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Winterhaus ist ein Hotel voller Rätsel und Geheimnisse inmitten einer sagenhaften Schneelandschaft. Das größte Geheimnis hat Elizabeth bereits aufgedeckt: Sie ist das jüngste Mitglied der Familie Falls, die das Hotel seit Generationen leitet. Und wie sie alle, verfügt Elizabeth über magische Kräfte, Nur setzen nicht alle von ihnen diese Kräfte für das Gute ein. Jetzt bei ihrem zweiten Mal im Winterhaus, wird Elizabeth richtig auf die Probe gestellt. Dabei hatte sie sich auf unbeschwerte Ferien gefreut. Doch im Hotel erwartet sie mehr als eine unangenehme Überraschung: ein attraktives Mädchen an der Seite ihres guten Freundes Freddy, neue Gerüchte um Graziella und ihre böse Magie, zwielichtige Gäste ... Eine prickelnde Fortsetzung des erfolgreichen ersten Bandes "Winterhaus" - zum Miträtseln und Mitfiebern.
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Seitenzahl: 380
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Ben Guterson
Aus dem Englischen von Alexandra ErnstMit Illustrationen von Chloe Bristol
Für Rosalind, Jacob, Olivia und Natalie
TEIL 1: ZURÜCK NACH HAUSE – UND DIE SUCHE BEGINNT
KAPITEL 1: DER VORFALL IM BUS
KAPITEL 2: EIN BELAUSCHTES GESPRÄCH
KAPITEL 3: EINE UNERWARTETE OFFENBARUNG
KAPITEL 4: EIN EIGENARTIGES BUCH
KAPITEL 5: HALTE DICH VON DEM GRAB FERN!
KAPITEL 6: EIN FREUDIGES WIEDERSEHEN
KAPITEL 7: AUS HEITEREM HIMMEL
KAPITEL 8: EINE GROSSE SCHÜSSEL
KAPITEL 9: GERÜCHTE BEIM ABENDESSEN
KAPITEL 10: EIN VORTRAG UND EIN GESPRÄCH
KAPITEL 11: MISSGESCHICK IN DER BIBLIOTHEK
KAPITEL 12: EIN ÜBERRASCHENDER TAGEBUCHEINTRAG
KAPITEL 13: EINE TOUR DURCH DIE KONFEKT-KÜCHE
KAPITEL 14: WER LAUERT IM DUNKELN?
TEIL 2: VORBEREITUNGEN ZUM HEILIGEN ABEND – UND DER ALARM GEHT LOS
KAPITEL 15: DIE UNGEMÜTLICHE BEGEGNUNG
KAPITEL 16: SICHER VERSTECKT
KAPITEL 17: VIELE FRAGEN, KUNST UND EIN NEUES ZIMMER
KAPITEL 18: WO DAS HERZ IST
KAPITEL 19: DER SILBERWEG UNTER DEM HOTEL
KAPITEL 20: KRAWALL AM HEILIGEN ABEND
TEIL 3: ZWISCHEN DEN JAHREN – DIE GUTE LAUNE VERBLASST
KAPITEL 21: EINE BETAGTE DAME: KIONA FALLS
KAPITEL 22: DIE SCHÄTZE AUS DEM SAMTBEUTEL
KAPITEL 23: EIN PLAN NIMMT GESTALT AN
KAPITEL 24: EIN AUSFLUG NACH HAVENWORTH
KAPITEL 25: EINE UNGEMÜTLICHE GESELLSCHAFT
KAPITEL 26: DAS GEHEIMNIS DES SIEGELS WIRD ENTDECKT
KAPITEL 27: DER BLICK AUS DER DUNKELKAMMER
KAPITEL 28: UNHEIMLICHE EREIGNISSE IN DER HÜTTE
TEIL 4: EINE VERZWEIFELTE SUCHE – UND DAS ABENTEUER ENDET
KAPITEL 29: DIE LETZTE TÜR
KAPITEL 30: KOFFER, KISTEN UND KÄSTEN
KAPITEL 31: DER KALTE TUNNEL
KAPITEL 32: DAS GEHEIMNIS VON WINTERHAUS
KAPITEL 33: DIE ENTSCHEIDUNG
KAPITEL 34: EIN LETZTER RUNDBLICK
DANKSAGUNG
WILFRED QUARLES: Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass ein Geheimgang zu dem Schrein führt. Gustav Placídes erwähnt ihn in dem Tagebuch, das ihm zugeschrieben wird.
GENERAL THRALE: Ich wäre überrascht, wenn das wahr wäre. Noch überraschter allerdings wäre ich, wenn es nicht wahr wäre. Die Unwahrscheinlichkeit von Geheimgängen macht sie in meinen Augen nur noch wahrscheinlicher.
Aus: Der geheime Spiegel von Herbert Quain
Elizabeth Somers sprang aus dem Bus in knöcheltiefen Schnee und war schon auf dem Weg zu der Tür des winzigen Stationsgebäudes aus Backstein, als eine Art innerer Schreck sie erstarren ließ: Jemand sucht nach mir.
«Elizabeth Somers?», tönte eine Stimme durch die kalte Morgenluft. «Gibt es hier eine Elizabeth Somers?»
Sie schaute hinter sich zum Bus. Solche Dinge − eine Vorahnung, ein Gefühl, dass jeden Moment etwas passieren wird − traten mittlerweile so regelmäßig auf, dass Elizabeth sich schon fast daran gewöhnt hatte. Ein junger Mann in der gleichen blauen Uniform wie der Fahrer stand neben der Bustür und musterte die Passagiere, die ausstiegen, um sich die Beine zu vertreten. Er hatte einen Umschlag in der Hand.
«Heißt hier irgendjemand Elizabeth Somers?», fragte der Mann und schaute sich um.
Elizabeth hob die Hand. «Hier, ich.»
«Aha», sagte der Mann und trat auf sie zu. «Dann ist das hier für dich.»
Er reichte ihr den kleinen Umschlag. Es war einer von der Sorte, die Großmütter gerne verschickten, um sich für ein Geschenk zu bedanken. Dann sagte der Mann: «Er wurde von einem Kurier zur Bahnstation gebracht.» Elizabeth stand eine Weile nur da und betrachtete den Umschlag, wobei sie sich fragte, wer ihn für sie abgegeben hatte, wer sichergehen wollte, dass die Nachricht sie genau an diesem Punkt ihrer Reise in den Norden, zum Hotel Winterhaus, erreichte. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie sich gar nicht bei dem Boten bedankt hatte. Aber als sie aufschaute, war der Mann verschwunden.
Das ist merkwürdig, dachte sie. Die einzigen Menschen, die von ihrer Reise wussten, waren ihre Tante Purdy und ihr Onkel Burlap, bei denen sie seit acht Jahren lebte. Sie war so froh, ihrem trüben Dasein in der bedrückenden Stadt Drere über die Weihnachtstage zu entkommen − genau wie sie im Jahr zuvor entkommen war, als sie zum ersten Mal ihre Ferien im Winterhaus verbracht hatte −, dass sie plötzlich Angst hatte, in dem Umschlag könnte sich eine Nachricht befinden, die sie aufforderte, in das schäbige Haus ihrer Tante und ihres Onkels zurückzukehren. Abgesehen von diesen beiden und ihrem guten Freund Freddy Knox hatte nur noch eine weitere Person Kenntnis von ihrer Reise, und das war Norbridge Falls. Norbridge war der Besitzer des Hotels Winterhaus und auch ihr Großvater − wie Elizabeth vor 353 Tagen erfahren hatte (über solche Dinge führte sie genau Buch). Sie war sich sicher, dass sonst niemand wusste, dass sie sich genau jetzt in genau diesem Bus befinden würde.
