Die eine Menschheit - Viktor E. Frankl - E-Book

Die eine Menschheit E-Book

Viktor E. Frankl

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Manifest für Vertrauen, Toleranz und Ethik – aktueller denn je Was bedeutet Frieden? Und wie können wir ihn dauerhaft erreichen? Die Appelle in Viktor Frankls Reden sind über 70 Jahre alt, verhallt sind sie längst nicht. Angesichts der aktuellen Kriege und Krisen in der Welt – nicht zuletzt mitten in Europa – lohnt es sich, Frankls Gedanken und Ideen intensiv zu lesen. - Was bedeutet Frieden? Die wichtigsten Reden Viktor Frankls in einem Band - Nachdenken und Diskutieren über Menschlichkeit und Wege zu Frieden und Versöhnung in der Welt - Mit einem Vorwort von Österreichs Bundeskanzler a.D. Wolfgang Schüssel - Mit kommentierenden und reflektierenden Texten prominenter Persönlichkeiten - Frankls Aufruf zum Frieden: Historische Einordnung durch seine Weggefährtin Elisabeth Lukas Gedanken zum Frieden: Trotzdem ja zum Leben sagen mit Vergebung und Menschlichkeit Dokumente, die sich mit Humanität befassen, sind in diesen Tagen unverzichtbar. Aus all diesen Friedenstexten ragen die Worte Viktor Frankls (1905-1997) heraus. Denn er, der seine Familie im Holocaust verlor und selbst dem Tod im KZ nur knapp entkam, hätte wohl allen Grund gehabt, verbittert zu sein. Doch Frankl hat es geschafft, solchen Gefühlen nie Raum in seinem Herzen zu geben. Er verwandelte das Unfassbare seiner Erlebnisse in Vergebung. Schon kurz nach dem Krieg forderte der Begründer der Logotherapie, im Sinne des Friedens nicht mehr nach Völkern zu unterscheiden. Er wünschte sich "eine Menschheit, die nur mehr eine Unterscheidung kennt: die Unterscheidung zwischen Menschen und Un-menschen." Seine Appelle an Psychologie und Politik wurden neu aufgelegt und lesen sich wie für unsere Zeit geschrieben. Auch und gerade heute ist dieses inspirierende Buch mit Frankls Ansätzen ein wichtiger Impuls für eine bessere Zukunft dieser Welt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 158

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE EINE MENSCHHEIT

Viktor Emil Frankl, 1946

VIKTOR E. FRANKL

DIE EINE MENSCHHEIT

Appelle für den Frieden

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2023 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Futura PT, Le Monde Livre Cla Std

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Printed by GGP Media, Pößneck

ISBN 978-3-7109-0167-6

eISBN 978-3-7109-5155-8

Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung. Aller Maßstäbe spotten die Gräueltaten; sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der Blutzeugen sind gar viele. Darum, oh Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihrer Leiden, dass du sie ihren Henkern zurechnest, sondern lass es anders gelten.

Schreibe vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern und allen schlechten Menschen zugute und rechnen ihnen an all den Mut und die Seelenkraft der anderen, ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei alledem, die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ, und alle Opfer, all die heiße Liebe, all die durchgepflügten, gequälten Herzen, die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben angesichts des Todes und im Tode. Alles das, oh mein Gott, soll zählen vor dir für die Vergebung der Schuld als Lösegeld, zählen für die Auferstehung der Gerechtigkeit – all das Gute soll zählen und nicht das Böse. Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein, nicht mehr ihr Albdruck und Gespensterschreck, vielmehr ihre Hilfe, dass sie von der Raserei ablassen … Nur das heischt man von Ihnen – und dass wir, wenn nun alles vorbei ist, wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen und wieder Friede werde auf dieser armen Erde über den Menschen guten Willens, und dass Friede auch über die anderen komme.

Friedensgebet, 1946, Leo Baeck zugeschrieben

INHALT

Wann ist der richtige Zeitpunkt, um über Frieden zu reden? EinVorwort von Wolfgang Schüssel

Frankls Friedensappell – eine Einleitung von Elisabeth Lukas

Die Friedensappelle von Viktor Frankl

Frieden unter uns!

