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Zack zieht mit seinen Eltern und Geschwistern nach Vista Point, einer abgelegenen Kleinstadt. In der unbekannten Umgebung sucht die Familie einen Neuanfang. Die neue Heimat liegt in einer Gegend mysteriöser Orte: Es gibt versteckte Seen, geheime Höhlen mit Botschaften und jenen großen Turm, der Zack und seine Geschwister magisch anzieht. Vor allem, als sie dort eine kryptische Botschaft entdecken. Als beim Turm auch noch die unbekannte und doch seltsam vertraute Ann auftaucht, beginnt ein fesselndes Abenteuer, bei dem Zack mehr als ein Rätsel lösen muss ... Das lang erwartete neue Buch des Meistererzählers Ben Guterson ist eine grandiose Kombination aus guter Story, kniffligen Rätseln und betörender Magie. Intelligent und raffiniert.
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Ben Guterson
Aus dem Englischen von Alexandra ErnstMit Illustrationen von Lobke van Aar
FürMargaret Mickelson, Sally Alger, Margaret Impettund Annabel Black,die engagierten Lehrerinnen meiner Kindheit
Ich habe diesen Satz in mein Tagebuch geschrieben, aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wo ich ihn gelesen habe: «Ich weiß mehr, als ich in Worten ausdrücken kann, und das Wenige, was ich ausdrücken kann, hätte ich nicht ausdrücken können, wenn ich nicht mehr wissen würde.» Dieser Satz erinnert mich immer an einen lieben Freund, den ich verloren habe.
Aus: Die wunderbare Welt der Wörter von Dylan Grimes
Das Mädchen aus dem Wald
Der verbotene Turm
Eine neue Freundin
Albernheiten beim Abendessen
Lichter auf dem Fluss
Offene Türen
Die Höhle im Hügel
Schwimmen am Wasserfall
Ein unangenehmer Besuch
Ein Kreis aus Bäumen
Die Enthüllung eines Geheimnisses
Das Dorf im Wald
Abendessen mit den Bigelows
Offenbarungen und Zweifel
Noch ein Treffen
Ein Blick ins Innere
Wieder diese Lichter
Das Haus auf der anderen Seite des Flusses
Eine verblüffende Geschichte
Mittagessen – und ein Brief
Möglichkeiten und Lösungen
Das Geheimnis des Medaillons
Vorbereitungen auf ein Fest
Das Jubelfest von Vista Point
Das Geheimnis und der Zauberspruch
Der Blick vom Turm
Danksagung
Zack Einstein las in seinem Lieblingsbuch, Falken und Banditen. Irgendwann hob er den Blick, schaute durch das offene Fenster seines Zimmers und sah ein Mädchen, das auf den verlassenen Turm zuging. Wie der Blitz schoss er von seinem Bett hoch, wobei das Buch mit einem Knall zu Boden fiel, der im ganzen Haus zu hören war.
«Alles klar da oben?», rief sein Vater aus der Küche im Erdgeschoss.
«Mir ist nur mein Buch runtergefallen, Dad», rief Zack, der das Mädchen, das auf das alte Gemäuer in der Ferne zusteuerte, nicht aus den Augen ließ. Es sah so aus, als käme sie aus der Richtung des zugewucherten Tannenwäldchens östlich des Turms, was sehr seltsam war, weil das Gebäude niemand betreten durfte und es direkt auf der anderen Seite des Grundstücks der Familie Einstein lag. Aber was Zack am meisten verblüffte, war der Umstand, dass das Mädchen mit dem Pferdeschwanz zumindest aus der Ferne so aussah wie seine Schwester Susan, die für immer fortgegangen war.
Zack starrte nach draußen. Die Haare des Mädchens waren rot, die Jeans hellblau, und das weiße T-Shirt hing ihr locker um die zarten Schultern, wie ein unheimliches Ebenbild von Zacks kleiner Schwester.
Warum geht sie zum Turm?, dachte er.
Und sogleich folgte die Frage, die er sich in den vergangenen zehn Monaten unzählige Male gestellt hatte, obwohl er sie nicht zulassen wollte: Warum habe ich nicht auf Susan aufgepasst?
Eine halbe Stunde lang hatte er sich in dem geliebten Buch verlieren können, doch jetzt kehrten die Gedanken an seine Schwester zurück, wie Regen, der nach einer kurzen Unterbrechung wieder einsetzte.
«Solange dem Buch nichts passiert ist!», rief sein Vater. Als Zack nichts erwiderte, setzte er hinzu: «Das war ein Witz!»
«Okay, Dad», rief Zack, gerade als das Mädchen hinter dem Turm aus seinem Blickfeld verschwand. Er starrte auf die Stelle und wartete ab.