Elizabeth riss den Umschlag auf und holte eine kleine Karte heraus, auf der stand:
Liebe Elizabeth, wir freuen uns alle so sehr, dass Du uns wieder im Winterhaus besuchen kommst! Bitte tu mir den Gefallen und steige bereits in Havenworth aus, eine Station vor dem Hotel. Wir treffen uns dort im Café Silberfeige. Du wirst gegen Mittag dort ankommen. Was bedeutet, dass wir dort essen können! Ich freue mich auf Deine Ankunft, etc. und so weiter und so fort …
Dein Großvater Norbridge
Elizabeth schob ihre Brille nach oben, ließ den Blick über die Fahrgäste schweifen, die neben dem Bus standen, und versuchte, ein Gemisch aus Verwirrung und Enttäuschung hinunterzuschlucken. Einerseits freute sie sich darauf, Norbridge wiederzusehen, und ein Spaziergang durch Havenworth war gewiss nett − aber warum konnten sie sich nicht im Hotel Winterhaus treffen? Sie konnte es kaum erwarten, dort zu sein. Warum musste Norbridge ihre Ankunft hinauszögern?
Sie las die Karte noch einmal, steckte sie wieder in den Umschlag und beschloss, im Bus weiter darüber nachzudenken. Im Augenblick war das Stationsgebäude ihr Ziel, wo sie sich eine heiße Schokolade und ein paar Kekse kaufen wollte. Ihre Tante und ihr Onkel, die sie gestern Abend tatsächlich zum Bahnhof in Drere gefahren hatten, anstatt von ihr zu verlangen, dass sie zu Fuß ging, hatten ihr für die lange Reise mit Zug und Bus zum Hotel Winterhaus zehn Dollar gegeben. Elizabeth hatte von den beiden noch niemals so viel Geld bekommen, und diese Großzügigkeit hatte sie überrascht, genauso wie der Anflug von Traurigkeit, den sie bei ihrer Tante und ihrem Onkel zu bemerken glaubte. Das Ganze war so seltsam und sah ihnen so überhaupt nicht ähnlich, dass Elizabeth nicht wusste, was sie davon halten sollte. Aber im Augenblick hatte sie Hunger, und sie hatte immer noch 7,36 Dollar übrig.
Als Elizabeth fünf Minuten später wieder in den Bus stieg und auf ihren Platz zusteuerte, musste sie feststellen, dass er bereits besetzt war, und zwar von einem Jungen in ihrem Alter. Das Buch, das sie gelesen hatte, Das Geheimnis von Northaven Manor von Damian Crowley, und das sie auf dem Sitz liegen gelassen hatte, um zu verdeutlichen, dass dieser Platz besetzt war, war verschwunden. Sie blieb im Gang stehen und wartete darauf, dass der Junge aufschauen würde. Schwarzes Haar fiel ihm tief in die Stirn, sodass sein Gesicht kaum zu sehen war. Er trug eine schwarze Wolljacke und war so sehr in ein Videospiel auf seinem Smartphone vertieft, dass er nicht registrierte, was um ihn herum passierte.
Der Dieselmotor erwachte tuckernd zum Leben, und der Bus setzte sich langsam in Bewegung. «Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein!», rief der Busfahrer.
«Ich glaube, du sitzt auf meinem Platz», sagte Elizabeth höflich. Der Junge nahm nicht die geringste Notiz von ihr. Sie versuchte es noch einmal. «Entschuldige. Du sitzt auf meinem Platz.»
Der Junge hob langsam den Kopf. In seiner Miene lag eine leichte Herausforderung, als ob er davon ausging, dass Elizabeth ein Fehler unterlaufen war, er aber bereit wäre, darüber hinwegzusehen. «Was?», sagte er ausdruckslos.
«Das ist mein Platz», sagte Elizabeth und deutete auf ihren Rucksack in der Gepäckablage direkt über seinem Kopf. «Da habe ich gesessen.»
«Steht da irgendwo dein Name?», ertönte eine Stimme aus der Reihe hinter dem Jungen. Elizabeth drehte sich um. Eine korpulente Frau in einem weißen Pelzmantel starrte sie an. Der Mann neben ihr hatte einen Glatzkopf und einen dünnen Schnurrbart und einen finsteren Blick.
«Es gibt hier keine Platzreservierung», sagte der Mann. Er nickte der Frau neben sich zu, die ihn zufrieden angrinste.
Elizabeth schaute zu den Fahrgästen in den Sitzreihen auf der anderen Seite des Mittelgangs, in der festen Überzeugung, dass einer von ihnen bestätigen würde, dass der Junge sich auf ihren Platz gesetzt hatte, aber niemand blickte auf. Sie holte tief Atem. «Sie haben recht, es gibt hier keine Reservierungen, aber das da oben ist mein Rucksack, und ich habe seit heute Morgen, als ich eingestiegen bin, auf diesem Platz gesessen. Ich habe extra mein Buch auf den Sitz gelegt.»
Der Junge betrachtete sie nach wie vor mit diesem überheblichen Ausdruck in den Augen. Er schien nicht bereit, sich durch sie noch viel länger von seinem Spiel abhalten zu lassen.
«Rodney», sagte die Frau in dem weißen Pelzmantel, «du bleibst sitzen.» Sie schenkte Elizabeth ein gekünsteltes Lächeln. «Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Es sind noch jede Menge Plätze frei.» Der Blick des Mannes neben ihr wurde noch finsterer.
Der Junge, Rodney, blickte wieder auf sein Smartphone. «Klar doch, Mom», sagte er und gähnte.
Elizabeth warf einen Blick in den hinteren Bereich des Busses. «Da sind in der Tat noch viele freie Plätze», sagte sie. «Und wahrscheinlich auch viel nettere Leute. Gib mir bitte einfach mein Buch, und ich setze mich woandershin.»
Rodney schaute auf und drehte seinen Kopf mit einer trägen Bewegung von rechts nach links. «Ich sehe hier kein Buch», sagte er. Dann beugte er sich vor und griff nach etwas neben seiner Armlehne. «Ach, meinst du etwa das Ding?» Er zog ein Buch zwischen den Sitzen hervor und hob es hoch, als wäre es ein Putzlumpen, den er aus dem Rinnstein gefischt hatte.
Elizabeth schnappte das Buch und begutachtete seinen Zustand. Sie merkte, wie sie rot wurde. Ihr Atem kam gepresst. «Vielen Dank», sagte sie brüsk, während sie nach oben griff und ihren Rucksack zu sich hinunterzog. «Ich möchte ganz bestimmt nicht mehr hier sitzen!»
«Ach, vorlaut ist sie auch!», sagte die Frau in dem weißen Mantel.
«Bitte nehmen Sie alle Platz», rief der Fahrer. «Wir fahren jetzt los.»
