Die Eiserne Libelle - Troy Dust - E-Book

Die Eiserne Libelle E-Book

Troy Dust

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Beschreibung

Es ist diese verfallene, von einer Kathedrale überthronte Hafenstadt ohne Namen, die fünf Personen zusammenführt, geschwächt von ihrer Reise und der Last ihrer Erinnerungen. Überraschenderweise entpuppt sich dieser Ort als eine Oase der Ruhe, denn sie sind die einzigen Menschen inmitten der Ruinen, die von der Natur zurückerobert werden. Doch der vermeintliche Frieden endet unerwartet mit dem Auftauchen eines völlig entkräfteten Mannes ...

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»Wenn Du Dein Leben opferst, musst Du vollen Gebrauch von Deinen Waffen machen. Es ist falsch, so etwas nicht zu tun und mit einer nicht gezogenen Waffe in der Hand zu sterben.«

Miyamoto Musashi ›Das Buch der fünf Ringe‹ Phänomen Red Pockets, 2004

Inhalt

Vorspiel Dämmerung

Kapitel 1 Besuch

Kapitel 2 Chaos

Kapitel 3 Vermutung

Kapitel 4 Erste Fakten

Kapitel 5 Architecton

Kapitel 6 Erwachen

Kapitel 7 Der Informant

Kapitel 8 Der Gau

Kapitel 9 Der Tag Null

I. Zwischenspiel Fragment

Kapitel 10 Beauford

II. Zwischenspiel Retrospektive

Kapitel 11 Forg

Kapitel 12 Cordh

Kapitel 13 Lucia

Kapitel 14 Sydell

Kapitel 15 Ein nächtliches Gespräch

Kapitel 16 Eskalation

Kapitel 17 Hartnäckigkeit

III. Zwischenspiel Die Straße

Kapitel 18 Erste Wogen

Kapitel 19 Gefangen im Kreis

Kapitel 20 Geburt einer Neuen Sonne

Kapitel 21 Konglomerat

Kapitel 22 Die Ruhe des Verfalls

IV. Zwischenspiel Flucht

Kapitel 23 Tanz der Lichter

V. Zwischenspiel Am Bach

Kapitel 24 Xenos

Kapitel 25 Die Last der Erinnerung

Kapitel 26 Zeitenwende

Kapitel 27 Wege

Kapitel 28 Das graue Ödland

Nachspiel Entschwinden

Vorspiel

Dämmerung

Er hörte undeutliche Stimmen. Und das leise Knistern eines Feuers ganz in der Nähe.

Sein Körper fühlte sich schwer an. Es war, als würde er immer weiter nach unten sinken, um jeden Augenblick mit dem Boden zu verschmelzen und sich darin zu verlieren. Hinzu kam, dass nahezu alle Muskeln von Schmerzen durchzogen wurden, was ihn dazu zwang, sich nicht zu bewegen.

Eine frische Brise streichelte sein Gesicht; sie trug den Duft von Blumen und dem Meer mit sich.

Langsam öffnete er die Augen. Über sich sah er im schwindenden Tageslicht ein prachtvolles Gewölbe, das sich in mindestens 30 Metern Höhe befand. Ehe er sich auf den oberen Rand im linken Teil seines Blickfeldes konzentrieren konnte, wo er glaubte, ein Stück Himmel erahnen zu können, verdunkelten seine schweren Lider die Welt zum wiederholten Male. Und bevor auch die Stille erneut ihr Tuch über ihm ausbreitete, konnte er hören, wie jemand auf einer Gitarre ein ruhiges Stück anstimmte ...

Kapitel 1

Besuch

Gwinard betrat sein lichtdurchflutetes Schlafzimmer.