Der Turm stand einsam und majestätisch in der Nähe der Klippe, knapp zweihundert Meter in Richtung Norden. Er war höher als das Fenster im zweiten Stock, durch das Zack nach draußen schaute. Hinter dem Turm fiel ein hohes Steilufer zum Fluss hin ab. Es war ein beeindruckendes Bauwerk – mit neun Seiten und eingefasst von eleganten und doch stämmigen Säulen. Allerdings behauptete Ruth, die Zack mit ihren dreizehn Jahren altersmäßig am nächsten war – er war elf –, der Turm sähe aus wie ein riesiger Kuchen mit grauem Zuckerguss. Und jetzt bekam er dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf. Soweit die Kinder wussten, hatte das Gebäude keinen offiziellen Namen. Miriam, die ihrerseits zwei Jahre älter war als Ruth, hatte vorgeschlagen, es «den großen Fingerhut» zu nennen, als ihre Eltern sie vor drei Monaten zu einem ersten Besuch hierhergebracht hatten. («Wir werden im Sommer hierherziehen», hatte ihre Mutter erklärt.) Aber Ethan, mit sechzehn Jahren der Älteste der Geschwister, der auf den Namen «Turm» gekommen war, hatte sich durchgesetzt.
Als Zack ein paar Minuten abgewartet hatte, das Mädchen aber nicht wiederkehrte, stellte er sich vor, wie sie auf der ihm abgewandten Seite vor der Eingangstür des Turms stand und den herrlichen Blick genoss: die meilenweite Aussicht auf den Grand River, die Bergkette im Nordosten, den dichten Wald ringsum und am anderen Ufer. Und über allem der klare Himmel. An dieser Stelle war alles tiefblau oder smaragdgrün, endlos und weit. Wahrscheinlich bewunderte das Mädchen die Landschaft, genau wie Zack und seine Geschwister an jenem Tag vor einer knappen Woche, als sie in Vista Point angekommen waren. Ihr neues Haus lag nur eine Stunde Autofahrt von Roseburg entfernt, dem einzigen Ort, den sie je als ihr Zuhause betrachtet hatten, aber Roseburg hätte sich genauso gut in einem anderen Land befinden können. Vista Point war ein kleiner Fleck auf der Landkarte, eher eine Ansammlung von verstreut liegenden Häusern und großen Grundstücken, während Roseburg die Metropole des Bundesstaats war.
«Ein Neuanfang wird uns allen guttun», hatten Zacks Eltern in den vergangenen Wochen wieder und wieder behauptet, und Zack fragte sich, ob sie selbst daran glaubten oder ob sie hauptsächlich ihn und seine Geschwister davon überzeugen wollten.
Im vergangenen Winter hatten seine Eltern ein renovierungsbedürftiges Haus gefunden, das von einem älteren Ehepaar zum Verkauf angeboten wurde, weil die beiden die Arbeit im Haus und auf dem Grundstück nicht mehr stemmen konnten. Der Zukunftsplan der Einsteins sah nun folgendermaßen aus: Sie würden das Erdgeschoss zu einem Bed & Breakfast ausbauen, was – wie Zack in Erfahrung gebracht hatte – ein kleines Hotel innerhalb ihres Zuhauses war. Warum sein Vater seine Stelle als Architekt bei Valencia & Hartnett aufgegeben hatte, um fremden Leuten Rührei zu servieren und ihre Bettwäsche zu wechseln, blieb Zack ein Rätsel, ebenso der Umstand, dass seine Mutter ihre Ausbildung zur Grundschullehrerin aufgegeben hatte, weil sie offenbar genauso von der Idee begeistert war wie sein Vater. Zack verstand den Grund für diese Entscheidung nicht, und er hatte auch keine Ahnung, was sie dazu gebracht hatte, die Familie mitten ins Nirgendwo zu schleppen.
«Ich glaube, Mom und Dad denken, dass wir wegen Susan nicht mehr so traurig sind, wenn wir umziehen», hatte Miriam zu ihm gesagt, aber für Zack ergab das keinen Sinn.
Zack starrte weiter aus dem Fenster, aber das Mädchen tauchte nicht mehr auf. Er fragte sich, ob sie vielleicht den Abhang hinuntergestiegen und dann wieder in Richtung Wald gegangen war – die logischste Route, um sich von dem Turm zu entfernen oder sich ihm zu nähern, wenn man vom Haus aus nicht gesehen werden wollte. Er blickte auf die Uhr. 15:17 Uhr. Seine Mutter und seine Geschwister waren nach Thornton Falls gefahren, in die nächste Kleinstadt, und würden frühestens in einer Stunde zurückkehren. Sie alle, einschließlich seines Vaters, hatten Zack gebeten, er solle mitkommen, aber seit jenem schrecklichen Abend letzten August saß er am liebsten in seinem Zimmer und las. Er wollte nicht unter Menschen sein, schon gar nicht inmitten vieler Menschen.
Auch Ethan, der kurz vor der Ernennung zum Eagle Scout stand, hatte ihn dazu bewegen wollen, sie zu begleiten. «Der erste Sommertag ist der perfekte Zeitpunkt, um sich einen Überblick zu verschaffen, Zack», hatte er gesagt. «Du solltest mitkommen. Es gibt einen Kartenladen, den wir uns anschauen können.»
«Ich nehme auch den Basketball mit», versprach Miriam, die Sportskanone der Familie, als Zack andeutete, dass er lieber zu Hause bleiben wollte. «Wir können gegeneinander spielen. Ich zeige dir auch meinen neuen Crossover-Move.»