Elizabeth wuchtete ihren Rucksack auf die Schulter; sie zitterte vor Wut. «Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden», sagte sie, weil ihr nichts anderes einfiel. Sie stapfte nach hinten in den Bus und schluckte die Beleidigungen, die ihr einfielen, hinunter. Dann hörte sie, wie der Mann die Frau fragte: «War das etwa ein Buch von Damien Crowley?»
Diese Frage kam unerwartet, und Elizabeth war zudem so sehr damit beschäftigt, sich zur Ruhe zu bringen, nachdem sie einen neuen Platz gefunden hatte, dass sie gar nicht mehr über Norbridges Karte nachdachte.
Zwanzig Minuten später war sie wieder ganz in ihr Buch vertieft und wurde nur noch hin und wieder von ärgerlichen Gedanken aus dem Geheimnis von Northaven Manor gerissen. Wenn ich nur gesagt hätte: Es spielt keine Rolle, ob mein Name auf dem Sitz steht oder nicht, weil keiner von Ihnen so aussieht, als könne er lesen, dachte Elizabeth und versuchte dann erneut, den ganzen Vorfall zu vergessen. Sie überlegte kurz, ob sie ihr kleines Notizbuch aus dem Rucksack holen und eine neue Liste anlegen sollte, vielleicht etwas wie «Dinge, die man zu unhöflichen Leuten sagt», aber sie ließ es bleiben.
Listen anzulegen war etwas, das sie im Laufe der Jahre perfektioniert hatte. Mittlerweile war das Notizbuch gefüllt mit Listen wie «Städte im Ausland, in denen ich später einmal mindestens ein Jahr lang leben will», «Die leckersten Kekse, die ich je gegessen habe», «Irgendwelche Regeln, die Tante Purdy aufstellt und dann wieder vergisst», «Lehrer in meiner Schule, die keine Kinder mögen» und «Häuser in Drere, die saniert oder neu gestrichen oder ganz abgerissen werden sollten» («Das Haus, in dem ich lebe» stand ganz oben auf dieser Liste.) Aber im letzten Jahr hatte sich etwas verändert. Während früher Dinge wie «Meine liebsten Süßigkeiten» oder «Die hübschesten Puppen» eine große Faszination auf sie ausgeübt hatten, merkte sie, dass sie daran allmählich das Interesse verlor und nun Listen schrieb über «Die ungesundesten Lebensmittel, die man zum Mittagessen futtern kann» oder «Dinge, die mal jemand gesagt hat und die ich früher cool fand, die mir heute aber gar nicht mehr cool vorkommen» oder «Dinge, die Mädchen in meiner Schule tun, nur um beliebt zu sein». Sie hatte vor ein paar Monaten, gleich zu Beginn der Mittelstufe, sogar mit einer Liste angefangen: «Jungen in meiner Schule, mit denen ich vielleicht befreundet sein möchte». Darauf wäre sie früher nicht einmal im Traum gekommen.
Elizabeth seufzte, schaute zu Rodney und seinen Eltern und wandte sich dann wieder ihrem Buch zu, das sie bei ihrem letzten Besuch im Winterhaus von Norbridge geschenkt bekommen und bereits einmal gelesen hatte. Wie im vergangenen Jahr brachte Elizabeth auch diesmal ein paar Bücher nach Winterhaus mit, davon drei aus der Schulbücherei. Sie las unglaublich gern und sie liebte Bücher. Sie konnte es kaum erwarten, wieder die Bibliothek von Winterhaus zu betreten, die größte Bibliothek, die sie je gesehen hatte. Die Bibliothekarin war Leona Springer, eine nette Frau in Norbridges Alter, die Elizabeth ans Herz gewachsen war. Sie freute sich auch darauf, Freddy wiederzusehen, den sie im letzten Jahr kennengelernt hatte, als er die Weihnachtsferien in dem großen Hotel verbracht hatte, und der auch in diesem Jahr kommen würde. Freddy war der klügste Junge, den sie kannte, und der einzige, mit dem sie jemals befreundet gewesen war. Sie waren in Kontakt geblieben und hatten sich mehrmals im Monat E-Mails geschrieben.
«Wie lange dauert es noch, bis wir beim Winterhaus ankommen?», unterbrach jemand mit lauter Stimme Elizabeths Gedanken. Rodney, der Junge, der auf ihrem Platz saß, hatte seinen Kopf in den Gang hinausgestreckt und schaute nach hinten zu seinen Eltern.
«Nur noch ein paar Haltestellen», ertönte die Stimme seiner Mutter. «Spiel einfach weiter. Dein Vater und ich wollen uns ausruhen.»
Rodneys Blick glitt zu Elizabeth. Seine Augen funkelten boshaft. «Drei Wochen im Winterhaus. Ohne irgendwelche nervigen Loser.»
«Ja, Rodney», erklang die Stimme seines Vaters. «Jetzt konzentrier dich wieder auf dein Spiel und sei still.»
Rodney warf Elizabeth ein tückisches Grinsen zu und zog dann seinen Kopf wieder zurück.
Na toll, dachte Elizabeth. Dieser Typ und seine Eltern fahren auch ins Hotel Winterhaus. Sie streckte sich, legte ihr Buch zur Seite und fasste mit der Hand an den Anhänger an ihrer Halskette. Dieser Anhänger war das Einzige, was sie von ihrer Mutter besaß, es war eine dunkelblaue Marmorscheibe mit einem silbernen Rand und dem Wort «Glaube» darauf.
Hoffentlich werden die Ferien im Winterhaus wieder genauso schön wie letztes Jahr, dachte sie.
Im vergangenen Jahr hatte Elizabeth erfahren, dass ihre Mutter − die gemeinsam mit ihrem Vater ums Leben gekommen war, angeblich bei einem Unfall während eines Feuerwerks am Nationalfeiertag − Norbridges einziges Kind gewesen war. Das bedeutete, dass sie, Elizabeth, eins der letzten Mitglieder der Falls-Familie war. Aus diesem Grund hatte Norbridge versprochen, dass er eine Möglichkeit finden würde, wie sie dauerhaft im Winterhaus leben konnte. Und als sie vor elf Monaten nach Drere zurückgekehrt war, hatte sie geglaubt, innerhalb weniger Wochen wieder im Hotel zu sein. Aber die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie sie gehofft hatte. Der Winter war zu Ende gegangen, der Frühling war gekommen und dann der Sommer. Elizabeth hatte mehrfach versucht, mit ihrer Tante und ihrem Onkel darüber zu reden − die jedes Mal so taten, als ob sie nicht wüssten, worauf sie hinauswollte −, doch es sah so aus, als ob irgendetwas nicht nach Plan gelaufen sei und sie in Drere bleiben müsste. Das alles war ihr ein Rätsel und noch dazu eine große Enttäuschung, die auch ein Brief von Norbridge nur wenig zu lindern vermochte, ein Brief, der am längsten Tag des Jahres eingetroffen war und sie darüber informierte, dass es «unvorhergesehene und komplizierte rechtliche Hindernisse» gebe, die ihn daran hinderten, sie zu sich zu holen.
Aber, hatte Norbridge geschrieben, ich versuche nach Kräften, dieses Problem zu lösen, und ich werde ganz bestimmt dafür sorgen, dass du uns an Weihnachten für drei Wochen besuchen kommen kannst.