Für einen Weltkongress der Kämpfer für den Frieden

In memoriam. Gedenkrede für die verstorbenen Kollegen der Gesellschaft der Ärzte in Wien

Das Problem des Friedens

Versöhnung auch im Namen der Toten. Gedenkrede anlässlich des 40. Befreiungstages des Konzentrationslagers Türkheim

Alle, die guten Willens sind. Gedenkrede anlässlich des 50. Jahrestages des Hitler-Einmarsches, Rathausplatz Wien

Was sagen uns die Friedensappelle heute?

Viktor Frankls Friedensappelle – eine praktische Annäherung von Annemarie Moser

Die Mutter allen Lebens. Ohne Frieden keine Humanität – oder: Warum Frieden menschlich ist von Christoph Quarch

Genossen im Kampf für die Menschlichkeit – drei Gedanken zu Viktor Frankls Friedensappell von Walter Kohl

Versöhnung – nicht Rache von Birgit Mosser-Schuöcker

Die Trotzmacht des Friedens von Klaus Haselböck und Michael Holzer

Pax und Logos. Die Bedeutung von Versöhnung und Frieden von Elisabeth Lukas

Editorische Notiz

Vita von Viktor E. Frankl

Die Beiträgerinnen und Beiträger

Nachweise

Bundesminister Wolfgang Schüssel und Viktor Frankl anlässlich der Überreichung der Ehrenbürgerurkunde an den Autor im Wiener Rathaus, 1995

.

WANN IST DER RICHTIGE ZEITPUNKT, UM ÜBER FRIEDEN ZU REDEN? EIN VORWORT

Von Wolfgang Schüssel

Es mag absurd scheinen, zu diesem Zeitpunkt über »Frieden« zu schreiben. Täglich verbluten Hunderte junge Männer im Donbas, sterben Zivilisten durch russische Bomben. Die Rhetorik wird immer schriller. Die Ukraine sei ein »Niemandsland«, EU-Politiker »Schweine«; nur ein Sieg über den jeweiligen Feind sei ein akzeptables Ende des Krieges. Fortsetzung folgt …

Aber – gibt es überhaupt den richtigen Zeitpunkt, um über Frieden zu reden?

Etwa 1849? Als Victor Hugo, Präsident des Welt-Friedenskongresses, eine Rede hielt: »… ein Tag wird kommen, wo Frankreich, Russland, Italien, England, Deutschland, all Ihr Nationen des Kontinents euch zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet. Ein Tag wird kommen, wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen. Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden.«

Oder Bertha von Suttner 1889? »Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut soll immer wieder mit Blut abgewaschen werden?«

Jedenfalls sollten die Warnungen von John Maynard Keynes von 1919 beherzigt werden, der unter Protest die britische Delegation bei den Versailles-Verhandlungen verließ und einige Monate später seine Abrechnung veröffentlichte: »Paris was a nightmare … if the war is to end with France and Italy abusing their momentary victorious power to destroy Germany and Austria-Hungary now prostrate, they invite their own destruction also, being so deeply and inextricably intertwined with their victims.« (»Paris war ein Albtraum … wenn der Krieg damit enden soll, dass Frankreich und Italien ihre momentane siegreiche Position ausnutzen, um das nun darniederliegende Deutschland sowie Österreich-Ungarn zu zerstören, riskieren sie auch ihren eigenen Niedergang, denn sie sind unauflöslich mit ihren Opfern verwoben.«) Er entwickelte in seinem Buch The Economic Consequences of the Peace Treaty die Idee einer Wirtschaftsunion zwischen Siegern und Besiegten, wie sie nach der Katatrophe des Zweiten Weltkriegs mit Europäischer Einigung und Marshall-Plan umgesetzt wurde.

Viktor Frankl überlebte den Horror von drei Konzentrationslagern und wusste: »Die Völker wollen keinen Krieg … Wir hoffen mit grösster Gewissheit, dass überall auf der Welt die Kämpfer für den Frieden sich erheben werden …«

Aber wie umgehen mit den Feinden des Friedens?