Die rechte Wand bestand aus einem gigantischen Bildschirm, auf dem eine im Wind wogende Wiese gezeigt wurde, über welcher sich Wolkenberge mit harten Übergängen zwischen Weiß und Grau auf dem blauen Himmel dahinschoben. Die Darstellung spiegelte sich, genau wie das quadratische Bett, das vor dem Bildschirm stand, auf der linken Seite im verglasten Wandschrank, der die komplette Wandfläche einnahm. Gegenüber der Türe war ein Fenster, das sich über die gesamte Breite und Höhe des Raumes erstreckte. Es war nicht möglich, es zu öffnen – auch die anderen Fenster der Wohnung waren lediglich eingesetzte Glasflächen. Frischluft gelangte über die Klimaanlage in die Räume. Er hatte mit der Lage der Wohnung innerhalb des Gebäudes Glück gehabt, denn nichts ging über Tageslicht. Vorher hatte er lange genug in Löchern ohne Fenster gelebt – in einigen sogar ohne Klimaanlage.

Er steuerte mit einem dreckigen T-Shirt und getragenen Socken in der Hand den Wäschekorb an, der vor dem Wandschrank am Fenster stand. Er trug lediglich Shorts.

Auf dem Fensterglas wanderten Regentropfen des vergangenen Schauers vom Wind getrieben nach links. Hinter der Scheibe konnte Gwinard die massigen Gebäude ausmachen, die aus Stahl, Beton und hellen Natursteinen bestanden. Die Grundrisse waren meist Kombinationen verschiedener Kreise, Ellipsen und symmetrisch aufgebauter Ovale. Die Straßen lagen unter schwerem Dunst verborgen, aus welchem sich die Gebäude erhoben wie Pfeiler aus einem dichten Nebel, der sich mühsam über den Boden schleppt. Da in dem Stadtteil, der sich vor Gwinard ausbreitete, die Häusertürme fast ausnahmslos kleiner waren als das Höhenniveau, auf dem er sich befand, konnte er bis zum Horizont blicken und das Meer jenseits der Stadt erkennen; darüber erhoben sich mächtige Wolkensäulen, die den Himmel zu tragen schienen. Die Sonne hatte auf diese Szene einen Doppelregenbogen und links davon einen Spiegelbogen gemalt. Das Trio der Farbenpracht verlor sich in der Höhe. Auf den Dächern der Häuser sah er Wiesen, Bäume und sogar Haine, ebenso wie mannigfaltiges Grün auf Vorsprüngen und in Einbuchtungen, die die Architektur der mitunter enorm massigen Bauten auflockerten.

Allein das Gebäude, in welchem Gwinard seit nunmehr 5 Jahren lebte, fasste über 230.000 Menschen verteilt auf 257 Etagen – und damit war es nicht einmal ansatzweise das größte der Stadt.

Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich seit 7 Jahren bei der Müllabfuhr. Es war zwar nicht der beste Job, aber auch nicht der schlechteste – und es ließ sich gutes Geld damit verdienen. Außerdem hätte er auch in der Kanalisation als Arbeiter landen können, in einer Fabrik am Fließband, auf einer der gigantischen Mülldeponien als Sammler oder obdachlos und arm auf der Straße. Nun war er 28 und hatte keine Ahnung, wie lange es so weitergehen und wohin es ihn irgendwann noch verschlagen würde.

Gwinard warf die Kleidung in den Wäschekorb, machte kehrt und verließ das Zimmer, um sich im gegenüberliegenden Bad bei einer heißen Dusche den Schweiß, den Dreck und vor allem den Gestank des Tages vom Leib zu waschen.

Das Wasser floss über den durchtrainierten Körper und ließ die schulterlangen, dunkelblonden Haare am Kopf kleben, während sich der Wasserdampf auf das Fensterglas und den Spiegel über dem Waschbecken legte.