Elizabeths Frust war nicht zu leugnen, aber wenigstens dieses Versprechen hatte Norbridge gehalten. Es war ihm gelungen, Tante Purdy und Onkel Burlap zu überreden, sie an den Ort zurückkehren zu lassen, wo sie im Jahr zuvor ein Rätsel gelöst hatte, das in einem magischen Buch aus der Bibliothek des Hotels verborgen war. Hinter diesem Buch, das seit Generationen von der Falls-Familie nur das Buch genannt wurde, war Gracella Winters, Norbridges böse Zwillingsschwester, jahrelang hergewesen. Es war Elizabeth gelungen, Gracella durch Geistesgegenwart und eine Art Magie zu besiegen, die sie besaß und von der sie zuvor nichts gewusst hatte.
«Ankunft in Havenworth in fünfzehn Minuten!», rief der Busfahrer und riss Elizabeth aus ihren Erinnerungen.
Sie schaute hoch zu der Gepäckablage, die sich über die ganze Länge des Busses zog. Auf einem Aufkleber am Rand stand: GEPÄCK SORGFÄLTIG ABLEGEN. In Gedanken sortierte Elizabeth «ablegen» in «Belange» um. Anagramme waren ihre Leidenschaft, und manchmal setzte ihr Gehirn sie ganz von alleine zusammen. Eines ihrer liebsten Wortspiele, das sie mit Freddy gespielt hatte, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, war die Verwandlung ihres eigenen Namens, Elizabeth Somers, in «Lehrzeitambosse». Aber in der Zwischenzeit hatte sie noch eine zweite Möglichkeit gefunden, die ihr gefiel: «Atomziels Erbse».
Rodneys Tasche, ein abgewetzter Seesack mit Tarnmuster, lag direkt über dem Aufkleber − und direkt über Rodneys Kopf. Elizabeth sah, dass das Holpern des Busses den Seesack ins Rutschen gebracht hatte − vermutlich hatte Rodney ihn nicht «sorgfältig abgelegt».
Ein Aspekt ihrer unerklärlichen Macht, den Elizabeth im vergangenen Jahr zuerst kennengelernt hatte, war die Tatsache, dass sie − zu ihrer eigenen Verblüffung − Gegenstände bewegen konnte, wenn sie ihren Geist leerte und sich konzentrierte. Das bedeutete, wenn sie wollte und ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richtete, konnte sie Gläser auf dem Tisch umkippen, einen Schuh über den Boden rutschen lassen oder ein Buch aus einem Regal ziehen, ohne es zu berühren. Es war diese Macht gewesen, die Elizabeth und das ganze Hotel Winterhaus vor Gracellas üblen Machenschaften gerettet hatte, denn damit hatte sie Gracella das Buch im entscheidenden Moment aus den Händen gerissen. Später hatte Elizabeth von Norbridge erfahren, dass jeder in der Falls-Familie eine einzigartige Macht besaß; gleichzeitig hatte er sie ermahnt, dass sie diese Macht nicht aus Eigennutz oder mit üblen Absichten einsetzen durfte. Jetzt allerdings, auf dem Weg zum Winterhaus und in der festen Überzeugung, dass es wohl harmlos war, sich ein winziges bisschen an Rodney zu rächen, war sie neugierig, ob sie es schaffen würde, den Seesack noch ein paar Zentimeter weiter zu schieben − und ihn auf Rodneys Kopf fallen zu lassen.
Sie starrte den Seesack an, fühlte, wie alle Gedanken aus ihrem Geist wichen und ihr Blick sich verschleierte. Ihre Augen waren fest auf den olivgrünen Sack gerichtet; ein leichtes Zittern lief durch ihre Magengrube. Der Sack über Rodneys Kopf zuckte kaum merklich, sodass nicht einmal ein aufmerksamer Beobachter es gesehen hätte. Elizabeth richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Sack, der ganz langsam aus dem Gepäcknetz rutschte …
«Pass auf!», kreischte Rodneys Mutter, als der Seesack auf den Kopf ihres Sohns zusauste.
Aber ihre Warnung kam zu spät, und Rodney schrie laut auf, als der Seesack mit einem gewaltigen Krachen auf ihn fiel. Er und seine Eltern fingen an, lauthals zu schreien und wild um sich zu schlagen, als ob alle drei in einen Swimmingpool gefallen wären.
«Bitte bleiben Sie auf ihren Plätzen!», rief der Busfahrer, und auch wenn Rodneys Eltern noch eine ganze Weile zeterten, ihr Sohn habe einen schrecklichen Unfall erlitten, beruhigten sie sich doch irgendwann wieder. Elizabeth nahm erneut ihr Buch zur Hand und tat so, als würde sie lesen, während sie gegen das Lachen ankämpfte. Rodneys Vater schaute immer wieder besorgt nach oben, als ob er befürchtete, ein Felsbrocken würde durch das Busdach schlagen, und auch Rodney blickte sich ständig verstohlen um, als versuchte er herauszufinden, was für einer Art Streich er gerade zum Opfer gefallen war. Nach einer Weile drehte er sich langsam um und funkelte Elizabeth an. Der Blick aus seinen scharfen Augen besagte, dass er sie im Verdacht hatte, dafür verantwortlich zu sein. Sie hob das Buch noch ein Stückchen höher, um ihre Augen dahinter zu verstecken, stellte aber sicher, dass Rodney ihr zufriedenes Lächeln sehen konnte.
Zehn Minuten später stieg Elizabeth aus, und während sie sich noch im Stillen gratulierte, dass sie im Vorbeigehen nichts zu Rodney und seinen Eltern gesagt, ja ihnen nicht einmal einen Blick zugeworfen hatte, schaute sie sich in Havenworth um, einer kleinen Stadt ein paar Meilen vom Hotel Winterhaus entfernt. Der Bus hatte sie am Rand eines riesigen Platzes abgesetzt, mit einem weißen Pavillon in der Mitte, in dem ein kleines Orchester einen Walzer spielte, während mindestens hundert Zuhörer lauschten, lachten oder sich unterhielten. Der Pavillon war mit bunten, blinkenden Lichtern dekoriert, und in den riesigen Hemlocktannen rechts und links davon hingen noch mehr Lampen, sodass der Platz so hell erleuchtet war, als wäre es bereits Heiligabend, und das mitten am Tag.
Neben dem Pavillon befand sich ein kleiner Hügel, auf dem Kinder mit Schlitten und Pappkartons rodelten, während ihre Eltern zuschauten. Die Straße wurde von einer Reihe hell erleuchteter Geschäfte gesäumt, die alpin dekoriert waren, hübsche Butzenfenster und verzierte Fensterläden hatten und Namen trugen wie «Alpenhaus» oder «Kringel-Hütte». Elizabeth nahm sich gleich vor, Havenworth auf die Liste ihrer «Lieblingsstädte und -orte» zu schreiben, obwohl sie kaum fünf Schritte weit gegangen war.
Sie blickte nach oben. Feine Flocken rieselten auf die Berge nieder, die sich hinter der Stadt erhoben. Am Straßenrand lag hoch aufgeschichtet der Schnee, und die Luft war viel kälter, als Elizabeth gedacht hatte. Sie zog ihre Jacke enger um sich. Die Musik verstummte, die Zuhörer klatschten und eine Gruppe von Leuten überquerte die Straße. Elizabeth fragte eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand nach dem Weg zum Café Silberfeige.