Alles wurde schon versucht. Geduldiges Verhandeln. Konzessionen, um den Aggressor zu besänftigen oder Zeit zu gewinnen. So etwa in München 1938. Oder Direktkontakte für einen Waffenstillstand mit internationaler Überwachung der Kontaktlinie – so das Minsk-Abkommen zum Einfrieren des russisch-ukrainischen Konflikts 2014. Die ernüchternden Ergebnisse sind bekannt. Viele engagierte Friedensaktivisten versuchen bis heute, durch objektive Informationen und das Organisieren von Begegnungen der Zivilgesellschaft Feindbilder abzubauen; sehr oft nur mit kurzlebiger Wirkung. Viktor Frankl hat sogar die »paradoxe Intervention« angeboten. Man könne ein bestimmtes Denken und Verhalten nicht einfach wegreden, sondern nur durch absurde Übersteigerung durchbrechen. Im israelischen Wahlkampf 2013 wurde mit solchen Videoclips experimentiert: »Wir brauchen den Konflikt – um die stärkste Armee der Welt zu haben!« Zu befürchten ist, dass bei geopolitischen Frontstellungen damit wenig auszurichten ist.

Friede – das ist ja nicht nur die Absenz von Kampfhandlungen. Friede beginnt im Herzen jedes einzelnen Menschen, muss sich in den Köpfen durchsetzen und in der Praxis bewähren. Und es gibt genügend Beispiele, wie Friede gelingen oder auch scheitern kann: Das sieben Jahrzehnte dauernde Ringen zwischen Israel und den Palästinensern, die eingefrorenen Konflikte nach dem Zerbrechen der Sowjetunion in Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Die Teilung Zyperns seit 1974. Die drohende Auseinandersetzung um Taiwan. Assads Krieg gegen die eigenen Landsleute in Syrien, assistiert von Russen und Iranern. Seit dem 24. Februar 2022 die völkerrechtswidrige Invasion Russlands in der Ukraine mit bisher vermutlich 300 000 Toten und Verwundeten.

Aber auch Beispiele für das Gelingen friedlicher Lösungen gibt es: das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika 1992 und die friedliche Teilung der Macht zwischen Frederik Willem de Klerk und dem aus dem Gefängnis geholten Nelson Mandela. Ebenso die deutsch-französische Einigung über das Saarland im Vertrag von Luxemburg 1956. Oder die mühsame Lösung der Südtirolfrage zwischen Österreich und Italien. Über allem das wohl größte und erfolgreichste Friedensprojekt unserer Zeit – die europäische Einigung in der Union. In den 300 Jahren davor gab es immerhin 123 Kriege zwischen den Nationen Europas. Seither kommen die Mitglieder dieser Union in den Genuss von sieben Jahrzehnten Friedensdividende. Frühere Militärdiktaturen und ehemals sowjetische Satelliten wurden in Demokratien umgewandelt und integriert. In Zukunft sollte Gleiches mit den Ländern des Westbalkans, hoffentlich auch mit Moldawien und der heute kriegsgeschüttelten Ukraine gelingen.

Immer waren Misstrauen, Ängste, Propaganda, Aufrüstung zu überwinden. Ein ewiges Beginnen, Scheitern, Neuanfangen. Und immer spielten Persönlichkeiten die entscheidende Rolle, die für sich entschieden hatten, die ausgetretenen bequemen Pfade der Eskalationsrhetorik und Feindbildpflege zu verlassen. Sie wurden dafür angefeindet, missverstanden, beschimpft – und oft erst viel später geschätzt.

Viktor Frankl ist im gleichen Jahr wie mein Vater Ludwig geboren, 1905. Das fiel mir sofort auf und dazu seine ruhige, kluge und einfühlsame Art. Wie eben ein Vater, den ich selbst ja kaum erleben durfte – meine Eltern ließen sich scheiden, als ich drei Jahre alt war. Ich habe Viktor Frankl selbst einige Male getroffen, ihn auch in seiner Wohnung im 9. Bezirk besucht und lange – mich sehr beeindruckende – Gespräche geführt. Als Wirtschafts- und später Außenminister war ich damals mit den Folgen der blutigen Balkankriege mit 250 000 Toten und Millionen von Flüchtlingen konfrontiert. Und die entscheidende Frage damals wie heute bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Ukrainekonflikt bleibt: Was tun angesichts dieser Gräuel? Abrüstung der Worte und Waffen – und damit dem Aggressor freie Hand in der Umsetzung seiner fragwürdigen und unannehmbaren Ziele lassen? Oder dem Angegriffenen mit allen militärischen/finanziellen Ressourcen zu Hilfe eilen, damit aber vielleicht den Konflikt verlängern und weitere Opfer in Kauf nehmen.