Er stellte das Wasser ab und griff zu seinem Duschgel. Klackend öffnete er den Verschluss. Er wollte sich gerade etwas Gel auf die Handfläche geben, als er neben dem Tropfen des verkalkten Duschkopfes Geräusche aus seiner Wohnung vernahm. Da es in diesen gigantischen und überaus anonymen Komplexen sehr oft zu Einbrüchen kam – und das zu jeder erdenklichen Tageszeit – stellte er das Duschgel auf die Ablage und verließ die kleine Duschkabine, wobei er möglichst leise vorging. Mit vom ausgeschütteten Adrenalin geschärften Sinnen schlich er an die Türe und lauschte: Irgendjemand verschwand soeben in einem Zimmer, denn die Schritte wurden leiser.

Gwinard sah sich um; er wusste, dass die Türe der einzige Ausweg war, weshalb er nach einem Gegenstand suchte, den er als Waffe einsetzen konnte. Auf der Ablage des Waschbeckens machte er seine Nagelschere aus. Er griff danach und nahm sie in die rechte Hand, wobei die Spitze zwischen Mittelfinger und Zeigefinger aus seiner Faust ragte, die den Rest der Schere sicher umfasste. Hastig schlüpfte er, nass wie er war, wieder in seine Shorts – unter diesen Umständen war es ihm egal, dass er keine frischen mit ins Bad genommen hatte.

Er horchte an der Türe und vernahm, dass in einem der Zimmer randaliert wurde. Offenbar suchte jemand in aller Eile nach Wertgegenständen.

Links vom Bad lag die Küche und ihr gegenüber – und somit neben dem Schlafzimmer – das Wohnzimmer. Rechts vom Bad befand sich ein Lagerraum, und diesem gegenüber ein Zimmer, wo er Unterlagen und seine Büchersammlung in Regalen, Schränken und Kommoden lagerte – weshalb er es als „Arbeitszimmer“ betitelte, auch wenn es keines war. Am rechten Ende des Flurs war die Wohnungstüre und neben dieser eine kleine Garderobe mit integriertem Spiegel.

Es war weder auszumachen, wie viele Eindringlinge in der Wohnung waren, noch deren jeweiliger Aufenthaltsort. Er wusste nur, dass er es aus dieser Falle schaffen musste, auf den Flur und aus der Wohnung. Hier wäre er geliefert. Schleunigst hinaus zu gelangen war seine einzige Chance, ungeachtet einer eventuellen Waffenpräsenz.

Gwinard blickte konzentriert an der Türe hinab und hoffte, dass niemand direkt auf der anderen Seite stand und auf ihn wartete. Vor seinem geistigen Auge ging er die einzelnen Schritte durch.

Er atmete ruhig ein und aus. Dann spannte er schlagartig seine Muskeln an und riss die Türe auf. Er stürmte nach rechts und nahm dabei zwei Dinge wahr: Die Wohnungstüre war angelehnt und der Lärm kam von hinten, also entweder aus dem Wohnzimmer oder aus der Küche.

Plötzlich erschien ein Mann im Türrahmen der Abstellkammer. Noch ehe dieser reagieren konnte, zielte Gwinard auf dessen Kopf und schlug mit der Nagelschere in der Faust zu. Er traf den überraschten Mann an der Wange und spürte, wie er mit der Schere hängen blieb. Zudem kam er durch den plötzlichen Hieb und die Kombination aus feuchten Fußsohlen und dem glatten Kunststoffbelag des Bodens etwas aus dem Gleichgewicht und strauchelte. Mit der linken Hand riss er die Wohnungstüre auf. Er stürmte hinaus und nach rechts – links gab es lediglich eine Wand mit einem Feuerlöscher und einem hinter Glas liegenden Knopf, mit welchem man den Feueralarm auslösen konnte.

Er rannte über den kalten Betonboden, ohne auch nur einen Blick über seine Schulter zu werfen. Abgehende Gänge jagten genauso an ihm vorbei wie die dreckigen Lampen, die Feuermelder und die Sprinklerköpfe in der Mitte der Decke. Nach etwa 50 Metern erreichte er die Fahrstühle seiner Sektion, von denen es auf beiden Seiten des Gangabschnitts jeweils 10 Stück gab. Links stand die Türe des dritten Aufzugs offen. Er hastete hinein und tippte „105“ in einzelnen Zahlen auf dem abgenutzten Tastenfeld ein – die Etage eines Arbeitskollegen und Freundes.