«Die zweite Straße nach rechts», sagte die Frau und deutete in die Richtung. «Du kannst es gar nicht verfehlen.»
Auch die zwei Blocks entlang bis zum Café herrschte reges Treiben, genauso wie auf dem Platz mit dem Pavillon, und Elizabeth erkannte, dass Havenworth viel größer war, als sie gedacht hatte. Sie kam an zwei Süßigkeitenläden vorbei, einem Spielzeuggeschäft und einem kleinen Laden namens «Chapelaria», wo Hüte hergestellt wurden. Elizabeth entdeckte auch einen Buchladen – «Harley Dimlow & Söhne» − und hätte zu gerne einen Blick hineingeworfen, aber sie wollte nicht zu spät zu ihrer Verabredung mit Norbridge kommen. Außerdem dachte sie, dass sie ihn später bestimmt zu einem Besuch in dem Buchladen überreden könnte. Vor der Tür des Cafés Silberfeige schüttelte sie den Schnee aus ihren Haaren und trat dann ein. Das Café war geräumig und hell, die Wände ragten hoch hinauf und waren mit unzähligen Vögeln bemalt, mit Eichelhähern, Buntspechten, mit Eulen und Spatzen und rotschwänzigen Falken. Das Café wirkte wie eine Voliere oder ein lebendiger, farbenprächtiger Wald.
«Einen Tisch für eine Person, Miss?» Elizabeth wandte den Blick von den bemalten Wänden ab und sah einen braunhaarigen Mann mit einer Küchenschürze vor sich stehen.
«Ich bin hier mit meinem Großvater verabredet. Er müsste bereits da sein.»
Der Mann verbeugte sich leicht und wies einladend in das Café hinter ihm. «Bitte sehr, schauen Sie sich ruhig um. Ich will mir nicht vorwerfen lassen, dass ich eine junge Dame von ihrem Großvater fernhalte.»
Elizabeth lachte und ging an ihm vorbei. Gerade, bevor sie um die Ecke in einen kleinen Nebenraum biegen wollte, hörte sie Norbridges Stimme.
«Es ist nicht wirklich etwas passiert», sagte er. «Aber ich habe die Absicht, Augen und Ohren offenzuhalten. Man weiß ja nie. Man denkt, man wüsste Bescheid, und dann passiert etwas, und dann weiß man, dass man überhaupt nichts wusste.»
Elizabeth blieb stehen. Ihr Großvater redete mit jemandem, und während ein Teil von ihr sie im Stillen aufforderte, um die Ecke zu gehen und Norbridge zu begrüßen, wurde ein anderer Teil von ihr sofort neugierig. Worum ging es in dem Gespräch? Bei niemandem fühlte sie sich so sicher wie bei Norbridge, und doch hatten die wenigen aufgeschnappten Worte sie erschreckt. Elizabeth blieb stehen und lauschte.
«Natürlich ist Wachsamkeit geboten», erklang eine zweite Stimme, die eines Mannes, «aber vielleicht bist du übervorsichtig. Immerhin ist tatsächlich nichts geschehen.»
«Ich glaube nicht, dass man in einem solchen Fall vorsichtig genug sein kann», sagte Norbridge. «Nicht, wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass sie wieder einen Versuch macht.»
«Aber außer diesem vagen Gefühl hast du doch nichts, worauf du deinen Verdacht stützen kannst. Ich will ja deine Intuition nicht infrage stellen, mein lieber Freund …»
«Genau dieses Gefühl hatte ich auch letztes Jahr um diese Zeit, und wir wissen ja, was dann passiert ist.»
Elizabeth schob den Rucksack auf ihrer Schulter ein Stück höher. Sie bereute bereits, dass sie ihren Großvater belauscht hatte, und sei es auch nur für wenige Sekunden. Mit zwei Schritten war sie um die Ecke.
An dem Tisch vor ihr saß ein schwarzhaariger Mann mit Nickelbrille und in einem Anzug aus schwerem braunem Stoff. Er betrachtete sie interessiert, und Norbridge, der mit dem Rücken zu ihr saß, folgte seinem Blick. Als seine sanften und freundlichen Augen auf Elizabeth fielen, stand er auf und breitete die Arme aus.
«Meine Liebe, meine Liebe», sagte Norbridge, und Elizabeth ließ ihren Rucksack fallen und schlang ihre Arme um ihn. «Du bist wieder da.»
«Norbridge», sagte Elizabeth. «Ich bin so froh, dich zu sehen!»
Sie drückte ihn fest und merkte, wie alle Unsicherheit von ihr abfiel. Der Rauchduft von Winterhaus-Kaminfeuern in seiner Jacke und seine starken Arme um ihre Schultern verliehen ihr ein Hochgefühl, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
Er löste seine Umarmung und trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten. «Schau dich nur an! Nicht dass du das könntest, aber was ich meine, ist, dass ich dich anschaue und sehe, dass du genauso hervorragend aussiehst wie letztes Jahr, nur noch elizabethartiger als damals, was ganz wunderbar ist. Es ist fantastisch! Wie geht es dir?»
Elizabeth musste lachen. Und Norbridge mit seinem schneeweißen Bart, den roten Wangen, der dicken Jacke und den hohen Arbeitsstiefeln lachte ebenfalls.
«Du siehst auch toll aus», sagte Elizabeth und stellte sich ihren Großvater unwillkürlich bei seinem Morgenspaziergang oder beim Holzhacken vor. «Nur noch norbridgeartiger.»
Norbridge hob einen Arm und ließ die Muskeln spielen. «Ich gebe mir alle Mühe!» Er ließ den Arm sinken und drehte sich um. «Aber wo habe ich denn meine Manieren! Elizabeth, ich möchte dir Professor Egil P. Fowles vorstellen, einen der renommiertesten Experten − nein, ich muss mich verbessern − den renommiertesten Experten für ägyptische Hieroglyphen in der nördlichen Hemisphäre und außerdem Rektor unserer Schule. Der mich allerdings nur wenige Male im Schach besiegen konnte.»
Der Mann mit der Nickelbrille schenkte ihr ein schiefes Lächeln und nickte. «Dein Großvater ist ein Gentleman», sagte Professor Fowles, «auch wenn sein Gedächtnis offensichtlich nicht mehr das allerbeste ist, denn im Schach steht es 617 zu 409 für mich. Ich bin auch nur ein interessierter Laie, was Hieroglyphen betrifft. In einem allerdings hat er recht: Ich bin tatsächlich der Schulleiter von Havenworth.» Er stand auf und streckte Elizabeth die Hand hin. «Und ich freue mich, endlich die einzigartige und einzig wahre Elizabeth Somers kennenzulernen. Dein Großvater kann kaum zwei zusammenhängende Sätze sagen, ohne dich in mindestens einem davon über den grünen Klee zu loben. Ich weiß, wie sehr er sich freut − wie froh wir alle sind −, dich wieder in Winterhaus willkommen heißen zu dürfen.»