Dieses furchtbare Dilemma kann nur gemildert, nicht aufgelöst werden. Man muss klar unterscheiden und Stellung beziehen: Als Individuum kann ich mir zugefügtes Unrecht vergeben, den Gebrauch der Waffe verweigern oder mich bedingungslos für Verhandlungen und Kompromisse einsetzen; eine Nation, die Gemeinschaft hingegen muss diese Einzelnen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln schützen. Jedes Zurückweichen vor einem brutalen Aggressor bringt keinen Frieden. »Si vis pacem, para bellum«, rieten die Römer. Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Wahr ist, Kriege sind leichter zu beginnen als zu beenden. Umso wichtiger, jedes Fenster einer möglichen sinnvollen Beendigung von Feindschaft und Kriegen zu nutzen. Henry Kissinger hat vor Kurzem ähnlich argumentiert. Wenn es gelingen sollte, dass die Ukraine diese Auseinandersetzung besteht, so empfehle er »to exercise restraint in victory« gegenüber Russland. Und Viktor Frankl geht noch weiter. Man dürfe niemand »im Kollektiv schuldig sprechen. Eine Kollektivschuld gibt es nämlich nicht«, führte er in seiner Gedenkrede zum 50. Jahrestag des Hitler-Einmarsches aus. »Österreichern, die heute zwischen null und fünfzig Jahre alt sind, eine rückwirkende Kollektivschuld einzureden, halte ich für ein Verbrechen und einen Rückfall in die Sippenhaftung der Nazis«! Beachtliche Worte von einem, der allen Grund zu einem kritischen Urteil über unser Land hätte.

»Selig die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes heißen«, predigte Jesus einst in Galiläa. Doch Frieden stiften kann gefährlich, sogar lebensgefährlich sein. Erinnern wir uns an Mahatma Gandhi – von einem fanatischen Hindu-Nationalisten erschossen; an den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat, der als erster Araber in der Knesseth rief: »Ich komme heute zu ihnen, um ein neues Leben zu gestalten, um Frieden zu schaffen.« Zwei Jahre nach dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag wurde er 1991 von fundamentalistischen Armeeangehörigen erschossen. 1995 stimmte Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin einem Abkommen über Westjordan und Gaza zu, zwei Monate danach verletzte ihn die Kugel eines Attentäters schwer.

Es ist entscheidend, Friedensbemühungen international möglichst breit abzusichern und den positiven Beitrag eines friedlichen Kompromisses klar und überzeugend zu erklären. Es genügt sicher nicht, Konflikte einzufrieren und zeitweise die Waffen ruhen zu lassen. Um einen dauerhaften Frieden zu gewinnen, müssen aber auch Schuld und Ursachen benannt und offengelegt, Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen, Opfer entschädigt werden. So wurden etwa die NS-Verbrechen im Nürnberger Prozess und die Schuldigen der Balkankriege am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aufgearbeitet. Ähnliches ist für den Krieg gegen die Ukraine zu hoffen.

Krieg ist eben nicht die »Mutter aller Dinge«. Das korrekte Zitat von Heraklit (520–460 v. Chr.) lautet übrigens: »Krieg (polemos!) ist aller Dinge Vater, die einen hat er zu Sklaven gemacht, die anderen zu Freien.« Er ist der brutale und effektivste Zerstörer aller Werte und des Lebens. Friede hingegen ist die Voraussetzung für ein angstfreies Leben, sicheres Wirtschaften, neugieriges Forschen und langfristiges Planen. Dieses Buch mit und über Viktor Frankl erscheint deshalb zum richtigen Zeitpunkt!