Nachdem sich die beiden Türflügel zugeschoben hatten, betrachtete er schnaufend seine rechte Hand. Blut klebte an der Schere und an seinen Fingerknöcheln. Er spürte, dass sein Handballen schmerzte.

Eine gefühlte Ewigkeit später – in Wirklichkeit nur wenige Sekunden – verlangsamte der Fahrstuhl sanft die Fahrt und hielt nach 83 Etagen. Die Türe öffnete sich. Gwinard rannte nach rechts und dort in einen der Seitengänge, die nach links abgingen, um zu seinem Ziel zu gelangen, wo er sich dringend Kleidung leihen und darüber nachdenken musste, wie seine nächsten Schritte aussehen sollten.

Kapitel 2

Chaos

Nach etwa einer halben Stunde standen die Männer – jeder eine Zigarette rauchend – vor den leergefegten Regalen und ausgeräumten Schränken in Gwinards Arbeitszimmer. Alle Bücher und Ordner lagen wild verstreut auf dem Boden, ebenso wie die Schubladen der Kommoden, die man einfach herausgerissen, ausgekippt und hingeworfen hatte. Ein ähnliches Chaos bot sich auch in der übrigen Wohnung.

Byrd hatte Gwinard Kleidung gegeben und ihm aufmerksam zugehört, während sich dieser angezogen und die Ereignisse geschildert hatte. Anschließend waren sie mit jeweils einem Baseballschläger und einem Teppichmesser bewaffnet zurück zu Gwinards Wohnung gegangen, nur um diese verlassen und verwüstet vorzufinden.

„Hattest du Geld hier?“ fragte Byrd und hielt Ausschau nach einem Aschenbecher.

Gwinard verließ ohne Antwort den Raum, um kurz darauf mit einem leeren Marmeladenglas, in das er etwas Wasser gefüllt hatte, wieder in der Türe zu erscheinen.

„Das ist noch da“, antwortete er und hielt Byrd das Glas hin.

„Fehlt etwas anderes?“

„Um das sagen zu können, müsste erst einmal aufgeräumt werden. Aber wenn sie nicht einmal das Geld aus der Küche mitnahmen, würde es mich wundern. Die Dose, in der ich es immer deponiere, lag auf dem Tisch und das Geld daneben. Ich habe es direkt eingesteckt.“

Byrd tippte mit der Zigarette leicht auf den Rand des Glases, um die Asche zu lösen. „Dann suchten sie etwas anderes. Nur was? Oder sie irrten sich in der Wohnung. Das kann hier ja schnell passieren.“

Gwinard nahm einen tiefen Zug. Er tappte im Dunkeln. Wieso sollte jemand bei ihm einbrechen und nicht einmal die Chance ergreifen, etwas Geld mitgehen zu lassen?

Byrd warf ihm einen skeptischen Blick von der Seite zu. „Oder hast du etwas verbrochen? Dich in letzter Zeit mit jemandem angelegt?“ Er dachte noch an Schulden, aber wäre das der Fall gewesen, hätte man kaum das Geld verschmäht.

Gwinard dachte nach. Er hatte – soweit er wusste – keine Feinde und auch keinen Ärger mit seinem Lieferanten, über den er ab und an erstklassiges Gras bezog. Es ergab einfach keinen Sinn, dass man in seine Wohnung einbrach und sie verwüstete, ohne augenscheinlich etwas zu entwenden.

„Oder hast du etwas beobachtet, das du nicht hättest sehen sollen? Vielleicht will dir jemand Angst einjagen.“

„Nicht bewusst“, antwortete Gwinard, nahm einen letzten Zug, ließ den Zigarettenstummel in das Glas fallen und reichte es Byrd. „In unserem Job sieht man immer wieder unfreiwillig dies und das, wie du weißt.“ Er trat über die Bücher und Unterlagen hinweg ans Fenster und ließ den Blick über die Stadt schweifen. Der Himmel hatte sich vor einiger Zeit verdunkelt und nun regnete es in Strömen.