Elizabeth wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, so überwältigt war sie von diesem Empfang und davon, ihren Großvater wiederzusehen. Sie legte unwillkürlich eine Hand über den Anhänger auf ihrer Brust, während sie mit der anderen die von Professor Fowles schüttelte. «Ich freue mich auch, sie kennenzulernen, Sir. Und ich konnte es das ganze Jahr lang kaum erwarten, nach Winterhaus zurückzukehren.»
Norbridge holte einen Stuhl von einem leeren Tisch nebenan und schob ihn Elizabeth zu. «Setz dich doch und erzähl, wie es dir geht.»
Egil P. Fowles wedelte mit den Händen, als ob er Nebelschwaden vertreiben wollte. «Nein, nein, bitte nimm meinen Stuhl. Ich muss wirklich los. Meine Frau wird die Tür abschließen, wenn ich nicht in» − er schaute auf seine Armbanduhr − «sieben Minuten zu Hause bin.»
Norbridge blickte seinen Freund an, und einen Moment lang sah es so aus, als überlegte er, was er sagen sollte. Die beiden Männer wechselten einen Blick, und Elizabeth spürte, dass etwas zwischen ihnen vorging. Der Blick besagte: Unser Gespräch sollten wir vorläufig für uns behalten.
«Ich wollte wirklich nicht stören», sagte Elizabeth. Norbridge machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ach, wir haben nur ein bisschen geschwatzt», sagte er leichthin. «Über die alten Zeiten.»
«Genau, genau, genau!», beeilte sich Professor Fowles zu bestätigen und lachte nervös. «Wir sind nur zwei alte Knacker, die sich immer wieder dieselben Geschichten erzählen und sich in längst vergangenem Ruhm sonnen! Ach, die guten alten Zeiten, was, Norbridge? Wie viel Spaß wir doch hatten!» Er schüttelte leicht den Kopf, dann seufzte er und streckte Elizabeth erneut die Hand hin. «Nun, ich hoffe, wir sehen uns bald im Winterhaus wieder. War schön, dich kennenzulernen − ich muss jetzt wirklich los.»
Er salutierte leicht vor Norbridge und verschwand dann um die Ecke.
«Ein lieber Freund», sagte Norbridge und starrte dorthin, wo Egil P. Fowles eben noch gesessen hatte. «Ein sehr lieber Freund. Der sich hartnäckig weigert einzugestehen, wie oft ich ihn beim Schach schon geschlagen habe.» Er schaute zu Elizabeth und deutete auf den leeren Stuhl. «Und jetzt bist du da.»
«Ich hoffe wirklich, dass ich euch nicht gestört habe.»
Norbridge schüttelte den Kopf. Und dann griff er hinter sein Ohr, zog seine Hand wieder hervor und hielt ihr eine winzige Rose vor die Augen.
«Deine Magie ist immer noch fantastisch!», sagte Elizabeth und nahm die Blume.
«Wie war deine Reise?», fragte Norbridge, aber noch ehe sie antworten konnte, verkündete er: «Jetzt essen wir erst mal etwas!»
Beim Mittagessen, während Elizabeth ein Eiersalat-Sandwich aß und Norbridge drei Tassen Tee zu seinem Mozzarella-Tomaten-Panini trank, erzählte sie ihm alles, was im vergangenen Jahr geschehen war, seit sie Winterhaus verlassen hatte. Sie erzählte von der Schule (uninteressant, abgesehen von der Zeit, die sie in der Schulbücherei verbracht hatte), von ihrem Leben in Drere (noch langweiliger seit ihrem Besuch im Hotel Winterhaus), von ihrer Tante und ihrem Onkel (die nicht mehr so gemein waren wie früher, aber immer noch ziemlich unangenehm). Die elf Monate, in denen sie Norbridge nicht gesehen hatte, waren ihr endlos vorgekommen; sie hatte den Eindruck gehabt, dass die Wochen bis zu ihrer Rückkehr ins Hotel Winterhaus langsamer vergangen waren als je eine Zeitspanne zuvor in ihrem Leben. Aber als sie Norbridge jetzt davon erzählte, kam es ihr so vor, als wäre die Zeit wie im Flug verstrichen. Die Frage, die sie am meisten interessierte − ob er in seinem Bemühen vorangekommen war, einen Weg zu finden, wie sie dauerhaft in Winterhaus leben konnte −, blieb allerdings für den Moment unausgesprochen. Elizabeth nahm an, dass er von sich aus davon anfangen würde, und sie wollte ihn nicht bedrängen.
«Du sagst, dass deine Tante und dein Onkel nicht mehr so streng zu dir sind?», fragte Norbridge.
Sie dachte an gestern Nachmittag, als Tante Purdy und Onkel Burlap sie zum Bahnhof in Drere gefahren hatten. «Das war ziemlich komisch», sagte sie. «Sie sind mit mir zum Bahnsteig gegangen, und als wir uns verabschiedeten, da benahmen sie sich, als ob sie … traurig wären. So habe ich sie noch nie erlebt.» Elizabeth ging die Sache einfach nicht aus dem Kopf.
Norbridge zog die Augenbrauen hoch. «Vielleicht waren sie wirklich traurig. Ich glaube, jeder würde traurig sein, wenn du weg wärst.»
«Drei Wochen lang? Ich hätte eher gedacht, sie würden vor lauter Freude eine Party feiern.»
Elizabeth erwartete eigentlich, dass Norbridge darüber lachen würde, aber er schaute sie nur auf eine Art und Weise an, die vermuten ließ, dass er etwas wusste, das er nicht aussprechen wollte.
«Als du Winterhaus verlassen hast», sagte er, «habe ich dich gebeten, über etwas gründlich nachzudenken. Weißt du noch, was das war?»
Sie konnte sich noch sehr gut an ihren Abschied von Norbridge erinnern: Er hatte ihr eingeschärft, mit ihrer neu entdeckten Macht sehr vorsichtig umzugehen, und sie glaubte, dass sie diese Warnung nach bestem Wissen und Gewissen beherzigt hatte. Sie hatte zwar oft nachts allein in ihrem Zimmer damit herumexperimentiert − hatte ein Buch herunterfallen oder einen Schuh über den Boden wandern lassen − und war hin und wieder auch versucht gewesen, sie richtig einzusetzen, hatte sich aber nach Kräften bemüht, niemanden Verdacht schöpfen zu lassen. Natürlich war da dieser Streit mit Tante Purdy gewesen, als Elizabeth einen Teller in der Küchenspüle zerbrochen und damit ihrer Tante und ihrem Onkel einen so großen Schrecken eingejagt hatte, dass sie sich hastig in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und Elizabeth allein gelassen hatten. Und dann war da noch die Sache mit Alan Kirpshaw, auf den sie wegen seiner unentwegten Beleidigungen so wütend geworden war, dass sie in der Cafeteria sein Tablett umgekippt hatte, woraufhin sich Kakao und Chili über seine Hose ergossen hatten. Aber so etwas war nur ganz selten passiert und nur dann, wenn sie sich provoziert gefühlt hatte. Diese Ausrutscher kamen ihr entschuldbar vor.
«Ja sicher», antwortete sie. «Du hast mir gesagt, dass wir Falls alle eine bestimmte Macht haben und dass es wichtig ist, sie umsichtig einzusetzen.»
«Und − hast du dich daran gehalten?»
Sie dachte an vorhin, als sie Rodneys Tasche bewegt hatte, sodass sie ihm auf den Kopf gefallen war. «Ungefähr zu neunundneunzig Prozent.»