FRANKLS FRIEDENSAPPELL – EINE EINLEITUNG

Von Elisabeth Lukas

Es war im April 2022, als Politiker höchsten Ranges in Ost und West das Wort von einem möglichen »dritten Weltkrieg« in den Mund nahmen. Ein globales Erschrecken lief um den Erdball. So mancher fragte sich bange, ob die letzten Tage der Menschheit angebrochen seien.

Dabei ist solch ein Erschrecken keinesfalls neu. Ein Dreivierteljahrhundert zuvor machten sich viele Menschen im Nachkriegseuropa ähnliche Gedanken. Im März 1949 schrieb Hans Thirring aus Wien an Viktor E. Frankl einen Brief mit den folgenden Worten (siehe auch S. 43 ff.): »Wir halten die Entstehung einer allumfassenden Friedensbewegung und den Kontakt mit allen Kräften des Friedens für eine Notwendigkeit und bitten Sie daher, sich unserer Initiative anzuschließen.«

Die Entstehung einer allumfassenden Friedensbewegung – wäre dies nicht die dringlichste aller Notwendigkeiten auch heute im 21. Jahrhundert? Freilich haben sich inzwischen weitere Bedrohlichkeiten aller Art auf unserem Planeten eingenistet, vom Virusbefall über die dräuende Klimakrise bis hin zur radikalen Umweltverschmutzung. Aber genau solchen völkerübergreifenden Problemen können – wenn überhaupt! – nur geeinte Völker die Stirn bieten. Zerstrittene Völker, mit ihrem Streit okkupierte Völker, haben diesbezüglich keine Chance. Das bedeutet, dass der Frieden in jeder Hinsicht die Voraussetzung für gedeihliches menschliches Leben ist.

Lesen wir nach, was Frankl auf die Anfrage von Hans Thirring im Jahr 1949 geantwortet hat: »(Die) Völker wollen keinen Krieg. Sie wollen keine neue Schlächterei, keine neuen Ruinen und Verwüstungen. Und die Pflicht aller ehrlichen Menschen der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur, die Pflicht aller demokratischen Organisationen ist es, sich mit Entschiedenheit und mit leidenschaftlichem Willen zur Einheit der Verteidigung des Friedens der Völker zu widmen (…). Wir hoffen mit größter Gewißheit, daß überall in der Welt die Kämpfer für den Frieden sich erheben werden.«

Leider hat Frankl, der zwei Weltkriege durchlitten und mit knapper Not überstanden hat, die Hoffnung auf die größte Gewissheit, dass sich nach all dem Elend und Massaker überall in der Welt Kämpfer für den Frieden erheben werden, überschätzt. Dennoch dürfen wir seiner prinzipiellen Aussage, dass die Völker keinen Krieg wollen, Glauben schenken. Die Völker wollen, wenn nur irgendwie machbar, in Frieden und Zufriedenheit leben. Doch bestehen die Völker aus unzähligen Einzelindividuen, und darunter gibt es immer welche, die aus egoistischen oder psychopathischen Motiven Friedensstörung anzetteln beziehungsweise für das Einheimsen von Eigenvorteilen in Kauf nehmen. Verfügen solche Individuen über ein hinreichendes Machtpotential, wird es brenzlig. Wir dürfen jedoch die Schuld nicht nur auf diktatorische Machthaber schieben. Ihre Macht wäre limitiert, hätten sie nicht ein Heer an Mitläufern, auf das sie sich stützen können.

Interessant an dem Antwortschreiben von Frankl ist, dass er sich mit seinem Appell unter anderem an die Frauen und an die Jugend wandte – in einer Zeit, in der dies nicht üblich war. Frankl war überzeugt, dass der leidenschaftliche Wille zur Verteidigung des Friedens schon früh in den Familien gefördert werden sollte, insbesondere von den Müttern bei ihren Söhnen und Töchtern, um eine Generation hervorzubringen, die zunehmend imstande ist, Konflikte zu lösen, ohne an Humanität einzubüßen.

