als … als hätte ich gehört, wie zwanzig verschiedene Bands gleichzeitig spielen, nur hab ich es gefühlt. Da war eine Art stechendes Kitzeln auf ihrem Bauch. Wie eines dieser medizinischen Nadelräder.«
»Ein Wartenbergrad«, warf Butters hilfreich ein.
»Hä?«, sagte ich.
»Ein medizinisches Instrument für die neurologische Untersuchung der Schmerzwahrnehmung. Wie das, das ich verwende, um die Nerven in deiner Hand zu testen, Harry.«
»Oh, o ja.« Ich sah Molly stirnrunzelnd an. »Woher, zum Teufel, weißt du, wie sich so ein Ding anfühlt?«
Molly bedachte mich mit einem hintergründigen Lächeln. »Das ist eines der Dinge, zu denen du keine Erklärung von mir hören willst.«
Butters stieß ein peinlich berührtes Hüsteln aus. »Die werden manchmal … äh … zum Freizeitvergnügen benutzt.«
Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden. »Ah. Klar. Butters, hast du einen Filzstift?«
Er nahm einen aus seiner Schreibtischschublade und warf ihn mir zu. Ich gab ihn Molly. »Zeig mir, wo.«
Sie nickte, legte sich auf den Rücken und zog dann ihr Shirt hoch. Dann schloss sie die Augen und fuhr sich langsam mit dem Stift über den Leib, wobei ihre Augenbrauen vor Konzentration zusammengekniffen waren.
Als sie fertig war, war in großen Buchstaben klar zu lesen:
EX 22:17
Schon wieder Exodus.
»Ladies and Gentlemen«, verkündete ich verhalten, »wir haben es mit einem Serienmörder zu tun.«
Molly war auf dem Rückweg sehr schweigsam. Sie hatte den Kopf mit halb geschlossenen Augen gegen die Seitenscheibe gelehnt und badete wahrscheinlich nach wie vor im Nachhall der Gefühle.
»Molly«, wandte ich mich mit meiner sanftesten Stimme an sie. »Heroin fühlt sich auch gut an, frag Rosy und Nelson.«
Das glückselige Lächeln verschwand, und sie starrte mich einige Zeit mit ausdrucksloser Miene an. Allmählich bildeten sich nachdenkliche Falten auf ihrer Stirn, die schließlich einem angewiderten Ausdruck wichen.
»Es hat sie umgebracht«, sagte sie schließlich. »Es hat sie getötet. Ich meine, es hat sich so unglaublich gut angefühlt … aber das war es nicht.«
Ich nickte.
»Sie wusste es nicht. Sie hatte nicht die geringste Chance.« Für einen Moment war sie ganz schön grün um die Nase. »Es war ein Vampir, nicht? Einer vom Weißen Hof. Ich meine, die benutzen doch Sex, um sich von der Lebenskraft von Menschen zu nähren?«
»So einer könnte unter Umständen dafür verantwortlich sein«, antwortete ich ruhig. »Doch im Niemalsland spuken verdammt viele dämonische Wesenheiten rum, die total auf diese Sukkubus-Nummer abfahren.«
»Sie wurde in einem Hotel umgebracht«, fuhr Molly fort. »Wo es keine Schwelle gab, um sie vor einem Dämon zu schützen.«
»Sehr gut, Grashüpfer«, sagte ich. »Wenn man bedenkt, dass die anderen Opfer nicht im Stil des Weißen Hofes umgelegt wurden, bedeutet das entweder, dass wir es mit mehreren Mördern zu tun haben, oder dass er seine Methoden variiert. Noch ist es zu früh für etwas anderes als Schüsse ins Blaue.«
»Was wirst du als Nächstes tun?«
Ich dachte kurz darüber nach. »Ich muss herausbekommen, was alle Opfer des Mörders gemeinsam hatten, wenn es überhaupt Gemeinsamkeiten gibt.«
»Sie sind tot?«, schlug Molly vor.
Ich grinste schwach. »Außer dieser recht offensichtlichen Tatsache.«
»Also, was wirst du tun?«, bohrte sie weiter.