«Sieh zu, dass einhundert Prozent daraus werden», sagte Norbridge augenzwinkernd. «Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Manchmal, wenn ich es mit einem besonders schwierigen Gast zu tun habe, überkommt mich das Verlangen, ihm mit meiner Macht die Hosen runterzuziehen oder seine Brille zu verbiegen, sodass sie ein bisschen drückt – nur ein kleines bisschen. Aber natürlich kann ich so etwas nicht tun. Meine Schwester hat sich davon mitreißen lassen, und du weißt ja, wohin das geführt hat. Was aus ihr geworden ist. Ein dunkles, zerstörerisches Geschöpf mit dem Drang, Leid und Elend über die Menschen zu bringen …»
Elizabeth dachte an die wenigen Male, die sie ebenfalls dieses «mitreißende» Gefühl empfunden hatte. Besonders in dem einen Moment in der Bibliothek, als Gracella sie dazu hatte verführen wollen, Norbridge und Winterhaus den Rücken zu kehren und sich stattdessen ihr anzuschließen, hatte sie sich so gefühlt. Die Vorstellung, so etwas zu tun, war flüchtig gewesen und seltsam verführerisch, so sehr sie auch versuchte, die Sache zu vergessen.
«Ich weiß, was du meinst», sagte sie und biss in ihre Brombeerpastete. Sie hätte in diesem Moment zu gerne gefragt, wann sie denn endlich ganz im Winterhaus einziehen konnte − oder ob überhaupt.
«Weißt du», sagte Norbridge, «nachdem du letztes Jahr gekommen warst und ich in Erfahrung gebracht hatte, welche Beziehung deine Tante und dein Onkel zu deiner Mutter, zu Winnie, hatten, habe ich ein paar Puzzleteilchen zusammengesetzt.»
Elizabeth wurde ganz still; sie war begierig darauf, mehr über ihre Eltern zu erfahren.
«Wir haben im Winterhaus genug Zeit, damit ich dir alles erklären kann, aber deine Tante und dein Onkel haben mir geholfen, vieles zu verstehen.» Norbridge strich sich über den Bart. «Ich habe dir damals erzählt, dass deine Mutter sich entschied, Winterhaus zu verlassen, weil sie das Gefühl hatte, dass sie wegen des Buches und wegen Gracellas böser Pläne in Gefahr schwebte. Sie dachte, es sei das Beste, wegzugehen, alle Brücken hinter sich abzureißen, wenigstens vorübergehend. Ich habe vollständig den Kontakt zu ihr verloren − weil sie es so wollte −, und ich kann nur die Vermutung anstellen, dass sie glaubte, so sei es am sichersten.» Er verstummte kurz. «Aber da war noch mehr.»
Elizabeth legte ihre Kuchengabel auf den Tisch.
«Sie hat mir einmal anvertraut, als sie etwa dreizehn oder vierzehn war, dass sie sich gelegentlich … Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll … dass sie sich irgendwie von der Geschichte um das Buch und Gracella … angezogen fühlte.»
«Was meinst du damit − sie wurde davon angezogen?» In Elizabeths Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken.
«Das Böse ist sehr mächtig», sagte Norbridge, «und auch sehr verführerisch. Ich glaube, was sie meinte, war, dass die Macht, die Gracella besaß, sie ansprach.» Er beugte sich vor, und Elizabeth war sich ziemlich sicher, dass er seine Worte sehr sorgfältig wählte. «Ich würde behaupten, dass viele von uns im Winterhaus dieses Gefühl schon hatten und dagegen ankämpfen mussten. Winnie wollte mir klarmachen, dass sie sich vor diesem Verlangen fürchtete. Daher verließ sie Winterhaus; sie wollte erst sicher sein, dass sie widerstehen konnte.»
Elizabeth war verwirrt. In dem Bild, das Norbridge ihr zeichnete, fehlte offensichtlich etwas. «Hast du noch mehr über sie herausgefunden?»
Norbridge griff in die Brusttasche seines Wollhemdes und zog einen Umschlag heraus. Er öffnete ihn und reichte Elizabeth den zusammengefalteten Zeitungsausschnitt, der sich darin befunden hatte. «Schau dir das an. Das habe ich vor ein paar Monaten entdeckt, als ich anfing nachzuforschen.»
Sie faltete den Zeitungsartikel langsam auf, so wie man ein Geschenk auswickelt, das in Seidenpapier verpackt ist. Dann starrte sie die Schlagzeile an: Mutter und Vater sterben bei Autounfall, Kind überlebt. Ihr Kopf ruckte hoch und sie fing Norbridges Blick ein. Er forderte sie mit einer leichten Handbewegung auf, weiterzulesen. «Die Redaktion der Zeitung, in der dieser Artikel veröffentlicht wurde, befindet sich in der Gegend, wo deine Eltern wohnten.»
Elizabeth atmete tief durch und fing an zu lesen.
17. Dezember 2009: Am Dienstagabend, kurz nach elf Uhr, ging bei der Northside-Feuerwehr ein anonymer Anruf ein, der ein brennendes Auto auf dem Highway 17 meldete, fünf Meilen östlich von Verano. Die Einsatzkräfte fanden einen ausgebrannten Toyota Camry vor, die Insassen – Ferland Somers, 28, und Winifred Somers, 26, konnten nur noch tot geborgen werden. Ihre Tochter Elizabeth, 4, wurde unverletzt auf dem Rücksitz des Wagens gefunden.
«Wir haben keine Ahnung, was das Feuer verursacht haben könnte», erklärte der Einsatzleiter William Bexley. «Wir vermuten einen technischen Defekt, denn es waren keine anderen Fahrzeuge involviert. Aber um ehrlich zu sein, wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man behaupten, irgendetwas hätte den Wagen in Brand gesteckt.»
Es wurde eine Untersuchung eingeleitet. Das Jugendamt wird sich der Tochter annehmen und versuchen, Verwandte ausfindig zu machen.
Elizabeth drehte den Zeitungsausschnitt um, aber auf der Rückseite stand nichts mehr von Bedeutung. Sie las den Artikel ein zweites Mal und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Danach gab sie ihn Norbridge zurück, ohne ihn anzusehen. Sie fühlte sich leer und wie erstarrt; ihr fehlten die Worte. … konnten nur noch tot geborgen werden. Dieser Halbsatz ließ ihr das Blut in den Adern stocken. Sie wünschte fast, sie hätte ihn nicht gelesen.
«Ich wusste nicht, was geschehen war, bis ich im April diesen Artikel gefunden habe», sagte Norbridge.
Elizabeth nahm ihre Gabel und stach damit auf einen Brombeerkern auf ihrem Teller ein, dann auf einen zweiten und einen dritten. Sie hörte nur mit halbem Ohr, was Norbridge sagte; immer wieder sah sie diese Worte vor ihrem geistigen Auge: … konnten nur noch tot geborgen werden.
«Ich habe mir die Ermittlungsunterlagen angeschaut und …»
«Ich wünschte, du hättest mir das nicht gezeigt», sagte Elizabeth. Ein Mann und eine Frau am Nebentisch warfen ihnen einen Blick zu, bevor sie sich mit unbehaglicher Miene wieder ihrer Mahlzeit zuwendeten. Elizabeths Augen quollen über vor Tränen.