Dass dies bis heute nicht gelungen ist und immer noch der Realisierung harrt, beweist eine aktuelle Statistik aus den USA. Ihr zufolge bestand 2021 die häufigste Todesursache junger Menschen im Gebrauch von Schusswaffen (!). An zweiter Stelle standen Verkehrsunfälle, und an dritter Stelle kamen Vergiftungen aufgrund von Drogenkonsum. Es ist kaum zu fassen: In einem der modernsten und demokratischsten Länder der Welt mit einem guten Teil an wohlhabenden und gebildeten Leuten kommen junge Menschen ums Leben, weil sie sich gegenseitig und andere »bekriegen«! Dabei sind alle ihre drei häufigsten Todesursachen mehr oder weniger in Freiheit gewählt und nicht etwa Schicksalsfaktoren. Man steht in der Blüte der Jugend, aber man schießt um sich, man rast über die Fahrbahnen, man betäubt sich … warum? Frieden wäre das schiere Gegenteil davon: Man verzichtet auf Schießereien, man gestaltet den Verkehr moderat und im Einklang mit der Natur, und man schließt Frieden mit sich selbst und seinen Optionen. Frankl sprach von einer Pflicht aller ehrlichen Menschen, sich für den Frieden zu erheben, und diese Pflicht beginnt offenbar für ihn schon in den Keimzellen der Familien.

Das Bedrückende ist: Die gesamte Aussage des von Frankl 1949 unterzeichneten Dokuments könnte mit wenigen Änderungen direkt aus unserer Gegenwart stammen: »Statt Armeen und Rüstungen abzubauen … Man schafft militärische Blocks … An verschiedenen Punkten der Welt brennen wieder Kriegsherde …« Ist aus den Gräueln der vergangenen Jahrhunderte gar nichts dazugelernt worden? Kann das lernfähigste Geschöpf der Erde keine Erkenntnisse aus seinen eigenen Verfehlungen ziehen? Anders gefragt: Was muss noch alles passieren, damit derlei Erkenntnisse nicht einmal zu spät kommen?

In einem Vergleich von Gemeinschaft und Masse hat Frankl eine denkbare Erklärung für diese seltsame »Lernschwäche« des Homo sapiens angeboten. Während der Mensch dadurch, dass er Aufgaben in einer Gemeinschaft übernimmt, an Verantwortlichkeit gewinnt, verliert er in der Flucht oder im Untertauchen in einer Masse sein Eigentliches, nämlich seine Verantwortlichkeit beziehungsweise sein Gefühl dafür.

Frankl: »Wahre Gemeinschaft ist wesentlich Gemeinschaft verantwortlicher Personen – bloße Masse aber nur Summe entpersönlichter Wesen.«

Das bedeutet, dass bei allen durch suggestive Propaganda hervorgerufenen Massenphänomenen, bei denen Kollektive gegen Kollektive aufgehetzt werden, eine Art »Entpersönlichung« stattfindet, die den Einzelnen scheinbar von seiner Eigenbeurteilung und Eigenverantwortung entbindet. Nicht viel besser ergeht es Soldaten, die in einen Krieg eingezogen werden und gezwungen sind, ununterbrochen sinnwidrigen und menschenverachtenden Befehlen zu gehorchen. Ihr Gefühl für persönliche Verantwortung wird bewusst auf null hinuntergeschraubt, was ebenfalls einer Entpersönlichung gleichkommt. Im Status der Entpersönlichung handeln Menschen, als wären sie Roboter ohne Gewissen und ohne ethisches Empfinden, nur darauf bedacht, aus der Masse nicht herauszutreten, der sie (freiwillig oder zwangsweise) zugehören. Ihr Menschsein wird sozusagen von der Masse verschlungen.

Demzufolge könnte die Zukunft unserer Spezies davon abhängen, was im Wettlauf letztlich als Sieger hervorgehen wird: eine Weltgemeinschaft verantwortungsbewusster Personen oder eine Masse entpersönlichter Wesen.

Frankls Sicht als Psychiater

Im August 1969 wurde Frankl gebeten, auf einer internationalen Tagung der Universität Wien zum Thema »Das Problem des Friedens« in englischer Sprache einige Aspekte zur Vermeidung von Kriegsgefahren zu erläutern. Die Quintessenz seiner damaligen Rede ist dank eines Kongressberichtes erhalten (siehe S. 54ff.).