Byrd ließ seine nicht ganz aufgerauchte Zigarette in das Glas fallen und stellte es auf einer der Kommoden ab. „Was wirst du jetzt tun?“

Gwinard drehte sich um. „Aufräumen und ein neues Schloss einbauen.“ Er betrachtete das Chaos und schätzte, dass er einige Zeit benötigen würde, um seine Wohnung halbwegs in den Zustand von vor einigen Stunden zurückzuversetzen.

„Keine Polizei?“

„Wozu? Der größte Wert hier ist das Geld und das nahmen sie ja nicht mit. Und mit den Büchern lässt sich auch nichts weiter verdienen.“

Byrd zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, ich habe bei mir noch ein Schloss liegen. Das sollte zur Sicherheit sofort eingebaut werden, ehe du ein neues besorgen gehst.“

„Das wäre praktisch.“

„Ich hole es mal“, sagte Byrd und verließ den Raum, um sich auf den Weg zu seiner Wohnung zu machen. Im Flur nahm er einen der Baseballschläger an sich, die sie dort an die Wand gelehnt hatten.

Gwinard verweilte noch einen Moment und betrachtete das Durcheinander. Es war, als wäre es wie eine Welle durch die Wohnung gefegt, als sei es eine Flüssigkeit, die nun den Boden bedeckte und nach und nach verdunsten musste. Er schnaufte genervt, gab sich einen Ruck und ging in die Hocke, um die ersten Bücher aufzuheben und sie an ihren angestammten Platz zu stellen.

Kapitel 3

Vermutung

Während Gwinard das Wochenende nach dem Vorfall dazu nutzte, das Chaos zu beseitigen, spielte er mehrere Möglichkeiten durch, weshalb man überhaupt in seine Wohnung eingebrochen war. Dabei stieß er auf einen Ansatz, der ihn innehalten ließ, als er im Schneidersitz auf dem Boden seines Arbeitszimmers saß und mehrere Berge an zusammengetragenen Unterlagen zu sortieren und korrekt in den entsprechenden Ordnern unterzubringen versuchte.

Vielleicht war das alles gar kein Zufall gewesen und auch keine Verwechslung. Möglich, dass man ihn zeitweise beschattet und schließlich zugeschlagen hatte, ohne an jenem Tag zu wissen, dass er zuhause war. Dafür sprach, dass man direkt damit begonnen hatte, die Wohnung auf den Kopf zu stellen, anstatt zunächst alle Räume – und damit auch das Bad – abzusuchen und so zu sichern; oder es waren Amateure am Werk gewesen, die es nicht besser wussten. Was aber, wenn es ihnen egal gewesen war, ob er sich in der Wohnung aufhielt?

Der Auslöser für die Unterbrechung seiner Tätigkeit war das Aufflammen der Erinnerung an etwas, das sich vor einigen Wochen zugetragen hatte:

Auf der letzten Tour vor seinem wohlverdienten Feierabend nahm er über mehrere Tage hinweg unweit der zu entleerenden Rollcontainer in einer heruntergekommenen Gegend eine große Papprolle wahr, über die jemand einen grauen Müllsack gestülpt hatte – da sich das untere Ende in einer durchsichtigen Plastiktüte befand, konnte er sehen, worum es sich handelte. Die Rolle lehnte in der Ecke eines Hausvorsprungs hinter einem alten Kühlschrank, welcher schon so lange dort stand, dass sich Gwinard nicht einmal ansatzweise daran erinnern konnte, wie lange; seine Augen hatten sich zu sehr an den Anblick gewöhnt.

Am nächsten Tag bekamen er und seine Kollegen für den Zeitraum einer Woche planmäßig eine andere Route und im Anschluss daran wieder jene mit dem Mysterium.