«Oder wir könnten uns unter die Markise auf dem Marktplatz setzen und Gedichte schreiben», hatte Ruth vorgeschlagen und ihrer Schwester einen geübten, übertrieben eifrigen Blick zugeworfen, weil sie wusste, dass Schreiben das Letzte war, wozu Miriam Lust hatte. Und Miriam hatte ihren Blick erwidert; die beiden waren ein eingespieltes Team.
Zack verstand, dass seine Geschwister sich alle Mühe gaben, ihn miteinzubeziehen und ihn zum Lachen zu bringen. Er war ihnen auch dankbar. Er hatte bloß keine Lust, aufgeheitert zu werden. Jetzt nicht und überhaupt nie mehr.
Im Augenblick konnte er an nichts anderes denken als daran, dass er noch eine ganze Stunde für sich hatte und dass das Mädchen, das aussah wie Susan, irgendwo da draußen in der Nähe des Turms war. Er wartete eine Minute und dann noch eine, wobei er den Turm nicht aus den Augen ließ. Ihm kam der Gedanke, dass sie sich vielleicht verlaufen hatte. Vielleicht hatte sie auch versucht, in den Turm zu gelangen, oder sich irgendwie verletzt. Dass sie nicht wiederkam, beunruhigte ihn. Zack schaute noch einmal auf seine Uhr und dann wieder zum Turm. Schließlich zog er seine Schuhe an, verließ das Zimmer und sprang schnell die Treppe hinunter.
«Ich gehe kurz raus, Dad», rief er und sauste zur Haustür.
«Bleib nicht so lang», sagte sein Vater. Aber Zack war schon draußen und wandte sich dem Turm zu. Und als er in einen leichten Trott fiel, dachte er: Vielleicht braucht das Mädchen Hilfe.
Den Turm zu betreten, war den Einstein-Kindern strengstens verboten. Sie durften ihn sich von außen anschauen – die sauberen Linien zwischen den grauen Sandsteinquadern, aus denen die Wände bestanden, die schnurgeraden Flächen der neun Seiten, die weichen Bögen der jetzt fast vollständig verbarrikadierten Fenster, und sie durften sich auch auf die steinerne Treppe vor den riesigen Eisentoren setzen. Aber ihre Eltern hatten ihnen klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass der Turm nicht zu ihrem Grundstück gehörte und dass sie gar nicht erst versuchen sollten, hineinzugelangen. Das hätte auch gar nicht funktioniert, denn die Türen waren fest verschlossen (was die Kinder allerdings nur vermuteten, denn keiner der vier hatte gewagt, daran zu rütteln), und an dem Gebäude hingen etliche Schilder mit der Aufschrift «Kein Zutritt». Der Turm wirkte verlassen. Die Fenster waren verhängt, und die Mauersteine hatten hier und da abgesplitterte Ecken. An einigen Stellen bröckelte der Putz oder breitete sich Schimmel aus. Allerdings waren sich die Einstein-Kinder darüber einig, dass das Gemäuer nicht so heruntergekommen wirkte, wie ihre Eltern sie hatten glauben machen wollen, bevor sie den Turm mit eigenen Augen gesehen hatten.
«Das muss früher der coolste Rastplatz der Welt gewesen sein», hatte Ruth gesagt, als sie am ersten Tag in ihrem neuen Zuhause dem Turm zu viert einen Besuch abstatteten. «So idyllisch, so romantisch. Ein Ort, über den ich schreiben könnte.» Sie schaute sich nachdenklich um und sagte dann: «Als Bridgette Carlisle vom Turm in Vista Point aus über den Fluss schaute, wusste sie, dass sie Thomas Cooper ewig lieben würde.»
«So was würde doch niemand lesen», hatte Ethan gesagt und kopfschüttelnd den Fluss entlanggedeutet. «Interessant. Von hier aus befindet sich Mount Knox genau in einem Winkel von fünfundvierzig Grad.» Er holte seinen Kompass aus der Tasche und spielte daran herum.
Miriam deutete einen Korbwurf an. «Der Ball verlässt meine Hand in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel», sagte sie, und Ruth seufzte tief auf, als Miriam rief: «Und das macht drei Punkte für den Sieg!», während sie gleichzeitig zu dem nicht vorhandenen Korb hinaufstarrte. Dann wandte sie den Blick ab und schaute zu dem Fluss unter ihnen und dem Stück Highway, der daran entlangführte.
«Ich wünschte, sie hätten den Highway nicht ausgerechnet dort gebaut», sagte sie. «Dad meint, dann wäre die alte Straße hier hinauf der einzige Durchgang, und die Leute würden immer noch herkommen und hier übernachten. Der Turm wäre in einem viel besseren Zustand.»