»Damit fange ich an.« Ich nickte in Richtung des Papierstapels, den mir Butters ausgehändigt hatte und der auf dem Armaturenbrett lag. »Ich sehe mal, was ich da rausholen kann. Dann besuche ich Leute und werde Fragen stellen.«
»Was mache ich?«, wollte sie wissen.
»Kommt darauf an. Wie viele Perlen kannst du bewegen?«, fragte ich sie.
Sie funkelte mich eine Minute lang böse an. Dann knotete sie das Armband mit den dunklen Perlen von ihrem linken Handgelenk und hielt es hoch.
Die Perlen glitten an der Schnur entlang nach unten und gaben etwa sieben bis zehn Zentimeter bloßen Fadens frei.
Molly konzentrierte sich auf ihr Armband, einen Gegenstand, den ich hergestellt hatte, um ihr zu helfen, ihre Gedanken zu bündeln und geistige Ausgeglichenheit zu finden. Konzentration und Ruhe sind notwendig, wenn man mit Magie um sich wirft. Magie ist die ursprüngliche Kraft der Schöpfung, und sie reagiert stark auf Gedanken und Gefühle, ob man will oder nicht. Wenn man in Gedanken woanders ist, sich zu sehr in Gefühlen verstrickt oder nicht genau achtgibt, was man gerade tut, ist es möglich, dass Magie vollkommen unvorhersehbar und gefährlich wirkt.
Molly lernte das gerade noch. Sie hatte Talent, verstehen Sie mich bitte nicht falsch – was ihr fehlte, war nicht Begabung, sondern Einschätzungsgabe. Genau das hatte ich ihr im Verlauf des letzten Jahres beizubringen versucht – ihre Macht verantwortungsvoll und vorsichtig einzusetzen und einen Höllenrespekt davor zu entwickeln, was diese Macht alles anrichten kann. Wenn sie nicht bald etwas Beständigkeit in die Rübe auf ihrem Hals hämmern konnte, würde sie das umbringen. Und mich wahrscheinlich mit ihr ins Verderben reißen.
Molly war eine Hexerin.
Sie hatte Magie eingesetzt, um in den Köpfen zweier ihrer Freunde herumzupfuschen. Ihre Beweggründe dafür waren edel gewesen, denn sie hatte die beiden von ihrer Drogenabhängigkeit befreien wollen. Doch die Folgen waren ganz schön übel gewesen. Der Junge hatte sich noch nicht so weit erholt, dass er allein auf sich hätte achten können. Das Mädchen war durchgekommen, aber auch sie steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten.
Normalerweise killt einen der Weiße Rat der Magier, wenn man eines der Gesetze der Magie bricht. Die einzige Ausnahme ist, wenn ein Magier des Rates anbietet, die Verantwortung für das zukünftige Benehmen eines Hexers zu übernehmen, bis dieser den Rat überzeugen kann, dass er auf dem richtigen Weg ist und seine Absichten lauter sind. Wenn er das kann, gut. Falls nicht, werden der Hexer und der Magier, der für ihn die Hand ins Feuer gelegt hat … na ja, beide gekillt.
Auch ich bin einst ein Hexer gewesen. Hölle, ein ganzer Haufen im Rat fragt sich nach wie vor, ob ich nicht doch eine tickende Zeitbombe bin, die irgendwann hochgehen wird. Als man Molly gefesselt und mit einer Kapuze über dem Kopf vor den Rat geschleift hatte, um sie zu verurteilen, war ich eingeschritten. Ich hatte es einfach tun müssen.
Manchmal bereute ich diesen Entschluss zutiefst. Wenn man einmal die Macht dunkler Magie gefühlt hat, ist es verdammt schwer, ihr zu widerstehen und die Finger davon zu lassen, und genau das war Mollys größte Schwäche. Die Kleine hatte das Herz am rechten Fleck, aber sie war so verdammt jung. Sie war in einem strengen Elternhaus aufgewachsen, und die Freiheit hatte ihr anständig den Kopf verdreht, als sie schließlich ausgerissen war, um sich allein durchzuschlagen. Jetzt war sie wieder bei ihren Eltern, aber sie musste immer noch das Gleichgewicht und die Selbstdisziplin finden, die man braucht, um im Magierhandwerk auch nur die geringste Überlebenschance zu haben.