Gwinard rollte den letzten Container im Schatten einer über ihm dahingleitenden Schwebebahn zurück in den Hinterhof und dort an den angestammten Platz. Als er sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten, fiel sein Blick genau zwischen Hauswand und Kühlschrank, wo noch immer die seltsame Papprolle stand. Ohne sich ein weiteres Mal zu fragen, ob und weshalb man die Rolle – vermutlich genau wie den Kühlschrank – vergessen hatte, und ohne sich wie sonst Gedanken über den möglichen Inhalt zu machen, lief er hin, beugte sich über einige am Boden liegende Ziegel, Glasflaschen und Dachschindeln und nahm das Objekt der Verwunderung an sich. Er entfernte den Müllsack und die Plastiktüte. Beides warf er in den frisch geleerten Container.

Die unbeschriftete Rolle war etwas länger als einen Meter und hatte einen Durchmesser von gut 20 Zentimetern. Ihr Gewicht lag irgendwo zwischen sechs und acht Kilogramm. Die weißen Plastikdeckel an beiden Enden waren mehrmals mit braunem Paketklebeband gesichert.

Gwinard legte sich die Rolle über die Schulter und verließ den Hinterhof. Er bog nach rechts ab, wo der Müllwagen schon vor der nächsten Einfahrt zu einem Hinterhof stand. Er öffnete die Beifahrertüre und warf den geborgenen Fund in das Fahrerhaus.

„Was ist das denn?“ fragte der Fahrer und nahm den Blick von der über dem Lenkrad aufgeschlagenen Zeitung.

„Ein paar Tapetenmuster“, log Gwinard ungeschickt. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch der Fahrer beschäftigte sich bereits wieder mit einem Artikel, weshalb er es ließ, die Türe zuschlug und zurück an die Arbeit ging.

Nach Feierabend stellte Gwinard die Rolle in seinen Spind und zog sich um. Da er etwas in Eile war, beschloss er, die Rolle am nächsten Tag mitzunehmen ...

Er konnte nicht fassen, dass er es vergessen hatte; und das vermutlich nur, weil er die Rolle im Spind an die Rückwand gelehnt und sie so unabsichtlich mit der davor an den Bügeln hängenden Kleidung verdeckt hatte. Aus den Augen, aus dem Sinn.

War diese Rolle vielleicht der Grund, weshalb man in seine Wohnung eingebrochen war? Dafür sprach, dass die beteiligten Personen eine gewisse Routine und Gelassenheit zu besitzen schienen, denn man hatte alles durchsucht, obwohl er nach draußen gerannt war, und ihn trotz seines Scherenangriffs nicht verfolgt. Die Einbrecher hatten auch nicht wissen können, ob er die Polizei rufen würde oder nicht. Das alles legte die Vermutung nahe, dass es doch keine Amateure waren, mit denen er es hier zu tun hatte. Ein weiterer Gedanke sagte ihm aber, dass es in einem so riesigen Haus nicht schwer war, zu verschwinden, und das lange vor dem Eintreffen eines Streifenwagens. Es blieben ihm folglich nur Fragen, Vermutungen und die Aussicht, in der Rolle einige Antworten zu finden.

Kapitel 4

Erste Fakten

„Und was war in der Rolle?“ fragte Lucia, die der Erzählung aufmerksam gelauscht hatte.

Sie war 23, von der Sonne braun gebrannt, hatte leuchtende, türkisfarbene Augen und hellbraune, beinahe dunkelblonde Dreadlocks, von denen ihr die längsten bis zwischen die Schulterblätter reichten. Sie trug zerschlissene aber bequeme und zweckdienliche Kleidung; Jeans, ein rotes TShirt, das ihr einige Nummern zu groß war, und darüber eine hellbraune Kapuzenjacke aus Baumwolle. Zusätzlich hatte sie schwere Lederstiefel an, die sie nur für längere Strecken zu schnüren pflegte. Ihre Fingernägel waren sehr kurz geschnitten und an jedem Finger – auch an den Daumen – trug sie einen schlichten Ring aus Edelstahl; die Ringe betonten die Schlankheit ihrer Finger.