Doch Zack dachte gar nicht an jenen ersten Besuch; er lief jetzt langsamer und näherte sich vorsichtig dem Turm, wobei er seine Umgebung im Auge behielt. Er war sich darüber im Klaren, dass sein Vater ihn womöglich vom Küchenfenster aus beobachtete, weit hinter ihm auf der anderen Seite des großen Feldes, das zwischen ihrem Haus und dem Turm lag. Er bog nach Westen ab, in Richtung des Waldes am Rand des Feldes, und näherte sich von dort der Klippe. Dann trottete er den Hang ein Stück nach unten, vorbei am Turm, und warf dabei einen verstohlenen Blick zur Vorderseite des Gebäudes mit der Eingangstreppe. Niemand zu sehen. Zack blieb stehen und drehte sich um. Sein Elternhaus war nun hinter dem Hang verschwunden, sodass sein Vater ihn nicht mehr sehen konnte. Zack betrachtete den Turm. Alles war still unter der hochstehenden, heißen Sonne. Zack fühlte sich plötzlich nicht nur völlig allein, sondern irgendwie abgeschieden, als ob sein Zuhause meilenweit entfernt wäre.
Einmal mehr überkam ihn die Erinnerung an letzten August.
Alle sieben Einsteins waren zum Jahrmarkt im Süden von Roseburg gefahren, in der Nähe von Hugard. Zack und die zwei Jahre jüngere Susan waren bei ihrer Mutter geblieben, während die anderen ausschwärmten, um sich mit den Fahrgeschäften, den Attraktionen und Buden zu vergnügen. Ethan und sein Vater waren zusammen losgezogen, und die beiden älteren Mädchen hatten sich in die andere Richtung davongemacht. Um acht Uhr, als die Dunkelheit langsam hereinbrach und die Klänge der Countrymusic-Band aus der Arena im Zentrum des Jahrmarkts zu ihnen drangen, gingen Zack und Susan mit ihrer Mutter durch das Tor hinaus auf die Straße, die zum Marktgelände führte. Die beiden Geschwister, die sich eine Zuckerwatte teilten, blieben mit ihrer Mutter an dem Maschendrahtzaun stehen. Lärm und Lichter, Menschen und Autos umbrausten sie. Ein riesiges Banner mit der Aufschrift «WILLKOMMEN ZUM JAHRMARKT!» war zwischen zwei hohen Pfosten direkt vor ihnen aufgespannt.
«Wo bleiben sie denn?», wunderte sich Zacks Mutter nach einer Weile und blickte sich suchend um. «Sie sollten längst zurück sein.»
Susan zupfte sich einen Klumpen Zuckerwatte von dem Stiel, den Zack in der Hand hielt, und die beiden kicherten und mampften unbekümmert vor sich hin. Zacks Mund und seine Wangen waren ganz klebrig von dem rosa Zucker. Seine Mutter, die sich immer noch umschaute, wirkte besorgt.
«Ihr zwei wartet hier», sagte sie und warf Zack einen ernsten Blick zu. Sie deutete zu dem Tor rechts von ihnen. «Vielleicht denken sie, wir würden uns drinnen treffen.» Und mit einem weiteren strengen Blick in Richtung Zack setzte sie hinzu: «Ihr rührt euch nicht vom Fleck, ist das klar? Ich bin gleich wieder da.»
Susan hatte nur Augen für die Zuckerwatte, doch dann schaute sie Zack plötzlich listig an und sagte: «Susan sieht einen Mann mit lila Flip-Flops.» Sie hob den Kopf und schaute zum Himmel, wie sie es immer bei diesem Spiel tat, um Zack auf die falsche Fährte zu locken.
«Da drüben!», rief Zack gleich darauf und deutete auf einen Mann, der gerade an ihnen vorbeigegangen war und tatsächlich lila Flip-Flops trug. Die beiden liebten dieses Spiel, nicht zuletzt weil es ihre älteren Geschwister stets zu nerven schien.
«Und jetzt sieht Zack eine Frau mit zwei Liebesäpfeln und einem Hotdog», sagte er.
«Ich sehe sie auch!», sagte Susan. «O Mann, weißt du noch, letztes Jahr, als du zwei Hotdogs gegessen hast, bevor wir mit der Achterbahn fuhren?»
Zack umklammerte theatralisch seinen Bauch. «Erinnere mich bloß nicht daran!»
Gerade als Susan die Hand ausstreckte, um sich wieder einen Fetzen Zuckerwatte abzureißen, tauchte hinter einer hölzernen Tafel, auf der das Programm des Jahrmarkts angeschlagen war, ein Kätzchen auf.
«Sieh mal!», sagte Susan und deutete auf das winzige graue Tier. Sie kniete sich hin und streckte die Hand aus, während Zack zuschaute, doch dann riss sie die Hand zu schnell zurück, und das Kätzchen rannte erschrocken los.
«O nein!», rief Susan, als die kleine Katze zwischen den Menschenmassen hindurchhetzte, die über den Bürgersteig strömten – und ehe Zack sie noch aufhalten konnte, lief sie hinterher.
«Hey!», schrie er, aber sie war schon fort, folgte der kleinen Katze. Das war das letzte Bild, das er von seiner Schwester hatte: wie sie in ihren blauen Shorts und ihrem weißen Lieblingspulli hinter einem Kätzchen herrannte. Danach erinnerte er sich nur noch an einen unheimlichen, dunklen Himmel, an das Quietschen von Bremsen, einen schrecklichen Aufprall und an die Stimmen von scheinbar tausend Menschen, die alle durcheinanderschrien.