Norbridge blieb der Mund offenstehen. «Ich … ich dachte, du wolltest es wissen. Ich glaubte, es wäre leichter für dich, erst einmal hier darüber zu reden. Deshalb habe ich dieses Treffen mit dir verabredet.»
«Aber ich wollte doch einfach nur zu euch kommen und alle wiedersehen!», sagte Elizabeth. «Dich, Freddy, Leona! Ich wollte einfach nur …»
«Es tut mir leid.» Norbridge schien völlig fassungslos darüber zu sein, dass Elizabeth plötzlich so traurig war. «Ich habe wohl einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich dachte, dass wir hier in Havenworth am besten darüber reden können.»
Je mehr Norbridge sagte, desto verwirrter wurde Elizabeth. Sie wollte alles über ihre Eltern wissen, was es zu wissen gab, aber auf diese Weise mit einer solchen Information überfallen zu werden, wo sie sich doch so auf Winterhaus gefreut hatte, war niederschmetternd. Sie wusste nicht, was sie noch zu Norbridge sagen konnte, und sie fürchtete, dass sie endgültig in Tränen ausbrechen würde, wenn nur noch ein einziges weiteres Wort über ihre Lippen käme.
«Es tut mir leid», sagte Norbridge noch einmal und rieb sich die Stirn. «Ich habe zweifellos die falsche Entscheidung getroffen.»
«Wir hätten später darüber reden können», sagte Elizabeth und schlug die Hände vor das Gesicht, weil sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. «Ich bin doch nur für drei Wochen da, und … und …»
«Du bleibst nicht nur drei Wochen.»
Elizabeth brach mitten im Schluchzen ab und schaute auf. «Was?»
«Es sind keine drei Wochen», wiederholte er, diesmal sanfter. «Die Sache mit dem Zeitungsartikel tut mir wirklich leid. Das war zu viel, das weiß ich jetzt. Aber was ich eigentlich damit sagen wollte, war …» Er verzog das Gesicht und stieß ein kleines frustriertes Ächzen aus. Dann reichte er die Serviette über den Tisch. «Hier. Wisch dir damit die Tränen ab, Liebes, dann werde ich dir alles erklären.»
Norbridge klopfte leicht mit der Hand auf die Brusttasche, um sich zu vergewissern, dass der Zeitungsausschnitt sicher dort verwahrt war. Dann räusperte er sich. «Zuallererst möchte ich dir noch einmal sagen, wie leid es mir tut. Ich wollte dich wirklich nicht aufregen. Aber das, worauf ich hinauswill, hängt mit dem Autounfall zusammen, mit deiner Tante und mit deinem Onkel, mit den monatelangen Gesprächen, die ich mit diversen Rechtsanwälten geführt habe, dann wieder mit Verhandlungen mit deiner Tante und deinem Onkel und weiteren Gesprächen mit den Anwälten …» Norbridge kniff die Augen zu und wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht hin und her, als wollte er unsichtbare Fliegen vertreiben. «Aber ich schweife ab. Was ich eigentlich damit sagen will, ist: Ich habe eine Lösung gefunden, und du wirst ab sofort im Winterhaus leben. Für immer. Oder zumindest, solange du willst. Was auch immer davon dir lieber ist.» Er ließ die Hände sinken. «Das bedeutet: Winterhaus ist jetzt dein Zuhause.» Er zupfte an seinem Bart. «Wenn du das möchtest.»
Elizabeths Schultern sackten nach unten, Wut und Trauer, die sie eben noch empfunden hatte, waren verschwunden. Sie hatte das Gefühl, dass sie mit einem einzigen Atemzug alles Übel aus sich herausgestoßen hatte und jetzt wieder klar denken konnte.
«Wirklich?», fragte sie.
Norbridge nickte eifrig. «Winterhaus ist jetzt dein Zuhause», wiederholte er. «Ich habe mich um alles gekümmert. Es gab in letzter Sekunde noch ein paar Details zu besprechen, aber schließlich haben deine Tante und dein Onkel ihr Einverständnis dazu gegeben, dass … Ach, vergessen wir das jetzt! Du bist hier.»
Elizabeth saß schweigend da und betrachtete ihren Großvater, der grinste und nickte. Schließlich fand sie ihre Sprache wieder. «Ist das wirklich wahr?»
Norbridge lachte. «Ja, es ist wahr! Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.» Norbridge stand auf, ging um den Tisch, kniete sich vor sie hin und zog sie in seine Arme. «Willkommen zurück, Elizabeth. Und willkommen zu Hause.»
Nach einer Weile ließ er sie los, und sie saß wie betäubt da. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie möglicherweise etwas falsch verstanden hatte. Aber Norbridge nickte immer noch, und Elizabeth versuchte, das Gesagte zu verarbeiten und sich darüber klar zu werden, was es bedeutete. Ihr war, als ob alle ihre Gebete erhört worden wären.
«Du siehst aus, als hättest du Mühe, aus einem Traum aufzuwachen», kicherte Norbridge. «Das alles muss sehr unerwartet für dich sein. Wie fühlst du dich?»
«Wie ich mich fühle?», sagte Elizabeth. «Das ist das Beste, was mir je passiert ist! Ich kann’s noch gar nicht glauben. Es ist fantastisch.»
Norbridge prostete ihr mit seiner Teetasse zu. «Auf viele, viele glückliche Jahre im Winterhaus.»
Elizabeth fing wieder an zu weinen − und dann lachte sie los.
Eine Stunde später stöberte Elizabeth in den Abertausenden von Büchern im Buchladen von Harley Dimlow & Söhne, obwohl sie das Gefühl hatte, dass ihre Füße immer noch nicht den Boden berührten, seit Norbridge ihr ein weiteres Mal versichert hatte, dass sie wirklich und wahrhaftig von nun an im Winterhaus leben würde. Er hatte erzählt, dass Tante Purdy und Onkel Burlap erst vergangene Woche die Papiere unterzeichnet hatten, dass sie ihr ihre Sachen nachschicken würden und dass sie von nun an in Havenworth zur Schule gehen würde. Über diese Dinge und noch viele andere sprachen sie, und es war, als würde Elizabeth ein ganz neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen. Irgendwann, als sie immer noch verwundert den Kopf schüttelte, erklärte Norbridge, dass er noch etwas erledigen müsse und dass sie unmöglich noch mehr Tee und Kuchen verputzen könnten. Jackson, der erste Page des Hotels Winterhaus und Norbridges rechte Hand, würde in einer Dreiviertelstunde am Pavillon auf sie warten, um sie ins Hotel zurückzubringen.
«Wir treffen uns dann dort», hatte Norbridge gesagt. «Geh ruhig in den Buchladen, während ich noch meine Erledigungen mache.»
Elizabeth hatte einen hellen und freundlichen Laden erwartet, vielleicht, weil in Havenworth eine so fröhliche und festliche Stimmung herrschte. Und man konnte auch nicht sagen, dass es bei Harley Dimlow & Söhne irgendwie schäbig gewesen wäre. Es war nur düsterer als gedacht, mit der dunklen Eichenvertäfelung an den Wänden, den vollgestopften Regalen und den trüben Lampen, die in relativ großen Abständen an der Decke hingen.