Sie saß im Schneidersitz auf den Resten einer Mauer mit der immer weiter in der aufziehenden Nacht verschwindenden Stadt im Rücken. Das Licht des kleinen Lagerfeuers tanzte über ihr Gesicht und brach sich im halbvollen Weinglas, das sie mit beiden Händen hielt. Mit den Unterarmen hatte sie sich auf ihre Knie gestützt. Neben ihr stand eine Rotweinflasche auf der Mauer.

Das Feuer brannte im Westwerk einer mächtigen Kathedrale, welche auf einem Bergsporn saß, der wie der Bug eines gigantischen Schiffes nach Westen ragte, wo sich hinter der Stadt die endlose See erstreckte. Aus einem unerfindlichen Grund war das Gebäude nahezu frei von wuchernden Pflanzen; auch in der näheren Umgebung wuchsen fast ausschließlich Gräser und Blumen. Die Nordseite des Westwerks war irgendwann stark beschädigt worden, weshalb man von hier aus durch ein riesiges Loch über den noch vorhandenen Teil der Mauer hinweg – dieser wirkte wie ein sehr niedriger Tresen, der links und rechts je einen Durchgang von gut zwei Metern Breite besaß – nahezu die gesamte Hafenstadt überblicken konnte. Bei den Glockentürmen verhielt es sich so, dass der nördliche der beiden zwar nicht eingestürzt war, man aber aufgrund der Schäden nicht mehr über die Treppe ganz nach oben gelangen konnte; der zweite Turm hingegen war unversehrt. Der Schutt, der aus den Schäden am Westwerk hervorgegangen sein musste, war weit und breit nicht zu sehen; jemand hatte ihn allein oder mit Unterstützung vor Jahren oder gar Jahrzehnten beseitigt.

Einige Meter von Lucia entfernt lag ein Mann neben dem Feuer auf dem Rücken. Seine Arme hatte er hinter dem Kopf verschränkt, um so bequemer auf dem Boden liegen und zu ihr blicken zu können. Neben ihm stand ein leeres Weinglas. Auch seine Kleidung war abgetragen. Er trug Wanderschuhe, eine braune Hose mit Beintaschen und einen derben, grauen Wollpullover. Er hatte zerzaustes, dunkelblondes Haar und einen ebenso zerzausten Vollbart, den er dann und wann grob mit einer Schere stutzte – oder einem Messer, immer abhängig davon, was griffbereit war. Er war 29 und seine Augen zeigten eine Farbe, die je nach Lichteinfall mal zu Gelbgrün, mal zu Gelbbraun und dann wieder zu leichtem Orange tendierte. Unweit von ihm lehnte seine Gitarre an einem Holzstuhl.

„Bauzeichnungen“, antwortete Cordh.

Lucia zog die Augenbrauen hoch, auch wenn sie sich bereits aufgrund der Größe der Rolle gedacht hatte, dass es sich um irgendwelche Pläne handeln würde. „Von was?“

„Von einem riesigen Bürogebäude.“

Lucia nahm einen Schluck Wein. „Und was hatte es mit der ganzen Sache auf sich?“

Cordh richtete sich stöhnend auf – der harte Boden machte sich in seinen Knochen bemerkbar. Er blieb mit angewinkelten Beinen sitzen und stützte seine Unterarme auf die Knie. „Wenn ich das wüsste. Ein paar Tage später, nachdem Gwinard die Rolle aus seinem Spind mitgenommen, den Inhalt gesichtet und vorsorglich alles bei seinem Kollegen gelagert hatte, bekam er wieder Besuch. Er konnte also davon ausgehen, dass man ihn zumindest zeitweise beschattete.