Von diesem Moment an war alles nur noch Chaos. Er wusste nicht, wie seine Mutter und dann sein Vater und seine Geschwister zu ihm stießen, wie er ihnen klarmachte, dass Susan weggelaufen war. Alle weinten oder standen unter Schock oder fühlten etwas, das er nicht begreifen konnte. Sosehr er sich auch jedes Detail dessen, was nach Susans Verschwinden geschehen war, ins Gedächtnis rief, es ergab einfach keinen Sinn. Wie war er wieder nach Hause gekommen? Was war danach geschehen? Sein Geist klammerte alles aus. Es folgten Tage, die von einer merkwürdigen Traurigkeit erfüllt waren, dann eine Beerdigung und dann Wochen, in denen er nichts weiter tat, als in seinem Zimmer zu sitzen oder auf seinem Bett zu liegen. Er konnte sich später nicht mehr daran erinnern, was geschehen war oder was er in dieser Zeit getan hatte. Irgendwann ging er schließlich wieder zur Schule. Die Tage reihten sich aneinander. Er wusste nur, dass Susan nie zurückkommen würde. Und er war sich sicher, dass dies nur deshalb so war, weil er zugelassen hatte, dass sie diesem Kätzchen folgte. Es gab etwas, das er hatte geschehen lassen. Oder irgendetwas an ihm hatte zu dem Ereignis geführt, das dann folgte.
«Ich hätte euch zwei nie allein lassen dürfen», sagte Zacks Mutter mehr als einmal, wenn sie ihn in eine tränenreiche Umarmung schloss. «Niemals.» Aber er hatte das Gefühl, dass sie ihm nur einreden wollte, es sei nicht seine Schuld. Er wusste es besser. Er hatte nicht so auf seine kleine Schwester aufgepasst, wie er es hätte tun sollen. Seine Mutter oder sein Vater, Ethan oder die Mädchen – sie alle konnten sagen, was sie wollten. Er kannte die Wahrheit.
Zack betrachtete den Grand River am Fuß der Klippe. Eine Brücke, die einzige im Umkreis von zwanzig Meilen, überspannte im Osten das Wasser. Aber sie war so weit entfernt und so weit unterhalb von ihm, dass die Autos darauf geräuschlos fuhren, wie kleine Spielzeugfahrzeuge. Auch das Wasser schien von hier oben betrachtet langsam zu fließen, und der Fluss sah aus wie ein langes, beinahe regloses blaues Band, das sich in beide Richtungen am Horizont verlor. Auf der gegenüberliegenden Seite zog sich der Wald über die Hügel, so weit das Auge reichte, und in der Ferne verschwammen die Bäume zu einer glatten grünen Decke. Zack wandte sich wieder dem Turm zu. Das Mädchen ist bestimmt wieder in den Wald gegangen, dachte er.
Das graue Gebäude wirkte imposant im hellen Sonnenlicht, prächtig und massiv, und Zack überlegte, wie wunderbar es ausgesehen haben musste, bevor die hohen Fenster verbarrikadiert worden und als noch alle Dachziegel vorhanden gewesen waren, von denen mittlerweile etliche fehlten. Es war kaum zu begreifen, dass man ein solches Gebäude hatte verfallen lassen. Er kniff die Augen leicht zusammen und versuchte sich den Turm vorzustellen, wie er einstmals gewesen war.
Im Inneren bewegte sich etwas.
Hinter einem Fenster – einem der wenigen, die nicht zerbrochen oder zugenagelt waren – im oberen Stock des Turms tauchte eine Silhouette auf, ein Schatten, der so schnell wieder verschwand, dass Zack nicht genau sagen konnte, ob seine Augen ihm einen Streich gespielt hatten oder nicht. Er wartete und schaute genau hin, aber nichts geschah. Er machte ein paar Schritte auf den Turm zu, wobei er die oberen Fenster fixierte. Und als er vor der Treppe stand, sah er etwas, das er kaum glauben konnte: Die Türen zu dem steinernen Gebäude standen einen Spalt offen.
Vorsichtig stieg Zack die wenigen Stufen hinauf. Durch die Türen konnte er in den Turm hineinsehen: Es war düster dort drinnen und voller Schatten, und nur ein paar hochgelegene Fenster ließen etwas Licht hinein. Er griff mit der Hand nach einer der Türen, legte den Kopf schräg und lauschte. Kein Laut war zu hören. Zack beugte sich weiter vor, zu dem Spalt zwischen den beiden Türblättern, und sah gedämpftes Licht auf einem Marmorfußboden schimmern. Noch einmal wandte er sich Richtung Fluss. Dann zog er langsam an einer der Türen und betrat den Turm.
Es dauerte einen Moment, bis sich Zacks Augen an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnt hatten, doch dann stockte ihm der Atem. Der weiße Marmorboden war so rein und zart, dass Zack das Gefühl hatte zu schweben, und die glatten Wände schimmerten hellrosa. Er hatte geglaubt, sie würden innen genauso aussehen wie außen: grauer, rauer Sandstein. Aber diese Wände waren makellos und sauber, als ob sie erst letzte Woche gestrichen worden wären. Die steinernen Rippen der innen liegenden Seiten der Säulen zogen sich ringsum nach oben. Im Erdgeschoss waren die Fenster mit Holzplanken verbarrikadiert, aber die intakten grünen und gelben Glasscheiben der Fenster im ersten Stock ließen ein weiches Licht hinein, das den Innenraum in ein fast überirdisches Leuchten tauchte. Es war, als würde man am späten Nachmittag in einem dichten smaragdgrünen Wald stehen, umringt von hohen Zedern, wenn die Luft angenehm und weich ist und alles still und friedlich. Am bemerkenswertesten fand Zack, dass der Turm innen nicht im mindesten schmutzig oder heruntergekommen war, wie er von außen den Anschein machte. Im Gegenteil, alles wirkte so, als wäre die Tür eines Tages abgeschlossen worden und als hätte nichts seitdem die Ruhe des Gemäuers gestört.
Zack starrte hinauf zu der mit goldenen Platten verkleideten Decke. In ihrer Mitte, am höchsten und entferntesten Punkt von der Stelle aus, wo Zack stand, befand sich etwas Rundes, Silbernes, das so aussah wie ein flacher Rauchmelder. Aber etwas Derartiges passte nicht hierher, und so war sich Zack sicher, dass er sich irrte. Er schaute genauer hin. Irgendetwas an diesem Ding faszinierte ihn. Was immer es auch war, es glitzerte in dem schwachen Licht, als Zack den Kopf bewegte, um besser sehen zu können. Es schien eine Art Medaillon zu sein, direkt in der Mitte der Decke, obwohl in dem Dämmerlicht keine Einzelheiten zu erkennen waren. Aber Zack hatte die Neugier gepackt; er wollte unbedingt wissen, was das war.
Er ließ den Blick von der Kuppel aus nach unten wandern. Zwischen den zwei Stockwerken des Turms waren am Rand ringsherum Skulpturen angebracht – Reliefs, wie Zack erkannte, Gesichter von Menschen aus längst vergangenen Zeiten: amerikanische Ureinwohner mit üppigem Federschmuck, Pioniere, Siedler, Soldaten mit spitzen Hüten. Während sich Zack langsam im Kreis drehte, um sie nacheinander zu betrachten, bemerkte er eine schmale Marmortreppe an der Wand links von ihm, die zum ersten Stock hinaufführte. Und dort, direkt am Geländer, stand das Mädchen mit dem roten Pferdeschwanz und schaute zu ihm hinab.
«Hallo», sagte sie leise und hob zögernd die Hand. Dort, wo sie stand, waren die Schatten so tief, dass er sie kaum sehen konnte.
«Hallo», antwortete Zack und hob seinerseits die Hand. In der Stimme des Mädchens und in der Art, wie sie ihn begrüßte, lag eine Lockerheit und Selbstverständlichkeit, als ob sie Zack kennen würde. Während er nach oben blickte, erwartete Zack, dass sie noch etwas sagen würde, aber sie hielt sich nur am Geländer fest und schaute zu ihm hinunter.
«Wie bist du hier reingekommen?», wollte er wissen. Seine Stimme hallte in dem leeren Raum wider.
Das Mädchen deutete zur Tür, die Zack offen gelassen hatte. «Ich bin einfach reingegangen», sagte sie mit einem leichten Schulterzucken.
«Es war nicht abgeschlossen?» Noch während er das sagte, dachte Zack an die Male, die er mit seinen Geschwistern hier gewesen war: Nie hatten sie versucht, die Türen zu öffnen. Vielleicht waren sie die ganze Zeit nicht verschlossen gewesen.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. «Nein. Ich konnte einfach hinein. Ich war schon oft hier, aber immer draußen. Es ist das erste Mal, dass ich reingegangen bin.»
«Wir sind erst vor Kurzem hergezogen», platzte Zack heraus. «Ich meine, meine Familie und ich.»
«Du wohnst in dem großen Haus dort drüben?», fragte sie und deutete in die entsprechende Richtung.
«Ja. Ich heiße Zack. Früher wohnten wir in Roseburg.»
«Ich bin Ann.»
Zack schaute wieder zu den Türen. «Bist du allein hier?»
Sie nickte. Dann zog sie sich leicht am Geländer hoch und reckte das Kinn. «Du solltest raufkommen und dir das ansehen.»
Zack ging schnell zur Treppe und sprang die Stufen hoch. Als er vor Ann stand, staunte er wieder, wie ähnlich sie Susan sah – das rote Haar, der Pferdeschwanz, die großen braunen Augen. Sie war sogar genauso groß wie Susan.
«Ich war mir sicher, dass ich hier drinnen etwas gesehen habe», sagte Zack. «Das warst du.»
Ann lächelte mit fest zusammengepressten Lippen und nickte aufgeregt. «Ich war mir sicher, dass ich draußen etwas gesehen habe. Und das warst du!» Sie zuckte wieder leicht mit den Schultern und wirkte so erfreut, als ob ihr Zack eine Tüte mit Bonbons angeboten hätte. «Anfangs dachte ich, du wärst ein Junge, den ich aus der Schule kenne, weil du auch so dichtes schwarzes Haar hast wie er. Und du bist genauso mager.»
Zack fühlte, wie er Ann anlächelte. «Wie alt bist du?», fragte er.
«Neun.»
«Ich bin elf», sagte er.
«Eins und eins. Wow!»
Zack lachte. «Mein Geburtstag war im Oktober. Wann ist deiner?»
«Am fünften Mai.»
«Cinco de Mayo.»
«Was?», fragte Ann.
«Das ist ein Feiertag.»
«Das ist mein Geburtstag.»
Zack lachte noch einmal, aber nur weil Ann so geradeheraus sprach, so ernsthaft. «Wohnst du hier in der Nähe?», fragte er.
Ann nickte. «Vista Point ist toll. Hier gibt es Wasserfälle und Seen, in denen man schwimmen kann, und Wanderwege. Ich laufe gerne herum und schaue mir alles an. Das mache ich am liebsten.» Sie blickte über das Geländer. «Mir gefällt’s hier. Ich wollte schon immer mal wissen, wie es hier drinnen aussieht.»
«Ich wusste gar nicht, dass man reingehen kann», sagte Zack. «Ich dachte, hier wäre alles verfallen, aber es ist in Wahrheit ziemlich schön.»
«Das stimmt.» Sie betrachtete die Decke, und ihr Mund öffnete sich. «Und ruhig.»
«Wie weit weg wohnst du?», fragte Zack.
«Nur auf der anderen Seite des Waldes.»
«Und deine Eltern lassen dich allein losziehen?»
«Ich kenne hier jeden Winkel», sagte Ann, was – wie Zack bemerkte – nicht seine Frage beantwortete. «Ich wohne schon mein ganzes Leben in Vista Point.»
Einen Augenblick lang sagte keiner von ihnen etwas, und im Turm breitete sich eine absolute Stille aus. Zack betrachtete das Medaillon an der Decke; es schienen Wörter darauf zu stehen.
«Hast du Geschwister?», fragte Ann. «Ich habe keine.»
«Einen Bruder und drei Schwestern», sagte Zack. Er verstummte kurz. «Aber meine jüngste Schwester ist nicht mehr bei uns.» Und dann, weil er das Gefühl hatte, er hätte zumindest teilweise etwas offenbart, das er nicht erklären wollte, setzte er hinzu: «Die anderen sind mit meiner Mom beim Einkaufen in Thornton Falls.»
Ann schaute ihn an. Sie schien darauf zu warten, dass er weitersprach. «Was meinst du damit, sie ist nicht mehr bei euch?», fragte sie.
«Sie hatte einen Unfall im letzten Sommer», sagte Zack. Er schaute zur Kuppeldecke.
«Oh, das tut mir leid», sagte sie, und wieder wurde es vollkommen still im Turm. Ann reckte sich, um über das Geländer zu schauen, und ließ den Blick langsam über die Wände und den Marmorboden gleiten, als wollte sie jeden Winkel mit den Augen erforschen.
«Alles okay?», fragte Zack und wandte sich ihr zu.
Sie schaute ihn an und schenkte ihm ein winziges, beruhigendes Lächeln. Ihre Zähne standen etwas schief, was sie jünger wirken ließ, als sie war, fand Zack.
«Was ist dein Lieblingsessen?», fragte sie. «Meins ist Haferbrei mit Schokostreuseln. Das ist so lecker!»
Zack lachte laut auf. Anns Frage hatte ihn völlig überrumpelt.
«Mein Lieblingsessen?», wiederholte er. «Schokoladencremetorte mit Pekannüssen und Kokosnussraspeln wahrscheinlich. Meine Mom backt immer eine zu meinem Geburtstag, und mein Dad behauptet, so einen Kuchen zu essen, würde Glück bringen, aber ich glaube, das hat er sich bloß ausgedacht.»
«Meine Mom hat behauptet, dass dieser Ort Glück bringen würde», sagte sie.
«Der Turm? Der soll Glück bringen?»
«Ja, allen Menschen hier in der Gegend.» Ann machte eine ausholende Armbewegung, um anzudeuten, dass sie nicht nur den Turm, sondern auch die Umgebung meinte. «Für alles.»
«Es ist cool, hier zu wohnen», sagte Zack. Er hatte keine Ahnung, was Ann ihm versuchte zu sagen. «Er steht an der Grenze zu unserem Grundstück.»
«Dann kannst du ja immer herkommen!»
Schuldgefühle durchzuckten Zack. «Meine Eltern wollen nicht, dass ich reingehe. Weder ich noch meine Geschwister. Sie würden stinksauer werden, wenn sie es herausfänden.»
«Na ja, vielleicht kannst du mit ihnen reden. Sie um Erlaubnis bitten. Wie war doch gleich dein Name?»
«Zack.»
«Zack», sagte sie, als wollte sie den Klang seines Namens erforschen. «Ich dachte erst, du hättest Jack gesagt.»
«Nein, Zack.»
Mit einer schnellen Handbewegung deutete sie nach oben zu dem Medaillon. «Hey, ich habe mir das da angeschaut, bevor du gekommen bist. Hast du das gesehen?»
«Ja, als ich reinkam.»
«Dachte ich’s mir doch!», rief Ann. Sie nahm seine Hand und ging mit ihm am Geländer entlang rund um das erste Stockwerk, bis sie zu einer Stelle kamen, wo das Licht durch ein Fenster fiel und das Medaillon erhellte.
«Von hier aus kann man es besser sehen», sagte Ann. «Kannst du lesen, was draufsteht? Ich sehe nicht besonders gut.»
Zack musterte das Medaillon – eine flache Scheibe, etwa zwanzig Zentimeter im Durchmesser, aus einem silberfarbenen Metall gemacht. Darauf befanden sich drei Ringe mit «Wörtern» (obwohl sie anders aussahen als alle Wörter, die Zack je gesehen hatte), die drei «echte» Wörter im Inneren einrahmten.
«Das ergibt keinen Sinn», sagte Zack. «Das sind nur wahllos zusammengewürfelte Buchstaben.»
Ann schaute immer noch hoch zur Decke. «Ich weiß nicht … aber es ist irgendwie …»
Sie verstummte, obwohl Zack zu wissen glaubte, was sie sagen wollte. Nicht nur die Wörter und das Medaillon selbst waren besonders; als er die Ringe aus Wörtern im Stillen gelesen hatte, hatte er sich seltsam entspannt gefühlt, als ob er einen Moment lang alles Gefühl abgestreift hätte.
«Es ist irgendwie interessant», sagte Zack. Sein Vater benutzte das Wort ziemlich oft für Dinge, die er nicht erklären konnte.
«Genau.» Ann nickte. «Es ist interessant.»
Aus der Ferne schallte ein Ruf: «Zack!»
«Das ist mein Vater!», sagte Zack. Ihm wurde klar, dass er schon seit mindestens zwanzig Minuten hier war.
«Zack!» Wieder die Stimme seines Vaters.
Die beiden Kinder rannten rumpelnd die Treppe hinunter und zur Tür, ohne ein Wort zu sagen. Als sie wieder draußen im Sonnenlicht standen, schob Zack die Türen zu und rief: «Ich komme, Dad!»
Er drehte sich zu Ann. «Ich bin meistens zu Hause, also kannst du uns gerne besuchen, wann immer du willst. Aber mein Dad darf uns nicht erwischen, wie wir hier aus dem Turm kommen.» Er deutete nach unten, um anzudeuten, dass sie erst ein Stück hinabsteigen und dann an einer anderen Stelle, etwas weiter vom Turm entfernt, wieder nach oben gehen mussten.
«Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen», sagte Ann. Dann weiteten sich ihre Augen, als ob ihr gerade etwas aufgegangen wäre. «Und ich will selbst auch keinen Ärger kriegen!»
«Ich werde nichts verraten», sagte Zack. «Ich werde nicht einmal sagen, dass ich dich getroffen habe, okay?»
«Zack!», rief sein Vater noch einmal. «Wo bist du?»
Ann nickte. «Okay. Aber wollen wir uns wieder hier treffen?»
Zack streckte ihr die Hand hin. «Abgemacht.»
Sie lächelte strahlend. Ihre Hand schoss vor und umfasste seine. «Abgemacht!»
«Ich komme!», rief Zack.
Er und Ann gingen eine kleine Strecke den Hang hinunter und bogen dann nach rechts ab. Nach ein paar Schritten wandte sich Zack wieder nach oben, und Ann ging weiter in Richtung Bäume, ohne zurückzublicken.
«Zack!» Die Stimme seines Vaters hatte mittlerweile einen drängenden Ton angenommen. «Wo bist du denn?»
Zack rannte die restliche Strecke den Hang hinauf und hob winkend die Hand. Sein Vater stand vor dem Haus.
«Hier bin ich! Alles in Ordnung. Komme schon!»
Er schaute den Hügel hinunter und sah Ann im Wald verschwinden. In diesem Moment sah sie Susan so ähnlich, wie sie da von ihm wegtrottete, dass Zack der Atem stockte. Und ihm wurde klar, dass er tatsächlich in ihrer Gegenwart zwei- oder dreimal gelacht hatte. Es war lange her, seit er sich so leicht gefühlt hatte, so entspannt.
Er starrte in das Dickicht aus Zedern und Tannen.
Hoffentlich sehe ich sie morgen wieder, dachte er.
Die Einsteins hatten früher nie an den Freitagabenden den Sabbat – oder Schabbat, wie sie es nannten – gefeiert. Aber im vergangenen Oktober, ungefähr zu der Zeit, als Zack, der den ersten Monat des neuen Schuljahrs verpasst hatte, wieder zur Schule ging, änderte sich etwas. Von da an zündeten seine Eltern jeden Freitag vor dem Abendessen zwei Kerzen an und sprachen ein oder zwei Gebete. Und dann sagten alle etwas über Susan – alle außer Zack, der aus Gründen, die er selbst nicht verstand, in diesen Momenten nichts beitragen konnte. Heute war ihr erster Freitag im neuen Zuhause, und es war ein besonderer Abend, wusste Zack. Er freute sich darauf.
In das Haus musste man zweifellos noch viel Arbeit stecken, aber selbst Zack, der von allen am wenigsten begeistert über ihren Umzug gewesen war, zeigte sich beeindruckt: Es war «eine dreistöckige Villa im viktorianischen